Katja - Leben, und wie weiter - Stephan Kracht - E-Book

Katja - Leben, und wie weiter E-Book

Stephan Kracht

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Beschreibung

Katja verliert bei einem schweren Autounfall ihre Mutter. Auf der Straße lebend versucht sie Helmut, einen Reisenden, zu bestehlen. Dieser verhält sich ganz anders als erwartet. Während sie in ihm die neue Hoffnung in ihrem Leben sieht, zieht er sich zurück. Traumatisiert durch Kriegseinsätze gibt er sich für den Tod seiner Frau, seiner Kinder und Katjas Verletzungen die Schuld. Hindernisse sind zu überwinden, Prüfungen des Lebens zu bestehen, neue Freunde beeinflussen beide. Franzi, Katjas Heimpsychologin, verliebt sich in Helmut und beginnt für ihre Liebe zu kämpfen. Können sich die Wünsche der Frauen erfüllen? Kann Katja wieder ins Leben zurückfinden? Mit ungebrochenem Lebensmut verfolgt das junge Mädchen seine Träume und verzaubert und prägt ihre neuen Wegbegleiter …

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Seitenzahl: 715

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Inhalt

Impressum 2

VORWORT 3

WIDMUNG 4

1 5

2 8

3 17

4 24

5 32

6 39

7 44

8 51

9 61

10 67

11 77

12 84

13 92

14 97

15 111

16 116

17 126

18 134

19 144

20 153

21 160

22 176

23 196

24 209

25 228

26 240

27 254

28 275

29 289

30 314

31 323

32 342

33 354

34 369

35 390

36 414

37 429

38 446

39 458

40 475

41 494

Worterklärungen(in der Reihenfolge des Auftretens)497

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-86-9

ISBN e-book: 978-3-99107-054-2

Lektorat: Mag. Eva Reisinger

Umschlagfotos: Sergei Kosilko | Dreamstime.com; Michaela Meyer

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

VORWORT

Personen und Handlungen sind frei erfunden, haben jedoch reale Vorbilder.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

WIDMUNG

Dieses Buch ist meinem Vater gewidmet, der immer an meine Fähigkeiten glaubte, und meiner Mutter, die mich stets motivierte sie auch anzuwenden.

Ich danke meinen Freunden, die mir Kraft gegeben haben und mich immer wieder ermutigt haben, dieses Buch weiter zu schreiben.

1

Ein Wochentag wie ungezählte andere. Fußgänger hasten, Fahrräder klingeln und Autos hupen. Alltägliche Hektik in der großen Stadt. Keiner scheint Zeit zu haben zwischen Arbeit, Einkauf oder Schule. Nur wenige, vor allem Ältere, sitzen im Straßencafé und gönnen sich eine kleine Auszeit.

Früher Nachmittag. Die alleinstehende Sandra steht mitihrem Kleinwagen aus zweiter Hand vor der Schule, in die ihre achtjährige Katja geht. Sie ist, wie häufig, etwas zu früh angekommen, weil siedirekt von der Arbeitsstelle hergefahren ist. In wenigen Minuten wird ihre quirlige und aufgeregte Tochter ins Auto steigen. Besser hineinstürzen und versuchen, in einer Minute den ganzen Schultag zu erzählen. Sandra nutzt die kurze Wartezeit, um noch einmal tief durchzuatmen. Sie holt tief Luft. Geht im Kopf durch, was heute noch ansteht.

Sie ist heilfroh, dass Katja die Trennung und die anschließende Scheidung vom Vater so gut verkraftet hat. Diesen Entschluss bereut sie nicht. Ihr Ex war oft sehr demoralisiert und schlug dann schon mal zu. Über die Jahre ist es allmählich schlimmer geworden. Begebenheiten sind zunehmend häufiger eskaliert. Er hatte seine Aggressionen längst nicht mehr im Griff. In ihr nagte stets die Angst, dass er irgendwann auch die gemeinsame Tochter schlägt, diesen kleinen schusseligen Wirbelwind. Sie sah sich gezwungen, den Kollegen in der Firma gegenüber öfter Ausreden für blaue Flecken, ein geschwollenes Auge oder eine aufgeplatzte Lippe zu erfinden. Nur glaubte dort niemand mehr recht diese Geschichten. Tausendmal hatte er sich entschuldigt, versprochen, dass es nie wieder passiert. Sie hat ihm viel zu oft geglaubt und er vergessen. Neue Entschuldigungen und erneutes Vergessen. Immer wieder Bitten um Vergeben und Verzeihen. Eine scheinbar nie enden wollende Spirale aus Angst, Entschuldigungen, Verzeihung, Verzweiflung, Schuldgefühlen, Verletzungen, Ohnmacht – verbal und körperlich. Streiten, versöhnen, verschweigen, fürchten, bereuen, schämen. Begleitet von dieser unsäglich lähmenden Heidenangst …

Am Ende hatte er sogar eine Antigewalttherapie angefangen. Die Termine hatte er nur sporadisch besucht und sie als Alibi benutzt. Während einer angeblichen Sitzung hatte er ihr vermummt aufgelauert und sie überfallen. Auch hatte er sich selbst verletzt, um sie dafür bei der Polizei anzuzeigen. Fortwährend versuchte er, sieunglaubwürdig darzustellen: Sie würde sich alles nur einbilden, hatte er ihr und anderen versucht einzureden. Alles hat sich, dank engagierter Nachbarn, aufklären lassen. Eine langjährige Haftstrafe war das Resultat für ihn. Sie hat die Scheidung aus Härtegründen eingereicht und das alleinige Sorgerecht erhalten. Nun lebt sie mit Katja allein und ist damit mal mehr, mal weniger zufrieden. Obwohl sie sich schon manchmal einen Partner und für ihr kleines Mädchen einen Vater wünscht, es gab ja nicht nur schlimme Zeiten.

Vollkommen in Gedanken versunken schreckt sie auf, als die Beifahrertür geöffnet wird. Eine kurze Umarmung, ein flüchtiger Kuss auf die Wange, worauf sich ein Redeschwall über sie ergießt. Aus Katja sprudelt es nur so heraus, ohne Punkt, Komma und Atempause. Sie wundert sich immer wieder darüber. Wann holt ihre Tochter eigentlich Luft? Wiederholt vergisst sie dabei das Anschnallen. Da sie nicht zu Wort kommt, lächelt sie nur, denn ihrem kleinen Mädchen geht es gut und damit auch ihr. Was würde sie nur ohne diese überschäumende Lebensfreude anfangen?

„Katja, bitte schnalldich an!“ Erst nachdem der Gurt angelegt ist, startet sie den Motor und fährt los. Das kurze Stück zum Supermarkt und eine halbe Stunde später nach Hause.

Sie fährt ruhig und sicher, eher zu langsam als zu schnell. An einer roten Ampel bleibt sie stehen. Die abschüssige Straße ist sehr eng, so dass die Räder der Fahrerseite auf dem Streifen dunklen Kopfsteinpflasters, welches die geteerte Fahrbahn vom Gleis trennt, neben den Straßenbahnschienen stehen. Anders kann man hier nicht halten, außer man riskiert, einem der wartenden Fahrgäste auf dem Bürgersteig zu nahe zu kommen. Ihre Tochter redet immer noch, wenn auch nicht mehr ganz so überschwänglich. Im Rückspiegel erkennt sie einen sich nähernden PKW, der hinter ihr stehenbleibt. Auch die sich nähernde Straßenbahn nimmt sie flüchtig wahr. Es ist ein Haltestellenbereich. Sie konzentriert sich wieder auf die Ampel und auf die Menschen, die vor ihr die Kreuzung überqueren. Unerwartet ist hinter ihr ein gewaltiger Krach. Für einen Blick in den Rückspiegel reicht die Zeit nicht mehr. Metall schiebt sich über Metall, schreit schmerzend schrill beim Zerfetzen. Etwas Titanisches trifft ihr Fahrzeug. Klirrend splittern Scheiben. Das Sicherheitsglas der beiden Autos rieselt mit einem Geräusch zu Boden, als wären es kleine Kieselsteine. Frauen, Kinder und Männer, die auf die Tram warten, weichen aufschreiend zurück oder bleiben schreckensstarr gelähmt stehen.

Eine penetrant nach verbranntem Gummi stinkende Wolke strömt die abschüssige Straße hinunter. Breitet sich schnell aus. Aus dem aufgerissenen Kofferraum rollen Äpfel und Tomaten bis über die Mitte der Kreuzung. Dort kommt die Straßenbahn endlich zum Stehen.

2

Die Jugendhilfe übernimmt jetzt die einstweilige Vormundschaft für Katja. Diese hat für jedes, aus ihrer Sicht bedürftige, Kind eine amtliche Verpflichtung. Streng nach dem Gesetz selbstverständlich. Name: Katja Gäbler; Alter: 8 Jahre; Körpergröße und Gewicht: keine Angaben; keine Geschwister; sehr gute Lernleistung in der Schule, sozial aufgeschlossen; sonst keine Auffälligkeiten; Aufenthaltsort vom Vater: unbekannt, hat nach Scheidung kein Sorgerecht; weitere Verwandte: unbekannt; Unterhaltsleistung: keine; staatliches Kindergeld: ja. Das sind die Seiten der Schublade, in die sie nun gesteckt wird.

Passt ein Kind nicht recht in die vorgegebenen Richtlinien, wird es unverbindlich verbindlich sozialisiert, bis es hineinpasst. Das betrifft nicht nur Katja. Entspricht es dann immer noch keiner Vorgabe, wird es, notfalls bis zum vollendeten fünfundzwanzigsten Lebensjahr, weiter angepasst. Das kostet der Gesellschaft sehr viel Geld und einige der betroffenen Kinder können diesem Druck nicht standhalten. Sie landen an der Nadel – davon werden manche nicht mal zwanzig – oder im Strafvollzug.

Vielen der Jugendhilfeangestellten fehlt ebenso eine fundierte sozialpädagogische Ausbildung wie die notwendige Erfahrung. Keine falsche Annahme, sie sind nicht unqualifiziert, nur hat diese Ausbildung oft nichts mit Kindern, zumal entwurzelten, zu tun. Viele von ihnen entscheiden vom Schreibtisch aus, kennen weder die Bedürfnisse noch die inneren Kämpfe der sich entwickelten Persönlichkeiten, aber die gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien.

Katja wurde nach jenem Unfall aus dem Krankenhaus heraus, ohne die geringste psychologisch-betreuende Unterstützung, erst mal in eine Pflegefamilie mit anderen Kindern gesteckt. Zum Wohle des Kindes selbstredend, ohne dass der zuständige Beamte das Kind überhaupt nur einmal gesehen hätte. Traumatisiert, den Verlust der Mutter nicht überwunden, verwirrt, verängstigt, voller innerer Zerrissenheit und Selbstvorwürfen. Für sie völlig wildfremde Erwachsene, die sich Mutti und Vati nennen lassen, stülpen ihr jetzt das ihnen eigene Familien- und Erziehungsmodell über. Anonyme, namenlose Erwartungen. Jeder ihres neuen Umfeldes hält sie für selbstverständlich. Ihr, dem fremden Einzelkind, sind sie jedoch unbekannt. Dazu unvertraute Scheingeschwister, die sie zusätzlich verwirren.

Keine zwei Monate hält sie es aus, dann haut sie das erste Mal ab. Sucht die Mutter und das ihr vertraute Zuhause. Tage später wird sie von Polizei, Jugendhilfe, einer jungen Mitarbeiterin in Ausbildung, zurückgebracht. Eine eindringliche Predigt, wie gut es doch alle mit ihr meinen, dass es zahlreichen Kindern viel schlechter geht. Kein Wort fällt von ihrer Mutti. Sie hört kaum richtig hin, kann es nicht. Kummer und Angst lähmen ihr Denken. Nach ihren Wünschen und Vorstellungen, nach ihrer Trauer, fragt niemand. Selbst ganz einfache Wünsche werden überhört, ignoriert. „Ich benötige ein eigenes Zimmer, um auch mal für mich allein sein zu können. Ich brauche aber auch gleichaltrige Freunde zum Reden und trotz alledem keine Glasglocke. Im Übrigen jemanden, der mir mal zuhört, mit mir über meine Sorgen spricht.“ Niemand hört. Worte in den Sturm geschrien, der sie unvernommen direkt von ihren Lippen fegt.

Sie reißt wiederholt aus. Es sind nichts als weitere Blätter für ihre Akte. Die Abschottung, der Druck wird auf dieses undankbare Kind verstärkt. Irgendwann schlägt einer der aufgezwungenen Väter zu. Nein, nicht heftig, er bereut es auch sofort. Entschuldigt sich sogar. Er ist kein böser Mensch, nur einfach überfordert. In Katja brechen weitere, nicht bewältigte Erinnerungen auf – noch immer keine Hilfe. Ihre Akte wird dicker und bleibt weiterhin ungelesen.

Sie bekommt immer neue Pflegeeltern – wieder und wieder ergreift sie die Flucht. Andere Stadtteile, unbekannte Orte kommen dazu. Ein teuflischer Kreislauf.

Etwa zwei Jahre lang entscheiden Beamte nach Aktenlage. Mit fast jeder neuen Familie, zumindest mit jedem anderen Ort, kommt ein weiterer hinzu. Bei der Weiterleitung der Akte in die nachfolgende Stadt wird eine Zusammenfassung angefertigt. Vermeintlich unwichtige oder als dienststellenintern eingestufte Seiten werden entnommen und wandern in einigen Fällen direkt in den Schredder. So bleibt die Akte mittels immer größerer Auslassungen überschaubar.

Jetzt wird Katja in eine vollstationäre Einrichtung gesteckt. In einer Stadt, dessen Namen sie vorher nicht einmal kannte. Gemeinschaftszimmer! Vier bis sechs junge Menschen müssen zusammenleben und gemeinsam übernachten. Weiterhin kein Wort über ihre Mutter.

Erneute Flucht und noch viele weitere. Zunehmend mehr lebt sie auf der Straße. Dort findet sie Jugendliche, meist einige Jahre älter, aber diese hören wenigstens zu. Selber den Halt verloren können sie ihr mit ihren inneren Sorgen und Nöten allerdings nicht helfen.

Das Leben auf der Straße ist gefahrvoll. Die Betroffenen, der meist grundsätzlich völlig freiwilligen Annahme von Hilfsangeboten für Straßenkinder, müssen auch bereit sein, die Verantwortung für die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen. Nicht allen jungen gefährdeten Menschen gelingt dieser Schritt zur dauerhaft unaufgeforderten Entgegennahme dieser Hilfen.

Katja ist mittlerweile zehneinhalb Jahre alt, damit eine der Jüngsten in der Szene. Viele Ältere, auch männlichen Geschlechts, meinen es gut mit ihr. Vielleicht auch, weil sie noch kleiner und damit jünger aussieht, als sie in Wirklichkeit ist. Sie geben Tipps, wo mal gerade eine Sozialküche kostenlos Essen verteilt, wo man pennen kann oder ähnliche praktische Hinweise. Sie hat Glück. Niemand bietet ihr Drogen an, niemand vergreift sich sexuell an ihr.

Straße, von der Polizei eingesammelt, Schülerheim, abhauen, Straße, Polizei … Weitere zwei Jahre lebt sie so. Dann kommt sie in eine etwas freiere Einrichtung. Sie lebt zwar immer noch viel auf der Straße, geht aber geregelter, das heißt wiederkehrender, zur Schule. Eine kleine Gruppe Gleichaltriger akzeptiert sie sogar und nimmt sie freundschaftlich auf.

Nicht alle sind jedoch Musterschüler. Ein paar Ältere, vier Jungen und zwei Mädchen, mischen immer wieder einzelne jüngere Schüler auf. Die sechs sind mehrfache Sitzenbleiber und deshalb schon zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt. Eines Tages haben sie Katja zum Ziel, weil diese das geforderte Schutzgeld nicht gezahlt hat, nicht zahlen konnte, da sie überhaupt kein Geld besitzt.

Katja verlässt das Schulgebäude wie in letzter Zeit regelmäßig. Sie freut sich auf ein kleines Match mit ihren Freunden. Einer der Großen hält sie an ihrem Schulrucksack fest. „Eh, dumme Gans, schnattere ein paar Kröten raus. Aber avanti.“

„Ich habe nichts.“

„Erzähl das dem Weihnachtsmann. Kohle oder versohle. Capito, Schwachmat? Oder soll ich dich gründlich rupfen?“

Vier große Jungen um sie herum, im Rücken einen Zaun. Zwei Mädchen, leicht abseits im Hintergrund, stehen Schmiere.

Mit den Worten: „Ich glaube, du brauchst etwas Anregung für dein Erbsenhirn“, bekommt Katja eine schallende Ohrfeige auf die linke Ohrmuschel. Kräftig genug, dass Katja fällt und mit dem Hinterkopf an den Pfahl des Maschendrahtzauns knallt. Tränen des Schmerzes, aber auch der ohnmächtigen Wut, kullern ihr über die Wangen. „Schau sie dir an, jetzt flennt die Heulsuse auch noch.“

Die Jungen lachen. Eines der Mädchen sieht den Sportlehrer aus dem Schulgebäude kommen. Sie zupft den Rädelsführer am Ärmel und macht eine Geste Richtung Schule. Sofort lassen sie von Katja ab und gehen nicht eben eilig weiter lachend davon. Ein anderer Mitschüler, der, weil übergewichtig, seine eigenen negativen Erfahrungen mit dieser Truppe hat, reicht Katja die Hand, hilft ihr auf. Taumelnd und mit einer unerwarteten Übelkeit kämpfend steht sie. Dann ist der Lehrer heran. Er bringt sie noch einmal ins Schulhaus, wobei sie mehrmals stolpert, übergibt sie der Sekretärin. Alle gesprochenen Worte kommen wie durch Watte bei ihr an. Blut läuft ihr, von den Haaren verborgen, den Rücken hinunter. Sie bemerkt es nicht einmal.

Das befreundete Dutzend Jungen und Mädchen spielt gern Ball. Da die Jungen in der Mehrzahl sind, natürlich Fußball. Es ist ein kalter Novembertag, der erste Frost beißt in die Wangen. Lars und Steve haben so etwas wie eine Geheimhalle gefunden. Es ist das Untergeschoss in einem alten, leerstehenden Fabrikgebäude. Viele Scheiben sind eingeschlagen, aber die darüber befindlichen Etagen schützen vor durchlaufendem Wasser. Viel kleineres Gerümpel, Scherben und rostige Drahtstücke liegen darin. Die großen, hohen Fenster befinden sich mehr als zwei Meter über dem Hallenboden, aber sie lassen genügend Licht ein. Mehrere Tage räumen sie das Gerümpel nach draußen. Steve hat sich von Cindy einen Besen mitbringen lassen. Sie kehren sehr gründlich. Kein Glassplitter, kein noch so kleiner Nagel darf liegenbleiben. Sie halten den Standort geheim. Allen werden noch vor Betreten des Fabrikgeländes die Augen verbunden. Dann nehmen sie sich bei den Händen und Lars und Steve führen sie über einen holprigen Zugang die drei Stufen nach unten.

Die Augenbinden werden abgenommen und sie schauen sich beeindruckt um. Steve ruft alle zu sich. Er beginnt zu erklären: „Der große Unterschied zwischen hier und dem Spielfeld draußen ist die Größe und hier habt ihr den Widerhall von den Wänden. Ihr könnt die Mauern als Doppelpasspartner benutzen und der Boden ist sehr hart und damit schneller. Das geht auf die Kondition, deshalb nur zehn Minuten Spielzeit. Jede Mannschaft hat nur fünf Spieler, der Torwart bleibt im Kasten und jeder spielt auf allen Positionen, also vorn und hinten. Verstanden?“

Katja greift sich ans Ohr und reibt es etwas mit den Fingern, so als hätte sie Wasser darin.

„Katja, das gilt für alle, sogar ohne Zuschauer vervielfacht sich jedes Geräusch. Es wird krachen und donnern als spielten wir unter einer riesigen Glocke. Beim Turnier, wenn Zuschauer, Eltern und Freunde die teilnehmenden Mannschaften noch anfeuern, wird es zu einem Inferno. Na, dann los.“

Sie ziehen ihre Turnschuhe an und Lars wirft den Ball nach oben. „Hört erst mal die Halle!“, ruft er allen zu.

Katja empfindet ihre und die Schritte der anderen wie das Grollen eines herannahenden Gewitters. Von der Decke und den Wänden schallt es wie ein verstärktes Echo zurück. Sie ignoriert es. Jack stoppt den Ball. Rick ist ran. Jack schlägt den Ball durch die ganze Halle, wo Dan das Leder mit dem Fuß stoppt, als wäre er ein Teil davon. Auch Katja steht dort und wartet einzig und allein auf den Ball. Dan ist Meister beim Dribbeln. Katja ist fest entschlossen, sich nicht verladen zu lassen. Kurz bevor sie dran ist, donnert er den Ball aus dem Fußgelenk an die Wand.

WAAAMMM!

Der Ball kommt mit vollem Effet in einem spitzen Winkel zurück. Katja kann nicht mehr ausweichen, die Kugel trifft sie mit kräftigem Plopp auf das gleiche Ohr, auf dem sie die Ohrfeige erhalten hatte. Sie stürzt auf den harten Hallenboden. Keine weitere Verletzung, nur im Ohr hallt es mit schnell höher werdendem Ton nach. Sie presst beide Hände auf die Ohren und hört die anderen trotzdem laut rufen.

Es dauert höchstens eine gefühlte Minute, dann ist das Pfeifen weg.

Sie spielen weiter. Manu gibt den Ball an Tom. Tom wird sofort von Giso bedrängt. Er haut das Ei gegen die Wand. Nach dem Gesetz „Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“ prallt er dröhnend ab. Fliegt in den Strafraum von Katjas Mannschaft. Dort, praktisch aus dem Nichts, taucht Leo auf.

„Benutzt die Wand“, hatte Steve gesagt und jeder spielt „vorne und hinten.“ An all das denkt Katja jetzt.

„Jaaa, genau!“, schreit Leo und trifft die Kugel exakt mit dem Spann.

„BAAAMMM“, dröhnt es um Katja herum.

„Oh!“, schreit Achim im Tor, reißt beide Hände vor den Kopf und springt in den Schuss. WAAAMMM, kracht der Ball gegen ihn. Mit der Faust schlägt er ihn zurück ins Spielfeld.

Katja hört genau, wie der Ball auf sie zufliegt. Bewegungslos bleibt sie stehen. In ihren Ohren dröhnen immer noch das BAAAMMM und das WAAAMMM. Sie könnte den Ball mühelos stoppen. Könnte! Der Ball zischt scheinbar in Zeitlupe an ihrem Ohr vorbei. Dann knallt er erneut an eine Wand.

BAAAMMM!

Steve schreit: „Was ist mit dir los, Katja?“ In ihren Ohren klingt es wie das wilde Trompeten eines Elefanten „Wwaahhhsss iiissssst mmmiiit dddiiirrr looosss?!“

Er donnert den Ball mit aller Kraft an die Wand und rennt nach vorn.

BAAAMMM!

Das Spiel geht heftig weiter. Katja steht wie angewurzelt. Hält sich mit beiden Händen die Ohren zu.

„Leeeooo!“

„Haaauu iihhhn iinnn diiieee Kiiiiissssttteee!“

„Maaaanuuuuu.“

„Kaaatjjjjjaaa, haaauu dddieeee Kiiiiiirrrrrrssscccchhheee rrreeeiiiinnn!“

Das will sie auch und rennt auf den Ball zu. Mit jedem Schritt wird die Luft um sie herum flüssiger. Ein Wasserfall rauscht in ihren Ohren. Der heranhüpfende Ball klingt mit jeder Bodenberührung wie ein Hammerschlag gegen eine riesige Glocke, die sich scheinbar direkt in ihrem Schädel befindet. Ihr Pulsschlag dröhnt mit einem dumpfen, pochenden Ton. Der eigene Atem lässt sie grausen. Sie will. Sie will unter allen Umständen. Sie kann nicht. Sie hat furchtbare Angst. Das knallende Geräusch ihres eigenen Schusses kann sie bestimmt nicht mehr ertragen. Ihre Beine verwandeln sich in schmelzendes Blei. Zu schwer zum Anheben und zu weich zum Stehen. Sie fällt krachend auf den Betonboden. Alle schreien entsetzt auf. Der Lärm verebbt ganz langsam in ihren Ohren. Endlich still.

Geister, Phantome, Kobolde nähern sich leise zischelnd. Schreckgestalten säuseln flüsternd in ihre Ohren. Die Tränen in den Augen verwischen ihre Umgebung zusätzlich. Alles wird zu verschwommenen Schemen. Als Lars ganz dicht über ihr etwas sagt, zuckt sie zusammen. Ein schrecklicher Drachen hat seinen heißen Atem mit lautem Schnauben ihr direkt ins Gesicht geschleudert.

Es dauert eine geraume Weile, bis der Ton in ihren Ohren abebbt. Katja wischt sich die Tränen aus den Augen. Die Spukgestalten verschwinden sehr langsam.

„Katja, was ist los mit dir?“, fragt Manu.

„Wir brauchen dich, das sollst du wissen“, sagt Steve. „Willst du nicht reden?“

Jedes Wort unverständliches Donnergrollen, welches in den Ohren nachhallt. Katja schüttelt nur den Kopf. Neue Schreckgestalten erscheinen vor ihren Augen. Das Hämmern ihres Blutes in den Ohren scheint das Trommelfell zu zerfetzen.

„Warum?“, fragt Leo.

Jeder Buchstabe das Hämmern eines Presslufthammers, direkt hinter ihrer Stirn. Sie beißt sich auf die Lippen. Ein paar Blutstropfen erscheinen. Sie würde so gern sprechen. Alle sind ihre Freunde. Aber kein Ton kommt über ihre geschundenen Lippen. Erneut schießen Tränen aus ihren Augen.Ich kann nicht! Ich kann überhaupt nicht mehr sprechen! Merkt ihr das nicht? Nur ihre Lippen bewegen sich. Luft entströmt ihrem Mund. Kein noch so leiser Ton ist zu hören. Einige Blutstropfen laufen das Kinn hinunter.

Alle blicken Katja erschrocken an. Sie kann ihre Gedanken hören:Sie ist nicht ganz Banane, Schizzo, hat einen Triller unterm Pony, muss mal das Oberstübchen kehren. Da muss man was gegen tun.

Das will Katja nicht. Sie will das alles nicht hören. Sie springt auf, schwankend als sei sie betrunken läuft sie, ohne sich umzuziehen, in die eisige Dunkelheit. In durchgeschwitzter Kleidung und Turnschuhen.

Verwirrt läuft sie ziellos durch fremde Straßen in einer fremden Stadt. Stundenlang, bis in die tiefe Nacht hinein. Irgendwann versagen ihr vor Erschöpfung die Beine, so setzt sie sich auf eine Bank im Stadtpark. Zitternd vor Kälte fällt sie in einen unruhigen Schlaf. Schreckgespenster plagen sie.

Der ältere Herr kann, wie so oft, nicht schlafen. Kurz nach Mitternacht dreht er, nicht zum ersten Mal, mit seinem Hund eine kleine nächtliche Runde. Der Zwergschnauzer ist das gewohnt und erforscht an der langen Leine seine Umgebung. Hier und dort setzt er seine Markierung für andere Hunde: „Ich war hier.“

Heute ist etwas anders. Dort ist ein fremdes Wesen. Aus sicherer Entfernung bellt er es an. Es bewegt sich und gibt undefinierbare Laute von sich. Dann ist Herrchen ran. „Es ist gut. Aus!“

„Nanu, wen haben wir denn da?“, versucht er Katja anzusprechen. Sie erwacht nicht. Da Ansprechen keinen Erfolg hat, tritt er an sie ran und rüttelt sie vorsichtig an der Schulter. Außer unverständlichem Gemurmel keine Reaktion. Jetzt greift er etwas beherzter nach ihrer Hand. Sein Schreck ist groß: Diese scheint genau so kalt zu sein wie die frostige Nacht. Er greift zum Mobiltelefon und drückt die von seinen Enkeln vorsorglich eingerichtete Notruftaste.

3

Katja ist mit einer kleinen Kopfplatzwunde, leichter Gehirnerschütterung und deutlicher Unterkühlung für ein paar Tage im Krankenhaus gewesen. Danach zurück ins Heim. Gegenüber dem Leiter der Einrichtung, der wissen möchte, warum sie denn ausgerissen sei, bleibt sie genauso stumm wie ihren Freunden gegenüber.

Schließlich packt sie heimlich ihre paar Habseligkeiten in einen alten Rucksack und haut wieder einmal ab. Mehrere Tage geht sie schnorren und die Nächte verbringt sie im Park.

Spätherbst. Die Tage und Nächte im Freien oder in einem Wartehäuschen sind unbehaglich und schaurig kalt. Das Wetter verschlechtert sich deutlich. Ein ungemütlich kalter Sprühregen, durch einen leicht böigen Wind immer in Bewegung, scheint von allen Seiten gleichzeitig seine feinen Tropfen auf ihren Klamotten abzulegen. Alle Wärme zieht er aus der klammen Kleidung. Da hilft auch nicht den Kopf tief in die ohnehin nicht mehr richtig warmhaltenden Sachen zu ziehen. Sie kann nicht mehr im Freien schlafen. So läuft sie einfach los. Viele Stunden irrt sie durch fremde Straßen. Fährt mit unbekannten Buslinien durch unbeachtete, einsame Stadtteile, nur weil sie so wenigstens zeitweilig Schutz vor der Witterung hat. Dann auf einmal Endstation. Der Fahrer fordert sie, unerwartet freundlich, auf auszusteigen. Sie befindet sich direkt am Bahnhof der kleinen Stadt. Laut Anzeige soll in einer knappen Stunde ein Zug in ihre Heimatstadt fahren. Sie wartet kurz entschlossen und frierend. Ihr ist sehr genau bewusst, dass sie damit wieder einmal endgültig einen Heimaufenthalt schmeißt. Sie hat wesentlich schlimmere Heime erlebt und hier hatte sie wenigstens ein paar Freunde.

Die ganze Zeit überlegt sie, ob sie das wirklich machen will.Ach, es ist ein scheiß Heim, keine Freunde, immer nur Ärger und Stress.So belügt sie sich selber. Sie will nach Hause, auch wenn sie dort nicht weiß, wo unterkommen. Besser in der Heimatstadt, wo sie wenigstens einige Gegenden kennt, als dieser fremde Ort, wo sie niemanden kennt und von keinem gewollt wird.

Ohne Fahrkarte sucht sie im Zug sofort die Toilette auf und bleibt darin bis zur Ankunft. Dort schleicht sie sich raus und erbettelt sich genug Geld. Damit kauft sie bei McDonalds, Essen und Trinken. Im Restaurant ist es schön warm und so schläft sie einfach auf der Sitzbank ein. Am folgenden Tag wird sie von einem Mann im mittleren Alter geweckt, der ihr sogar noch ein paar kleine Münzen gibt, aber sie muss gehen.

Fußgängerzone gegenüber dem Bahnhof. Manuel breitet seine mitgebrachte Decke aus. Er stellt einen Kaffeebecher aus Pappe davor. Möglichst nah, aber nicht zu dicht an dem Passantenstrom, der aus und in die Bahnhofshalle quillt. Zu seiner Linken legt er eine kleinere Decke, leicht nach hinten versetzt. Er stellt einen Wassernapf mit frischem Leitungswasser davor. Schließlich setzt er sich. Leicht vorgebeugt ist der Münzbecher mit ein paar kleineren Münzen gerade noch in Reichweite. Die größeren, ab einem 50-Eurocent-Stück, klaubt er sofort heraus und steckt sie in einen Beutel auf seiner Brust. Man kann ja nie wissen.

Manuel hat nach allen Seiten abstehende, circa fünf Zentimeter lange blonde Haare. Wenn Sonnenlicht durch sie hindurchscheint, hat er eine Aureole um den Kopf. Das ist ein gewollter Effekt. Am Hinterkopf sind die dort deutlich längeren Haare mit einem Gummi zusammengehalten und reichen bis zwischen die Schulterblätter. Im rechten Ohr befindet sich ein kleiner silberner Ring. Weitere Piercings hat er nicht, aber eine kleine dunkle Brille auf der Nase, über deren Rand man noch deutlich die hellen Augenbrauen sehen kann. Die Außenseiten beider Oberarme zieren große dunkelblaue Tattoos mit keltischen Motiven. Seine Kluft besteht aus einer enganliegenden Stachelhalskette mit nach vorn zeigenden Metallspornen, ähnlich riesigen Bärenkrallen. An einer zweiten, längeren Kette hängt ein schwerer geschmiedeter keltischer Knoten, mehrere Zentimeter im Durchmesser. Seine Jeansweste ist übersät mit Nieten, Buttons und Aufnähern, die Jeanshosen sind kurz unterhalb der Knie aufgerissen.

Ihm zur Linken liegt seine Deutsche Schäferhündin. Senta trägt weder einen Maulkorb noch ist sie angeleint. Halsband und Steuermarke hat sie aber, selbstredend. Relaxt liegt sie auf ihrer Decke. Die Ohren spielen aufmerksam, ihnen entgeht nichts, und auch die braunen Augen sind ohne Unterlass in Bewegung. So sich jemand nähert, hebt sie den Kopf. Ist es Marina, Manuels Freundin, zeigt sie deutlich ihre Freude.Vielleicht geht sie ja mit mir mal ein Stückchen spazieren?Andere ihr bekannte freundliche Personen, hauptsächlich Mitglieder der Gruppe um ihr Herrchen, bekundet sie ebenfalls wohlwollen. Dabei schaut sie die Person unverwandt aus ihren treuen braunen Augen an und wedelt mit der Rute. Erst wenn Manuel bestätigend kurz über das Fell streichelt, sie anspricht oder, das ist Vollendung, ein Leckerli rausrückt, gibt sie Ruhe. Bei Unbekannten schaut sie die Person unverwandt an. Meist zeigt sie keine weiteren Anzeichen von Interesse, bleibt aber sehr aufmerksam. Wenn jemand falsch riecht oder in seinem Verhalten aggressiv ist, zeigt sie dies mit leichtem Knurren an. Steigerungen sind dann Zähne Fletschen, lautes Knurren bis hin zu Bellen mit Aufstehen. Ohne Anweisung verlässt sie trotzdem niemals ihre Decke.

Früher Vormittag. Manuel sitzt zu dieser Zeit fast immer allein, so auch heute. Seine Anwesenheit bedeutet für alle, die wissen, wer er ist, nur: Seht, ich bin da. Kommt kurz vorbei und ich erzähle euch das Neuste. Warne, wo es heute gefährlich ist oder wo man kostenlos essen kann.

Breitbeinig mit nach außen weisenden Fußspitzen schiebt sich der 1,85 m große Paul aus Richtung Innenstadt heran. Wenn auch nicht als Wettkämpfer, betreibt er gern Bodybuilding. Er schnauft durch seinen Rauschebart. Kommt man ihm zu nahe oder ein Lüftchen weht in die falsche Richtung, dann riecht man den Schweiß, der ihm auf dem kahlen Schädel und der Stirn steht. Seine schiere Größe ist schon beeindruckend, die Lederklamotten mit den vielen silbernen Ringen und Ketten, welche er immer trägt, verstärken diesen Anschein. Er stellt gern seine mächtigen Muskeln zur Schau.

Wenig später nähert sich auch Peter. Ebenfalls 1,85 m groß und von schwerfälligem Äußeren. Davon sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen, Peter kann viel schneller sein, als man es von ihm erwartet. Das liegt hauptsächlich daran, dass er gern Eishockey spielt. Da braucht man gehörig Tempo und ein wenig Masse schadet auch nicht. Er ist ein guter Torjäger.

Viele denken Paul und Peter seien Zwillinge. Das liegt zum einen an dem ähnlichen körperlichen Erscheinungsbild und zum anderen daran, dass sie ihre Kleidung und Haartracht bewusst aneinander angepasst haben. Aber sie sind nicht einmal verwandt.

Manuel mit Freundin Marina und die Scheinzwillinge sind so etwas wie der harte Kern des Bahnhofsvorplatzes und sie sorgen oft schon durch ihr bloßes Erscheinen für Respekt und damit Ruhe.

Zur Clique gehört noch Sonja, für die sich die beiden Sportler sehr interessieren. Stolz auf ihre Männlichkeit kehren sie gern den kleinen Macho raus, jeder denkt, dass sie nur ihm gehört! Sonja hat das Problem mehr scherzhaft gelöst. „Sagt mal Jungs, ihr habt doch ein Nokia-Handy?“

„Ja“, antworteten beide fast gleichzeitig.

„Ich hab ein Samsung. Was meint ihr, hat unsere Beziehung Zukunft?“

Die beiden schauten sich ratlos an und Manuel fing an, schallend zu lachen.

„Was gibt’s da zu lachen?“, fragte Paul.

„Ach Jungs, ihr müsstet euch mal im Spiegel sehen“, antwortete Sonja. „Nichts für ungut, Männer, besser wir bleiben Freunde. Mal sehen, was die Zukunft so bringt.“

Beide bemühen sich weiter um Sonja, was diese auch genießt und es ihnen auch ab und an dankt. Da gibt es bei einer Fete mal den Lieblingssalat mit der Extraportion Zwiebeln für Peter und für Paul eine extragroße Bratwurst mit besonders viel Senf. Nicht zu scharf selbstverständlich. Beides speziell für jeden. „Mit viel Liebe zubereitet“, wie sie dann dazuzusagen pflegt.

Katja, geradewegs von McDonalds kommend, stolpert über den Bahnhofsvorplatz. Sie sieht fürchterlich aus und fühlt sich auch so. Die Übernachtungen im Park und die mehr schlechte als rechte, auch sehr knapp erbettelte, Nahrung haben deutliche Spuren hinterlassen. Ihre Sachen zerrissen, die Haare nicht gekämmt und sie riecht schon ziemlich streng.

Senta bemerkt sie zuerst und Manuel schickt Sonja zu ihr. Er will das unbekannte Mädchen schließlich nicht verschrecken.

Mit einer Tüte Pommes in der Hand geht sie zu der Fremden: „Ich habe dich hier langtaumeln sehen. Bist wohl auf Platte? Komm, wir gehen da drüben auf ’ne Bank.“

Sonja, blonde kurze Haare, billige Schminke im Gesicht und nach genauso billigem Parfüm duftend. Daneben die runtergekommene Katja. Größer könnte der Gegensatz kaum sein. An der Bank angekommen fragt Sonja: „Wie heißt’n? Willst’e paar Fritten mit Ketchup?“

„Katja.“

„Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du siehst ziemlich kaputt aus, Katja. Das ist aus verschiedenen Gründen assig. Irgendwo bist’e abgehauen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. So wie du aussiehst, fällst’e auf. Wer auffällt, den fassen die schneller. Aber ehe die dich einfangen, hast’e auch schon gewaltigen Zoff. Bald fliegst’e aus jedem Fressladen. Die Leute denken, du bist auf Droge und geben dir kein Geld mehr. Junkies bekommen darum kein Geld, weil die denken, du kaufst dir sowieso nur wieder Stoff dafür. Krieg’ste das auf die Rolle?“

Die lange Rede klingt für Katja überzeugend und das fremde Mädchen hat es auch freundlich gesagt. „Ich glaube schon.“

„Übrigens, ich bin die Sonja. Komm mit, mal sehen, was wir für dich tun können.“

Seit diesem Tag steht Katja gewissermaßen unter dem Schutz von Manuels Gruppe.

Eines Tages waren sie auf einmal da. Ein paar vierzehn- bis achtzehnjährige südländisch aussehende Typen. Nur wenige Schritte vom Bahnhofseingang entfernt machten sie sich breit. Zwei von ihnen platzierten sich auf einer Decke mit einer alten Tasse vor sich, andere sind mehr oder weniger in Sichtweite. Sie sprechen viele Passanten, hauptsächlich jüngere Männer und Jugendliche, an. Manches Mal verschwindet einer von ihnen mit einem der Angesprochenen kurz hinter einer Ecke, kommt aber immer sehr schnell zurück.

Weitere zwei lungern ständig an einer etwa einhundert Meter entfernten Grünanlage, besonders an einer kleinen Gruppe Büsche, herum. Geschäftig wirken sie immer. Gelegentlich kommt ein Dritter kurz vorbei, dann sitzen sie auf der Bank unmittelbar daneben und unterhalten sich, spielen am Mobiltelefon oder lesen. Hin und wieder verschwindet einer in besagtem Gesträuch und taucht mit einer Plastiktüte oder Tasche wieder auf. Überhaupt ist eine bunt bedruckte Plastiktüte fast immer im Spiel, auch bei denen, die nur mal auf einen Plausch vorbeikommen. Einiges verbergen sie auch hin und wieder unter ihrer Kleidung.

Manuel beobachtet das Treiben ein paar Tage, zumal Senta diese Typen auch meist kurz anbellt. Diese Art zu bellen hatte er ihr für bestimmte Gerüche extra antrainiert. Von selber verschwinden diese Burschen aber nicht. Im Gegenteil, sie werden eher dreister. Kommt die Security des Bahnhofes oder ein Bundespolizist um eine Kippe zu rauchen, sind sie nur noch die Schnorrer. Sie bedanken sich höflich für jede Münze, die klimpernd in die alte schmutzige Tasse geworfen wird. Kaum sind die Ordnungshüter weg, geht das alte Treiben weiter.

Doch Manuel hat auch seine Leute. Auf den direkten Versuch, sie mit Worten und dem Auftreten von Peter und Paul zu vertreiben, reagieren sie mit dem gezückten Springmesser. Manuel pfeift beide zurück. Er möchte keine Verletzten oder Schlimmeres. So schärft er allen ein, die Augen offenzuhalten und ihm jedes noch so kleine Detail zu berichten.

Nur wenige Tage dauert es, dann ist ihm endgültig klar: Hier wird mit Rauschgift gehandelt und das gefällt ihm, Senta und seiner Punkergruppe überhaupt nicht. Die fünf bis sechs schnell zu Erkennenden vorm Bahnhof und an der Grünanlage sind nur ein kleiner Teil des Ganzen. Sie werden von mehreren anderen in allen Richtungen abgesichert. In der Grünanlage befindet sich auch nur ein Teil der Drogen, einige sind immer direkt beim Dealer und es gibt, in unregelmäßigen Abständen, Nachlieferungen. Die vorm Bahnhof werden mithilfe der Plastiktüten bei Bedarf aus dem Gebüsch nachbeliefert oder bei Gefahr von dort schnell weggebracht. Weitere Pusher befinden sich in der Bahnhofshalle und in der Umgebung als Beobachter. Alle Spitzel halten ständig ihr Mobilfunktelefon in der Hand.

In Manuel reift langsam ein Plan, wie sie diese unerwünschten Dealer loswerden könnten. Er plant seine Gegenmaßnahme sehr genau und schärft allen ein, sich genau an seine Anweisungen zu halten. Nach knapp vierzehn Tagen sind alle Vorbereitungen abgeschlossen.

4

Zehn Stunden Bahnfahrt mit mehrmaligem Umsteigen liegen hinter ihm. Endlich fährt sein Zug auf Gleis 15 seiner Heimatstadt ein. Langsam geht er am Zug entlang Richtung Ausgang. Dass ihn fast alle überholen, stört ihn nicht, er hat es nicht eilig. Den ihn umgebenden Lärm nimmt er zwar deutlich wahr, kann ihn aber recht gut filtern. Was weiter weg geschieht, blendet er aus seinem Bewusstsein aus, nur die unmittelbare Umgebung ist wichtig. Der ganze Zug, aber besonders der Triebwagen, strömt einen unangenehm stechenden Geruch nach verbrannter Bremsflüssigkeit und heißen Schmiermitteln aus. Ausschließlich diese lästigen Begleiterscheinungen lassen ihn weiterlaufen. Viel lieber würde er sich auf die nächste Bank setzen, das Gefühl genießen, wieder zu Hause angekommen zu sein.

Am Übergang zum Querbahnsteig befindet sich ein Bäckerkiosk. Im lärmenden Trubel der dahineilenden Menschen bleibt er müde und unschlüssig mit seinem Rollkoffer stehen. Kauft er hier einen Kaffee, muss er ihn im Stehen trinken. Zwei Etagen tiefer, nur ein paar Schritte vom Supermarkt entfernt, in dem er sowieso noch ein paar Lebensmittel einkaufen möchte, könnte er den Kaffee an einem für Bahnhofsverhältnisse ruhigen Platz im Sitzen genießen. Es wartet ohnehin niemand auf ihn.

Etwas streift ihn an seiner hinteren Hosentasche. Er greift unbewusst, reflexartig nach seinem Portemonnaie und hat das Handgelenk eines Kindes erhascht. Eher verblüfft und erstaunt als verärgert dreht er sich langsam um. Ein Mädchen, dessen Haarschopf sich zwei Handbreit unterhalb seiner Schulter befindet, so dass er erst einmal nach unten schauen muss, steht vor ihm. Er hält sie weiter. Nicht sehr fest. Sie könnte ihre Hand mit einem kleinen plötzlichen Ruck sicherlich einfach befreien und weglaufen.

Sie steht wie gelähmt, der Griff kam zu plötzlich. Noch nie hat jemand so schnell bemerkt, wie ihre kleinen, flinken Finger nach einer Brieftasche fassten. Schon gar nicht so ein erschöpft aussehender Typ. Es ist anders als sonst. Ein interessierter Blick, der beim Kopf beginnt, dann langsam zu den schäbigen Turnschuhen herabsinkt und sich genau so langsam wieder zum Kopf hocharbeitet.Wo bleibt das laute Schimpfen? Die Rufe nach der Polizei?In der Vergangenheit schon oft gehört, ehe sie wegrannte. Ihre Umgebung versinkt, als wäre sie nie vorhanden gewesen. Nach oben sehen, seine Hand an ihrem Arm spüren, das ist im Augenblick die ganze Welt.Warum schreit der nicht: Polizei, Polizei? Oder hält mir eine Standpauke? Der steht einfach nur da und gafft mich an.

Sein Blick fällt auf Haare, die wie abgebrochene Strohhalme nach dem Herbststurm aussehen, in einer undefinierbar blonden Farbe und ungewaschen. Ein schmales Gesicht mit uferlos aufgerissenen Augen. Geweitete, starre Pupillen blicken ihn an. Er kann die Angst buchstäblich riechen. Auch den rasenden Puls an ihrem Handgelenk spüren, deshalb löst er seinen Griff.

Aufflackernde Angst schnürt ihr den Atem ab, lässt sie weiter wie angewurzelt vor ihm stehen. Aber diese Augen hinter der dunklen Brille wirken nicht böse oder vorwurfsvoll. Sie scheinen einfach aus dem Himmel auf sie hinunter zu schauen. Durchleuchten sie. Wissen alles von ihr und strahlen dabei eine atemberaubende Ruhe aus. Sie ziehen sie so in ihren Bann, dass sie ihre Angst vergisst. Der Gedanke zu fliehen ist ihr in dem Moment entfallen.

Der Geruch nach schierer Angst ist so schnell verflogen, wie er gekommen ist. Das kleine Mädchen scheint in ihm etwas zu sehen, was eine ausführliche Betrachtung lohnt. Voll gespannter Unentschlossenheit und Neugierde steht sie da.

Beide stehen so mehrere Sekunden. Für sie eine abgeschlossene Oase der Ruhe. Kein Laut dringt an ihre Ohren. Nur diese Augen, die im Himmel schwebend auf sie hinunterblicken, sind noch vorhanden.

Völlig überraschend: „Wen habe ich mir denn da eingefangen? Hast du Hunger?“

Diese Worte lösen ihre Trance. Der Bahnhof ist wieder da mit all seinem chaotischen Lärm, seinen wirren Düften, kunterbuntem Trubel und in alle Himmelsrichtungen laufenden Menschen.Jetzt könnte ich einfach wegrennen.Sie bleibt stehen. Ganz ist die surreale Magie noch nicht gebrochen.

Da sie nicht reagiert, mit mehr Nachdruck: „Du siehst hungrig aus. Kann ich dir etwas zu essen anbieten? Ich glaube, du könntest etwas vertragen.“ Er gibt einem Bettler sonst nie auch nur einen Cent, mit Ausnahme von Straßenmusikern, die in ihm etwas berühren. Aber diesem kleinen Mädchen gegenüber handelt er einfach, ohne auch nur einen Gedanken an so etwas wie Geld zu vergeuden.

Sie nickt automatisch, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Die Bedeutung seiner Worte erfasst sie nicht sofort. Zu unerwartet ist deren Inhalt.Kommt jetzt das dicke Ende? Nein, der lächelt ja sogar. Was hat der gesagt?Verwirrung, Zweifel stehen ihr kurz ins Gesicht geschrieben.

Er bemerkt das Zögern und lässt ihr keine weitere Zeit für lange Überlegungen. „Was möchtest du haben?“, wobei er mit einer Handbewegung auf die verführerisch duftenden Auslagen des Bäckerstandes weißt.

Meint der das ernst?Ungläubig, zögerlich deutet sie auf den Käsekuchen.

„Ein Stück genügt dir? Willst du nicht lieber zwei?“ Da sie weiter zögert, hakt er nach: „Vielleicht noch etwas für später?“

Es folgt ein etwas deutlicheres Nicken.Der meint das wirklich. Kuchen, da ist ja wie Sonntag.Ihre Bewegung erfolgt eher wie:Eigentlich will ich ja gar nicht, aber ich möchte ihn auch nicht enttäuschen.Sie deutet noch zaghafter auf die Pfannkuchen.

Die Verkäuferin erkundigt sich bei ihm: „Mit Zuckerstreusel oder Glasur?“

Die Stimme der Verkäuferin, obwohl nicht direkt an sie gerichtet, bricht den suggestiven Zauber. Ihre kleinen Finger zeigen sofort auf die mit Glasur.

Er lächelt über diese plötzlich aufflammende Willensbekundung. Er kauft sich seinen Pott Kaffee im Pappbecher mit Plastikdeckel und ihr den Kuchen. Da er mit der anderen Hand nach seinem Koffer greift, gibt die Verkäuferin ihr die Kuchentüte. „Hast du noch Lust, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten, während ich meinen Kaffee trinke?“

Sie nickt nur stumm.Ich muss mir schnell was einfallen lassen. Du dumme Gans, hau jetzt endlich ab. Er kann seine Hände nur nutzen, wenn er Koffer oder Kaffee aufgibt. Außerdem dreht er mir den Rücken zu.Eine innere Stimme flüstert: „Folge ihm! Der ist anders, folge ihm!“ Ihre Beine gehen einfach los.

„Komm!“

Er ist bereits drei Schritte fort.Aber sie nickt erneut, obwohl er das ja nicht sehen kann, und läuft, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, neben ihm her.Ich könnte doch einfach weglaufen. Außerdem was soll das heißen, „komm“? Wohin und, noch wichtiger, warum? Der hat mir nichts getan. Wieso? Das ist mir noch nie passiert. Der Typ ist ganz schön groß. Weshalb kauft der mir überhaupt etwas? Will der irgendwas von mir? Nein, der hat gefragt. Keine Spur einer Forderung. Ich bin doch eigentlich nichts für ihn.Viele Fragen und keine Antworten. Ihr ist weder klar noch bewusst, was sie veranlasst neben ihm zu bleiben. Da ist etwas in ihr, das ihr ständig wortlos zuflüstert: „Bleib, bleib.“

Kurze Zeit später sitzen sie eine Etage tiefer nebeneinander auf einer Bank ohne Lehne, mitten im lebhaften Treiben des nachmittäglichen Bahnhofs- und Einkaufsrummels. Sein Koffer an der Stirnseite der Sitzgelegenheit. Kaffee und Kuchen zwischen ihnen. Einzelne und kleinere Gruppen von Menschen, mit und ohne Gepäck, laufen schlendernd oder hastig vor und hinter ihnen vorüber. Bis jetzt hat sie noch kein Wort gesprochen, schaut ihn nur an. Die Hände im Schoß sieht sie aus wie ein wohlerzogenes braves Mädchen, auch wenn ihr sonstiges Äußeres einen krassen Gegensatz dazu bietet. Da ist kein sauberes adrettes Kleidchen, sondern ungewaschene, verschlissene und zerrissene Sachen. Das Oberteil schmutzig, mit Löchern wie aus der Mülltonne. Die Jeans und Schuhe sehen auch nicht besser aus. Gesicht und Hände wirken ungewaschen. Und das frische Backwerk duftet verlockend. Sie berührt es nicht. Im Wohnheim gibt es so leckeren Kuchen nur bei besonderen Anlässen. Dort müssen alle warten bis die Betreuerin ausspricht, dass alle anfangen dürfen. So sitzt sie wartend, jede verstreichende Sekunde qualvoll.

Erst als er sagt „Das ist dein Kuchen oder wartest du noch auf jemanden?“, beginnt sie zu essen.

Sie schlingt den Käsekuchen hastig, gierig hinunter. Bekommt prompt einen Schluckauf. Zu Hause, das was offiziell so heißt, dort wo sie ein Zimmer hat und meistens schläft, da versucht der dicke Hans, weil sie klein und schwächlich ist, wenn die Helferin kurz woanders hinsieht, ihr immer etwas vom Teller zu stibitzen.

Er sagt nur: „Iss langsam, den nimmt dir niemand weg. Außerdem verdaust du auch besser.“ Dann gibt er ihr einen Schluck Mineralwasser aus seiner mitgeführten Reiseverpflegung, damit der Schluckauf weggeht.

Das erste Wort von ihr ist: „Dankeschön!“

„Nanu, ich dachte schon, du bist stumm.“

Sie schüttelt nur den Kopf, weil sie inzwischen herzhaft in den Berliner gebissen hat, und etwas Erdbeermarmelade ihr am Mundwinkel hinunterläuft. Sie versucht mit der Zunge, den süßen Leckerbissen zu erreichen. Ein Bild, welches ihm abermals ein Lächeln abfordert. Sie isst jetzt aber wesentlich langsamer. Er schaut ihr zu und schlürft dabei schlückchenweise den schwarzen ungesüßten Kaffee.

Aus dem Umgebungslärm hebt sich auf einmal das winselnde Quietschen von Kofferrollen ab. Gepolter, gemischt mit einem metallischen Geräusch, folgt. Irgendetwas fällt zu Boden. Ein Mann flucht: „Können Sie nicht aufpassen?“ Eine stolpernde Schrittfolge ist zu hören und eine Person fällt auf ihn. In Wirklichkeit mehr über ihn. Aber er hat schon kurz vorher den Kopf etwas eingezogen. Sich minimal nach hinten gelegt. Dabei hat er eine viertel Drehung mit dem Oberkörper in Richtung des Lärms begonnen. Gleichzeitig greift er zu und hat eine junge Frau im Arm, die er gerade noch vor dem endgültigen Hinfallen bewahren kann. Das Ganze ging so schnell, das Katja nicht einmal bemerkt hat, wann er den Kaffeebecher abgestellt hat.

„Nanu? Eine zweite junge Dame, an einem Tag?“

„Mist. T’schuldigung, wollt ich nicht.“

„Haben Sie sich verletzt?“

„Nein. Sorry, ist mir unangenehm“, schon eilt sie davon. Entschwindet zwischen Reisenden und neugierig in die Schaufensterauslagen sehenden Menschen.

Die Kleine klaubt mit nach vorn geneigtem Kopf auch das letzte Krümelchen vom Pappteller.

„Sind Sie Polizist oder so was?“, fragt sie mit gesenktem Kopf.

„Nein. Auch nicht so was.“ Für einen kurzen Moment sehen diese Augen in sie hinein. Scheinen ihre Gedanken lesen zu können.

Ihr wird mulmig.Hat er mich durchschaut?Doch dann ist alles wieder genau wie zuvor.War das jetzt Einbildung?

Während sie noch grübelt, fragt er scheinbar belustigt: „Nun, der größte Hunger gestillt?“

Sie nickt, gedanklich leicht abwesend.

„Bist du öfter im Bahnhof?“

„Ab und zu“, sagt sie ausweichend nickend.

So beginnt ein recht einseitiges Gespräch. Er möchte keine zu tief gehenden Fragen stellen, und etwas sagt ihr: „Lüge ihn nicht an. Lügen sind überhaupt nicht gut.“

Eine Dreiviertelstunde nach ihrem Aufeinandertreffen verabschieden sie sich. „Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Wenn du mich wieder mal siehst, sprich mich an und greif nicht nach meinem Geld.“

Es klingt für sie überhaupt nicht vorwurfsvoll, sondern wie eine ehrlich gemeinte Aufforderung. Sofort schießt ihr durch den Kopf:Er hat es bemerkt.Mit gesenktem Kopf sagt sie: „Dankeschön, der Kuchen war lecker.“

„Bedanke dich bei der Verkäuferin. Ich habe ihn nicht gebacken. Mach’s gut!“, sagt er freundlich, dabei wendet er sich bereits ab. Geht zügig mit seinem Gepäck in Richtung Rolltreppe.

Sie schaut hinter ihm her, bis er die schiefe Ebene soweit heruntergerollt ist, dass er aus ihrem Blickfeld verschwunden ist.War das jetzt ein Traum? Nein, den Kuchen habe ich gegessen, bin wirklich satt. Ob ich den noch mal wiedersehe? Ist er zurück- oder als Besucher gekommen?Ein Gefühl als hätte sie einen für sie wichtigen Menschen getroffen und wieder verloren beherrscht für kurze Zeit ihre Gedanken.Der hat was.

Er kauft im Bahnhofssupermarkt noch ein paar Grundnahrungsmittel wie Brot und Käse. Anschließend läuft er nach Hause. Nach wenigen Minuten angekommen räumt er seinen Koffer aus, sortiert sofort die Schmutzwäsche und packt die ersten Sachen in die Waschmaschine. Später setzt er sich ins Wohnzimmer, denkt noch ein wenig über die vergangenen Tage nach. Der Begegnung auf dem Bahnhof widmet er ebenfalls eine Weile. Obwohl er innerlich lächelnd an die Episode denkt, geht er nicht davon aus, dass er das Mädchen wiedersieht. Dann kehrt er endgültig in seinen Alltag zurück. Sieht die Post durch, setzt sich anschließend an den Computer, liest und beantwortet E-Mails, trägt Termine in den Kalender ein, bereitet den kommenden Tag vor. Zu vorgerückter Stunde hängt er noch die Wäsche auf und schaut ein Video. Etwas Leichtes zum Entspannen und Abschalten. Weit nach Mitternacht geht er zu Bett. Für ihn ein Abend wie schon ungezählte zuvor. Oh, das ist nicht ganz richtig, er könnte auf Anhieb sagen, wie viele Tage und Nächte es schon so abläuft. Er hat sich in seinem Alleinsein gut eingerichtet.

Sie geht vor den Bahnhof, dort sitzt Manuel mit seiner Gruppe Jugendlicher, bei der sie sich aufhalten darf, die sie aufgenommen, akzeptiert hat, schützt. Diesen Schutz erkauft sie sich mit Betteln, ein kleines Mädchen erregt einfach mehr Mitleid und so bekommt sie meist und mehr Geld als die anderen, welches sie abliefert. Unaufmerksamen Bahnhofsbesuchern nimmt sie auch mal die Brieftasche weg. Das macht sie niemals allein, einer aus der Gruppe ist immer in der Nähe, damit sie diese nächstmöglich, aber unauffällig, übergeben kann. Auch zu kleineren Ladendiebstählen wird sie gelegentlich angehalten. Das läuft meistens so ab: Ein bis zwei Ältere lenken die Aufmerksamkeit von ihr ab oder verdecken die Sicht auf sie. Dann greift sie im Regal nach dem Gewünschten, steckt es schnell unter ihre Kleidung, geht zur Kasse und bezahlt irgendeine andere Kleinigkeit. Einen Schokoriegel, eine Tüte Bonbons oder auch eine Flasche Mineralwasser. Außerhalb der Sichtweite des Ladens übergibt sie die Ware, meist an eine junge Frau mit Kinderwagen aus der Gemeinschaft, oder an eine, die die Schwangere mimt. Weitere Gruppenmitglieder sorgen, falls dies erforderlich sein sollte, für Ablenkung. Wenn sie doch einmal erwischt wird, spielt sie das arme bedauernswerte Mädchen ohne Elternhaus aber mit großem Hunger.

Ein paar Monate lebt sie nun schon so. Übernachten meistens im Wohnheim, eher unregelmäßig in die Schule gehen, nachmittags mit der Clique abhängen, so reiht sich Tag an Tag. Unterbrechungen bestehen fast ausnahmslos aus Ermahnungen oder Strafpredigten von Lehrern und Erziehern.

Kaum draußen angekommen geht sie Manuel, der Anführer, Ältester und nach ihrer Meinung Skrupellosester an: „Ich check das nich. Der Kunde war doch die Cash-Maschine. Warum hast du dem Geldsack nich den Krötenbeutel geschopst oder zumindest ein paar Eier gestaubt? Wir sind hier nicht bei der Wohlfahrt, von irgendetwas müssen wir ja schließlich leben.“

Ihre zaghaft begonnene Verteidigung „Aber er hat es doch bemerkt und …“ wird sofort unterbrochen.

„Da vergammelst du den Tag mit dem Nullchecker, frisst dir den Wanst voll und machst keinerlei Anstalten. Die Sonja hat ihn doch abgelenkt, hattest Zeit bis zum Sankt Nimmerleinstag um zu polen. Heh, was sagst’e nun? Warst wohl schon vom Aasen zu träge? Na, satt bist’e ja, brauchst also die nächsten zwei Tage nichts mehr zwischen die Kiemen.“

„Der war schnell, keine Chance“, sagt Sonja.

Marina, seine Freundin, wendet vorsichtig ein: „Mensch, das kannst’e doch nicht machen, die Kleine hat ja so schon nichts auf den Rippen. Sie schafft doch sonst gut ran. Hat einfach einen schlechten …“

Von Manuel wird ihr umstandslos das Wort abgeschnitten. „Halt’s Mett, meine Knutschkugel, verstehst eh nich … also so was von voll nich. Ihr rallst alle voll, nich. Ich lass mir hier die Birne heiß laufen, damit ihr Gehirnnullen eure Lungenbrötchen in die Fresshöhle kriegt und im Frittenbunker snacken könnt. Ihr möpt nach eurer Phosphatstange, Mafiatorte und wollt spachteln. Also, Terrorkrümel, mach die Socken scharf und pixxle ab. Ohne Scheiß, ey, mach Banane.“

5

Katja kauft beim Bäcker je zwei leckere Pfannkuchen und Schweinsohren. Wenige Schritte vom Stand entfernt bleibt sie stehen. Die Tüte mit den Schweinsohren in der einen Hand und die Pfannkuchen in der anderen. Sie beginnt gewollt ungeschickt einen Pfannkuchen herauszufingern und ihn möglichst unbeholfen langsam zu essen. Auf keinen Fall darf sie den zweiten Pfannkuchen aus der Tüte nehmen. Sie wartet.

Peter wartet ebenfalls auf seinen Einsatz. Er schlendert von Schaufenster zu Schaufenster, achtet dabei auf den Späher in der Bahnhofshalle. Er versucht dabei, möglichst immer auf einer Linie mit Katja zum Kundschafter zu bleiben.

Zwei Bundespolizisten kommen von ihrer Zigarettenpause zurück in den Bahnhof. Das ist das Einsatzsignal. Katja rennt zu Peter, welcher zügig auf Katja zugeht. Unmittelbar vor dem Aufklärer strauchelt sie, gleitet aus. Dabei greift sie scheinbar wahllos nach diesem. Versucht den Sturz durch Festhalten zu verhindern. Sie purzelt ihm direkt vor die Füße. Ihre Kuchentüten lässt sie sehr platziert fallen. In dem Moment ist Peter zur Stelle. Fixiert auf Katja rempelt er anscheinend ungewollt den Spion sehr kräftig an. Dieser strauchelt, hat Mühe das Gleichgewicht zu finden. Wobei er auf eine der heruntergefallenen Kuchentüten tritt. Peter indes fängt ihn. Eigentlich hilft er unbemerkt ein wenig nach, sonst wäre der Fuß nicht auf dem Kuchen gelandet. Aber er verhindert damit den Fall. „Oh, bitte entschuldigen Sie vielmals“, sagt er laut.

Andere Reisende werden aufmerksam. Stellen sich zu der Dreiergruppe. Katja beginnt ein lautes Jammern und Wehklagen. „Mein schöner Kuchen. Mein schöner Kuchen.“

Peter wendet sich ihr zu: „Bist du verletzt?“

„Mein Kuchen“, greint sie geräuschvoll weiter.

Jetzt mischt sich die erste zufälligerweise dazugekommene Reisende ein. Sonja. „Also, wissen Sie,“ wendet sie sich an den Kundschafter, „haben Sie keine Augen im Kopf? Wie können Sie nur so blind sein und dieses kleine Mädchen einfach so umstoßen?“

Seine Antwort ist unverständlich, aber deutlich stammelnd. Seine Sprache ist nicht die hiesige.

Sonja sieht scheinbar erst jetzt die zermatschte Tüte. „Und den Kuchen der Kleinen haben Sie auch zertreten. Sie sollten dem Mädchen den Schaden ersetzen!“

Andere Reisende mischen sich ein. Sonja und Peter beruhigen die Menschen, dass aber so ungeschickt, dass sie die Situation aufheizen. Die Personenanzahl um den Vorfall wächst stetig weiter. Diskutiert wird lautstark miteinander. Gestritten wird über den eigentlichen Hergang und über moralische Vorstellungen im Allgemeinen und Speziellen. Katja nutzt dieses Getümmel. Ein vorbereiteter Wattebausch mit ein wenig Rouge – aus Sonjas Vorrat – verfärbt ihr Knie. Jetzt sieht es wirklich so aus, als sei sie darauf gefallen. „Papa, Papa. Mir tut das Knie so weh“, bringt sie unter vielen Tränen hervor. Der Informant in der Bahnhofshalle befindet sich mittendrin. Ohne Chance, etwas von den vorbeieilenden Polizisten zu sehen. Wenn er sie in einer kleinen Lücke doch sieht, kann er nicht zum Telefon greifen.

Zur gleichen Zeit spricht Marina die beiden Raucher in dem Moment an, als diese das Bahnhofsgebäude betreten. „Entschuldigen Sie, könnten Sie mir bitte helfen? Meinem Freund ist draußen schlecht geworden und er klagt über starke Schmerzen im linken Arm und im Brustkorb.“

Der Kleinere von beiden greift zu seinem Sprechfunkgerät. „Wir haben einen vermuteten Herzanfall vorm Eingang Westhalle. Schickt bitte einen Rotkreuzmann.“ Dabei gehen sie mit Marina wieder nach draußen.

Rotkreuzmann ist das vereinbarte Kennwort. Über fünfzig Polizeibeamte haben nur darauf gewartet. Ein Teil von ihnen besetzt zunächst unauffällig alle Ausgänge. Der abgelenkte Beobachter hat davon nichts mitbekommen.

Paul sitzt mit einer Bekannten schon seit einer guten halben Stunde auf einer Bank unweit der Dealer. Dort unterhalten sie sich zunächst ruhig. Das Gespräch wird jedoch zunehmend lauter und heftiger. Manuel nähert sich mit Senta ebenfalls gemächlich, bedächtig aus der gegenüberliegenden Richtung. Senta schnüffelt hier und da. Herrchen hat heute sehr viel Zeit.

Die Polizisten kommen mit Marina aus dem Bahnhof. Das ist für die drei, oh Verzeihung, mit Senta natürlich vier, sowie für weitere Polizisten das Signal zur unmittelbaren Bereitschaft.

Der inszenierte Streit eskaliert. Die junge Frau springt zornig auf. Läuft laut schimpfend und fluchend vom Bahnhof weg in Richtung der Bank, auf der die Dealer sitzen. Sie erreicht diese jedoch nicht ganz. Sie sieht Senta. Auf einmal hat sie gewaltige Angst vor dem vermeintlich gefährlichen Hund. Dieser ist an der langen Leine. Hechelnd läuft er genau auf sie zu. Schnuppert sie an. Sie bleibt wie erstarrt stehen.

Manuel befiehlt leise: „Gib Laut!“ Senta fängt zu knurren und zu bellen an, immer wieder angestachelt von Manuel.

Die Dealer beobachten die Szene gebannt. Andere Passanten verzögern ihren Schritt und schauen, was da wohl los ist.

Plötzlich ist Paul auch bei der Bank. Spricht seine Bekannte an. Versucht sie aus ihrer gespielten Angststarre zu lösen. Senta schnüffelt auf einmal Richtung der Sitzenden. Sie beginnt zu knurren. Legt die Ohren zurück, fletscht die Zähne, bellt wütend.

Die Dealer können wegen des entstandenen Auflaufs, der ständig von Neugierigen vergrößert wird, weder sehen was Richtung Bahnhof passiert, noch können sie aufstehen. Zur linken Seite steht Manuel. Senta blockiert die Vorderseite. Der muskelbepackte Paul mit seiner Bekannten versperrt die Dritte.

Direkt vorm Bahnhof erlebt einer der Pillen- und Tütchenverkäufer eine herbe Überraschung. Ein Kunde zieht auf einmal in aller Ruhe statt des erwarteten Geldes eine Polizeimarke und Handschellen aus der Tasche. Um die zwei auf der Decke sitzenden Scheinbettler stehen plötzlich mehrere Polizisten. Bei jedem der weiteren Außenbeobachter sind auf einmal wie aus dem Nichts Uniformierte aufgetaucht. Beim festgenommenen Verkäufer finden sich noch weitere kleine Päckchen. Die beiden auf der Decke haben da schon mehr zu bieten. Heroin. Ecstasy und viele nicht sofort definierbare Tabletten. Der Zugriff erfolgt zeitgleich an allen Stellen. Ein gutes Timing.

Alle werden praktisch zeitgleich festgenommen, auch die auf der Bank. Der Beobachter im Bahnhof versucht noch zu fliehen. Er stößt einen Beamten zu Boden. Der Angriff kam zu unvermutet. Der Polizist hat keine Chance. Aber Peter greift schnell und kräftig zu. Erwischt ihn an der Jacke. Dabei macht der Flüchtende unsanfte Bekanntschaft mit den Bodenfliesen und gleich darauf mit den Handschellen des zweiten Polizisten.

Der Einsatzleiter in Zivil geht mittlerweile Richtung Bank. Pauls Hand liegt auf dem Oberarm der Freundin. Alle Finger sind geschlossen. Als der ihm bekannte Beamte sich auf fünfzehn Meter genähert hat, spreizt er die Finger. Das Zeichen für Manuel sich herumzudrehen und wegzulaufen. Zufällig genau in Richtung Einsatzleiter.

„Halt, wo wollen Sie denn so eilig hin? Sie sind vorläufig festgenommen wegen Verdacht auf Drogenhandel und Fluchtgefahr!“ Plötzlich sind weitere Polizisten erschienen. Einer hält Manuel am Oberarm. Ein weiterer flucht. „Vermaledeit! Was machen wir denn mit dem Hund?“

Senta bellt noch immer die Dealer auf der Bank an. „Senta, aus!“, befiehlt Manuel. Der richtige Befehl hätte „Senta, nein!“, lauten müssen. Senta bleibt vor der Bank und bellt weiter. „Komm her, Senta.“

Senta trottet zu seinem Herrchen, knurrt aber weiter. Zum Einsatzleiter gewandt und nur für diesen hörbar: „Darf ich?“, und macht eine Kopfbewegung Richtung Hund.

„Ja. Wie abgesprochen.“ Zum Polizeibeamten, der scheinbar bei der Einsatzbesprechung nicht voll anwesend war: „Lassen Sie den Mann los.“

Dem Polizisten dämmert allmählich, dass er einen Fehler gemacht hat. „Hoffentlich gibt das Hundevieh endlich Ruhe“, sagt er jetzt scheinbar genervt und deutlich zu laut.

Andere Polizisten haben die meisten Passanten zerstreut. Es ist wieder mehr Freiraum um die Bank und die ebenfalls verhafteten Dealer. Bisher hat alles wie abgesprochen geklappt. Die Verhaftung, die falschen Befehle an Senta und auch die abfällige Bemerkung waren abgesprochen. Jedoch fehlen die Drogen und es soll alles weiterhin wie zufällig aussehen.

Manuel hockt sich vor seine Hündin. Leise gibt er den Befehl: „Such! Bleib!“ Er stellt sich wieder hin. Wendet sich den Polizisten zu. „Senta, jetzt!“, befiehlt er kurz vorm Blickwechsel. Auf einmal ist sie weg. Von Manuel scheinbar unbemerkt.

Senta sucht. Erst interessiert sie sich auffallend für die Hosentaschen der Dealer. Sie beginnt böse zu knurren. Mit der Nase an der linken Tasche des Mannes schlägt sie einmal sehr laut an. Die Polizisten fordern die beiden auf, ihre Taschen zu leeren. Anschließend wird der Erste abgeklopft und es erscheinen ein Röhrchen mit Tabletten, fünf Tütchen sowie ein Springmesser. Beim Abklopfen des Zweiten wird bei diesem ebenfalls ein Springmesser und zusätzlich eine Schusswaffe gefunden.

Der Einsatzleiter meint: „Na, mein Freund, ich nehme an, dafür haben Sie einen Waffenschein. Oder sollte ich mich irren?“ An beide gewandt: „Sie wissen schon, dass es nicht erlaubt ist, solche Messer mit sich herumzutragen? Wo sind die restlichen Drogen?“

Sie bleiben stumm.

„Ihr wisst Bescheid. Was? Trotzdem kurz die Belehrung, alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Sie sind hiermit vorläufig festgenommen. Noch einmal die Frage: Haben Sie noch mehr Drogen versteckt?“

Erneut erfolgt keine Antwort.

„Abführen!“

Manuel hat in der Zwischenzeit Senta mit Leckerli belohnt. Da er mittlerweile die Hände in Handschellen auf den Rücken hat, musste sie ihm einer vom SEK aus der mitgeführten Umhängetasche nehmen. Dann hat er sie mit Worten und einer sehr entspannten Stimmlage etwas beruhigen können. Sie bleibt trotzdem sehr aufgeregt und nervös. „Warten Sie bitte noch einen Moment.“ Er wendet sich Richtung Gebüsch und sagt erneut: „Such!“ Senta läuft wie verrückt los, als hätte sie nur darauf gewartet und schlägt erneut an. Springt laut bellend wie wild vor dem Gebüsch herum. Manuel ruft sie zurück und belohnt sie erneut. Zu den sie umgebenden Uniformierten gewandt: „Können wir ein paar Meter weggehen, damit meine Dame hier wieder zur Ruhe kommt?“

Nach kurzer Rücksprache mit dem Einsatzleiter: „O.k., gehen wir zum Wagen dort.“ An jedem Arm hält ihn einer der Polizisten. So wird er mit Hund zu einem Kleinbus gebracht und muss hinten einsteigen. Die Türen schließen sich.

Alle verhafteten Personen sind abtransportiert worden. Nur Manuel nicht. Der sitzt mit Hund und zwei in schwarz gekleideten Herren im Polizeiwagen. Diese unterhalten sich entspannt mit ihm. Sie wissen seit einem kurzen Funkspruch mit dem Einsatzleiter, dass sie den Initiator der ganzen Aktion vor sich haben. Die ruhigen Stimmlagen aller Anwesenden beruhigen auch Senta, die, als wäre nichts gewesen, treu zu Füßen ihres Herrn liegt.

Es vergeht eine weitere Viertelstunde. Ein Mann in Zivil, der sich als Kriminalkommissar Horn vorstellt, steigt in den Wagen. Gleich danach auch der Einsatzleiter, mit dem Schlüssel für die Handschellen. Diese werden Manuel jetzt abgenommen. Nachdem er sich etwas die Handgelenke gerieben hat, streichelt er seine Senta, die sich gewaltig über die Aufmerksamkeit ihres Herrchens freut.

„Na, Herr Sorgenfrei,“ spricht er Manuel an, „ich glaube, die Aktion ist gut gelaufen. Eine genaue Auswertung müssen wir natürlich noch vornehmen. Die Spurensicherung ist auch noch bei der Arbeit. Wir bringen Sie jetzt nach Hause. Am Bahnhof sollten Sie heute und morgen nicht erscheinen. Wir brauchen noch Ihre Aussage, wo können wir Sie die nächste Zeit erreichen?“

„Entweder bei meiner Unterkunft oder natürlich auf dem Bahnhofsvorplatz. Haben wir es so weit geschafft“, dabei tätschelt er Senta den Kopf, „ich will sagen, meine Freunde und diese Dame hier, dann bringen wir es auch zum Abschluss. Ich stehe weiterhin zu Ihrer Verfügung.“

„Eine Frage noch, so aus reiner Neugierde. Wieso ist Ihr Hund ein scheinbar ausgebildeter Drogenspürhund?“

Manuel druckst etwas herum. „Wissen Sie, vor etwa zwei Jahren ist mein älterer Bruder an einer Überdosis gestorben“, kommt es sehr leise. „Ich habe ihm am Grab versprochen, dass sein Tod nicht ganz umsonst war. So habe ich ein noch vorhandenes Tütchen genommen, um meine Senta hier darauf scharf abzurichten. Ich bin zwar ein Aussteiger und bestimmt nicht fehlerfrei … Drogen kommen aber bei mir und meinen Freunden nicht infrage.“

„Ungewöhnlich. Ich glaube, ich verstehe es. Zumindest ansatzweise.“

Vorm Bahnhof ist noch ein paar Stunden ungewöhnliches Treiben. Die Einsatzpolizei, die Spurensicherung und die mittlerweile eingetroffene Kriminalpolizei in Zivil haben die gesamte etwa fünfzehn Meter lange und sechs Meter breite Wiese mit allen Büschen und den davor befindlichen Bänken mit Sichtschutzzäunen abgesperrt. Alles wird sehr gründlich abgesucht. Es kommen mehrere Plastiktüten mit Drogen, aber auch Zigaretten ohne Steuerbanderole zum Vorschein.

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