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Deutschland fällt auseinander "Wohlstand für alle" lautet seit Ludwig Erhard das zentrale Versprechen aller Regierungen. Tatsächlich jedoch werden seit Jahrzehnten Reiche immer reicher, während immer größere Teile der Mittelschicht abgehängt werden und von der Hand in den Mund leben müssen. Das ist weder Zufall noch Schicksal, sondern das Ergebnis einer Politik, die sich immer stärker einem modernen Neoliberalismus verpflichtet sieht. Schonungslos dokumentiert Ulrich Schneider, wie es um die soziale Einheit Deutschlands wirklich bestellt ist. Er geht der Frage nach, wie es möglich ist, dass in einer Demokratie eine Politik Mehrheiten finden konnte, die wenige Reiche privilegiert, aber breite Bevölkerungsschichten benachteiligt. Schneider zeigt, wo Sozial- und Steuerreformen ansetzen mu¨ssen, um dieses Land wieder zusammenzuführen.
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Seitenzahl: 300
Ebook Edition
Ulrich Schneider
Kein Wohlstand für alle!?
Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können
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ISBN 978-3-86489-662-0
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
»Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.«
Immanuel Kant
Niemand, der mit offenen Augen durch die Lande geht, wird abstreiten können, dass Deutschland gerade dabei ist, sich selbst zu zerlegen. Der Glaube an den wenigstens bescheidenen Wohlstand für alle, der unsere Republik so lange zusammengehalten hat, ist zunehmend passé. Nehmen wir Berlin. Stadtviertel wie der Grunewald mit seinen eingemauerten, herrschaftlichen Villen und Marzahn oder Neukölln haben überhaupt nichts mehr miteinander zu tun. Auch die Menschen haben nichts mehr miteinander zu tun. Wer durch Berlins Mitte flaniert, der geht vorbei an den Schickimicki-Restaurants der »Reichen und Schönen«, in denen man gern mal einen Hunderter und mehr für das Abendessen lässt, an prächtigen Einkaufspassagen mit genauso unverschämten Preisen, an den Showrooms von Bugatti oder Daimler-Benz mit ihren auf Hochglanz polierten Nobelkarossen, die so viel kosten wie manch ein Eigenheim. Edeldesigner stellen ihre verrückten und überdrehten Modekreationen in die Schaufenster, bei denen man sich fragt, was das wohl für Menschen sein mögen, die mit so etwas herumlaufen, und wann sie das tun. Es sind Schaufenster in eine andere Welt, die sich nicht so recht erschließen will.
Man geht vorbei an den protzigen Bankhäusern, die mit ihrer großzügigen Architektur und ihrem modernen Prunk symbolisieren, dass hier das Geld zu Hause ist. Nicht weit davon die Fünf-Sterne-Hotels mit den bekannten Namen, vor deren einschüchternden Empfangsportalen die Limousinen halten, deren Türen von Portiers im altmodischen Livree geöffnet werden. Man könnte einfach hineingehen in die weiträumige Lobby, doch fühlt man sich fremd und fehl am Platz, nicht zugehörig, und geht lieber gleich wieder hinaus.
Steigen wir in den Bus, brauchen wir nur wenige Minuten, damit uns die andere Wirklichkeit wieder einholt: Schulgebäude, die so gar nichts mit den prächtigen Bankgebäuden und Luxushotels zu tun haben, sondern wo die Farbe verwittert und der Putz abblättert; »Grünanlagen«, die schon lange kein Grün mehr gesehen haben; Ein-Euro-Shops für die breite Masse und die Schnäppchenjäger.
Bewegt man sich durch Berlin, überschreitet man häufig ganz und gar nicht unsichtbare Grenzen zwischen diesen Parallelwelten. Berlin steht dabei für viele deutsche Großstädte. In Hamburg, Stuttgart oder München sieht es nicht anders aus. Man sieht, wo das Geld sitzt, man wird »erschlagen« von dem unglaublichen Luxus und niedergedrückt von der tiefen Tristesse nur einige Kilometer weiter. Man würde sich ja gern mitfreuen, wenn die Kanzlerin und ihre Gefolgschaft trotzig und laut verkünden, Deutschland und den Deutschen gehe es so gut wie nie zuvor. Nur wen meint sie? Die sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher in Deutschland kann sie unmöglich meinen. Auch nicht die eine Million Alten und Erwerbsgeminderten, die ihr Geld vom Sozialamt bekommen. Sie wird auch nicht jene 40 Prozent unter uns meinen, die keinen Cent auf der hohen Kante, sondern bestenfalls Schulden haben und von der Hand in den Mund leben.
Angesprochen fühlen von der Kanzlerin dürften sich wohl eher diejenigen, die sich weiter oben auf der Einkommensleiter eingerichtet haben. Vor allem werden ihr aber jene reichsten 10 Prozent unter uns – oder besser: über uns – zustimmen, die ihren Reichtum in den letzten Jahrzehnten immer weiter mehren konnten, denen heute bereits drei Viertel des gesamten privaten Vermögens in Deutschland gehört und die nicht vorbeigehen an den Nobelrestaurants und Nobelhotels, sondern dort ganz selbstverständlich einkehren, um vielleicht bei einem Gläschen Jahrgangsschampus anzustoßen darauf, wie gut es Deutschland geht.
Auch politisch scheint Deutschland in eigentümlicher Weise »auseinanderzufallen«, sich zu polarisieren. Und beides, das Soziale und das Politische, hat miteinander zu tun. Beides ist das Ergebnis eines kalten Neoliberalismus, der in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend Platz gegriffen hat. Sein Renditestreben wurde entfesselt und mit seiner Philosophie der Ungleichheit machte er in der gesellschaftlichen Realität auch vor Armut und Ausgrenzung keinen Halt. Naiv war es zu glauben, politisch würde in Deutschland alles beim Gewohnten bleiben können, wenn man einen Niedriglohnsektor befördert, in dem heute mittlerweile jeder vierte Arbeitnehmer tätig ist; wenn man es zulässt, dass in vielen Städten mittlerweile jedes fünfte, in einigen sogar jedes dritte Kind von Hartz IV lebt; wenn man nur halbherzig gegen eine Mietpreisentwicklung vorgeht, die in so mancher Großstadt mittlerweile auch Familien mit mittlerem Einkommen vor echte Probleme stellt; oder wenn man die Menschen von oben herab schulmeistert, sie sollten schon mal anfangen, für das Alter zu sparen, die Rente würde ohnehin bald nicht mehr reichen.
Wer die vielen Deklassierungen in Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen will und stattdessen die Lage schönredet, redet an ganz vielen Menschen einfach vorbei. Er sorgt dafür, dass sie sich nicht mehr verstanden fühlen mit ihren Sorgen, Problemen und Abstiegsängsten. Solange sich Regierungspolitiker wie unsere Bundeskanzlerin in die Fernsehstudios setzen und vor einem Millionenpublikum erklären, sie würden das Problem verstehen, dass sich immer mehr Menschen abgehängt »fühlen«, offenbaren sie lediglich, dass sie nur sehr wenig verstanden haben. Die Menschen fühlen sich nicht abgehängt, sie sind abgehängt. Es geht um echte Armut ganz unten und um sehr begründete Abstiegssorgen bei Teilen der Mittelschicht, nicht um irgendeine emotionale Verwirrung, der man am besten therapeutisch beikommen sollte. Genau so müssen solche Sätze bei den Menschen jedoch ankommen. Es dürfte ebenfalls nicht sonderlich vertrauensfördernd sein, wenn man einerseits erklärt, die Nöte und Sorgen einer abgehängten Unterschicht und einer bedrohten Mittelschicht ernst zu nehmen, andererseits aber faktisch alles beim alten politischen neoliberalen Grundmuster belässt – so wie es in Deutschland praktisch seit Jahrzehnten der Fall ist.
Auch Deutschland ist vor Wahlergebnissen wie bei der US-Präsidentschaftswahl nicht gefeit. Im neoliberalistischen Mainstream wurden insbesondere seit der Jahrtausendwende massiv Schutzrechte für Arbeitnehmer abgebaut und soziale Leistungen eingeschränkt. Das Rentenniveau wurde auf Talfahrt geschickt. Den Menschen wurde ein ganzes Stück sozialer Sicherheit genommen. Wer sehr gut verdient und einen sicheren Job hat, kann damit umgehen. Für diejenigen aber, für die jeder Cent zählt und deren Jobs alles andere als sicher sind, häufig nur befristet oder als Leiharbeit, ist es eine echte Bedrohung – und wird auch so wahrgenommen. Es reicht dann der Zuzug von Flüchtlingen, wie wir ihn in den letzten beiden Jahren hatten, um die politische Situation völlig kippen zu lassen, um Rassismus und Aggression hochkommen zu lassen und jenen eine Chance einzuräumen, die mit nationalistischen Parolen erfolgreich sein wollen.
Doch es waren nicht die Geflüchteten. Es war die neoliberale Ungleichheitspolitik und die damit verbundenen Ausgrenzungen und Bedrohungen. Sie sind die Voraussetzung und tiefere Ursache dafür, dass sich Menschen in Deutschland plötzlich wieder in erschreckend großer Zahl einer Partei zuwenden, die von Intoleranz geprägt ist und aus deren Reihen prominente Mitglieder ungestraft den Schusswaffengebrauch an Deutschlands Grenzen gutheißen können, gegen Flüchtlinge und sogar gegen Frauen und Kinder, den Begriff »völkisch« wieder aufleben lassen wollen oder mit bieder-rassistischen Sprüchen gegen dunkelhäutige Fußballnationalspieler Stimmung machen. In einer sozial gefestigten Gesellschaft, in der die Menschen auf soziale Sicherheit und eine Politik hätten vertrauen können, die sich um sie »kümmert«, wäre der Flüchtlingszuzug auch mit Problemen, aber nicht mit derartigen politischen Verwerfungen verbunden gewesen.
Gründe genug also, sich intensiver mit dem bröckelnden sozialen Zusammenhalt in Deutschland auseinanderzusetzen. In Teil eins dieses Buches möchte ich nicht nur der Frage nachgehen, an welchen Fakten sich festmacht, dass Deutschland tatsächlich dabei ist, sich selbst zu zerlegen. Ich möchte auch aufzeigen, dass dieser Prozess der Selbstzerlegung die geradezu zwangsläufige Folge einer Wirtschafts- und Sozialpolitik ist, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker dem Neoliberalismus und seinen ökonomistischen Glaubenssätzen zuwandte. Ich möchte erklären, warum der Neoliberalismus gar nichts anderes kann, als immer mehr Armut zu gebären, selbst wenn er Wohlstand für alle verheißt. Es liegt in der »Natur« des Neoliberalismus und seines Wettbewerbsfetischs selbst, dass er in großer Zahl Verlierer erzeugt; und zwar immer mehr.
Wie aber konnte eine ökonomistische Ideologie wie die des Neoliberalismus derart populär, derart erfolgreich im Sinne von durchsetzungsstark werden? Und wie kann es sein, dass eine ganz breite Mehrheit in der Bevölkerung sich permanent gegen ihre eigenen Interessen verhält? Wie kann es sein, dass seit Jahrzehnten eine Politik goutiert wird, die im Ergebnis relativ wenige Reiche privilegiert, aber breite Bevölkerungsschichten benachteiligt? Diesen Fragen werde ich mich im zweiten Teil des Buches widmen. Denn erst wenn wir verstanden haben, was zu solch absurdem Verhalten treibt, bekommen wir den Schlüssel an die Hand, mit dem wir die Tür zu einem echten Politikwechsel aufgeschlossen bekommen könnten.
Im dritten Teil geht es um konkrete Vorschläge, was getan werden kann, um das Auseinanderdriften dieser Gesellschaft zu stoppen und sie wieder zusammenzuführen. Ich will darlegen, wie unsere sozialen Sicherungssysteme zu reformieren wären, damit die Menschen ihnen wieder vertrauen können und wieder mehr soziale Sicherheit gewinnen. Die vollständige Agenda wäre sehr lang. Sie reicht von der ganz wichtigen Arbeitsmarktpolitik über die so lange Jahre sträflich vernachlässigte, aber immer wichtiger werdende Wohnungspolitik, über die Vorschulerziehung und Bildungspolitik bis hin zur Politik für Menschen mit Behinderung. Es ließe sich leicht ein mehrbändiges Werk schreiben. Viele dieser Themen werden auch an verschiedenen Stellen in diesem Buch angesprochen. Doch habe ich mich ganz bewusst dafür entschieden, mich auf die großen Säulen unseres Sozialstaates, seine Sozialversicherung, seine Grundsicherung und seinen Familienlastenausgleich zu beschränken. So wichtig gerade auch soziale Dienste und Einrichtungen sowie ein Bildungssystem sind, das alle mitnimmt, werde ich sie nicht im Detail abarbeiten, denn in den großen Linien gibt es dazu gar keinen Dissens. Mir ist niemand bekannt, der die Bedeutung von guter Bildung, guter Pflege oder einer guten sozialen Arbeit geringschätzen würde.
Streit gibt es immer nur, wenn es um das Geld geht für all diese Angebote. Das ganze Gerede um mehr und bessere Kinderbetreuung oder sogenannte gezielte Hilfen für unsere Armen, die besten sozialpädagogischen Konzepte, die es ja für alle nur denkbaren Bereiche gibt, bleiben eine rein akademische Übung, wenn das Geld fehlt, um sie umzusetzen und in der Fläche Realität werden zu lassen. Auch für eine gute soziale Infrastruktur vor Ort ist die Voraussetzung eine Steuer- und Finanzpolitik, die sie materiell ermöglicht.
Ohne Umverteilung kann und wird es uns nicht gelingen, diese Gesellschaft zusammenzuhalten. Wie eine neue solidarische und gerechte Steuerpolitik aussehen kann, soll daher die Agenda dieses Buches abschließen. Es ist die Steuerpolitik, die sozialpolitische Versprechungen glaubwürdig werden lässt oder auch nicht. Deutschland ist das viertreichste Land dieser Welt. Wir haben alle Möglichkeiten, das Auseinanderfallen dieser Republik zu verhindern und eine gerechte und gute Gesellschaft für alle zu schaffen.
Wir sollten uns da wirklich nicht länger etwas vormachen. Und zum Glück sind es in letzter Zeit auch mehr und mehr Menschen, die sich endlich den Tatsachen stellen. Das bringt andere wiederum ganz schön ins Rotieren. Aber es ist nun einmal so, und es hilft überhaupt nicht, die Sache schönreden zu wollen: Deutschland ist dabei auseinanderzufallen.
9. November 1989: ein Tag, von dem an nicht nur für Ostdeutschland alles anders werden sollte. Auch in Westdeutschland sollte sich Vieles gravierend ändern. Ein neoliberaler Wind, der uns im Westen nicht fremd war, begann nun bis in die letzte Ritze des Landes hineinzupfeifen. Richtig kalt wurde es. Globalisierung hieß das Phänomen, mit dem offener als zuvor gedroht wurde. In den Erzählungen von Konzernlenkern, Politikern, Wissenschaftlern und Wirtschaftsjournalisten kam sie rüber wie ein Dämon. Wir müssten Opfer bringen, wenn er uns nicht alle wirtschaftlich vernichten soll. Nur durch geringere Löhne, niedrigere Steuern, weniger Sozialstaat und weniger Schutzrechte für Arbeitnehmer werde es gelingen, in diesen Zeiten der Globalisierung zu bestehen. Die Verheißung wurde selbstverständlich auch gleich mitgeliefert: Wenn wir all diese Opfer gebracht hätten, würde sich ein neuer freier Markt entfalten. Befreit von (sozial-)staatlichen Fesseln würde dieser Markt Deutschland einen Reichtum bescheren, von dem am Ende alle zehren könnten. Alle würden wir nach einer gewissen Zeit als Sieger aus diesem weltweiten Kampf hervorgehen. Allen würde es besser gehen – in Deutschland wohlgemerkt. (Die damit zusammenhängenden Probleme globaler Ausbeutung wurden zur weiteren Bearbeitung in das Ressort Entwicklungshilfe abgeschoben.)
Das war vor rund einem Vierteljahrhundert. Und es wurde ernst gemacht. In wechselnden Regierungen begannen fast alle Parteien, unseren Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung zu »schleifen«.
Ausgerechnet »Solidarpakt« nannte Bundeskanzler Helmut Kohl sein Projekt, mit dem er nach der Vereinigung deren Folgekosten in den Griff bekommen wollte – ein Euphemismus sondergleichen. Es war das genaue Gegenteil von Solidarität, was die damalige Koalition aus Union und FDP mit diesem Pakt etablierte. Dabei war der Titel eigentlich gar nicht so schlecht. Die Vereinigung war ein historisch herausragender Glücksfall und eine historisch herausragende Herausforderung zugleich. Man hätte ein entsprechend historisch herausragendes Zeichen der Solidarität durchaus erwarten können. Viele erinnerten sich noch an den Adenauerschen Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg, den allein und ganz gezielt die Reichen durch Abgaben auf ihr Vermögen stemmen mussten. 50 Prozent betrug die Lastenabgabe, zu zahlen binnen dreißig Jahren.1 So etwas ging damals noch.
Was jedoch nach der Vereinigung unter dem Titel »Solidarpakt« firmierte, waren vor allem Kürzungen bei den Sozialleistungen. Es war in Wirklichkeit ein Pakt gegen die wirtschaftlich und politisch Schwachen, gegen die Ohnmächtigen, die keine Lobby hatten und die nun um soziale Rechte und Leistungen gebracht wurden. Beim Erziehungsgeld wurde geknapst, beim BAföG gestrichen, beim Wohngeld, bei der Arbeitsförderung und schließlich auch beim letzten Netz, in der Sozialhilfe.2 Es waren die Armen West, die nun mit den Armen Ost teilen sollten, um die Vereinigungslasten zu stemmen. Die Reichen sollten dabei so weit wie möglich geschont werden.
Auch dem Letzten hätte angesichts dieses Solidarpakts klar werden müssen, wohin die Reise in Deutschland nun endgültig gehen sollte und wer die Oberhand gewonnen hatte. Von vielen wurde der Mauerfall weniger als ein Symbol der Befreiung, der friedlichen Revolution, sondern vor allem als Symbol eines weltweiten Sieges des westlichen Kapitalismus über den im Osten praktizierten Sozialismus und Kommunismus interpretiert.
Es wurde nicht nur der Osten, sondern auch Westdeutschland einfach mal umgekrempelt. So viel freie Marktwirtschaft wie möglich, das war die Devise. Städtische Schwimmbäder wurden genauso in die »gewerbliche Freiheit« entlassen wie Energiebetriebe oder Wasserwerke. Städtisches Wohneigentum wurde verscherbelt. Die Bundesbahn wurde zur Aktiengesellschaft, selbst die altehrwürdige Bundesdruckerei wurde erst zur GmbH umgewandelt und dann ganz abgestoßen. Auch in der Medizin und der Pflege wurden gewinnorientierten Unternehmen gesetzliche Breschen geschlagen, damit sie dort ihre Profite machen konnten.3
1998 kam die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Im Gepäck hatte sie ein geradezu einmaliges Steuerentlastungsprogramm für Spitzenverdiener und Unternehmen. Der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer fiel von 53 auf 42 Prozent, die Körperschaftsteuer wurde auf 25 Prozent gesenkt und für Gewinne, die die großen Konzerne mit dem Verkauf von Aktienpaketen oder ganzen Tochtergesellschaften machten, mussten sie gar keine Steuern mehr entrichten.4
Es folgten Rentenreformen, die uns die Riesterrente bescherten und ansonsten vor allem das Ziel hatten, die Beiträge zu senken und langfristig zu deckeln. Hierzu wurde das Rentenniveau auf einen atemberaubenden Sinkflug geschickt, von damals noch 53 Prozent auf bis zu 43 Prozent in 2030.
Unter Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) wurden die Regeln für die Leiharbeit gelockert. Die Branche begann zu boomen und die Zahl der Leiharbeiter verdreifachte sich. Waren es damals noch 280 000, sind es aktuell fast eine Million.5 Der Umsatz der Branche explodierte von 6,6 auf 19,1 Milliarden Euro in 2014.6
Schließlich kamen die berüchtigte Agenda 2010 und damit auch die Hartz-Gesetze: Das Arbeitslosengeld wurde mächtig eingeschränkt. Vor allem ältere Arbeitslose erhielten viel kürzer Arbeitslosengeld I als vor den »Reformen«. Die Arbeitslosenhilfe schaffte Rot-Grün komplett ab und erfand stattdessen »Hartz IV«, was im Grunde nichts anderes war als Sozialhilfe für Erwerbsfähige. Viele Arbeitslose hatten nun deutlich weniger im Portemonnaie als vor der Agenda-Politik. Die Zahl all derer, die auf Sozialhilfeniveau leben mussten, stieg durch diese »Reformen« binnen eines halben Jahres von 4,5 Millionen auf 7,2 Millionen Menschen.
Hinzu kam, dass Arbeitslose mit Hartz IV nicht nur in die Armut geschickt wurden, sondern auch jeglichen berufsbiografischen Schutz verloren. So gut wie jede Arbeit war nun vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an rechtlich zumutbar und musste angenommen werden. Die Opfer dieser Neuregelung konnten es gar nicht fassen. Über Nacht vom Akademiker oder Facharbeiter zum Hilfsarbeiter degradiert. Hilfesuchend wandte sich damals ein arbeitsloser Bauingenieur, Ende fünfzig, an mich, der in einem Ein-Euro-Job mit Kindern an einer Grundschule Papierflieger basteln sollte. Nicht nur, dass er mit den Kindern und der Bastelei so gar nichts anfangen konnte. Er empfand es einfach als entwürdigend und beschämend. Aufmunternde Worte der Art, dass das Basteln mit Kindern ja eine durchaus sehr anspruchsvolle erzieherische Tätigkeit sein kann, verkniff ich mir lieber. Der Mann war nun einmal kein Erzieher, sondern Bauingenieur. Und von ihm wurde auch gar nicht erwartet, dass er eine qualifizierte pädagogische Arbeit leistet – dazu fehlte ihm schließlich jegliche Ausbildung. Er sollte ganz einfach mithelfen, Papierflugzeuge zu basteln. Seine ganze berufliche Lebensleistung wurde einfach mit Füßen getreten, sein beruflicher Ethos als Bauingenieur, sein Stolz und sein Selbstbild, seine Fachlichkeit spielten in dieser Hartz-IV-Maschinerie überhaupt keine Rolle mehr.
Wer sich gegen solche Maßnahmen querstellte, wurde mit Kürzungen abgestraft. Die Wirtschaft nutzte das weidlich aus. Fast aus dem Stand waren es mit Inkrafttreten von Hartz IV über eine Million Erwerbstätige, die aufstocken mussten. Rund ein Drittel davon durchaus vollerwerbstätig, aber trotzdem vom Jobcenter abhängig.
Zwischen 2000 und 2010 stieg die Zahl der Menschen mit Minijobs, in befristeten Jobs oder in Leiharbeit von vier auf sechs Millionen.7 Hinzu kam der sich ausbreitende Niedriglohnsektor: Ab Mitte der 2000er Jahre arbeitete bereits jeder Vierte für Kummerlöhne von rund 5 Euro im Osten und 7 Euro im Westen.8 Es war die Amerikanisierung des deutschen Arbeitsmarktes. Und sie war keineswegs ein politischer Kollateralschaden, wie es heute manches Mal dargestellt wird, sondern gewollt und geplant.
Schleichend hat sich unsere Gesellschaft in den letzten fünfundzwanzig bis dreißig Jahren unter dem neoliberalen Diktat auseinanderentwickelt, sind Gräben vertieft worden zwischen Arm und Reich, wurden die Reichen immer reicher und die Armen immer mehr. Der Anteil der Einkommensarmen an der Bevölkerung wuchs bis Mitte der 1990er Jahre auf 12 Prozent, sank dann kurzfristig,9 um ab 1998 im Trend immer weiter zu steigen bis auf aktuell 15,7 Prozent.10 12,9 Millionen Menschen müssen heute, gemessen an ihrem Einkommen, zu den Armen gerechnet werden. Das heißt zum Glück nicht, dass 12,9 Millionen Menschen nach Pfandflaschen suchen, unter Brücken schlafen, betteln müssen oder nichts zu essen oder zum Anziehen haben. Solch extreme Armut, solches Elend geht in die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes nicht einmal ein, da nur Personen mit eigenem Haushalt erfasst werden. Obdachlose werden in diesen Statistiken genauso wenig mitgezählt wie Flüchtlinge in Sammelunterkünften, Strafgefangene oder Pflegebedürftige in Einrichtungen, von denen mittlerweile auch etwa die Hälfte von Sozialhilfe leben muss. Bei den hier genannten 12,9 Millionen Armen geht es um Menschen, die zu wenig Geld haben, um am gewöhnlichen Leben und Alltag dieser Gesellschaft noch teilhaben zu können. Es sind diejenigen, die nicht mehr mithalten können, die Abgehängten unserer Wohlstandsgesellschaft; diejenigen, die tagtäglich erfahren, wie brutal es sein kann, nicht mehr dazuzugehören, auch wenn man noch nicht betteln muss, auch wenn man noch nicht obdachlos ist.
Armutsforscher zählen all jene zu den Armen, die weniger als 60 Prozent des sogenannten mittleren Einkommens haben.11 Um das Wort Armut zu vermeiden, wird auch gern von »Armutsgefährdung« oder »Armutsrisiko« gesprochen. Das soll dann nicht ganz so schlimm klingen. Wie auch immer: Für einen Single lag die Armutsschwelle 2015 bei 942 Euro, für ein Paar mit zwei kleinen Kindern bei 1978 Euro.12
»Das ist zwar wenig Geld, aber doch keine Armut«, so oder ähnlich heißt es dann nicht selten. Man könne keine großen Sprünge machen, aber man komme doch über den Monat. Und überhaupt: Mit Hartz IV oder Altersgrundsicherung sei doch alles geregelt …
Was soll man dazu sagen? Es ist gar nicht so einfach, Menschen, die selbst genug oder sogar mehr als genug haben, zu erklären, dass es sich bei Hartz IV und auch bei den oben genannten Beträgen um echte Armut handelt. Nach meiner Erfahrung hängt das vor allem damit zusammen, dass Armut ein Wort ist, das sofort Gewissensbisse verursacht, wenn man selbst im Wohlstand lebt. Die Psychologen und Psychotherapeuten kennen den Mechanismus, dass wir Menschen dazu neigen, Sachverhalte, die uns belasten könnten, einfach nicht wahrzunehmen. Wenn Dinge nicht zueinanderpassen, nicht zu unserem Selbstbild passen wollen, dann beherrschen wir die Kunst, sie entweder einfach zu übersehen oder aber so umzudeuten, dass sie wieder passen. Wenn ich mich selbst als guten Menschen betrachte, dessen Gewissen es eigentlich gebietet, Menschen in Not zu helfen und zu teilen, wenn ich aber zugleich von meiner Persönlichkeitsstruktur her so gestrickt bin, dass es mir außerordentlich schwer fällt, abzugeben und zu verzichten, wenn ich also wirklich geizig bin, dann wird mich der Anblick von Not in meinem direkten Umfeld in seelische Konflikte stürzen können. Auf Dauer lässt sich damit nicht leben.
Eine Möglichkeit, mit dem Problem umzugehen und diese »psychische Dissonanz«, wie es die Psychologen nennen, aufzulösen, besteht darin, nicht an der Not, sondern an der Wahrnehmung der Not etwas zu korrigieren, die dann plötzlich gar nicht mehr so groß erscheinen will: »Viele von denen wollen doch gar nicht arbeiten und sind doch selbst schuld.« Oder: »Die können doch gar nicht wirklich arm sein, unser Sozialstaat kümmert sich doch …« Wir kennen sie alle, diese Sprüche, die das Gewissen erleichtern und die psychische Balance wieder herstellen sollen. Und damit das auch gelingt, sind es weit mehr als Sprüche. Unsere Psyche sorgt dafür, dass wir wirklich fest daran glauben, dass wir von diesen Beschönigungen fest überzeugt sind. Sonst würde es nicht funktionieren.13 Das ist auch der Grund, warum es nicht unbedingt schlechte Menschen sein müssen, die, selbst in Wohlstand oder Reichtum lebend, Armut leugnen oder kleinreden. Aus psychologischer Sicht würde man sagen: Sie wissen sich halt in ihrem Geiz nicht anders zu helfen.
Die meisten Menschen, die heute im Wohlstand leben und mit denen ich über Armut spreche, hatten selbst mal eine Lebensphase, in der sie mit sehr wenig Geld auskommen mussten. Gern erinnert man sich an die Studienzeit zurück in kleiner, karger Studentenbude und erzählt anekdotisch, wie man sich gelegentlich Kippen zusammenschnorrte und den verrosteten Wagen immer nur für 5 Mark auftankte, weil man nie wusste, wie lange er überhaupt noch zusammenhielt. Oder man denkt an die Familiengründung und den ersten eigenen Hausstand, als alles noch notdürftig zusammengesucht war und es ohne die gelegentliche Hilfe von Eltern oder Großeltern wirklich finster ausgesehen hätte. Mit leichtem Schaudern denkt man vielleicht daran zurück, als man seinen Job verlor und nun dastand mit seinen Krediten für Möbel oder Auto. Ältere Menschen verweisen gelegentlich auch auf eine entbehrungsreiche und schwierige Kindheit im Nachkriegsdeutschland.
Es ist die Biografie von Menschen, es sind ihre Erfahrungen, die Respekt verlangen und denen man nur schwerlich widersprechen kann. Dass man nun im Wohlstand oder sogar im Reichtum mit all seinem Überfluss lebt, wird zumeist als Ergebnis eigener Leistung und eigenen Fleißes empfunden, selbst dann, wenn ein Gutteil des Einkommens aus Kapitalerträgen besteht, aus Zinsen, Dividenden oder Mieteinnahmen, und damit ganz zweifelsfrei von anderen erarbeitet wurde und wird. Fleiß und Leistungsfähigkeit eines jeden Einzelnen sollen gar nicht angezweifelt werden, doch rate ich, sich gelegentlich mal aus der eigenen Biografie zu lösen. Dann kann man nämlich durchaus sehen, dass Armut in Deutschland heute schon eine ganz andere Qualität hat als in der Nachkriegszeit, als eine ganze Generation sich daran machte, ein zerstörtes Deutschland wieder aufzubauen, viele sehr hart arbeiten mussten zu Bedingungen, die heute zum Glück so meist nicht mehr denkbar wären. Viele sahen aber auch schon sehr bald wieder Perspektiven für sich und glaubten an das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft, an Ludwig Erhards »Wohlstand für alle«: Ärmel hochkrempeln und anpacken, dann wird es schon. Es war der Slogan der jungen Bundesrepublik schlechthin. Bis in die 1970er Jahre, vielleicht auch bis in die 1980er hinein sollte er funktionieren, weil die Leute an ihn glaubten.
Für den sozialen Zusammenhalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft war das zentral. Denn es geht bei Armut, Ausgrenzung und Ungleichheit nicht nur um wenig Geld. Es geht immer auch um Perspektiven, die jemand für sich entdecken kann, um Chancen des Aufstiegs, um das Gefühl, dazuzugehören und nicht abgehängt und ausgegrenzt zu sein. Und in dieser Hinsicht hat sich Vieles verändert im Vergleich zum Nachkriegsdeutschland und auch zu den 1960er und 1970er Jahren.
Das Brisante an der heutigen Armut ist ja nicht nur deren Größenordnung. Theoretisch könnte man mit 12,9 Millionen Armen leben, wenn es jedes Jahr andere 12,9 Millionen wären. So ist das aber nicht. Ganz im Gegenteil. In den letzten Jahren ist es für die Armen immer schwieriger geworden, wieder aus der Armut herauszufinden, Karriere zu machen und gesellschaftlich aufzusteigen. Der Arbeitsmarkt heute ist viel härter, viel anspruchsvoller als noch in den 1980er Jahren. Die Anforderungen an jeden einzelnen Ausbildungsberuf sind deutlich gestiegen. Den Automechaniker mit seinem Schraubenschlüssel gibt es schon gar nicht mehr, es sind jetzt Kfz-Mechatroniker. Aus der Sprechstundenhilfe wurde die medizinische Fachangestellte, aus dem Elektroinstallateur der Elektroniker. Für Hauptschüler ist es zunehmend schwieriger geworden, einen Ausbildungsplatz zu finden, mit dem sie zurechtkommen und der ihnen gute berufliche Zukunftsaussichten und vor allem Beschäftigungssicherheit bietet.14
Zugleich ist bildungspolitisch nur wenig bis gar nichts getan worden, um Hauptschüler und Hauptschulabschlüsse an die steigenden Anforderungen anzupassen. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sprach irgendwann abfällig von der »Restschule«. Auch in den weiterführenden Schulen wurde die Leistungsschraube angezogen: Abitur in zwölf statt in dreizehn Jahren – ohne freilich nennenswerte Abstriche beim Lernpensum zu machen. An den Universitäten wurden Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt, auch hier eine Verdichtung des Lehrstoffes, wie es ganz und gar unpädagogisch heißt, um die jungen Menschen schneller auf den Arbeitsmarkt zu bringen und der Wirtschaft zuführen zu können. Die Bildungslatte wurde immer höher gehängt. Doch gleichzeitig wurde kaum etwas dafür getan, dass auch Kinder und Jugendliche mit schlechteren Voraussetzungen sie überspringen können – etwa durch kleinere Klassen oder durch inklusive Ganztagsbetreuung. Das, was man soziale Mobilität nennt, konnte dabei nur auf der Strecke bleiben. »Einmal arm, immer arm«, das ist für ganz viele Menschen die bittere Realität im Jahr 2017.15
Die Chance der Armen, in absehbarer Zeit wieder aus ihrer Armut herauszufinden, liegt seit der Jahrtausendwende bei nicht einmal mehr 50 Prozent, wie Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) herausfanden, die einkommensarme Haushalte über mehrere Jahre beobachteten.16 Das war schon einmal anders.
Ein Blick auf das unselige Hartz IV genügt, um zu begreifen, was los ist: Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Einführung von Hartz IV wurden 2005 viele Arbeitslose mitsamt ihren Familien in die Armut geschickt. Zugleich wurde ihnen versprochen, dass es nur für kurze Zeit sein werde. Mit einer völlig neu organisierten und modernisierten Arbeitsverwaltung, die auch nicht mehr Bundesanstalt hieß, sondern sich Bundesagentur nennen durfte, sollte es gelingen, die Menschen schnell wieder in Arbeit zu vermitteln. Als ein »Sprungbrett« auf den Arbeitsmarkt priesen Schröder, Clement und Co. ihr Hartz IV. Kurzfristige Armut gegen langfristige Perspektiven und soziale Mobilität, das war der Deal, den man den Arbeitslosen anbot; ein Angebot, das sie freilich nicht ablehnen konnten. Tatsächlich wurde ihnen jedoch ein ungedeckter Scheck angedreht. Für viele entpuppte sich Hartz IV als Sackgasse, genauso wie der Niedriglohnsektor oder die Leiharbeit. Nichts war es mit Einstieg und Aufstieg. Mehr als drei Viertel der Menschen in Hartz IV werden heute in der Statistik der Arbeitsverwaltung als Langzeitbezieher geführt. Sie sind bereits seit mehr als ein Jahr auf die Überweisungen der Jobcenter angewiesen. Über die Hälfte (58 Prozent) von ihnen lebt sogar schon vier Jahre und noch länger von Hartz IV.17 Und über eine Million sind, seit Hartz IV im Januar 2005 in Kraft trat, ununterbrochen im Leistungsbezug, wie vor einiger Zeit bekannt wurde.18
Dabei geben diese Statistiken nicht einmal das ganze Ausmaß der Tristesse wieder. Denn wer auch nur einen Monat kein Hartz IV bezieht, fängt in der Zählung wieder bei null an, selbst dann, wenn er nach nur kurzer Zeit wieder in den Jobcentern auftauchen sollte. Dabei hat rund die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse, die Hartz-IV-Bezieher eingehen, nicht einmal ein halbes Jahr Bestand.19
Bei der Leiharbeit und im Niedriglohnsektor sieht es kein Stück besser aus. Nachdem Rot-Grün 2002 die Leiharbeit politisch von vielen Einschränkungen entregelt und damit erst so richtig hoffähig gemacht hatte, geschah das mit ähnlichen Versprechen wie bei Hartz IV: Eine echte Win-Win-Situation sollte es angeblich werden. Die Betriebe, die auf Leiharbeiter zurückgriffen, bekämen die Möglichkeit, risikofrei Personal zu beschäftigen, die Arbeitslosen bekämen die Chance zur Übernahme in einen festen Job. Hauptsache, man komme erst mal wieder zusammen, dann ergebe sich schon was. Es sei die Option auf Festanstellung, auf die es ankomme. Von einem »Klebeeffekt« war die Rede.
Ernüchterung dann, als das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung 2012 eine Studie vorlegte, die zu dem Ergebnis kam, dass es gerade einmal 7 Prozent der Leiharbeiter waren, die vom entleihenden Betrieb tatsächlich in die Stammbelegschaft übernommen wurden.20 Wieder nichts mit Einstieg und Aufstieg, nichts mit Win-Win. Die einzigen Gewinner waren die Unternehmen. Nicht nur, dass sie Leiharbeiter bei Produktionsspitzen oder vorübergehenden Personalengpässen einsetzen konnten, wie es ja eigentlich gedacht war. Firmen nutzten die neuen Leiharbeitsfreiheiten auch, um Tarife zu umgehen und Lohndumping zu betreiben. Dazu wurden sogar eigene Leiharbeitsfirmen gegründet, in die Teile der Belegschaften abgedrängt wurden. Nicht nur die Drogerieketten Schlecker und Rossmann fanden sich deshalb immer mal in den Schlagzeilen wieder. Die Praxis war gang und gäbe in vielen Branchen, von der Abfallwirtschaft bis hin zu Krankenhäusern.21 Leiharbeiter, meist für wenig qualifizierte Tätigkeiten geordert, verdienten bei gleicher Tätigkeit deutlich schlechter als die Stammbelegschaften.22 Es war eine neue, moderne industrielle Reservearmee, die da geschaffen worden war. Es dauerte bis 2011, dass die Bundesregierung wenigstens eine Lohnuntergrenze in der Leiharbeit einführte von 7,89 Euro in West- und 7,01 Euro in Ostdeutschland. Und es sollte bis 2016 dauern, bis wenigstens zaghaft Maßnahmen gegen den massenhaften Missbrauch der Leiharbeit in Richtung eines gleichen Lohnes von Stammbelegschaften und Leiharbeitern auf den Weg gebracht wurden. Zaghaft deshalb, weil nach dem neuen Gesetz Leiharbeiter zwar nach neun Monaten den gleichen Lohn bekommen müssen wie die Stammbelegschaft, alle aber wissen, dass nur rund jeder vierte Leiharbeiter überhaupt so lange an denselben Betrieb verliehen wird.23 Sprich: Für drei Viertel der Leiharbeiter »verpufft« das Gesetz, bleibt also faktisch alles beim Alten.
Von den steilen Karrieren der Reinigungskräfte, Pizzaboten, Aushilfskellner oder wer sich sonst noch so alles im Niedriglohnsektor tummelt, hat man bis heute auch eher nichts gehört. Ganz im Gegenteil. Der zwischenzeitlich eingeführte gesetzliche Mindestlohn von aktuell 8,84 Euro ist wichtig und seine Einführung war überfällig. Nur sollten wir uns auch hier nichts vormachen: Er hat in dieser Höhe kaum einen armutspolitischen Effekt. 8,84 Euro in der Stunde bedeuten für einen vollzeitbeschäftigten Single netto knapp unter 1 100 Euro. Das liegt nicht allzu weit über der Armutsschwelle von 942 Euro. Und sobald Kinder im Haushalt sind, wird es richtig eng. Paare mit zwei Kindern schrappen mit Mindestlohn hart an der Armutsgrenze entlang, selbst wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten sollten. Alleinerziehenden hilft der Mindestlohn ohnehin nicht über die Armutsgrenze. Und so war es auch wenig erstaunlich, dass sich mit der Einführung des Mindestlohns gerade mal 40 000 bis 60 000 der über eine Million Aufstocker aus Hartz IV verabschieden konnten.24
Wer sind sie nun, die da in immer größerer Zahl in Armut und Ausgrenzung leben, über viele Jahre oder auch ihr ganzes Leben? Die Opfer des Neoliberalismus sind schnell ausgemacht: Arbeitslose vor allem, die mit deutlich weniger Stütze auskommen sollten, Aufstocker, die trotz Arbeit nicht aus der Hartz-IV-Falle herauskommen, Alleinerziehende, Menschen mit schlechten oder gar keinen Bildungsabschlüssen, Ausländer und Migranten sowie in zunehmender Zahl auch ältere Menschen ohne ausreichende Rente. Schauen wir uns diese Gruppen einmal genauer an.
59 Prozent der Erwerbslosen leben heute unter der Armutsgrenze.25 Meist wird das mit einem Schulterzucken abgetan, das meinen soll: »Nun ja, die sind ja auch arbeitslos. Kein Wunder. Passt schon.«
Es stimmt schon nachdenklich: Wann immer darüber gesprochen wird, wer ein besonders hohes Armutsrisiko hat, werden alle betroffenen Gruppen genannt – nur die Arbeitslosen werden häufig vergessen, obwohl unter ihnen die meisten Armen zu finden sind. Als sei es selbstverständlich, dass Arbeitslose arm sein müssen. Als sei es selbstverständlich, dass wir kein Arbeitslosengeld und kein Hartz IV anbieten, das diese Menschen mit ihren Familien vor Armut verschont. Und so schauen wir zu, wie der Anteil der Armen unter den Erwerbslosen wächst und wächst. Das war schon einmal anders, als das Arbeitslosengeld (genauso wie die Rente) Armut eigentlich verhindern sollte. Wir werden später darauf zurückkommen, wenn es darum geht, was zu tun ist.
Bei den Alleinerziehenden sieht es nicht viel anders aus: 44 Prozent aller Alleinerziehenden müssen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsschwelle auskommen – was schlechterdings gar nicht geht.26 Für eine Alleinerziehende mit zwei kleinen Kindern liegt diese Schwelle bei 1 507 Euro.27 Und bei diesem Betrag ist alles miteingerechnet, Wohngeld, Kindergeld oder Unterhalt. Nichts on top, wie häufig angenommen wird. Wer mit diesem Geld nicht das Glück einer sehr geringen Miete hat, hat wahrhaft ein schweres Leben – vor allem, falls noch Schulden da sind und Ratenzahlungen laufen, wie es bei so vielen armen Familien der Fall ist. Tatsächlich zur Verfügung haben viele deshalb deutlich weniger, als die Statistiker an Einkommen messen. Kinderreiche sind ebenfalls besonders häufig in Armut anzutreffen. Jeder vierte dieser Haushalte mit drei und mehr Kindern ist arm. Kein Wunder also, dass die Kinderarmut in Deutschland besonders hoch ist. Praktisch jeder fünfte Minderjährige (19,7 Prozent) lebt in einem Haushalt unterhalb der Armutsgrenze, 14 Prozent von ihnen, das sind fast zwei Millionen, leben in Hartz IV.28 Und ebenfalls wenig erstaunlich: Fast die Hälfte dieser zwei Millionen Kinder und Jugendlichen in Hartz IV sind Kinder von Alleinerziehenden.29
Was aber vor allem beunruhigen muss: Bereits seit fünf Jahren nimmt die Zahl der Minderjährigen in Hartz IV Jahr für Jahr wieder zu. Es gibt mittlerweile Regionen wie Bremerhaven oder Gelsenkirchen mit Hartz-IV-Quoten unter den Kindern von über 40 Prozent30 – eigentlich unvorstellbar.
Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen (32 Prozent) sowie Ausländer (34 Prozent) und Menschen mit Migrationshintergrund generell (27 Prozent) sind ebenfalls besonders von Armut betroffen.31