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»Warum habe ich mein Beil im Hackblock vergessen?« Katja Klein hat Angst. Auf der Kehr geht ein Axtmörder um. Zwei Frauen mittleren Alters hat er bereits den Schädel gespalten. Das erste Opfer, Marita Bausch, hat syrische Familien auf einem Hof betreut, das zweite stand in besonderer Beziehung zu Katjas früherem Freund, dem belgischen Polizeiinspektor Marcel Langer. Der kann selbst nicht ermitteln, weil ihn die deutsche Polizei unter Mordverdacht in Katjas Restaurant Einkehr festsetzt. Dort lernt er seine aparte Enkelin Anouk kennen, der es die Sprache verschlägt: Die Vierzehnjährige weiß offenbar mehr als ihr guttut. Als sie in Gefahr gerät, läuft Marcel zur Hochform auf …
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Seitenzahl: 247
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Martina Kempff Kehrblechblues
Martina Kempff ist Autorin und Übersetzerin und hat mehr als die Hälfte ihres Lebens im Ausland verbracht: In San Francisco, Berlin und Helsinki aufgewachsen, zog es sie nach der Zeit als Redakteurin und Reporterin bei der ›Berliner Morgenpost‹, ›Die Welt‹ und ›Bunte‹ nach Griechenland. Nach zwölf Jahren in Amsterdam führte die Sehnsucht nach dem deutschen Sprachraum sie in die Eifel. Hier spielen ihre Krimis um die Hobby-Gastronomin Katja Klein und den belgischen Polizeiinspektor Marcel Langer.
MARTINA KEMPFF
Originalausgabe
© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20 Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von: © Andi Taranczuk, © Smileus,
© prosign und © manyasha - www.fotolia.de Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-317-1 E-Book-ISBN 978-3-95441-334-8
Für Nathalie Heinen, die meinen deutschsprachigen Belgiern nicht nur beim Quatschverzähl mit dem Bic die Cric und anderes in den Mund legt.
ÜBER DIE EIFEL:
»Unsere Geschichte ist vielgestaltig wie das herbe Land von Venn und Schneifel, spannend und vielschichtig zu jeder Zeit.
Wohl haben sich die Schichten in den letzten hundert Jahren verengt,
sie sind näher aneinandergerückt, haben sich überlagert und sind durchsichtiger geworden, wohl deswegen auch konfliktträchtiger.
Ein scheinbar unbegrenzter Fortschritt und eine rasante geistige Umschichtung haben innerhalb von zwei Generationen das Eifeldorf total verändert.
Grenzpolitische Umwälzungen überlagerten zusätzlich diese Entwicklung, sie schufen eine neue Werteskala, sie wiesen neue Orientierungen.«
Hubert Jenniges (Streiflichter),belgischer Publizist (1934-2012)
Die Kehr gibt es tatsächlich.In diesem verschlafenen Weiler der Schnee-Eifel (siehe Karte) treffen Belgien, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz aufeinander. Die heute noch gebräuchliche Flurbezeichnung »Auf der Kehr« stammt aus den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts. Entstanden ist die Ortschaft, als die alte Straße von Trier über Prüm, Losheim und Büllingen nach Aachen ausgebaut wurde. Ebenjene Staatsstraße, die seit 1922 die Kehr in einen belgischen und einen deutschen Teil zerschneidet und die auf der Kehr eine Kurve, eine Kehre eben, beschreibt. Einigen Gerüchten zufolge soll der Flecken seinen Namen allerdings von der einstigen Hinrichtungsstätte beziehen, die heute noch Auf dem Gericht heißt: Missetäter seien dort früher vom Galgen »weggekehrt« worden.
In Wirklichkeit leben dort sechzig Menschen; in meinen sieben Kehr-Krimis stoßen nach und nach dazu:
Katja Klein: Die einstige Berliner Moderedakteurin geriet auf der Suche nach ihren Wurzeln in einen Mordfall und blieb danach auf der Kehr hängen. Wie das Böse auch. Katja wird ständig in Verbrechen verwickelt, dabei möchte sie eigentlich nur abenteuerliche Gerichte für die Einkehr ersinnen. Ihr Restaurant steht auf der deutschen, ihr Wohnhaus hingegen auf der belgischen Seite der Bundesstraße.
Marcel Langer: belgischer Polizeiinspektor mit wenig Sinn für geordnete Kleidung und konventionelle Ermittlungsmethoden. Er ist Katja lange Zeit in besonderer Weise verbunden gewesen, und es ist durchaus denkbar, dass dies wieder so werden könnte.
Gudrun Arndt: Katjas Freundin und Mitarbeiterin in der Einkehr, die immer wieder an problematische Männer gerät, derzeit eine feste Beziehung hat, aber vor allem frisch gewienerte Böden liebt. Sie ist auf der Kehr aufgewachsen und wohnt wieder in ihrem einstigen Elternhaus, das eine böse Geschichte hat.
Hein Mertes: ein ehemaliger Kölner Eventmanager, der zwar nicht mit Geld, aber sehr gut mit dem Internet umgehen kann. Er hilft Katja als Kellner und Webseitenmanager. Die Einkehr war früher sein Elternhaus. Er fährt mit der »Roten Zora« einen teuren Sportwagen, hat ein Faible für extravagantes Schuhwerk, sarkastische Bemerkungen und wechselt gerne mal die Haarfarbe.
Jupp Esch: Heins Lebenspartner, der mit ihm und dem Pferd Jumbo im nahe gelegenen Losheim wohnt. Einsanft mütiger Riese, der als genialer Handwerker alles reparieren kann, nebenbei Zeit für feine Handarbeiten findet und für alles und jeden Verständnis hat.
David Quirk: Die Mutter des Texaners stammt von der Kehr, weshalb es ihn vor Jahren dorthin verschlagen hat. Mit Gudrun unterhält der wenig entschlussfreudige Koch der Einkehr eine wechselhafte Beziehung. Derzeit ist von Hochzeit die Rede.
Daniel Seifenbach: Der junge Mann liebt alle Kreaturen, auch seinen Vater David Quirk, den er erst unter dramatischen Umständen als Halbwüchsiger auf der Kehr kennengelernt hat. Ganz besonders liegt ihm Linus am Herzen, der Labrador-Staffordshireterrier, den Katja geerbt hat und dem mehr als einmal eine lebensrettende Rolle zugekommen ist.
Zum Auftakt bricht erst ein heilloses Durcheinander aus, dann jemand in die Einkehr ein, dadurch etwas in Katja auf, und schließlich macht sich auch noch jemand einen Reim darauf.
Gebratenes Rindfleisch in dünne Scheiben schneiden, Möhren, Paprika, Zucchini und Lauchzwiebeln sehr kurz in Sesamöl anbraten, eine Auflaufform abwechselnd mit einer Lage Fleisch und Gemüse auslegen.
Etwas kochende Gemüsebrühe mit Sahne, süßer Chilisauce, italienischen Kräutern und einem Schuss Schnaps vermischen, darüber gießen, alles mit geraspeltem Käse bestreuen und bei 180 Grad Umluft etwa 45 Minuten garen lassen.
Als Erster riecht der Hund den Braten.Der schwarze Labrador-Staffordshireterrier springt vom handgeklöppelten Ruhekissen und wirft bellend seinen mächtigen Leib gegen die geschlossene Tür des Restaurants. Die ich vor lauter Schreck aufstoße. Schon ist der Hund hinausgeflitzt und um die Ecke verschwunden.
»Linus! Komm sofort zurück!«
Eine völlig nutzlose Aufforderung.
Gudrun stürzt aus der Küche herbei. »Katja?!«
Ich breite verzweifelt die Arme aus. »Linus ist mir abgehauen. Kannst du …«
Meine patente Mitarbeiterin hebt eine Hand und hält die andere ans Ohr. »Komm mit!«, faucht sie dann, schnappt sich das Telefon und rennt in ihren Birkenstocksandalen in den kalten, matschigen Morgen hinaus. Hinter ihr schwingt die Holztür wieder zu.
»Warum das Telefon?«, murmele ich. »Mein Hund hat doch kein Handy.« Als ich in meine Gummistiefel steigen will, schreckt mich plötzliches Gerumpel auf.
Tellerstapel scheppern auf der Anrichte, Gläser klirren, und an der Wand zittern Jupps Landschaftsbilder. Unter mir vibriert der Holzboden.
Kein Poltergeist, kein Erdbeben: Der Lärm kommt von draußen.
Ich reiße die Haustür weit auf. Dabei fällt ein Engel aus der Adventsdeko. Was ich erst merke, als ich ihm auf der Schwelle einen Flügel zertrete. Das Plastikteil bohrt sich durch meinen Pantoffel. Doch der Schmerzensschrei bleibt mir im Hals stecken. Was ich sehe, ist sehr viel schlimmer als das, was mich unterm Schuh drückt.
»Komm sofort her, Katja, hilf mir!«
Das kann Gudrun unmöglich ernst meinen. Ich stelle mich doch keiner Horde wild gewordener Kühe in den Weg! Die Erde bebt. Dutzende dieser Rindviecher, gefühlt Hunderte, kommen in einem Affenzahn aus Richtung Hallschlag herangeschossen. Einige machen solche Bocksprünge, dass mir angst und bange wird. Ein Wunder, dass sie sich nicht gegenseitig zertrampeln! Gudrun ist zur Seite gehüpft. Sie brüllt, macht sich lang und wedelt mit den Armen. Doch gegen Linus kann sie nichts aus richten. Der treibt fröhlich bellend die Tiere vor sich her – direkt auf die Bundesstraße zu, die Deutschland von Belgien trennt. Die schwarz-weiße Welle ist nicht aufzuhalten.
Dann geht alles ganz schnell. Reifen quietschen, es knallt. Wagentüren oder Blech auf Blech, das kann ich von meiner Warte aus nicht sehen. Wohl aber die Männer, die brüllend an den Tierleibern vorbeitanzen und durch Herumfuchteln und Aufstampfen Ordnung in das Chaos zu bringen versuchen. Todesmutig halten sie das Viehzeug davon ab, sich auf der Bundesstraße zu verlaufen. In Windeseile stellen sie zwischen Deutschland und Belgien einen tierischen Transitkorridor her.
Als ich endlich wieder Luft holen kann, ist das galoppierende Unheil bereits auf meinem Grundstück im Königreich auf der anderen Straßenseite eingezogen. Irgendjemand muss das Gatter zur einstigen Weide hinter dem Haus geöffnet haben. Erstaunlich, wie schnell sich die rasende Horde auf der nie gemähten Fläche in eine friedlich grasende Herde verwandelt. Welch unfassbares Glück, dass sich der aktuelle Verkehr aus kuherprobten Eifelern zusammengesetzt hat!
Eilig schlüpfe ich in meine Gummistiefel, stolpere die drei Stufen hinunter und blicke voller Bangen auf die Straße. Kreuz und quer stehen da fünf Autos, eines fast im Straßengraben. Nur zwei scheinen sich etwas zu nah gekommen zu sein. Ein Mann in Leuchtweste stellt in der Kurve der Kehr sein Warndreieck auf. Ich atme tief durch. Kein totes Tier, kein toter Mensch. Und hundert Kühe hinter meinem Wohnhaus.
Linus kommt über die Straße gehetzt, um sich von mir sein Lob abzuholen. Sein fröhliches Gekläff mündet in empörtes, als ich ihn flugs ins Hinterzimmer sperre. Dann eile ich los, um Gudrun zur Seite zu springen, die vor meinem Bruchsteinhaus von aufgebrachten Männern angeschrien wird. Jedenfalls mit dieser Spezies kann ich besser umgehen als sie.
»Seid doch froh, dass nix passiert ist!«, rufe ich, als ich mit Schnapsgläsern und einer Flasche Eifelbrand auf dem Tablett die Straße überquere.
»Die sind nicht uns, die Viecher!«, wehrt Gudrun verzweifelt die Männer ab, schreit dann ins Telefon: »Martin, deine Kühe stehen in Belgien. Komm sofort her!«
»Erst mal die Autos ordentlich parken«, sage ich. »Und dann den Schreck runterspülen.« Ich stelle das Tablett auf der Bank vor meinem Haus ab und fülle die Gläser. Meine Frage, ob ich die Polizei rufen sollte, wird mit Verständnislosigkeit quittiert.
»Wofür das denn?«
Die beiden Männer mit kleinen Blechschäden einigen sich so untereinander, wie das hier üblich ist. Jeder hilft sich selbst, seinem Nächsten und notfalls eben auch entlaufenen Kühen beim Grenzübertritt.
Wenig später kehrt die animalische Hundertschaft unter Leitung des herbeigeeilten Eigentümers über die Bundesstraße wieder nach Deutschland zurück. Bauer Martin Quetsch entschuldigt sich für das Ungemach. Am Türpfosten seines Laufstalls habe sich der Stift der obersten Kette gelöst, erklärt er. Deshalb hätten die Tiere quer durch den Melkstand und die Melkküche ins Freie entwischen können.
Beim geordneten Rückzug wandern auch zwei der Helfer als Nachhut die Straße zum Hof hinunter.
Kopfschüttelnd blicke ich dem Almabtrieb hinterher. »Dass diese dicken Eifeler Rinder so sprinten können …«
»Das sind keine Rinder«, unterbricht mich Gudrun.
»Das sind Kühe.«
»Jede Kuh ist doch ein Rind!« Offenbar nicht hier in der Eifel.
»Ein Rind wird erst zur Kuh, wenn es gekalbt hat. Davor ist es ein Rind, danach nicht mehr.«
»Wie kann man dann aus einer Kuh Rindersuppe machen?«
»Aus einem Stier auch«, antwortet sie ungerührt. »Das ist ganz was anderes. Martin hat keine Rinder, nur Kühe.«
Ich bleibe vor den drei Stufen zur Einkehr stehen. »Wo ist der Engel?« Den Schmerz der scharfen Flügelkante spüre ich immer noch unter meiner Fußsohle. Das Teil selbst ist von der Stufe verschwunden.
Gudrun zieht die Tür auf. Knallt sie aber sofort wieder zu und sieht mich entgeistert an. »Einbrecher!«, flüstert sie und deutet zur Tür. »Da drin.«
»Unsinn. War doch gar nicht abgeschlossen.« Ich reiße die Tür weit auf.
Seltsame Einbrecher. Direkt vor dem Eingang sind fünf Stühle ordentlich aufgereiht. Auf dem mittleren lehnt der zertretene Engel an einer Stumpenkerze mit flackerndem Docht und sieht mich schief an.
»Hallo?«, rufe ich in den Gastraum und puste die Kerze aus.
»Advent, Advent, kein Lichtlein brennt, und hier ist keiner, der mich kennt.«
Ein kindliches Stimmchen. Vor mir materialisiert sich ein schmächtiges Wesen, das ich erst auf den zweiten Blick als vielleicht vierzehnjähriges Mädchen erkenne. Das kurze, dunkelbraune Haar steht in alle Richtungen vom Kopf ab. Die Kleine trägt nicht nur einen viel zu großen, grünen Overall, sondern auch unsere Registrierkasse. Besser gesagt, sie schleppt sich damit ab. Und hält mir jetzt das Ding über die Neubestuhlung hin.
»Macht hoch die Tür, die To-hor macht weit, ich brauche Geld, hab kei-heine Zeit«, singt sie.
Ich fackele nicht lange, sondern werfe meine zwei Zentner augenblicklich in die Schlacht. Der Engelssitz stürzt um, die Registrierkasse knallt zu Boden und das Mädchen auch.
»Rotzgöre! Mach, dass du rauskommst!«
Sie schüttelt den Kopf und deutet mit einem zittrigen Finger zur Tür.
Ich drehe mich um. »Gudrun«, sage ich heiser. »Das brauchen wir jetzt wirklich nicht.«
»Wir haben ja sonst keine Waffe hier«, sagt sie und lässt das Beil sinken.
»Hau ab!«, schreie ich das Mädchen an. »Oder willst du etwa, dass wir die Polizei rufen?«
»Ja«, jubelt sie. »Die Polizei, die macht mich frei, herbei, herbei, die Polizei.« Im Takt zu ihrem Reim haut sie mit den Fäusten auf den Boden, rappelt sich dann auf und setzt höflich hinzu: »Aber bitte nur die belgische Polizei.«
Gudrun und ich sehen einander an.
»Das ist kein Einbruch«, verkündet meine Freundin kopfschüttelnd. »Bist du von zu Hause weggelaufen, Kind?«
»Ich bin kein Kind. Ich bin Belgierin. Rufen Sie bitte sofort Polizeiinspektor Marcel Langer an!«
»Marcel Langer?«
Zumindest verfügt Gudrun noch über die zwei Wörter, die diesen Namen ausmachen. Mir hat es schon wieder die Sprache verschlagen. Was ist dies nur für ein Tag? Lauter verhaltensgestörte Wesen, erst der Hund, dann die Kühe, jetzt dieses Kind. Das einen Namen ausgesprochen hat, der in diesen vier Wänden sehr lange nicht erwähnt wurde. Fast genauso lange, wie sich dieser Mann hier nicht hat blicken lassen. Aus gutem Grund, wie meine Freunde wissen. Für Außenstehende hat nur eine wechselhafte Beziehung ihr natürliches Ende gefunden. Vor anderthalb Jahren ist Katja Klein ihr langjähriger Lebenspartner abhandengekommen. So was passiert nun mal.
»Genau. Marcel Langer«, wiederholt das Mädchen.
»Rufen Sie den an, oh Mann.«
Ohne zu mir hinzublicken, drückt Gudrun entschlossen aufs Telefon. Die Nummer ist immer noch gespeichert. »Marcel? Hier ist Gudrun.« Sie schweigt einen Moment und setzt ihren Nachnamen hinzu: »Arndt. Du musst sofort herkommen. Für eine kleine, belgische Ausreißerin abzuholen.«
Das Mädchen hebt den ramponierten Engel auf und flegelt sich auf einen Stuhl. »Wann kommt er?«, fragt sie, als Gudrun aufgelegt hat.
»Gleich«, antwortet meine Freundin und sieht mich intensiv an.
Ich stelle die Registrierkasse aufs Buffet. »Dann gehe ich mal einkaufen«, sage ich.
»Nix da! Du bleibst hier. Das ist dein Restaurant, deine Einbrecherin und dein …«
»… Problem«, komme ich Gudrun zuvor.
»Genau. Hast du Hunger?«, fragt sie die Teenagerin. Die streichelt dem Engel das goldene Plastikhaar und schüttelt den Kopf. Plötzlich wirkt sie ausgesprochen verängstigt. Kann ich nachempfinden. Nicht nur sie hat mit einem Mal der Mut verlassen.
Ich flüchte in die Küche, als ich wenig später den belgischen Polizeijeep vorfahren höre.
»Tach, Gudrun, was ist denn hier los?«
Als wäre er gestern zum letzten Mal hereingeschneit.
Ich öffne die Gefriertruhe, ziehe ein steif gefrorenes Rinderfilet hervor und drücke es mir ans Herz.
Unverständliches Murmeln von Gudrun. Dann wieder Marcels Stimme: »Wie heißt du, Frolleinchen?«
»Anouk.«
»Und weiter?«
»Langer. Anouk Langer.«
Ich muss mich verhört haben. Andererseits: Es gibt sehr viele Langers in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, kurz DG genannt. Nah verwandt kann das Mädchen mit Marcel schließlich nicht sein, wenn er sie nicht mal kennt. Meine Neugier ist jetzt größer als die Beklommenheit, Marcel ins Gesicht zu sehen. Mit dem Rinderfilet im Arm schreite ich in den Gastraum.
Marcel hat mir den Rücken zugekehrt. Mein Gott, wie gebeugt er da steht! Er ist noch dünner geworden und das zerzauste Haar mehr grau als schwarz.
»Was tust du hier, Anouk Langer?«
»Eingebrochen ist sie«, meldet sich Gudrun.
Das Mädchen hebt die dünnen Arme. »Konnt nicht ruh’n, musst was tun. Will nämlich gern dich kennenlern‘ … Opa.«
Das Rinderfilet rutscht mir aus den Armen, donnert erst auf den bereits von unten geschädigten Fuß, schliddert dann über den Holzfußboden und knallt gegen Marcels Hacke.
Der dreht sich blitzschnell um. Erschrocken hält er sich die Hände vors Gesicht. Hoffentlich hat ihn mein Anblick nicht bestürzt. Sondern nur das aggressive Rindfleisch. Oder die Botschaft, dass er plötzlich Opa geworden ist.
Wie sich als ERSTES ein buntes Bild blutrot einfärbt.
Rohe Weiße, Gelbe und Rot-weiße Bete in hauchdünne Scheiben schneiden, in einer Honigsenfsauce marinieren und fächerförmig auf dem Rand eines großen Tellers verteilen.
Auf Rucolablätter in der Mitte den Rest der Marinade schütten, darauf vorsichtig Scheiben der getrennt marinierten Roten Bete legen, diese mit kleinen Stückchen Ziegenkäse garnieren, der mit Thymian und Orangensenf verfeinert wird. Geröstete Pinienkerne darüberstreuen.
Eine Stunde später
Wie kannst du denn nicht wissen, dass Marcel eine Enkelin hat!« Hein lässt das Bündel Bunter Bete vom Wochenmarkt vor dem runden Tisch zu Boden fallen und schüttelt anklagend die Fäuste zum Fenster hin. Aus dem starre ich schon seit fast einer Stunde. Marcel und Anouk sitzen immer noch im belgischen Polizeijeep vor der Einkehr und lernen sich kennen. Ich platze fast vor Neugier. Doch die beschlagenen Scheiben erlauben nur eingeschränkten Blick auf gestikulierende Schemen.
»Wo ich doch grad erst geputzt habe!« Mit spitzen Fingern hebt Gudrun den Gemüsebund auf und bringt ihn in die Küche.
Heins Lebenspartner Jupp lässt sich neben mir nieder und schüttelt bekümmert den Kopf. »Marcel hat es doch
selbst nicht gewusst. Das ist sehr, sehr traurig. Wenn man nicht mal seine eigene Familie kennt.«
»Sieh’s positiv: Was man nicht kennt, kann man auch nicht hassen.« Hein wirft sich auf einen Stuhl. »Was hocken die beiden da draußen im Auto rum?«
Ich fasse das Wenige zusammen, was ich bisher weiß: »Anouk macht auf dem Campingplatz in Hallschlag Ferien …«
»Ferien? Haben die in Belgien etwa schon Weih nachtsferien?«
»Was weiß ich. Jedenfalls ist sie da mit ihrer Mutter, also Marcels Tochter …«
»Eine Tochter hat er auch noch?«
»Irgendjemand muss ihn ja zum Opa gemacht haben.
Jetzt lass mich doch mal ausreden, Hein! So wie ich das verstanden habe, hatte Anouk einen Riesenkrach mit ihrer Mutter. Da ist sie abgehauen und in die Einkehr eingedrungen. Und jetzt will sie ums Verrecken nicht zum Camping zurück.«
»Was wollte sie denn hier?«
»Sie hat gehört, dass ihr Opa bei uns verkehrt«, antwortet Gudrun, die jetzt mit Blech und Besen über die drei Erdkrümel auf dem Holzfußboden herfällt.
»Verkehrt«, echot Hein spöttisch und hebt die Füße. Prompt fährt ihm Gudrun mit dem Handfeger auch noch über die Sohlen.
»Grundverkehrt«, stimme ich zu. »Möchte mal wissen, wer dem Mädchen eine derart verkehrte Information gegeben hat.«
Jupp deutet aus dem Fenster. »Aber jetzt ist Marcel doch wieder da.« Seine Stimme klingt hoffnungsvoll.
»Draußen vor der Tür«, sagt Hein, »warum nicht hier im Warmen? Damit wir auch was mitbekommen.«
Genau deshalb hatte ich Opa und Enkelin das akustisch schlecht isolierte Hinterzimmer für die kleine Familienkonferenz angeboten.
»Da könnt ihr ganz in Ruhe miteinander reden.«
Die ersten Worte, die ich nach anderthalb Jahren an meinen einstigen Lebensgefährten richtete, gingen mir erstaunlich leicht über die Lippen. Vermutlich, weil ich geschäftig Richtung Ausweichzimmer deutete, um gar nicht erst Augenkontakt herzustellen. Die außerordentliche Situation hatte uns beiden jedenfalls höfliche Fragen nach der jeweiligen Befindlichkeit erspart.
»Nee, lieber nicht, danke«, lehnte Marcel ab. »Ich erinnere mich noch gut an die Ohren dieser Wände.«
Zwischen denen sich plötzlich laut kläffend auch eine Kehle meldete. Klar, Linus hatte endlich gecheckt, dass sein alter Freund wieder aufgetaucht war.
Verschreckt zuckte Anouk zusammen. »Hab Angst vor Hunden zu allen Stunden«, flüsterte sie. »Krieg Panikattacke … meine Hacke!«
»Hat Frau Klein früher auch gehabt.« Marcel klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Aber dieser liebe Hund hat sie ihr ausgetrieben. Er heißt Linus.«
»Ist niedlich und friedlich? Stubenrein und winzig klein?«, sang sie hoffnungsvoll.
Marcel und ich wechselten zum ersten Mal einen Blick. Ganz unverfänglich und in bestem Einvernehmen. Wie das eben ist, wenn man sich wortlos darauf einigt, einen halben Kampfhund zum ganzen Schoßhund zu deklarieren.
»Nicht so ganz winzig«, sagte Marcel prompt.
»Schon etwas größer als Snoopy«, ergänzte ich genauso vorsichtig.
The hound from hell hatte ich das schwarze Ungetüm bei unserer ersten Begegnung sieben Jahre zuvor genannt. Nicht auszudenken, wie Anouk reagiert hätte, wenn ihr das riesige, schwarze, inzwischen stellenweise grau gewordene Vieh im Gastraum entgegengesprungen wäre. Wer solch finsterer Gestalt unvermittelt gegenübersteht, kann ja nicht wissen, dass sein gutmütiges Wesen sein Erscheinungsbild Lügen straft. Schreiend wäre Anouk auf die Straße gestürzt, hätte Chaos in den geordneten Rückzug der Kühe gebracht und wäre womöglich selbst überfahren worden. Mein schlechtes Gewissen, den Hund wieder einmal eingesperrt zu haben, wich großer Erleichterung.
Bis Marcel etwas sagte, das mich in höchste Alarmbereitschaft versetzte: »Geh du schon mal zu meinem Auto, Anouk, ich muss noch kurz mit Frau Klein reden.«
Ich erschrak. Um Himmels willen, jetzt bitte keine Aussprache, keine Vergangenheitsbewältigung, keine Erklärung. Vor allem kein Alleinsein mit dem Mann, der mir im vorigen Jahr in seinem letzten Satz angekündigt hatte, sehr lange wegbleiben zu wollen und sich daran auch gehalten hat.
Zum Glück machte Anouk keinerlei Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten. Stattdessen griff sie sich eine Gabel aus dem Besteckkasten.
»Ich sage dir, ich bleibe hier!«, rappte sie, schlug im Rhythmus dazu mit der Gabel erst auf die Registrierkasse, dann gegen ein Weinglas und sang in dessen Klingen hinein: »Willst mich zu meiner Mama bringen, werd ich aus deinem Auto springen!«
Marcel applaudierte kurz. »Hübsch gedichtet, aber du wärst die Erste, die aus einem Polizeijeep rausspringen kann.« Er warf die Autoschlüssel auf den runden Tisch.
»Damit du beruhigt bist, Anouk. Ich will nur gemütlich mit dir reden. Jetzt geh schon, sing im Auto weiter, aber lass die Cric in Ruhe und die Scheiben ganz. Bin gleich da.«
Die Kleine legte die Gabel in den Besteckkasten zurück. Sie blieb einen Augenblick lang unschlüssig am Buffet stehen. Dann schlang sie plötzlich die Arme um Marcel und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Die hochgerutschten Hosenbeine legten zierliche Knöchel frei. Den einen umhüllte eine grasgrüne Baumwollsocke, den anderen eine azurblaue. Ganz der Opa. Letzter Zweifel an der Verwandtschaft des Mädchens mit Marcel war zerstreut und meine Fassung gänzlich dahin. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, dem der Anblick ungleicher Socken zu verstörender Erkenntnis verhilft: Über die Sache mit Marcel bin ich noch lange nicht so hinweg, wie ich es mir in den vergangenen Monaten vorgegaukelt habe.
»Der Schnurrbart kratzt, wenn man dich schmatzt.« Auch das noch. Bloß nicht dran denken.
Marcel klopfte dem Mädchen unbeholfen auf den Rücken. »Jetzt geh zum Auto, Anouk. Ich hab hier noch was zu erledigen.«
Wahrscheinlich mich. Endgültig. Mit den Augen bedeutete ich Gudrun, sich jetzt bloß nicht auch noch zu verdrücken. Ich brauchte jeden Beistand, den ich kriegen konnte. Doch sie missverstand mich gründlich.
»Ich muss auch was erledigen. Die Axt zurückbringen und den Dreck von den Kühen draußen wegräumen. Kannst mir helfen, Anouk.«
Die beiden waren schneller zur Tür raus, als ich Luft holen konnte.
»Kühe?«, rätselte Marcel.
Ich atmete aus. Kühe waren ungefährlich. Wenigstens als Gesprächsthema. »Die Stampede von vorhin. Martins Kühe sind ausgebüxt.«
»Was passiert?«
»Ging glimpflich ab.«
»Glück gehabt. Kann bös enden, so was.«
»Ich weiß!« Oje, da hatte mir meine Stimme einen Streich gespielt. Falscher Ton. Er hallte wie eine Rechtfertigung nach. Schrill, verzweifelt. Ja, ich weiß, dass ich im vergangenen Jahr einen gewaltigen Fehler gemacht habe! »Alles gut gegangen«, setzte ich leise nach. »Kühe wieder im Stall.«
Marcel nickte.
»Danke.«
»Wofür?«
»Dass du hier warst.«
»Wegen Anouk?«
»Genau. Und überhaupt.« Er streckte eine Hand aus.
»Freunde?« Es klang sehr unverbindlich. Gleichzeitig befremdlich und befreiend.
Nicht lange überlegen, dachte ich. Einschlagen, aber nicht zögerlich, sondern kräftig. Ein fester Händedruck eben. Genau das wünschte ich mir doch: eine normale Freundschaft zu Marcel. Aber was ist hier auf der Kehr schon normal?
Die Tür flog auf. Anouk stürzte herein und schnappte sich den Autoschlüssel vom runden Tisch.
Marcel packte sie am Schlafittchen, bevor sie wieder rausrennen konnte. »Halt, Frolleinchen!«
»Auto ist zu, mein Opa bist du.« Über seinen Kopf hinweg drückte sie auf den Türöffner, riss sich dann los und tauschte am Buffet den Autoschlüssel gegen den zertretenen Engel ein.
»Den will ich zurück, der bringt mir Glück! Bin schon weg vom Fleck!«
»Ich komm gleich nach.«
Da wir jetzt wieder Freunde waren, konnte ich Marcel die gleiche Frage stellen, die mir Hein später im Restaurant zuschleudern würde: »Warum wusstest du nichts von deiner Enkelin?«
»Lange Geschichte.«
»Kurzfassung?«
»Als meine Ex schwanger war, hat sie sich in einen anderen verliebt und ist mit dem abgehauen. Kein Kontakt seitdem.«
»Auch nicht später zu deinem Kind?«
»War nicht erwünscht.«
»Unterhalt?«
»Bis Josephine erwachsen war. Dann habe ich ihr geschrieben. Der Brief kam zurück. Ende der Geschichte.«
»Wieso hast du mir das nie erzählt?«
»Wem hätte das geholfen?«
Mir, dachte ich. Mir hätte es geholfen, vieles besser zu verstehen, vor allem Marcels ungewöhnlich emotionales Engagement, wenn es darum ging, Schaden von jungen Mädchen abzuhalten. Hätte ich wenigstens diesen Teil seines Familiengeheimnisses schon im vorigen Jahr gekannt, hätte unsere Beziehung womöglich die Zerreißprobe bestanden. Weil ich ihm gegenüber dann bestimmt ehrlicher gewesen wäre.
»Wie geht es jetzt weiter? Mit Anouk?«, setzte ich eilig hinzu.
»Erst mal kennenlernen. Mir einen Reim auf sie machen.« Er hob eine Augenbraue. »Und dann mit ihrer Mutter reden.«
»Und was ist mit ihrer Großmutter?«
»Was soll mit der sein?«
»Wirst du mit ihr auch reden?«
Marcels Gesicht verdunkelte sich. Aber nur sehr kurz.
Dann kehrte das schiefe Lächeln wieder zurück, das ich seit Monaten nur noch in meinen Träumen gesehen hatte.
»Eifersüchtig?« Er trat einen Schritt auf mich zu. Näher ging nicht ohne Berührung. Also hob ich eine Hand und fuhr ihm so wie früher mit den Fingern durch das wirre Haar.
»Oh, oh, oh!«, gluckste es von der Tür. »Ihr habt euch also wieder lieb!«
»Nicht übertreiben, Gudrun. Bis gleich.« Und damit schob er sich an ihr vorbei.
Erwartungsvoll sah sie mich an.
»Nix Liebe, Gudrun, wir sind nur wieder Freunde, das ist alles.«
»Das ist doch schon mal ein Anfang. Muss ich sofort David erzählen.«
Seither ist eine Stunde vergangen. In dieser Zeit hat Gudrun ihren Freund David auf der anderen Seite des Großen Teichs aus dem Schlaf gerissen. Die frohe Botschaft von Marcels Wiedererscheinen auf der Kehr und die erstaunliche über die unbekannte Enkelin verband sie mit dem Flehen, er möge bald wieder heimkehren. Und seine Mama mitholen. Nein, nein, nein, nicht wegen ihrer anstehenden Hochzeit, da wolle sie gar nicht drängen. Aber seiner leidenden Mutter könne in Deutschland bestimmt viel besser geholfen werden. Man höre ja so schreckliche Dinge über die amerikanische Krankenversorgung.
Ja, ja, ja, er dürfe jetzt weiterschlafen, sie müsse ohnehin kochen. Letzteres brüllte sie mehr mir zu als ihm. Doch auf dem Ohr war ich taub, denn ich war nicht gewillt, meinen Aussichtsposten zu verlassen.
Dabei hätte ich mich schon längst an die Vorbereitung für die Abendgäste begeben sollen. Hein und Jupp zeigten sich also ziemlich erstaunt, als sie mich träge am runden Tisch aus dem Fenster schauen sahen. Nach ihrer Rückkehr vom Wochenmarkt hatten sie aufgeregt bei Marcel ans Auto geklopft, aber nur erfahren, dass er in Ruhe mit seiner Enkelin sprechen wolle. Womit wir wieder im Hier und Jetzt gelandet sind.
»Schön«, sagt Jupp versonnen. Der vierschrötige Mann hat die mächtigen Ellenbogen auf den Tisch gestützt, sein Gesicht in beide Pranken geschmiegt und strahlt zum Fenster hinaus.
»Was ist schön, Jupp?«, frage ich verständnislos.
»Dass du vielleicht bald Oma wirst, Katja.«
Noch einer, der auf meine Wiedervereinigung mit Marcel versessen ist! Wo ich doch selbst noch nicht einmal weiß, ob uns beiden das gut täte.
»Und das ganz ohne Schwangerschaftsstreifen und schreiendes Baby«, ergänzt Hein. »Aber der Pubertätsstress, oje … Schon herausgefunden, was die Kleine für Macken pflegt?«
»Sie dichtet.«
»Herz, Schmerz. Dann hat sie Liebeskummer. Wie du.« »Hab ich nicht. Nur Sorge, dass Gudrun die Rote Bete mit den anderen mischt und sich dann alles einheitlich blutrot einfärbt. Ich geh mal in die Küche.«
»Schöne Farben in all dem Grau«, höre ich Jupp sagen, als ich schon im Flur bin. »Aber warum kommen die nur so angerannt?«
Ich bleibe stehen.
»Was? Schon wieder Kühe?«
»Unsere Syrer«, Hein springt auf und reißt die Eingangstür so heftig auf, dass die gesamte Adventsdeko vom Türhaken fällt. »Die kommen nicht zum Essenholen. Da muss was passiert sein. Wenn die sich schon freiwillig auf ein Polizeiauto stürzen! Mal sehen, was da los ist.«
Ich bin ihm auf den Fersen.
»Vorsicht!« Jupp nimmt mich am Arm, kickt das elende Zweiggebilde von den Stufen und rennt dann mit mir hinter Hein her.
Marcel ist bereits aus dem Wagen gestiegen. Umringt von den bunt gekleideten Frauen und Kindern der beiden geflüchteten Familien, die vor Kurzem in einem leer stehenden Nachbarhof untergebracht worden sind, versucht er, sich in lautem Geschrei, Geheul und Gewusel Gehör zu verschaffen. »What, what, what?« Sein Englisch ist eine Katastrophe. Aber »dead« und »killed« versteht auch er.
»Katja!«, ruft er und winkt mich herbei. »Frag sie, wer tot ist. Was zum Teufel ist hier los?«
Alima, die ältere der beiden Frauen, fällt mir um den Hals. »Marita is dead, Katja!«, schluchzt sie. »Someone killed her. We can’t go back. The children …«
»Wer um Himmels willen ist Marita?«, fragt Marcel.
»Kommt ins Haus«, sagt Jupp und nimmt eines der Kinder an die Hand.
»Na los, auf zum Hof!«, drängt Hein.
»Kümmer dich um die Leute!«, fahre ich ihn an. »So wie sie!« Ich löse mich von Alima, deute auf Anouk, die einem fünfjährigen Jungen ihren Engel zeigt, das Kind dann auf den Arm nimmt und mit ihm aufs Restaurant zugeht.
Marcel ist sichtlich überfordert.
»Wer ist Marita? Wo kommen bloß die ganzen Leute her?«
»All go inside please! We’ll take care of everything.« Als ob wir das könnten. Alles unter Kontrolle kriegen.
Aber mein gebieterischer Ruf wirkt. Innerhalb von Sekunden sind Marcel und ich allein.
»Mein Gott«, sage ich, hole tief Luft und setze zu einem Sprint an. »Wir müssen sofort rüber. Zum Hof hinter der Kurve. Vielleicht können wir Marita ja noch retten.«
Meine Hoffnung ist gering. Unsere syrischen Nachbarn haben in ihrem heimatlichen Aleppo und auf ihrer jahrelangen Flucht hinreichend mit Mord und Unheil zu tun gehabt. Sie wissen, wie ein toter Mensch aussieht. Andererseits sind sie schrecklich traumatisiert. Vielleicht haben sie doch nur Gespenster gesehen.
»Komm!«, bringe ich hervor und bedeute Marcel mit beiden Händen, mir zu folgen.
»Mit dem Auto!«
»Bis du den Schlüssel von da drinnen …« Weiter kann ich nichts sagen. Mir ist schon nach zwanzig Metern die Puste ausgegangen.
Der Motor heult auf. Natürlich, der Eifeler geht nicht nur nie zu Fuß, sondern lässt seinen Autoschlüssel auch nie unbeaufsichtigt liegen, schon gar nicht ein belgischer Polizist. Er reißt die Beifahrertür auf. Ich werfe mich in den Wagen und dirigiere Marcel zu dem Hof, der jahrelang unbewirtschaftet war und seit drei Monaten zwei Flüchtlingsfamilien ein Zuhause bietet.