Kein Zeichen, kein Wunder - Gerald Rauscher - E-Book

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Gerald Rauscher

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Beschreibung

Der am 13. Mai 2020 mit 89 Jahren verstorbene politische Schriftsteller Rolf Hochhuth lässt keinen seiner Leser neutral. Das Spektrum der Reaktionen reicht regelmäßig von «Hosianna» bis «Kreuziget ihn». Kein anderer Autor hat seine «Empörung über Unrecht und Leidenschaft für das Gute» (Gert Ueding) so kompromisslos zu Papier gebracht wie er. Die Monographie unternimmt einen triadischen Streifzug durch das Gesamtwerk Hochhuths: die wesentlichen Aussagen über Religion, Geschichte und Moral werden mit viel Sorgfalt zusammengetragen und erläutert. Das abschließende Gespräch mit dem Schriftsteller rundet das Bild mit überraschenden und ergänzenden Erkenntnissen ab.

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Seitenzahl: 224

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Im Gedenken an meinen Vater

Inhalt

Vorbemerkung

‚Neulich hat Gott die Welt entdeckt‘ – Hochhuth und die Religion

1.1 ‚Nichts ist so erschütternd wie Schweigen‘

1.2 Kein Zeichen, kein Wunder

1.3 Maurice Bavaud: Ein Theologiestudent rettet die katholische Ehre?

1.4 ‚Handeln, als wäre da kein Gott‘

1.5 ‚Im Glauben verankert und vom Denken erlöst‘

‚Geschichte ist, was uns mißglückt‘ –

Hochhuth und die Historie

2.1 Das Dokument als Wahrheitsattrappe

2.2 Der Ursprung der Tragödie aus dem Grauen vor Gewalt

2.3 Der Einbruch des einzelnen in die geschichtliche Totalität

2.4 Geschichtspessimismus und Verklärung des Individuums

2.5 Das Gedicht als Geschichtsverdichtung

2.6 Ruine und Meer: Sinnbilder der allgemeinen Vergeblichkeit

2.7 Menschliche Unbelehrbarkeit oder Die ewige Wiederkehr des Krieges

‚Es gibt nichts Schrecklicheres als Menschen‘ – Hochhuth und die Moral

3.1 Adorno contra Hochhuth: Abdankung oder Feier des Subjekts?

3.2 Antinomie der Moralen oder Wie Tragödie funktioniert

3.3 Gegen Hitler, gegen Krieg. In memoriam Johann Georg Elser

3.4 Antigone: Thebanische und Berliner Lästerung der Herren

3.5 Revolution durch Infiltration. Eine Anleitung zum Staatsstreich

3.6 Ernst Jüngers ‚Der Waldgang‘: Dynamit in Buchform?

3.7 Schreiben aus Mitleid mit den Schwachen

3.8 ‚Ihr seid ein Mensch, und das erklärt schon alles!‘ – Zur Causa Filbinger

3.9 ‚Nur Waffen ändern sich, die Menschen nicht‘

‚Heute habe ich Wut, daß ich alt bin!‘ – Gespräch mit Rolf Hochhuth

Zeittafel

Literaturverzeichnis

Namensregister

Vorbemerkung

„Schreiben heißt zuerst: sich vergewissern wollen“1: dieses Hochhuthsche Motto gilt um nichts weniger auch für den mit dem Autor Beschäftigten. ‚Sich vergewissern wollen‘ steht methodisch in Opposition zu ‚schon Gewißheit haben‘. Dieses schriftstellerische Ethos kann auch als Appell gelesen werden für eine hermeneutische Vervorsichtigung im Umgang mit Materien, die – durch Emotion und Vorurteil beladen – stets die Gefahr eines vorschnellen Bescheidwissens bergen. Vergewisserndes Schreiben setzt gewissenhaftes Lesen voraus, denn man kann einem so vielfältig versierten Schriftsteller wie Rolf Hochhuth nur gerecht werden, wenn man sein OEuvre – wenigstens an näherungsweise – zu überblicken versucht. Müßte man dessen Wirkprinzip in einem Satz zusammenfassen, käme man wohl unweigerlich auf eine ähnliche Formel, wie sie Albert von Schirnding formuliert hat: „Die Gerichtsverhandlung ist das Muster, nach dem Rolf Hochhuths Bücher ablaufen. Immer geht es um einen örtlich und zeitlich genau lokalisierten Fall; der Autor tritt als An kläger und Rechtsanwalt auf, der Leser ist zum Richter bestellt.“2

Es ist klar, daß die Aufspaltung in die drei Themenblöcke Religion, Geschichte und Moral eine künstliche, wenn nicht sogar eine gewaltsame ist, zumal Hochhuths Werk ja gerade eine geniale Legierung derselben darstellt. Ihre getrennte Behandlung beabsichtigt jedoch, die Wahrnehmung von Inter dependenzen zwischen diesen Materien zu schärfen. Der reportagehafteexemplifizie rende Duktus dieser Arbeit soll nicht den behandelten Autor, dem man ja in der Tat oft einen journalistischen, d. h. unkünstlerischen Zugang zu seinen Themen vorzuwerfen pflegt, imitieren, er soll vielmehr das Eingeständnis einer unmöglich allumfassenden Behandlung dieses Übergroßen widerspiegeln.

Daß Hochhuths Werk hier zum Gegenstand einer theologisch-ethischen Reflexion gemacht wird, soll keinesfalls suggerieren, es handle sich bei diesem um religiöse Schriften oder gar um christliche Literatur. Ob man nun Benns Verdikt – daß Religiosität ein schlechtes Stilprinzip und deshalb mit ihr keine gute Poesie zu machen ist – beipflichtet oder nicht, an Rolf Hochhuth würde ohnehin kein wie immer beschriftetes Etikett haftenbleiben. Weil heute, nach dem Zusammenbruch der stimmigen Glaubenswelt, Schreiben und Zweifeln Synonyme geworden sind, kann es überzeugende Glaubensliteratur so wenig geben wie skeptische Liturgie. Wenn Hochhuth theologisch relevante Themen aufgreift, berechtigt dies niemanden, hieraus ein Glaubensbekenntnis des Autors abzulesen. Die Behandlung dieser Themen ist literarisch motiviert, geschieht also gerade deshalb, weil der Autor nicht glauben kann, was kirchliche Dogmatik als wahr anpreist. Sein Engagement entstammt einem anthropologischen Interesse, er möchte den Menschen verstehen lernen.

Der lästige Literat verhält sich zu seinen Stoffen immer wie ein ungläubiger Thomas, er möchte sich zuerst durch sein Schreiben vergewissern. Alles Fertige, Abgeschlossene ist ihm verdächtig. „Literatur hat immer mit Häresie zu tun, mag es nun eine theistische oder atheistische Kirche sein, gegen die sie sich zu behaupten hat. Literatur ist häretisch, weil sie ihrem Wesen nach progressiv und liberal ist.“3 Nur ein ‚harmloser‘ Schriftsteller unterwirft sich einem Parteiprogramm. Nach einer Musilschen Weisheit nämlich verträgt eine fertige Weltanschauung keine Dichtung – außer der rekrutierten. Literatur, die etwas taugt, optiert für die Mündigkeit und Freiheit des Erdenmenschen, sie hat wesentlich sittlich-moralischen Charakter.

Ein Dichter ist jemand, der sich weigert, die Sprache und also auch die Menschen zu ‚benutzen‘. Dies gilt auch für den Leser, denn Lesen ist der Inbegriff freiwilligen und freiheitsschaffenden Tuns. Rolf Hochhuths Schreib stil wirkt zuweilen spröde, hausbacken, unspektakulär. Hochhuths Werk hat die Unscheinbarkeit eines Laibes Brot, dessen erstes Anschneiden jedoch etwas möglicherweise äußerst Nützliches zum Vorschein bringt: eine Feile.

Nils Holgersson wird einmal vom Vater gezwungen, im Evangelienbuch zu lesen, weil er nicht in die Kirche mitkommen will. „‘Gib wohl acht, daß Du ordentlich liest! Wenn wir zurückkommen, werde ich dich über jede Seite ausfragen, und wenn du etwas übergangen hast, geht es dir schlecht.‘ ‚Die Predigt hat vierzehn und eine halbe Seite‘, sagte die Mutter, als wollte sie das Maß feststellen. ‚Du mußt dich gleich daran machen, wenn du fertig werden willst.‘ Damit gingen sie endlich, und als der Junge unter der Tür stand und ihnen nachsah, war ihm, als sei er in einer Falle gefangen worden.“4 Nils beginnt zu lesen, aber er kann sich nicht wach halten, er schläft ob der Schriftlektüre ein und – erlebt die wundersamsten Abenteuer …

1 Rolf Hochhuth: Die Rächerinnen Livia und Agrippina, in: ders.: Julia oder der Weg zur Macht, Berlin 1995, S. 223 f.

2 Albert von Schirnding: Plädoyer für den Einzelgänger, in: Reinhart Hoffmeister (Hg.): Rolf Hochhuth. Dokumente zur politischen Wirkung, München 1980, S. 223.

3 Heinz Flügel: Gesichtspunkte der Literatur, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Wer ist das eigentlich – Gott?, Frankfurt am Main 1979, S. 47.

4 Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons schönste Abenteuer mit den Wildgänsen, München 1974, S. 6.

Kapitel 1

‚Neulich hat Gott die Welt entdeckt‘ – Hochhuth und die Religion

Es besteht kein Zweifel: Der 20. Februar 1963 – der Tag der Berliner Uraufführung von Rolf Hochhuths ‚Der Stellvertreter‘ im Theater am Kurfürstendamm unter der Regie von Erwin Piscator – markiert ein kirchengeschichtliches Datum. Es ist jener Tag, von dem an die Legende von der „lückenlosen Geschlossenheit und sieghaften Widerstandskraft“5 des Katholizismus während der Nazi-Ära sich in Luft aufzulösen beginnt.

Seit dem Wiener Kongreß 1815 gibt es deutsche Konkordatspläne. Mit Beginn der Weimarer Republik werden jahrelang Verhandlungen geführt, die am Widerstand von Liberalen, Protestanten und Sozialdemokraten scheitern. Als Adolf Hitler nach einem Konkordat für Gesamtdeutschland ruft, spielt die katholische Kirche ohne Bedenken mit. Kardinal Bertram läßt in einem Hirtenbrief begleitend zu den Verhandlungen verlautbaren, daß es den Katholiken keineswegs schwerfalle, „die neue, starke Betonung der Autorität im deutschen Staatswesen zu würdigen und uns mit jener Bereitschaft ihr zu unterwerfen, die sich nicht nur als eine natürliche Tugend, sondern wiederum als eine übernatürliche kennzeichnet, weil wir in jeder menschlichen Obrigkeit einen Abglanz der göttlichen Herrschaft und eine Teilnahme an der ewigen Autorität Gottes erblicken“6. Das Reichskonkordat wird dank des Ver handlungs geschicks des Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli sowie des Vizekanzlers Franz von Papen innerhalb weniger Wochen formuliert und am 20. Juli 1933 in der Vatikanstadt unterzeichnet.

Der schnelle Abschluß des Reichskonkordats bedeutet für Hitler einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zum Ermächtigungsgesetz. Zunächst bezweckt es – durch die ‚Entpolitisierungsklausel‘ in Artikel 32 – die nachhaltige Ausschaltung der Zentrumspartei, dem einzig nennenswerten parteipolitischen Widerstandspotential zur damaligen Zeit. Weiters führt das Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich zu einer vollständigen Lähmung des katholischen Widerstandes und zum Überwechseln eines Großteils des katholischen Lagers ins nationalsozialistische. Der Anti-Bolsche wismus macht Pius XI. blind für die weiteren Absichten des an gehenden Diktators.

Für Hitler ist aber vor allem eines bedeutsam: Der Pakt mit dem ältesten Souverän Europas bringt seinem Regime einen enormen innen- wie außenpolitischen Prestigezuwachs, er hat Hitler „urbi et orbi salonfähig gemacht“7. Das Reichskonkordat gibt das Entwarnungssignal für die zum Widerstand bereiten Katholiken wie Staatsmänner der ganzen Welt. Selbst der ‚Völkische Beobachter‘ triumphiert über die Anerkennung des jungen Reiches durch die zweitausendjährige Macht der Kirche. In der Reichstagserklärung proklamiert Hitler, die nationale Regierung sehe „in den beiden christlichen Konfessionen wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums.“8 Und was einem besonders zu denken geben muß: Das Reichskonkordat ist – bekräftigt durch das Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts von 1957 – bis dato in Kraft.

Summarisch betrachtet hat der Heilige Stuhl mit Napoleon 1801, mit Mussolini 1929, mit Hitler 1933, mit Franco 1953, also mit Ausnahme Stalins mit allen Massenmördern der Neuzeit Verträge geschlossen. Das kirchen geschichtliche Diktum ‚Historia concordatorum historia dolorum‘ bekommt auf diese Weise eine bedrückend wahre Bedeutung.

Doch der Pontifex maximus besinnt sich auf die Grundwerte des Katholischen: Am 14. März 1937 zeichnet er die Enzyklika ‚Mit brennender Sorge‘, ein Zeugnis echten Widerstands. Das geheim gedruckte Rundschreiben wird den einzelnen Diözesen durch Sonderkuriere zugestellt, um eine vorzeitige Beschlagnahmung durch die NS-Zensur zu verhindern. Die – auch ohne Namen zu nennen – klaren Worte des Pius XI. treffen den Nerv der totalitären Herrscher, wie die überaus scharfe Reaktion beweist. Eine solche Ehre wird keiner der Schriften oder Reden Pius XII. je zuteil.

Pius XI. zeiht das nationalsozialistische Regime mutig der „Machenschaften, die von Anfang an kein anderes Ziel kannten als den Vernichtungskampf“9. Wenn hier von „willkürlichen ‚Offenbarungen‘, die gewisse Wortführer der Gegenwart aus dem sogenannten Mythus von Blut und Rasse herleiten wollen“10 die Rede ist, so kann man davon ausgehen, daß jeder Hörer dieser Worte damals wußte, wer und was gemeint ist. Der schicksalhaften Vor aussage in einer klassischen Tragödie gleich insistiert der Heilige Stuhl, er wolle nicht „durch unzeitgemäßes Schweigen mitschuldig werden“11 – und wird es doch.

In diese bis dahin fast unberührte Wunde der katholischen Mitschuld reibt das Drama ‚Der Stellvertreter‘ des schriftstellerischen Greenhorns Rolf Hochhuth Fässer von Salz. Mit einem Stück, dessen Aufführungsdauer ungekürzt wohl an die 10 Stunden dauern würde, macht sich dieser schlagartig zum um strittensten Autor der internationalen Schaubühne. Es folgen Protestkundgebungen hier und Preisverleihungen dort. Ludwig Erhard schimpft ihn einen „Pinscher“12, Helmut Kohl meint gar, sich beim Papst für diesen nationalen Schandfleck entschuldigen zu müssen.

Jahrzehntelang haben Gegner wie Befürworter den ‚Stellvertreter‘ für ein Anti-Papst-Stück gehalten. Die Empörung wie die Einigkeit darüber, daß hier der schweigende Pius XII. der Mitschuld an den nazistischen Verbrechen bezichtigt wird, hat die Kritiker vor Hochhuths Einsicht in das eigentlich Empörenswerte gerettet: daß kein Gott geholfen hat. ‚Der Stellvertreter‘ handelt von beidem: daß es kein Zeichen gab – vom Papst, und daß kein Wunder geschah – durch einen Gott. Hochhuths Stück ist eine Phänomenologie des kirchlichen und – göttlichen Schweigens. Seine Arbeit steht unter dem un ideologischen Pathos der Umordnung. In dem Maße wie ihm die Verbesserung des Menschlichen – ja selbst des Göttlichen – ein Anliegen ist, erweist er auch deren Unmöglichkeit.

Zur literarischen Positionierung des ‚Stellvertreters‘ soll in ein paar Strichen das atmosphärische Umfeld angedeutet werden, in das hinein Hochhuth diesen Paukenschlag plaziert. Der deutsch-österreichische Kulturbetrieb nach 1945 zeichnet sich aus durch ein schier endloses Revue- und Entertainment-Programm. Die medial inszenierte Ausblendung der unmittelbar vergangenen Verbrechenswirklichkeit ist Abbild der bürgerlichen Sehnsucht nach Wieder herstellung deutscher Gemütlichkeit. Amüsement als Ausstieg aus der Geschichte hilft, offene Fragen fernzuhalten. Kultur wie Publikum üben sich in bewußtem Vergessen einer störenden Vergangenheit. Jegliches Ausscheren aus diesem inoffiziellen Überein kommen muß folglich als Nestbeschmutzung empfunden und verunglimpft werden.

Gefühlsmäßig ergreifen läßt man sich vorzugsweise von vorwurfsfreier Unterhaltung wie Romy Schneiders Sissi-Trilogie. Mit der deutschen Fassung des ‚Tagebuchs der Anne Frank‘ beginnt jedoch 1950 allen Verdrängungsbemühungen zum Trotz der unliebsame Einbruch der Geschichte. Wie wenig man damals noch mit einem solchen Stück anzufangen weiß, zeigt die Reaktion einer Frau, die das Anne-Frank-Stück gerade gesehen hat: „Dieses Mädchen wenigstens hätte man verschonen sollen.“13

Noch 1961 nennt Max Frischs ‚Andorra‘ nichts beim Namen und kommt über eine parabelhafte Allgemeinheit nicht hinaus. Die erste empfindliche Störung der deutschen Heimatfilmromantik ereignet sich 1961 mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozeß, dem Vorbeben gewissermaßen zu jenem Erstlingswerk, das den Papst nicht mehr katholisch sein läßt.

Das Macbethsche Diktum ‚A deed cannot be undone‘ trifft mit aller Härte auf das unveränderliche Geschehen-sein des Verbrechens zu, nicht aber auf dessen Bewertung. Moralisch ist eine Tat umkehrbar, durch Reue, durch Verzeihen. Hochhuth würde ergänzen: durch Verfälschung, „denn der Sieger ist es, der die Geschichte schreibt.“14 Aber nicht nur Taten sind Gegenstand der Betrachtung – und hier leistet Hochhuth eine epochale ethische Präzisierung –, sondern auch Unterlassungen wie Schweigen und Nichtstun.

1.1 ‚Nichts ist so erschütternd wie Schweigen‘

Ich glaub an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.

Schrift auf einer Kellerwand in Köln, wo sich einige Juden während des Krieges versteckt hielten

„Hier, auf dieser Welt, machte Bonze Schweigs Tod gar keinen Eindruck. Kein Mensch weiß, wer Bonze war, wie er lebte und woran er starb.“15 Selbst der Tod eines Trambahnpferds hätte mehr Aufsehen erregt. Und auch im Leben hinterließ Bonze Schweig keine Spuren, kein Gedächtnis behielt ihn, keine Erinnerung an ihn blieb. Selbst der Totengräber wußte nach drei Tagen nicht mehr, wo er ihn bestattet hatte. Was blieb, war, daß sein Name und Leben vergessen wurden. Schweigend ertrug er zeitlebens schwerste Arbeit, Leid, Niedertracht. Er schwieg, als er mit dreizehn Jahren seine Mutter verlor, er schwieg, wenn sein betrunkener Vater ihn mißhandelte, von Hunger geplagt – schwieg er. „Sein Name paßte ihm wie ein Kleid aus eines Künstlers Hand auf einen schlanken Leib. […] Er schwieg im Todeskampfe, er schwieg im Sterben. Nicht ein Wort gegen Gott, nicht ein Wort gegen die Menschen!“16 In der anderen Welt aber herrschte hellste Aufregung unter den Engeln und Urvätern, als Bonze starb und auferstand. Das göttliche Gericht entschied, daß er sich nehmen könne, was er wolle. Wegen seiner schweigenden Güte sollte ihm nun alles zustehen. Erst nach mehrmaligem Rückfragen, ob denn dies wirklich ernst gemeint sei, rang er sich zu einer Antwort durch: „‚Nun, wenn es so ist‘, lächelt Bonze, ‚so möcht‘ ich jeden Morgen eine warme Semmel mit frischer Butter!‘“17

Wir schreiben heute18 das Jahr 36 nach Erscheinen von Rolf Hochhuths ‚Der Stellvertreter‘. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß dieses Werk der Auftakt für die Vergangenheitsbewältigung in der deutschsprachigen Literatur war. In Basel müssen 1963 zweihundert Polizisten das Theater gegen den Ansturm von tausenden Demonstranten schützen, in Bern gibt es Bomben drohungen, in Zürich wird die Aufführung gleich im voraus verboten, ebenso in Italien, Spanien und Brasilien. In Paris entwickelt sich während der Vorstellung eine Schlägerei, bei der auch der Papst-Darsteller verletzt wird. Ein Spiegel-Bericht versucht die Pariser Stimmung einzufangen: „Das Wutgeschrei (‚Unver schämtheit‘, ‚gemeine Lüge‘, ‚dreckiges Schwein‘) schwoll an, der Flugblatt-Regen […] wurde zur Traufe, Stinkbomben fielen, Tomaten flogen, faule Eier klatschten, im Vestibül trampelten und johlten die Demonstranten […] und es nützte auch nichts, daß der Theaterpapst mit segnender Geste an die Rampe trat und sein Publikum beschwor: ‚Ich bitte Sie, ich übe hier doch nur mein Handwerk aus.‘“19 – Ein unvorstellbares Szenario, heute, in Zeiten der totalen Verblüffungsresistenz gegenüber künstlerischem Schaffen.

Bereits vor der Premiere werden von der katholischen Presse Textauszüge veröffentlicht und verketzert. Kardinal Montini, der spätere Paul VI., wirft Hochhuth vor, er versuche, „die gräßlichen Verbrechen des deutschen Nazismus auf einen Papst abzuwälzen“20. Wilhelm Grenzmann sieht die letzte Antriebskraft des Stückes in blindem Haß gegen Pius XII. und die Kirche, denn „was der Autor an unsympathischen Zügen zusammentragen kann, ist auf die Gestalt des Papstes abgeladen“21. Ebenso sieht Robert Leiber Hochhuth „von einem leidenschaftlichen, fast krankhaften Widerwillen gegen Pius XII. erfüllt.“22 Ein anderer meint gar, in Hochhuths Stück „den alten geschmack losen primitiven Kirchenhaß Hitlers unter neuem Vorzeichen erkennen zu können.“23

Katholische Stimmen konstatieren beinahe einhellig, daß Pius XII. nicht nur Opfer Hochhuthscher Blasphemie, sondern auch „im historischen Sinne selber ein Opfer war.“24 Seltenheitswert haben Kommentare des Zuschnitts einer Christa Schwens in einer katholischen Dortmunder Studentenzeitschrift, wo es heißt: „Das Besondere liegt darin, daß die Kirche einen von Christus die ganze Welt umfassenden Auftrag bekommen hat. – Wenn der Autor durch seine ‚christliche Tragödie‘ hilft, diese Aufgabe in uns wieder lebendig zu machen, weil er darum weiß oder weil er sogar daran glaubt, so müssen wir ihm danken – auch für den aufgezeigten, verfehlten Weg.“25 In der Tat fällt ja Hochhuths Kritik an Pius XII. deshalb so scharf aus, weil er ihm so Großes zutrauen möchte. Käme das römische Amt für eine weltbewegende Aufgabe von vornherein nicht in Betracht, was hätte er sich dann empören sollen?

Hannah Arendt erwähnt eine denkwürdige Begebenheit mit Johannes XXIII.: „In den Monaten vor seinem Tode gab man ihm Hochhuths Stellvertreter zu lesen und fragte ihn dann, was man dagegen tun könne. Worauf er geantwortet haben soll: ‚Dagegen tun? Was kann man gegen die Wahrheit tun?‘“26

Auf protestantischer Seite bedauert Helmut Gollwitzer, daß von den Katholiken zwar Entrüstung, Verteidigung und Selbstrechtfertigung zu hören seien, aber keine Entschuldigung. Seines Erachtens hätte „der Papst als oberster Vertreter einer christlichen Kirche […] den Mund auftun müssen, 1. um zu schreien für die Verfolgten, denen der Mund verschlossen war, 2. um alle Katholiken – und darüber hin aus alle Menschen – zu warnen vor der Beteiligung an den Untaten und zu mahnen zu jeder nur möglichen Hilfeleistung.“27 Ebenso nimmt Probst Heinrich Grüber das Stück zum Anlaß, um zu betonen, daß jeder bei seiner eigenen Schuld anfangen müsse, jedoch läßt auch er in bezug auf Pius XII. keine Zweifel aufkommen: „Wer diplomatisch schweigt und sich schont, hat kein Recht, von der Nachfolge Jesu zu sprechen.“28

Weiters führt der Tumult um den ‚Stellvertreter‘ zu einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung im Bundestag, bei deren Beantwortung Außenminister Schröder Pius XII. als einen Mann verteidigt, der „seine Stimme gegen die Rassenverfolgung im Dritten Reich erhoben und so viele Juden wie möglich dem Zugriff ihrer Verfolger entzogen“29 und sich tatkräftig für die Aussöhnung Deutschlands mit den anderen Völkern eingesetzt habe. Hoch huths Stück stelle eine Herabsetzung des päpstlichen Andenkens dar und sei gerade von deutscher Seite besonders bedauerlich. Joachim Besser kommentiert Schröders Stellungnahme im Kölner Stadtanzeiger: „Politische Logik mag so aussehen: Wenn jemand nett zu mir war, darf ich über seine Schwächen oder Fehler nicht mehr reden.“30

Um diesen gesellschaftlichen Impakt nachvollziehen zu können, scheint es sinnvoll, die Hauptaussagen des ‚Stellvertreters‘ noch einmal Revue passieren zu lassen: Der erste Akt, ‚Der Auftrag‘, ist überschrieben mit dem merkwürdigen Bernard-Shaw-Zitat ‚Hüte dich vor dem Menschen, dessen Gott im Himmel ist‘ und spielt 1942 in der Berliner Apostolischen Nuntiatur, wo ein Disput zwischen dem jungen Jesuitenpater Riccardo Fontana, einer frei erfundenen Figur, und dem Nuntius Cesare Orsenigo, einer historischen Figur, vom Auftritt des ebenfalls historischen Gerstein unterbrochen wird.

Der gläubige Protestant Dipl. Ing. Kurt Gerstein tritt 1941 in die SS ein, wo er vom Berg assessor zum Oberleutnant avanciert und schließlich Leiter der Abteilung für Desinfektionsgase des SS-Gesundheitsamtes wird. Unter dieser Tarnung ist es ihm möglich, Sabotageakte durchzuführen sowie detaillierte Informationen über das Innenleben der Konzentrationslager nach draußen zu schleusen. Gerstein, innerlich zutiefst aufgewühlt von den Geschehnissen in den Lagern, ist überzeugt, daß durch das Bekanntwerden seiner Schilde rungen das Ausland und selbst das deutsche Volk dem Hitler-Regime ein Ende machen würden. In seinem ‚Augenzeu gen bericht zu den Massenvergasungen‘ findet sich folgende Notiz einer Begebenheit des Jahres 1942: „Ich versuchte in gleicher Sache [die NS-Massenmorde betreffend, G.R.] dem Päpstlichen Nuntius in Berlin Bericht zu erstatten. Dort wurde ich gefragt, ob ich Soldat sei. Daraufhin wurde jede weitere Unterhaltung mit mir abgelehnt, und ich wurde zum Verlassen der Botschaft Seiner Heiligkeit aufgefordert.“31

Hochhuth formt diesen historischen Stoff zu einem tragischen Dialog innerhalb der Exposition: „Gerstein: […] Der Vatikan muß helfen, Exzellenz! / Nur er allein / kann hier noch helfen, helfen Sie! / Nuntius (empört, da er ratlos ist): / Was kommen Sie zu mir? Sie tragen / doch selbst die Uniform der Mörder! / Ich sage Ihnen doch, ich bin nicht zuständig. / Gerstein (schreit): Zuständig! Sie vertreten in Berlin den / – den Stellvertreter Christi und – / verschließen Ihre Augen vor dem Entsetzlichsten – / was je der Mensch dem Menschen angetan hat. / Sie schweigen, während stündlich … / Nuntius: Mäßigen Sie sich, schreien Sie – hier nicht, / ich breche das Gespräch jetzt ab …“32

Riccardo Fontana, bewegt vom Mut Gersteins, besucht diesen in seiner Wohnung, wo er das fatale Versprechen gibt: „Ich garantiere Ihnen, Herr Gerstein, / daß Seine Heiligkeit Protest erheben wird.“33 Riccardo überläßt seine Soutane und seinen Paß einem von Gerstein versteckt gehaltenen Juden namens Jacobson, damit dieser über den Brenner fliehen kann. Als symbolischen Dank gibt ihm Jacobson dafür die letzte Habe: seinen Paß mit fettgedrucktem „J“ und den gelben Stern.

‚Die Glocken von St. Peter‘ ist der zweite Akt überschrieben und spielt in Rom im Februar 1943. Der heimgekehrte Riccardo hält seinem Vater, dem Grafen Fontana, Syndikus beim Heiligen Stuhl, in einer Debatte entgegen: „So ist es doch: der Papst / sieht weg, wenn man in Deutschland / seinen Bruder totschlägt. Priester, die sich / dort opfern, handeln nicht auf Geheiß / des Vatikans – sie verstoßen eher / gegen sein Prinzip der Nichteinmischung.“34 Hochhuth paraphrasiert hier einen Gedanken des österreichischen Historikers Friedrich Heer: „Geistliche und Laien, Priester und politische Menschen, die den Widerstand zu denken und zu praktizieren wagten, hatten weder im Gefängnis noch vor dem Schafott auf die Anteilnahme ihrer kirchlichen Führung zu rechnen. Der christliche Widerstand gegen Hitler […] trug dergestalt naturgemäß von Anfang an den Charakter des Singulären, des Außergewöhnlichen, des Unerwünschten, des ‚Ungehorsams‘.“35

Die Entsolidarisierung der Amtskirche gegenüber dem Engagement des politischen Katholizismus lag formal in der Entpolitisierungsklausel des Reichskonkordats begründet, de facto aber fehlte es wohl auch an der nötigen Courage. Ein Pontifikat, das – bestens informiert über die Vorgänge in den Konzentrationslagern – sich 1943 in Traktaten über den ‚mystischen Leib der Kirche‘36 ergeht und sich noch 1944 in Instruktionen und Dekreten mit der ‚Generalabsolution‘37 und den ‚Zwecken der Ehe‘38 beschäftigt, muß sich Fragen bezüglich seiner Zeitgemäßheit und moralischen Integrität gefallen lassen.

Der Vater aber hält Riccardo entgegen: „Wie du vereinfachst – Herrgott, / glaubst du denn, der Papst / könnte nur einen Menschen / hungern und leiden sehen. / Sein Herz ist bei den Opfern. / Riccardo: Und seine Stimme? Wo ist seine Stimme! / Sein Herz, Vater – ist völlig uninteressant.“39 Von der Gleichgültigkeit des Vaters provoziert formuliert nun Riccardo in skandalöser Schärfe seinen Vorwurf – auf den im übrigen die Hochhuth-Kritiker das gesamte Stück reduzieren: „Ein Stellvertreter Christi, der das / vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson, / der sich nur einen Tag besinnt, / nur eine Stunde zögert, / die Stimme seines Schmerzes zu erheben / zu einem Fluch, der noch den letzten Menschen / dieser Erde erschauern läßt –: ein solcher Papst / ist … ein Verbrecher.“40

Diese These vertritt Hochhuth auch persönlich. In der Hamburger ‚Welt‘ schreibt er als ‚Entgegnung auf Albrecht v. Kessel‘: „Es bleibt dabei: Nimmt man die Kirche ernst, mißt man ihre Wirklichkeit an ihrem eigenen Anspruch, so war das Schweigen des Papstes ein Verbrechen.“41 Unter Berufung auf den Historiker Gerald Reitlinger vermutet Hochhuth, daß Pius XII. schon deshalb weder einen Protest, die Aufkündigung des Reichskonkordats noch die Ex kommunikation des Katholiken Hitler erwogen hat, weil die Opfer überwiegend Juden waren. Daß der Vatikan jüdischen Opfern, deren Schicksal er an der Wurzel verhindern hätte können, auch Hilfe zukommen ließ, übergeht Hochhuth jedoch keineswegs. Im historischen Anhang heißt es: „Die meisten italienischen Juden haben sich rechtzeitig nach Süden, zu den amerikanischen Truppen, geflüchtet. Von den päpstlichen Hilfswerken hat das St.-Raphaels-Werk 1500 Juden die Auswanderung nach Amerika vermittelt, 4000 wurden in Klöstern versteckt.“42 Dennoch resümiert er: „Vielleicht haben niemals zuvor in der Geschichte so viele Menschen die Passivität eines einzigen Politikers mit dem Leben bezahlt.“43

Die Frage, die sich Riccardo bezüglich des Stellvertreters Christi aufdrängt, nämlich: „Hätte Christus sich entzogen?“44, nimmt ihn nun existentiell gefangen. Denn: „Nichts tun – das ist so schlimm / wie mittun.“45 Die skandalöse Diskrepanz ergibt sich sodann aus der katholischen ‚Vergangenheitsbewältigung‘: Es wurde nichts getan, als die Glaubensbrüder vor den Toren des Vatikan verhaftet und zur Ermordung abtransportiert wurden – alles aber wurde getan, um nach 1945 jede Schuld von sich zu weisen. Nach dem Bruder gefragt, antwortet die katholische Kirche wie Kain: ‚Bin ich denn der Hüter meines Bruders?‘

Selbst noch 1998 wird diese Haltung der Kirche bestätigt durch die erneute Schuldzurückweisung in dem vatikanischen Dokument ‚Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah‘ vom 12. März 1998. Elf Jahre hat die ‚Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden‘ gebraucht, um anstelle des erwarteten Schuldeingeständnisses eine versteckte Exkulpation Pius XII. vorzulegen: „Während des Krieges und danach brachten jüdische Gemeinden und Persönlichkeiten ihre Dankbarkeit für all das zum Ausdruck, was für sie getan worden war, auch dafür, was Papst Pius XII. persönlich und durch seine Vertreter unternommen hatte, um hunderttausenden [sic!] von Juden das Leben zu retten“46. Daran angehängt folgt eine überdimensionale Fußnote, die das einhellige jüdische Lob der selbstlosen Hilfe Pius XII. belegen soll.

Ein bitter erregter Rolf Hochhuth kommentiert: „Es ist eine ungeheure Lüge, wenn jetzt der Vatikan – was er bisher niemals getan hat! – behauptet, ‚Hunderttausende von Juden gerettet‘ zu haben. […] Warum bleibt der Vatikan nicht bei seiner bisherigen (und ehrlichen!) Aussage, einige hundert Juden (aber nicht hunderttausend!), einige Dutzend Judenfamilien in Klöstern versteckt zu haben?“47

Als das Dokument bei den jüdischen Vertretern eine durchwegs negative Aufnahme findet – der israelische Oberrabbiner Israel Meir Lau etwa zeigt sich bestürzt über die sehr allgemein gehaltenen Formulierungen –, hat der päpstliche Haustheologe Georges Cottier die Stirn zu behaupten, das Schreiben sei falsch gelesen worden. Sicher falsch ist die Darstellung in dem Dokument, daß das Christentum lediglich Inspirationsquelle für den Anti judaismus, nicht aber für den Antisemitismus gewesen sei, denn der Nationalsozialismus war zwar „keine christliche Ideologie, aber sie wurde von christlich Sozialisierten ersonnen, gelebt – und exekutiert.“48

Der dritte Akt ‚Die Heimsuchung‘ spielt in Rom im Oktober 1943. Aus einer Wohnung gegenüber dem Päpstlichen Palast, „sozusagen unter den Fenstern des Papstes“49, wird eine jüdische Familie von der Waffen-SS abgeholt. Für Egon Schwarz gehört diese Szene „zu den ergreifendsten Darstellungen jüdischen Schicksals in der Nachkriegsliteratur. […] Allein um dieser Szene willen verdient ‚Der Stellvertreter‘, ein Kunstwerk genannt zu werden. Wer sie auf sich hat wirken lassen, der wird nicht mehr sonderlich an der Frage interessiert sein, ob der Papst gute oder weniger gute Gründe für sein Schweigen gehabt hat.“50

Es folgt eine Unterredung zwischen Riccardo, Gerstein, dem Kardinal und einem Abt, in dessen Kloster Juden vor dem Zugriff der Nazi-Schergen bewahrt werden. Uneinigkeit besteht zwischen ihnen in bezug auf Riccardos Fragestellung: „Was tun wir / wenn der Papst nicht protestiert?“51 Riccardo selbst entwickelt für diesen Fall die ultimative Sühnestrategie: das Martyrium anstelle des Stellvertreters, denn „das Schweigen des Papstes zugunsten