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15 Kurzgeschichten erzählen von sehr verschiedenen Menschen und ihren oft einfachen Lebensumständen und Bedürfnissen - und Ereignissen, die sie auf merkwürdige Weise näher an ihre Sehnsucht heranbringen als sie sich das selbst so gedacht hätten. Manchmal tragisch, manchmal komisch, manchmal fast magisch strahlen die Geschichten und ihre Gestalten eine tiefe Spur fast existentieller Daseinsfreude über schwierige Umstände hinaus aus. Die Geschichten sind in den Jahren 2000-2010 entstanden. www.johannes-reb.de
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Seitenzahl: 124
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Zu diesem Buch:
15 Kurzgeschichten erzählen von sehr verschiedenen Menschen und ihren oft einfachen Lebensumständen und Bedürfnissen – und Ereignissen, die sie auf merkwürdige Weise näher an ihre Sehnsucht heranbringen als sie sich das selbst so gedacht hätten. Manchmal tragisch, manchmal komisch, manchmal fast magisch strahlen die Geschichten und ihre Gestalten eine tiefe Spur fast existentieller Daseinsfreude über die schwierigen Umstände hinaus aus.
Die Geschichten sind in den Jahren 2000-2010 entstanden.
Über den Autor:
Der Autor schreibt unter dem Pseudonym Johannes Reb seit über 20 Jahren Romane, Geschichten und Gedichte. Im ‚wirklichen‘ Leben arbeitet er als Therapeut und hat eine wachsende Familie.
Der Mensch ist stets mehr als er von sich wissen kann
(Karl Jaspers, Arzt und Philosoph)
Widmung
Meinen Freunden und Freundinnen in Dankbarkeit für jahrelange Treue
Inhalt
Briefe
Besuch
Briefgeheimnis
Das Ende eines Seminars
Flut
Liebesbrief
Lisas Gang
Sehnsuchtsbriefe
Testament
Vergangene Zeiten
Musik
Finlandia
Konzert
Pläne
Erbe
Herr Müller plant Urlaub
Kathrins Sommer
Briefe
Besuch
Mit hängenden Schultern ging Gerhard am Abend von seiner Arbeit nach Hause. Es regnete einen leichten, fiesen Nieselregen, die Luft war schwer von Feuchtigkeit und drang ihm bei jedem Atemzug tief in die Lungen ein – ihm kam es vor, als ob es genau die Schwere sei, die seit jeher in seinen Lungenflügeln zuhause war – und die Farben der Stadt um ihn herum waren gesättigt von einem schmutzigen Grau und einer bleiernen Indifferenz, der es völlig egal zu sein schien, ob es überhaupt und welche Farben es hier geben solle.
Nach dieser eindeutig depressiv getönten Stimmung, in der Gerhard sich bewegte, war es nun allerdings sehr erstaunlich und überraschend, dass er trotz seiner hängenden Schultern eigentlich ganz guter Laune war, ja, er sogar den Ansatz eines Liedchens auf den Lippen hatte – wenn er eines gekonnt hätte, hätte er es wohl gesummt, aber leider konnte er keines, hatte nie eines gelernt, also summte er nur in ständiger Wiederholung eine kleine, unharmonische Kadenz, die er für den Anfang eines fröhlichen Liebesliedes hielt.
Gerhard hatte einen langen Arbeitstag bei der Autofabrikation hinter sich. Er musste an einem Band stehen und immer die gleichen Verrichtungen machen, links – rechts – nach hinten – greifen – schrauben – drehen – greifen mit der anderen Hand – wieder schrauben – etwas drehen – unterhalten – links – rechts – usw. usf. Ihm machte die Arbeit nicht wirklich Freude, nein, keineswegs, das wäre wirklich zu viel verlangt, aber er machte sie doch ganz gerne. Er hatte sein Auskommen dadurch, was nicht so selbstverständlich ist heutzutage, und er wusste vor allem jeden Morgen, wohin er gehen sollte, und am Abend wusste er wieder, wohin er gehen sollte. Er kannte Männer, die wachten morgens auf und wussten nicht, wohin sie gehen sollten, das kam ihm besonders schrecklich vor, er beneidete diese Männer nicht um die viele freie Zeit, die sie hatten.
Auch an diesem Abend nach getaner Arbeit war er froh zu wissen wohin er gehen sollte: zu sich nach Hause. So ein Zuhause ist ja erst dann wirklich ein Zuhause, wenn man nach einer Zeit der Entfernung von dort dorthin zurückkehren kann. Wenn man dauernd dort ist, ist es kein Zuhause, sondern ein Gefängnis, wenn auch mit offenen Türen, fand Gerhard. Er mochte sein Zuhause. Er hatte eine kleine 2-Zimmer-Wohnung in einem großen Mietshaus, sie war gerade 45 Quadratmeter groß, und es gab einen winzigen Balkon und ein großes Fenster mit Ausblick über die Stadt. Wenn die Sonne schien, konnte er aus diesem Fenster den Sonnenuntergang beobachten. Die Wohnung lag im sechsten Stockwerk, es gab noch vielleicht 4 oder 5 Stockwerke über ihm, er hatte sie nie gezählt und auch nie versucht, bis ganz nach oben zu gelangen, vielleicht sogar auf das Dach hinaus, nein, das hatte er nie versucht. Ihm war das sechste Stockwerk hoch genug, höher hatte er nie hinauswollen.
Heute war ein besonderer Tag. Trotz des schlechten Wetters und der deprimierenden Stimmung draußen summte Gerhard seine kleine Kadenz vor sich her, denn etwas sollte heute noch geschehen, worauf er sehr gespannt war. Er sollte nämlich Besuch bekommen. Vor einigen Tagen hatte er einen Brief bekommen, in dem die Ankündigung dieses Besuches stand. Gerhard gehörte zu der Sorte von Menschen, die, seit sie aus dem Elternhaus ausgezogen und nach einigen turbulenten Jahren in einer regelmäßigen Arbeit angekommen sind, keine persönlichen Beziehungen zu haben pflegten. Genau genommen: Er kannte niemanden, und ihn kannte auch niemand. Natürlich hatte er die Gesichter seiner Etagennachbarn schon ein paar Mal gesehen, und auch von seinen Kollegen bei der Arbeit, mit denen er am Band stand oder in der Kaffeepause saß, wusste er die Vornamen und würde sie vielleicht beim Einkaufen wieder erkennen. Aber mehr auch nicht. Niemals würde er auf den Gedanken kommen, sich mit einem von ihnen zu verabreden, auf ein Bier oder so, nein, niemals. Nicht dass er das nicht vielleicht gewollt hätte, aber es lag vollkommen außerhalb seiner Vorstellungswelt. Er gehörte eben wie gesagt zu den Menschen, die niemanden kennen. Er fühlte sich im großen Ganzen wohl so.
Nun war aber dieser überraschende Brief gekommen. Mit der Ankündigung eines Besuches. Gerhard wusste gar nicht, wie man sich verhalten musste, wenn man Besuch bekam. Er hatte noch eine blasse Ahnung, dass die Mutter immer aufgeregt war und alles blitzblank aufgeräumt sein musste bei Besuch, z.B. wenn die Großeltern kamen, oder Tante Berta mit Onkel Adolf. Aber bei ihm war aufgeräumt, jedenfalls nach seinen Maßstäben, und welche sollte er auch sonst anlegen? Und sonst? Sollte er „etwas im Hause“ haben? – an so eine Formulierung konnte er sich erinnern. Aber was? Ach ja, natürlich, Schnaps oder Kognak, was denn sonst, fiel es ihm ein. Ja, das ist eine gute Idee, dachte er, ich werde auf dem Heimweg noch eine Flasche Schnaps einkaufen, das ist schön. Gerhard trank sonst nie Alkohol, wie vielleicht sonst die meisten Einzelgänger es tun würden, um sich die langen einsamen Abende zu vertreiben und die Stimmung zu bessern. Aber Gerhard hatte nie damit angefangen, seit er gesehen hatte, wie sein Onkel, nicht Adolf, nein, ein anderer, sich „totgesoffen“ hatte. Er hatte es allerdings nicht wirklich mit angesehen, aber sein Vater hatte den elenden Todeskampf des armen Onkels im Delirium so eindringlich und schrecklich geschildert, dass Gerhard seelisch geimpft worden war gegen die Versuchung, mit diesem Teufelszeug anzufangen. Und da er wie gesagt niemanden kannte, der ihn hätte in Versuchung bringen können, war Gerhard bis heute ein bewundernswert nüchterner Mensch geblieben.
Mit einer Flasche Schnaps in dem Beutel stieg er die Treppe zu seiner Wohnung herauf. Niemand kam ihm entgegen, es schien fast wie ein geheimnisvolles ungeschriebenes Gesetz, dass alle Bewohner auf der Etage zu genau abgepassten unterschiedlichen Zeiten aus der Wohnung kamen oder in sie eintraten. Es war immer Zufall, wenn jemand sich nicht an seinen Rhythmus hielt und zur Unzeit auf den Flur kam, die eigentlich die Zeit eines anderen war, so dass man sich kurz zu Gesicht bekam. Ein kurzer Blick, ein kaum merkliches Nicken als Gruß genügte zur Verständigung, dann ging jeder seiner Wege. Wohl wusste Gerhard durch die Geräusche, die durch die Tür drangen, dass es durchaus Begegnungen auf dem Etagenflur gab, die zur Regel dazugehörten. Dann kam es auch sogar zu tatsächlichen Unterhaltungen. Dies war der Fall bei der Frau M. und dem Fräulein S. Die trafen sich jeden Mittwoch um zwölf Uhr dreißig auf dem Flur und tauschten sich über irgendetwas aus, was Gerhard nicht verstehen konnte. Als Gerhard nun in seine Wohnung trat, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben den Gedanken, vielleicht jemanden zu seinem Besuch dazu einzuladen, zum Beispiel das Fräulein S. Aber er ließ den Gedanken schnell wieder fallen, zu fremd und eigenartig schien ihm dies. Er stellte den Schnaps in den Kühlschrank und schaute auf die Uhr. Es war etwas später geworden als sonst, wegen des Einkaufs von dem Schnaps.
Gerhard setzte sich auf sein etwas durchgesessenes Sofa und sah sich um. Was sollte er jetzt tun? Natürlich warten, was denn sonst. Der Besuch war in dem Brief für ungefähr acht Uhr angekündigt worden. Ob sein Gast wohl den Weg finden würde? Gerhard hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie man seine Wohnung wohl finden würde, wenn man aus einer anderen Stadt angefahren käme. Er kannte nur den eigenen Fußweg hin und zurück, das war völlig ausreichend. Der Brief hatte so entschlossen geklungen, als ob der Absender völlig sicher sei und keinerlei Zweifel daran hätte, wie er zu Gerhard finden würde. Nun war aber die Zeit schon angebrochen, und es müsste jeden Augenblick klingeln. Gerhard wurde etwas unbehaglich zumute, vor allem weil es für ihn eine völlig unbekannte Situation war. Sonst wusste er immer sehr genau, was er tun würde – er hätte die Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Tisch gelegt und den Fernseher eingeschaltet und eine Decke über seinen Bauch gelegt, dann hätte er ein bis zwei Stunden ferngesehen, mehr nicht, und wäre dann ins Bett gegangen. So sah ein schöner, gemütlicher Abend aus. Aber dies hier: Besuch, der angekündigt ist, aber zu spät kommt? Gerhard wusste mit sich selbst nichts rechtes anzufangen. Schließlich wollte er seinem Besuch nicht in nackten Füßen entgegentreten.
Gerhard war nichts anderes eingefallen als den Schnaps zu holen und zu öffnen, zwei kleine Schnapsgläser zu füllen und vor sich auf den Tisch zu stellen. Während dieser Tätigkeit ging es ihm wieder gut, er summte während dessen sogar sein Liedchen wieder aus Vorfreude über den Besuch. Als aber die Gläser auf dem Tisch standen, wurde ihm wieder unbehaglich. Es war schon eine Stunde über die Zeit. Er schaute sich um, und zum ersten Mal fiel ihm auf, wie schäbig seine Einrichtung wahrscheinlich aussah. Ihm hatte es nie etwas ausgemacht, aber jetzt, als er versuchte, sich seine Wohnung mit den Augen seines Besuchers anzusehen, fiel ihm die Ärmlichkeit und Schäbigkeit auf. Für einen Moment wurde er von unbekannten Gefühlen heimgesucht, eine Mischung aus Scham, Angst und Wut, die ihn zunächst hilflos machten. Dann aber bekam er sich wieder in der Griff, indem er sich sagte, dass er den Besuch ja nicht gebeten habe zu kommen, sondern dieser sich von sich aus angemeldet habe, also sei dies dann auch dessen Problem, wenn es denn ein Problem sei, und außerdem lasse sich nun sowieso nichts daran ändern, es sei so wie es sei.
Mit diesem neuen Kraftgefühl nahm Gerhard das eine Schnapsglas, hob es vor sich in die Höhe, rief ein kleines „Prost, Gerhard!“ und leerte das Glas in einem Zug, fast als ob er dies schon ein ganzes Leben lang täglich tue, dabei hatte er es nur gelegentlich als kleiner Junge bei dem besagten anderen Onkel gesehen. Der Schnaps brannte wie die Hölle in seinem Hals, und Gerhard verschluckte sich und hustete und keuchte, fast dass er die Luft verloren hätte. Junge, Junge, Holla, Holla dachte er, als er wieder Luft bekam. Und trank den zweiten Schnaps hinterher, denn inzwischen war es schon spät geworden und der Besuch war immer noch nicht gekommen.
Am nächsten Tag verschlief Gerhard zum ersten Mal in seinem Leben seine Arbeit. Er wachte erst gegen Mittag auf und hatte gewaltige Kopfschmerzen wie er sie noch nie erlebt hatte. Er hatte natürlich keine Tabletten bei sich, er hatte so etwas noch nie gebraucht. Bei der Arbeit war man nachsichtig, denn er hatte sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Seine Kollegen aber, mit denen er bisher völlig neutral umgegangen war, schauten ihn lächelnd und schmunzelnd an, so als ob sie sich etwas ganz Bestimmtes dachten. Gerhard schaute unsicher zurück, fing aber irgendwann auch an zu lächeln, ohne eine Idee zu haben worüber. Das Lächeln war irgendwie angenehm.
Der Besuch war nicht gekommen, und es kam auch niemals mehr eine Nachricht. Den Brief hatte Gerhardt nach einer Weile weggeworfen, er wollte nicht an diese Nacht erinnert werden. Und von sich aus bei dem Absender nachzufragen wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Aber es war etwas geschehen, was die Atmosphäre verändert hatte. Als ob es eine ganz leichte Aufhellung zwischen ihm und seinen Kollegen geben würde. Es verunsicherte ihn, aber es fühlte sich auch ein wenig nach neuer Leichtigkeit an. Ansonsten blieb alles wie bisher und er kümmerte sich auch nicht weiter darum. Den restlichen Schnaps hatte er weggeschüttet.
Briefgeheimnis
Manuela arbeitet bei der Post. Seit zwanzig Jahren ist sie dort. Sie hat sich um ein paar kleine Stufen emporgearbeitet und ist jetzt Gruppenleiterin eines kleinen Teams in der Abteilung, die für die Sortierung und Weiterleitung der eingehenden Briefe zuständig ist.
Sie kennt den „Laden“, wie sie dort salopp sagen, in und auswendig. Im Wesentlichen machen Maschinen die Arbeit der Sortierung nach Regionen und Städten, in die die Sendungen geschickt werden sollen. Da aber immer noch die allermeisten Briefe per Hand adressiert werden, gibt es eine hohe Zahl von sog. Ausläufern, also Briefen, die die Maschine als „nicht identifizierbar“ aussortiert. Das müssen dann Manuela und ihre Kolleginnen - sie sind nur Frauen in der Gruppe – nacharbeiten. Sie müssen dabei sehr schnell sein, denn der Durchlauf durch die Maschine hat Zeit in Anspruch genommen, und die Zustellung soll dennoch in der vorgegebenen Zeit erfolgen. Eigentlich wird erwartet, dass alle Briefe nach dem Durchlauf der Maschine absendefertig in die entsprechenden Kisten sortiert sind. Das geht natürlich nicht mit den „nicht identifizierbaren“. Manuela und ihr Team haben daher angefangen, bereits zu Beginn auf dem Förderband, auf dem die Briefe laufen, nach potenziellen Ausläufern zu schauen und sie herauszugreifen, bevor die Sortiermaschine sie bearbeitet. Sie haben damit eine Reduktion der maschinellen Ausläufer um über 50% erreicht und sind mit dem Rest natürlich sehr viel schneller fertig. Sie haben dabei ein beachtliches Geschick und einen sehr genauen, schnellen Blick entwickelt für bestimmte Sendungen und Briefe.
Manuela ist – oder genauer gesagt: war - seit drei Jahren mit ihrem Freund zusammen. Er war auch bei der Post angestellt gewesen, zuletzt als Zusteller mit einer ganz guten Tour, aber schließlich wurde er im vergangenen Jahr aufgrund der üblichen
Rationalisierungsmaßnahmen „freigesetzt“. Eigentlich hatten sie heiraten und eine Familie gründen wollen, zumindest war das einmal eine Idee in einer besonders glücklichen Stunde gewesen. Manuela ist 35 Jahre alt und findet, das sei genau das richtige Alter dafür. Aber ihr Freund wollte nach der Kündigung nicht mehr, er hatte Angst, die Verantwortung nicht tragen zu können. Nun saß er viel zuhause herum und wartete darauf, dass Manuela von der Arbeit zurückkommt und „etwas“ mitbrachte. Ihr gefiel das immer weniger.
Sie fand, er lasse sich zu sehr hängen und sollte sich mehr um eine sinnvolle Tätigkeit kümmern. Deshalb kam es häufiger in der letzten Zeit zu Streit zwischen ihnen beiden.