Keine halben Sachen - Carola Holzner - E-Book
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Keine halben Sachen E-Book

Carola Holzner

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Beschreibung

In der Notaufnahme zeigt sich, worauf es wirklich ankommt! Sie verändert den Blick aufs Leben. Keine halben Sachen. Die Notärztin Carola Holzner spricht Klartext. Dabei bleibt sie immer sie selbst mit Blick auf die, für die ihr Herz schlägt: ihre Patientinnen und Patienten und deren Schicksale. Sie berichtet von Menschen, die alle auf ihre Art bewegen: Die alleinerziehende Mutter, die eine lebenswichtige Operation verweigert, aus Angst ihren Job zu verlieren. Der verzweifelte Vater, der selbst dem Tod seiner kleinen Tochter einen Sinn geben will, indem er junge Ärzte aufrüttelt. Und sie berichtet von Wundern, die uns staunen lassen und dann geschehen können, wenn Menschen über sich selbst hinauswachsen. Denn das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten. Gerechtigkeit, Verantwortung und Mitgefühl. In der Notaufnahme stellen sich die wichtigen Fragen des Lebens. Doc Caro nimmt uns mit hinter die Kulissen und zeigt, dass jede/r Einzelne für sich selbst und andere etwas tun kann.  Wer noch mehr von Doc Caro lesen möchte:  »Eine für alle. Als Notärztin zwischen Hoffnung und Wirklichkeit«

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Seitenzahl: 298

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Dr. med. Carola Holzner

Keine halben Sachen

Wie die Notaufnahme den Blick aufs Leben verändert

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Die Notaufnahme als gesellschaftlicher Mikrokosmos. Sie spiegelt das wahre Leben und zeigt, was wirklich wichtig ist.«

 

Keine halben Sachen. Die Notärztin Carola Holzner spricht Klartext. Dabei bleibt sie immer sie selbst mit Blick auf die, für die ihr Herz schlägt: ihre Patientinnen und Patienten und deren Schicksale. Sie berichtet von Menschen, die alle auf ihre Art bewegen: Die alleinerziehende Mutter, die eine lebenswichtige Operation verweigert, aus Angst ihren Job zu verlieren. Der verzweifelte Vater, der selbst dem Tod seiner kleinen Tochter einen Sinn geben will, indem er junge Ärzte aufrüttelt.

Und sie berichtet von Wundern, die uns staunen lassen und dann geschehen können, wenn Menschen über sich selbst hinauswachsen. Denn das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten.

 

Gerechtigkeit, Verantwortung und Mitgefühl. In der Notaufnahme stellen sich die wichtigen Fragen des Lebens. Doc Caro nimmt uns mit hinter die Kulissen und zeigt, dass jede/r Einzelne für sich selbst und andere etwas tun kann.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ärztin zu werden und so Menschen zu helfen, war für Dr. med. Carola Holzner bereits ein Kindheitstraum. Die 40-jährige Fachärztin für Anästhesiologie arbeitet als Oberärztin in der Notaufnahme, als Notärztin im Rettungsdienst und bei der Luftrettung. Ihre Mission ist es, Medizin auf Augenhöhe zu vermitteln. Deshalb steht Doc Caro zusätzlich zu ihren zahlreichen Social-Media-Aktivitäten mit großem Engagement als Expertin für medizinische Themen vor der Kamera. Carola Holzner lebt mit ihrer Familie in Mülheim an der Ruhr.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für Carlotta und Fridolin

Macht keine halben Sachen!

ALL IN

Ich wäre echt eine schlechte Pokerspielerin geworden. Zum einen habe ich kein Pokerface, dazu bin ich zu emotional, zum anderen stehe ich zu meinen Entscheidungen. Das hilft natürlich prinzipiell auch beim Pokern, aber ich pokere nicht, ich kann nichts vorspielen. Ich würde beim Pokern ständig All in gehen. Und das so, dass man mir trotz Kapuzenpulli und verspiegelter Sonnenbrille sofort ansehen würde, dass ich vielleicht kein Full House auf der Hand habe. All in, weil ich mich dafür entschieden hätte.

Keine halben Sachen – das ist All in. Ganz oder gar nicht. Man setzt alles auf eine Karte. Volles Risiko. Man könnte aber auch sagen, man handelt so, weil man Selbstvertrauen hat und/oder keine Alternative. Denn braucht es immer drei Asse im Ärmel, um hinter einer Entscheidung zu stehen? Braucht es ein Pokerface, ein Netz mit doppeltem Boden und absolute Gewissheit, dass man auf jeden Fall gewinnt? Was ist, wenn man aus dem Bauch heraus entscheiden muss, wissend, dass man keinen Joker mehr hat, keinen, mit dem man alles noch mal im Vier-Augen-Prinzip überprüfen kann? Und vor allem: ohne etwas vorzuspielen.

Keine halben Sachen.

Als Notärztin, ob in der Notaufnahme oder im Rettungsdienst, kann ich mich nicht für »ein bisschen« Leben retten entscheiden. Ich muss bei jedem Fall All in gehen. Das heißt oft, blitzschnell Entscheidungen treffen, sich auf sein Können und seine Intuition verlassen. Und ich kann meinen Patientinnen und Patienten gegenüber auch nicht bluffen – wie beim Pokerspiel. Oder würde irgendjemand von uns das wollen?

Ich kann nicht so tun als ob. Ich muss mit dem arbeiten und umgehen, was ich vorfinde. Und in der Regel fehlt mir die Zeit fürs Zocken. Zeit, die nämlich die Patienten nicht haben. Mein Alltag als Notfallmedizinerin sind Fakten, Realität und Wahrheit.

Wahrheit und Realität pokern nicht, sie existieren einfach. Sie gehen immer All in. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Ich werde in meinem Job ständig mit der Wahrheit, der Realität, den Fakten konfrontiert, und ich kann mich nicht wegducken, die Verantwortung von mir schieben und bitten, dass jemand anderer sie übernimmt. Keine Chance. Und deshalb muss ich auch mit den Konsequenzen leben. Treffe ich eine Entscheidung, bin ich für mein Handeln verantwortlich. So einfach ist das. Das gilt übrigens nicht nur für meinen Job, das gilt auch für mich als private Caro. Und das kann man lernen, ich musste es ja auch.

Als Assistenzärztin lernte ich Werte zu interpretieren. Pragmatisch gesagt: Ist der Blutdruck höher als 140 systolisch, also der obere Wert, hat der Patient Bluthochdruck. Ist die Sauerstoffsättigung niedrig, sollte ich Sauerstoff verabreichen. Hat jemand Schmerzen, gibt’s Novalgin oder Morphin. Wenn es blutet, drück die Wunde ab. Ich lernte also nach Algorithmen.

Wenn du reanimierst, dann drücke kräftig. Fünf bis sechs Zentimeter tief in der Mitte des Brustkorbs auf Höhe der Brustwarzen. Wenn der Patient einen langsamen Herzschlag hat, gibt es Atropin oder Adrenalin. Maximaldosierungen, notwendiges Procedere. Es gibt Sicherheit, wenn du Dinge lernst, abrufen kannst und dabei nicht in Schockstarre verfällst. Prima, dachte ich. Alles kann man lernen. Alles abrufen.

Nur einen wichtigen Faktor hatte ich vergessen: Algorithmen sind gut, solange sie funktionieren. Solange man nicht abweicht. Oder abweichen muss. Oder anfängt selbst zu denken und Dinge zu hinterfragen. Es gibt nämlich immer wieder Situationen, da gibt es gar keinen Algorithmus.

Sobald aus »dem Blutdruck« Herr Maier mit Herzschmerz wird, der gerade seine Frau verloren hat. Aus der schlechten Sättigung ein acht Monate alter Junge, der droht an einer Erdnuss zu ersticken, und aus einer Panikattacke eben die Eltern werden, die sich um ihr Kind sorgen. Wenn aus den Bauchschmerzen eine Blinddarmentzündung einer alleinerziehenden Mutter wird, die nachts um drei Uhr in der Notaufnahme mit ihrem Kind auf dem Arm sitzt, und wieder nach Hause geht, weil sie um ihren Job bangt und niemanden für ihr Kind hat. Ja, die notwendige OP verweigern will, dann kannst und willst du eben nicht mehr nach Schema F vorgehen.

In der Notaufnahme gesellen sich zu den erlernten Algorithmen Wahrheit und Realität. Das hatte mir so keiner erklärt, und damit beschäftigte ich mich erst im Verlauf meiner Ausbildung. Das musste ich lernen, in jeder Situation neu, immer wieder anders. Das berühmt-berüchtigte kalte Wasser. Rein und schwimmen. Selbstsicherheit gewinnen. Hinfallen und wieder aufstehen.

Und zu all diesen Erfahrungen kam im Laufe der Jahre noch etwas: der Blick hinter die Kulissen. Der Perspektivwechsel.

Die Notaufnahme verändert den Blick aufs Leben.

Wenn du zu verstehen beginnst, dass Krankheit oft einen tieferen Grund hat, eine Geschichte. Genauso wie die Patienten, die diese eben mitbringen. Wie ein unsichtbarer, aber ziemlich schwerer Rucksack voll mit Steinen. Eine Last, die auf den ersten Blick nicht wirklich sichtbar ist, einen aber immer weiter runterzieht, bis sie die Kontrolle gewinnt. Und wir alle schleppen einen Rucksack. Er macht nur nicht immer offensichtlich krank.

Das Untergewicht der Bulimikerin liegt medizinisch gesehen am Kaloriendefizit, beim zweiten Blick aber realisiert man, dass es nicht primär darum geht, Gewicht zu verlieren, sondern sie ein Ventil sucht, weil irgendetwas ganz schön »zum Kotzen« ist. Es ist seelischer Schmerz.

Warum macht schlimme Trauer Herzinfarktsymptome und bricht einem nicht nur sprichwörtlich das Herz? Weil das eine die Symptome sind, die Ursache aber ganz woanders liegt.

Daher möchte ich euch in diesem Buch mit hinter die Kulissen nehmen. Lasst uns über den Tellerrand hinausschauen. Wer sind die Menschen, die nachts zu uns kommen, die manchmal mehrfach wöchentlich den Rettungsdienst rufen? Wie leben sie, welche Probleme, Sorgen und Nöte haben sie? Was schleppen sie in ihrem Rucksack mit sich rum? Und bei manchen muss man auch einfach mal fragen dürfen: Wie ticken die eigentlich? Oder tickt da überhaupt noch was?

In der Notfallmedizin beurteilst (be- nicht verurteilst!) und entscheidest du binnen Sekunden. Du hast keine Zeit für das, was dahintersteckt. Musst du in der Akutsituation auch nicht. Aber die Notaufnahme ist eben mehr. Denn die wenigsten Patienten sind tatsächlich lebensbedrohliche Notfälle. Die meisten Patienten und Patientinnen sind nicht kreislaufinstabil, todkrank, Intensivpatienten oder Polytraumata.

Die meisten sind wie du und ich. Auf den ersten Blick normale Menschen, mit durchaus meistens schnell therapierbaren »Wehwehchen«.

Was ist eigentlich normal? Ein Wort, was ich selten so unpassend finde, wie auf den Menschen selbst zutreffend. Wenn ich mal einen Querschnitt durch mein Patientengut ziehe, frage ich mich am Ende eines Dienstes manchmal tatsächlich, ob ich eigentlich »normal« bin. Nein, definitiv nicht.

Bluthochdruck, Diabetes, Alkoholsucht, eine verschleppte Lungenentzündung oder die Pille danach sind genauso normal (oder eben nicht) wie die Helikoptermutter, der gewalttätige Bruder oder der Obdachlose, der eigentlich mal Ingenieur mit einer Villa am Baldeneysee war, bevor er durch persönliche Dramen auf der Straße landete, und nun ab und zu mal vorbeikommt, wenn es kalt wird, um ein warmes Bett zu haben. Bin ich normal, weil ich mehr Zeit meines Lebens in der Klinik als zu Hause verbracht habe?

Was ist eigentlich normal?

In meiner beruflichen Laufbahn habe ich gelernt, den Blick zu öffnen. Hinter den Blutdruck zu schauen. Der ist im Zweifel nämlich das kleinste Problem.

Ich persönlich bezeichne die Notaufnahme als Mikrokosmos. Unsere Patienten und Patientinnen sind eine Art Miniatur-Gesellschaft. Hier treffen Reich und Arm, Jung und Alt, privilegiert und prekär, Arbeiter und Manager aufeinander.

Die Notaufnahme zeigt uns ungeschönt die Wahrheit. Und zwar die eines jeden Einzelnen und die unserer Gesellschaft. Vereinsamung, Rassismus, Armut, Sucht, Depression, Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Aber auch Zusammenhalt, Liebe, Familie und Hoffnung. Das alles hoch konzentriert. Gebündelt und meist zeitlich so versetzt, dass wir Veränderungen bewusst wahrnehmen, noch bevor es die Gesellschaft tut.

Die Notaufnahme und der Rettungsdienst haben mich gelehrt, hinter die Fassade zu schauen – und auch mich zu hinterfragen. Sie zeigen dir, was wesentlich, was wichtig ist. Sie haben meinen Blick verändert. Und das tun sie tatsächlich irgendwie immer, jeden Tag aufs Neue.

Und sie werden auch deinen Blick aufs Leben verändern. Da bin ich mir sicher. Wenn du es zulässt. Hier sehen wir die Probleme unserer Gesellschaft in konzentrierter Form. Schonungslos. Ehrlich.

Hier bekommst du die Wahrheit knallhart auf den Tisch und machst dir am Ende Gedanken über Dinge, an die du so niemals gedacht hattest. Weil du gar nicht wusstest, dass es sie gibt.

Aber nur, weil du etwas nicht kennst, heißt das nicht, dass dieses »Etwas« nicht existiert. Wir verschließen oft unsere Augen. Bewusst oder unbewusst. Ich hatte keine Ahnung, was ich mir für Fragen stellen würde. Fragen, die weit über das Medizinische hinausgehen. Und am Ende lande ich doch irgendwie immer bei der einen Frage: Was ist eigentlich mit uns los? Mit jedem Einzelnen, ja, sogar mit uns als Gesellschaft.

Bereit für die Wahrheit? Die gibt’s jetzt. Absolut ungeschönt. Denn in der Notaufnahme und im Rettungsdienst gibt’s keine halben Sachen. Wir gehen All in. Immer.

#MACHTBETROFFEN

ICH WERDE NICHT BLEIBEN

Der Sonntag war verhältnismäßig ruhig. Keine Dramen, alles ziemlich geordnet und keine besonderen Vorkommnisse – sofern es das in der Notaufnahme überhaupt gibt. Brustschmerzen hier, Beinschmerzen da, Brennen beim Wasserlassen. Das Übliche. Um 21.30 Uhr habe ich mich ins Bett verabschiedet, kurz noch in den Tatort reingeschaut und mich dann aber entschieden, dass eine Geschichte ohne Anfang nicht wirklich prickelnd ist und wieder ausgeschaltet. Was nutzt dir der Mörder, wenn du die Tat nicht kennst. Egal.

Jedenfalls habe ich mich gerade in die Krankenhausbettwäsche eingemummelt, und es wird so langsam gemütlich. Wobei ich einmummeln und gemütlich mal kurz beleuchten muss. Das hat jetzt nichts mit heimelig von einer weichen Wolldecke umschlungen mit Kuschelsocken vor dem Kamin liegend zu tun. Krankenhausbettwäsche ist gemangelt und gestärkt. Du kannst sie also hinstellen, ohne dass sie zur Seite kippt. Das Kopfkissen gleicht eher einem Brett, und du musst die Bettdecke zwischen deinen Beinen brechen, um sie in die gewünschte Form zu bringen.

So in etwa. Nichtsdestotrotz habe ich es mir also gerade den Umständen entsprechend eingerichtet und döse langsam warm werdend vor mich hin, als die Schwester anruft. Der RTW würde Bauchschmerzen bringen. Und irgendwas mit Kind. Es sei nicht dramatisch, nur dass ich Bescheid wüsste. Gut. Also nix mit gemütlich gebrochener Bettwäsche und Wärmeerhalt, sondern Neonlicht und klimatisierte Notaufnahme. 19 Grad. Brrr.

Das muss ich hier mal klar und ehrlich sagen: Die Kombination müde und kalt ist wirklich so gar nichts für mich. Und 19 Grad sind für mich ganz nah am Frost.

Ich versuche mir warme Gedanken zu machen, motiviere mich selbst und schlendere den Gang entlang zur Notaufnahme.

Auf den ersten Blick verstehe ich gar nicht, wo das Problem liegt. Eine junge Frau wird mir von den Rettungsdienstkollegen gebracht. Gut, die sehen jetzt auch nicht gerade bestens gelaunt aus. Einer sogar ziemlich zerknittert mit Kissenabdruck im Gesicht. Ah, keine Krankenhausbettwäsche, sondern private auf der Wache, denke ich und werde ein bisschen neidisch.

Junge Frau, 23, Bauchschmerzen seit drei Tagen. Sie hält sich den Unterbauch. Nicht so, dass ich jetzt direkt die Schmerzmittel wie einen Colt aus meinem imaginären Holster ziehen würde, aber schon so, dass ich ihr die Schmerzen durchaus abnehme. Sie macht zwar nicht den Eindruck, dass ich blitzschnell alle Register der Notfallmedizin ziehen müsste, aber scheint hier richtig zu sein. In der Notaufnahme.

»Und wer bist du?«, frage ich, denn hinter der Trage versteckt schauen mich zwei große kugelrunde braune Augen an. Den kleinen Mann habe ich beim Reinkommen gar nicht wahrgenommen, er ist praktisch hinter der Krankentrage verschwunden mit seinen knapp 90 Zentimeter. Er klammert sich an die Hand des Rettungsdienstlers. In der anderen hält er einen Stoffteddy.

»Das ist Matteo«, lächelt der Sanitäter mit dem Kissenabdruck. Sein Blick wird dabei ganz weich. Steht ihm, denke ich.

Er streichelt Matteo über den Kopf: »Ist so alt wie meine Tochter, drei Jahre.«

Ich lächle. Dann schaue ich die Frau an. Kinder ziehen irgendwie immer die Aufmerksamkeit auf sich, besonders, wenn sie so süß sind.

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht übergehen. Frau Kramer, richtig?«

»Ja, und das hier ist mein Sohn«, antwortet sie stolz.

Vor lauter Muttergefühlen habe ich glatt die Uhrzeit vergessen. Mittlerweile ist es schon fast Mitternacht.

Bisschen spät für einen Dreijährigen, in der Notaufnahme rumzuhängen, denke ich. Verdränge den Gedanken dann aber wieder, während ich der Schwester zurufe, ein »Bauchlabor« abzunehmen.

Wir unterscheiden zwischen unterschiedlichen Laborprofilen, je nach Krankengeschichte. Hat jemand Bauchschmerzen, werden andere Parameter kontrolliert, als wenn jemand zum Beispiel mit Herzproblemen kommt.

Chiara Kramer liegt nun also in Untersuchungsraum 4.

»Mama, Hause …«

Während ich am Rechner sitze – Dokumentation ist mittlerweile nicht mehr das halbe, sondern fast das ganze Arztleben –, quengelt Matteo vor sich hin. Verständlich.

»Mama Hause, Teo müde.«

»Keine Sorge, mein Schatz, Mama bekommt jetzt ein Schmerzmittel, dann geht’s wieder ab ins Bett«, antwortet seine Mutter.

Das überhöre ich jetzt mal gekonnt, drehe mich auf dem Stuhl um und lächle sie beide an.

»Matteo, ich muss erst mal kurz mit deiner Mama sprechen, möchtest du eine Spritze zum Spielen?«

Ich werfe Schwester Susanne, die im Türrahmen steht, einen Blick zu, den sie sofort versteht.

Matteo nickt. Susanne ist in solchen Situationen tatsächlich die Beste. Hat selbst vier Kinder und »adoptiert« regelmäßig alles, was in der Notaufnahme so als Begleitung mitkommt. Kinder, Omas, Eltern, Hunde. Das ist quasi Susannes Passion.

»Hier«, sagt sie und hält Matteo die Plastikspritze hin. Zaghaft nimmt er sie aus Susannes Hand und fürs Erste scheint der Knirps die Müdigkeit vergessen zu haben.

»Ich habe auch noch Schoki. Komm mal mit.«

Chiara Kramer schaut ungläubig, als Matteo zielstrebig den Untersuchungsraum verlässt, um Schokolade abzugreifen.

»Normalerweise geht er nicht so einfach mit Fremden mit …«

»Das ist Susanne«, erwidere ich und grinse. »Da gibt’s keinen, der nicht mitgeht.«

Sie lächelt vorsichtig.

»Wo ist das Problem, was sind Ihre Beschwerden, Frau Kramer?«

Ihr Gesicht wird wieder ernst.

»Bauchschmerzen seit drei Tagen. Und Fieber. Ich habe Tabletten gegen Schmerzen und Fieber genommen, irgendwie muss ich ja zur Arbeit, und mich danach versucht ein bisschen zu erholen, aber vorhin ging das Fieber bis 40 hoch, und ich hatte richtige Bauchkrämpfe. Bitte glauben Sie mir, ich hätte Matteo nie aus dem Bett geholt, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten.«

Während das Novalgin als Infusion gegen Schmerzen und Fieber einläuft, sind die ersten Laborergebnisse da. Der erste Wert reicht mir schon. 20000 Leukozyten. Also eine Entzündungsreaktion in Kombination mit Unterbauchschmerzen. Das beunruhigt mich jetzt doch etwas, und ich greife zum Telefon und bitte einen Chirurgen herzukommen.

Als ich mich ihr danach zuwende, reagiert sie unmittelbar und versucht abzuwiegeln.

»Es wird schon besser mit dem Mittel, das hilft. Können Sie mir ein Rezept schreiben? Matteo muss ins Bett.«

Es ist nicht das erste Mal und überhaupt nicht ungewöhnlich, dass mir Patienten schnell wieder von der Liege hüpfen wollen, sobald das erlösende Schmerzmittel durch ihre Blutbahn rauscht. Deshalb reagiere ich noch ziemlich cool.

»Äh, Moment mal. So schnell geht’s nicht. Ich habe den Kollegen aus der Chirurgie angerufen.«

Der Unterbauch ist druckschmerzhaft, sie ist eine junge Frau, hat Fieber, einen typischen Loslass-Schmerz und eine Entzündungsreaktion. Das schreit ja quasi nach einer Blinddarmentzündung.

»Ich verstehe, dass Sie schnell wieder nach Hause wollen, aber ich muss erst mal die Möglichkeit haben, die Ursache herauszufinden. Lediglich die Symptome ohne Ursache zu bekämpfen, hilft mir und vor allem Ihnen in dieser Situation überhaupt nicht.«

»Aber Matteo …« Frau Kramer schaut sich suchend nach ihm um. Doch der hat sich mittlerweile in die Herzen der Notaufnahme gemampft und sitzt glücklich und zufrieden umringt von Pflegepersonal zwischen Kinderschokolade und Gummibärchen vorne am Tresen der Notaufnahme. Aber mir ist natürlich klar, dass Frau Kramer ihren Sohn lieber im Bett sehen würde.

»Wir können gerne telefonieren, sicher kann ihn doch jemand abholen? Oma, Opa, Papa, Nachbarin, Freundin?«

Sie antwortet nicht.

»Können Sie mir jetzt bitte ein Rezept ausstellen?«

Hat sie mich überhört? Okay, dann schauen wir erst mal. Der Kollege aus der Chirurgie schlappt missmutig über den Gang. »Wo muss ich rein?«, höre ich ihn rufen und kommentiere mit einem freundlichen »U4«. Fällt mir gerade tatsächlich ziemlich schwer.

»Was hast du?«, fragt er mich, ohne die Patientin auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Ich gar nichts«, ich rolle mit den Augen, »aber Frau Kramer. Die hat Bauchschmerzen.«

»Mach mal Labor auf.«

Das geht auch freundlicher, denke ich. Eine nette Begrüßung und ganze Sätze wären ein Anfang. Frau Kramer guckt auch schon ziemlich verstört. Während er auf den Rechner starrt, wo ich freundlicherweise für ihn schon mal die ersten Laborwerte geöffnet habe, drückt er fest auf ihren Bauch.

»Au!«, schreit sie und schreckt genauso hoch wie ich, denn weder sie noch ich haben diese gekonnte Rückwärtsaktion kommen sehen.

Sympathischer Eindruck, denke ich. Er schaut auf die Laborwerte und redet kein Wort mit der Patientin, um ihr dann noch mal ohne Vorankündigung rücklings (man könnte es auch hinterrücks nennen) auf den Bauch zu fassen.

Das sind die Momente, in denen ich mich wirklich schäme. Für meinen Kollegen. Wo ich am liebsten aufstehen, ihn schütteln möchte und fragen will, was genau mit ihm nicht in Ordnung ist. Patienten sind verdammt nochmal keine Sache. Sie fühlen sich oft schlecht, klein und hilflos. Diese Gefühle sollten wir spätestens dann nachvollziehen können, wenn wir selber mal Patient oder Patientin waren.

Menschen, denen es gut geht, haben wir hier nämlich eher selten. Und deswegen finde ich derartiges Verhalten einfach nur zum Kotzen. Ich entscheide mich, nichts zu sagen, um jetzt keinen Eklat zu provozieren und wende mich zu Chiara.

»Er macht noch ein Ultraschall, dann wissen wir Bescheid.«

Der Kollege hat aber schon wieder abgedreht und ist auf dem Weg zur Tür: »Ich brauche keinen Ultraschall. Ich mache einen OP-Slot. Blinddarm. Ich ruf dich gleich an.«

Rumms knallt die Tür. Als ich aus meiner Schockstarre erwache und die Tür wieder aufreiße, ist er schon um die Ecke.

Ich drehe mich wieder zurück, und nun schaue ich auf eine ungläubige, vielleicht auch eher irritierte Chiara Kramer (wer kann es ihr verübeln), einen glücklich vor sich hin kauenden Matteo, die Laborwerte auf dem Rechner und eine schulterzuckende Susanne. Wo bin ich denn hier gelandet? Ich suche mal wieder die versteckten Kameras. Aber nicht für »Verstehen Sie Spaß?«, das war nämlich gerade gar nicht lustig, sondern eher für ein situatives Lehrvideo für angehende Ärzte und Ärztinnen: Wir zeigen Ihnen heute, wie man es nicht macht!

Ich bin stocksauer. Wenigstens nicht mehr müde. Ich könnte mich jetzt aufregen, ihn anschreien, hinterherrennen und eine Szene provozieren. Das Problem: Die Leidtragende wäre Chiara. Nicht er. Oder ich. Sie bekäme dann seine noch schlechtere Laune ab. Ob sie will oder nicht. Arschlöcher ändert man eben nicht. Man muss einfach akzeptieren, dass es sie gibt. Und das überall. Sein miserables Verhalten hat ja mit seiner eigenen Unzufriedenheit zu tun, er ist es, der sich danebenbenimmt. Der eiskalt und mechanisch ist. Und das werde weder ich heute Nacht ändern noch eine Chiara Kramer, die sich wahrscheinlich gerade noch mehr wünscht, sie wäre nicht hier.

Die Vorstellung, von jemandem Hilfe zu brauchen, der einen behandelt wie irgendeine Sache oder ein lästiges Ding – wahrscheinlich behandelt er sein Auto besser –, treibt mir einen Schauer über den Rücken.

Ich habe mittlerweile gelernt, mir in solchen Momenten mantraartig Sprüche vorzusagen wie: Das Leben gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.

Mit Gelassenheit hinnehmen. Das tun wir alle gerade. Chiara ihre Bauchschmerzen, Matteo die Gummibärchen (und zwar sehr gelassen), Susanne mitten in der Nacht ihre Aufgabe als Trösterin und Spielkameradin und ich die 18 Stunden Arbeit in den Knochen, das Gefühl von Müdigkeit und Kälte (wir erinnern uns: 19 Grad, Klimaanlage), und vor allem diesen unsäglichen Kollegen. Die Gelassenheit … Ich atme tief durch. Vor lauter Gelassenheit ist nun endlich auch das komplette Labor fertig. Gut, dass ich gerade im Begriff bin, mich mit meiner Gelassenheit selbst zu hypnotisieren, als mein Telefon klingelt: AvD Chirurgie. Arzt vom Dienst. In dem Fall wohl eher Arschloch vom Dienst.

»Ja, bitte?« Überfreundlich hebe ich ab.

»Ich habe noch eine perforierte Galle aufliegen. Der Blinddarm ist danach dran. Patientin OP-fertig machen. Aufklärung mache ich im OP. Ist ja ein Notfall. Soll ich die Anästhesie noch anrufen wegen Narkoseaufklärung oder übernimmst du das? Du warst ja mal selbst Narkosefrau.«

Und genau wegen so Arschgeigen wie dir habe ich das drangegeben, denke ich. Sage aber nichts.

»Ich kläre selbst auf, die Kollegin kann noch eine halbe Stunde länger schlafen. Bis später.«

Blöde Kollegen gibt’s überall. Nicht, dass jetzt wieder die alte Leier von Anästhesie vs. Chirurgie losgeht: Es gibt tolle Chirurgen, die auch nett und empathisch sind. Leider nicht heute Nacht. Aber operieren kann er. Das ist eben wichtiger als Empathie. Er soll den Blinddarm rausholen und nicht die Patientin gesund quatschen. Da wäre er echt der Falsche.

Als ich am Tresen vorbeilaufe, sehe ich, dass Matteo inzwischen eingeschlafen ist. Auf zwei Schreibtischstühlen. Zugedeckt mit einer unserer Bettdecken. Und seinem Teddy. Ich lächle. Und habe sofort meine schlafenden Kinder vor Augen. Nur, dass die jetzt in ihren warmen Betten liegen und nicht im neongrell erleuchteten Eingangsbereich der Notaufnahme. Aber Matteo schläft trotzdem. Und zwar tief und fest. Ich würde gerne tauschen, denke ich einen kurzen Moment, um mir dann gleich selbst zu widersprechen. Nee. Würde ich nicht wirklich. Also vielleicht schlafen, statt zu arbeiten, aber sicher nicht auf zwei Schreibtischstühlen und schon gar nicht in der Notaufnahme.

Ich denke, meine Kinder sind auch lieber zu Hause. Und schlafen friedlich. Genauso wie mein Mann, der auf sie aufpasst. Ein Mann, der auf sie aufpasst. Genau, warum ist Matteo eigentlich hier? Passt sonst vielleicht keiner auf? Meine Gedanken kreisen, ich spekuliere über Chiaras Familiensituation, und fast wäre ich an der U4 vorbeigelaufen, hätte sie mich nicht erspäht.

»Mir geht’s besser, und Schwester Susanne hat mir erzählt, dass Matteo schläft, aber ich möchte ihn doch in sein Bettchen bringen. Er muss morgen früh raus. Er muss um sechs Uhr in der Kita sein«, ruft sie mir entgegen.

Ich bin etwas durcheinander. Aber jetzt ausnahmsweise mal nicht wegen Laborwerten, Chirurgen, dem Rettungsdienst oder weil ich das Telefon nicht gehört habe. Sondern weil mich Frau Kramers Aussage irritiert. Sechs Uhr? Ich schlucke.

»Warum haben Sie Matteo eigentlich mitgenommen?«, rutscht es mir raus. Chiara antwortet nicht. Und ich bin nicht einmal mehr sicher, ob das nicht Absicht ist. Okay, dann versuche ich es anders.

»Sechs Uhr? Das ist aber früh, da muss er ja um fünf aufstehen.«

Immer noch keine Reaktion.

Es spricht mein Mutterherz. Ich kenne den morgendlichen Zirkus mit Kindern. Schon bevor man sie in der Kita abgibt, wartet eine ganze Liste, die abgearbeitet werden will. Heißt, wenn ein Kind um sechs in der Kita sein muss, steht die Mutter (oder der Vater oder beide) locker um vier Uhr auf. Wir haben gerade 1.10 Uhr. Ich schaue Chiara Kramer fragend an.

»Aber sicher doch nicht morgen, denn wie der äußerst charmante Kollege Ihnen eben mitgeteilt hat, müssen Sie heute Nacht noch operiert werden.«

Ich wende mich auf meinem Schreibtischstuhl von ihr ab dem Computer zu und bin gerade ziemlich dankbar, dass ich den Befund jetzt noch dokumentieren muss. Und irgendwie bin ich zu gehemmt, mich wieder umzudrehen. Irgendetwas bereitet mir Unbehagen. Hat meine Patientin den Ernst der Lage nicht erkannt? Will sie nicht oder kann sie nicht? Ich rede also weiter. Mehr mit mir und dem Computer als mit ihr.

»Aktuell operiert der Kollege noch eine geplatzte Gallenblase. Sie sind als Nächstes dran. Sie haben eine Blinddarmentzündung. Ist eine schnelle Nummer. Das wird per Kamera gemacht. Und dauert, wenn’s gut läuft, maximal 20 Minuten.« Stoisch und professionell versuche ich die Situation so normal und selbstverständlich wie möglich darzustellen. Und vor allem: alternativlos. Offenbar nicht alternativlos genug.

»Ich werde nicht bleiben«, sagt sie leise.

»Es wird ein kleiner Schnitt gemacht und dann kann die Kamera …«

»Ich werde nicht hierbleiben.« Diesmal lauter.

Ich erfriere sprichwörtlich an dem Schauer, der gerade meinen Rücken runterläuft.

»Ich werde nicht bleiben«, sagt Chiara mit zittriger Stimme noch einmal.

Jetzt bin ich eingefroren. In Zeitlupe drehe ich mich mit dem Stuhl zu ihr um. Den Satz habe ich nun schon dreimal von ihr gehört. Scheint ihr also ernst zu sein. Ich versuche erst mal, meine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Und irgendwie finde ich die Situation fast schon ein wenig lustig. Wir bereiten gerade eine OP vor, und ich wollte soeben mit der Narkoseaufklärung beginnen.

Aber mir ist um diese Uhrzeit weder zum Lachen zumute, noch habe ich Sinn für schräge Ideen.

»Frau Kramer, ich weiß nicht, ob Sie das richtig verstanden haben, wir müssen …«

Sie unterbricht mich mit erstaunlich resoluter Stimme:

»Ich muss vor allem nach Hause. Und Matteo ins Bett. Und in drei Stunden wieder aufstehen. Ich brauche ein Schmerzmittel. Aktuell ist es okay so.«

»Äh, nein! Sie bleiben!« Ich werde ein bisschen dramatischer. »Sie haben eine Blinddarmentzündung. Der Blinddarm muss rausoperiert werden. Viele denken heute immer noch, das wäre eine Lappalie. Aber es sterben tatsächlich Menschen daran. Der Blinddarm wird reißen, wenn er so schlimm entzündet ist, und dann verteilt sich der Eiter …«

Ich stehe quasi neben mir und schaue mir beim Dozieren zu: Und die Bakterien und der Bauchraum und die Blutvergiftung … Ich glaube, ich rede fünf Minuten ununterbrochen über Risiken und Nebenwirkungen. Über Dringlichkeit und Notwendigkeit und habe dabei Matteo ganz übersehen, der Augen reibend, Teddy links, Susanne rechts an der Hand im Türrahmen lehnt.

»Mama, Teo Hause, Teo müde. Mama … Teo lafen.«

Chiara hat sich in der Zwischenzeit aufgesetzt.

»Komm her, mein Schatz.« Matteo klettert auf ihren Schoß. Susanne zuckt hilflos mit den Schultern. Matteo deutet auf sie. »Kankenwester Sanne.« Sie lächelt. »Genau. Oder zumindest so ähnlich.«

»Frau Kramer, wir finden eine Lösung. Wir können Matteo so lange hierbehalten, bis er abgeholt werden kann. Sie bleiben, wenn alles gut geht, zwei Tage hier. Danach können Sie sich zu Hause erholen. Verstehen Sie? Das ist wichtig.«

»Hmm, wichtig«, murmelt sie. »Wichtig. Sie verstehen nicht.«

»Nein, ich verstehe nicht«, erwidere ich. »Okay, der Kollege ist nicht gerade besonders nett gewesen, und es ist mitten in der Nacht, aber hier sind Sie richtig. Sie müssen operiert werden!«

»Sie verstehen nicht, was wichtig ist! Sie verstehen gar nichts!«, fährt sie mich an. »Ich habe niemanden für Matteo. Wir sind allein, wir zwei. Es gibt keinen Vater, also einen Erzeuger gibt’s natürlich, aber Sie verstehen, was ich meine. Ich habe nur meine Nachbarin, die ab und zu mal aufpasst, aber die ist selbst erkrankt.« Unter Tränen redet Chiara weiter: »Glauben Sie ernsthaft, ich schleppe mein dreijähriges Kind freiwillig nachts mit in die Notaufnahme? Reiße es im Schlafanzug aus dem Bett?«

Puh, das muss ich jetzt erst mal sacken lassen.

»Wir sind allein, wir zwei.« Chiara hat niemanden, der auf Matteo aufpasst, wenn sie es nicht kann. Okay, sie kann nicht mal alleine und in Ruhe einkaufen, zum Friseur gehen oder einfach eine Vorsorgeuntersuchung bei ihrer Frauenärztin wahrnehmen ohne Matteo im Schlepptau. Von der Pizza abends mit einer Freundin ganz zu schweigen. Das ganz normale Leben muss ja für eine alleinerziehende Mutter schon anstrengend genug sein. Aber das hier gerade? Das ist nicht nur einfach nicht optimal, sondern ein absoluter Notfall, in dem es um ihre Gesundheit geht. Und noch nicht einmal in dieser Ausnahmesituation hat Frau Kramer einen Menschen, dem sie ihren Sohn anvertrauen kann?

Das macht mich fassungslos und traurig. Und Chiara ist kein Einzelschicksal.

Im Jahr 2020 waren in Deutschland rund 2,09 Millionen Mütter und etwa 435000 Väter alleinerziehend (sagt das Statistische Bundesamt).

Also fast fünfmal mehr Frauen als Männer müssen sich um ihre Kinder alleine kümmern. Sicher sind nicht alle in Chiaras Situation, viele haben Großeltern, Freunde, Geschwister, ein mal mehr, mal weniger gut funktionierendes privates Netzwerk. Und natürlich einen Kindsvater, der nicht nur gezeugt hat, sondern auch seiner Verantwortung gerecht wird. Aber es gibt eben auch die andere Seite. Und mit der werde ich gerade schonungslos und vor allem ganz persönlich konfrontiert.

Chiara Kramer hat keine Zeit, sich um ihren Blinddarm zu sorgen, sie offenbart mir stattdessen die komplette desaströse Dimension ihrer Lebensrealität.

»Ich muss morgen zur Arbeit. Mein Chef hat mir gedroht, wenn ich noch einmal fehle, brauche ich gar nicht mehr wiederzukommen …«

Ich versuche es noch einmal, komme aber nicht weit.

»Aber Sie haben doch …«

Frau Kramer drückt ihren Sohn noch fester an sich.

»Matteo war öfter krank in der letzten Zeit«, unterbricht sie mich. »Ich war schon dreimal nicht da. Ich fahre Pakete aus. Wenn ich nicht komme, gibt es keinen Ersatz. Ich brauche das Geld. Für Matteo. Wenn ich meinen Job verliere, habe ich gar nichts mehr. Ich fühle mich schon beschissen genug, dass ich beim Amt Unterstützung beantrage, um mir Wohnung und Lebensmittel leisten zu können. Ich bin ja froh, dass das Amt wenigstens die Kita bezahlt.«

»Ich verstehe«, murmele ich verlegen und schaue auf den Boden. Tatsächlich habe ich nicht die geringste Ahnung, wovon sie spricht. Wie oft floskele ich eigentlich so vor mich hin?

Vielleicht sollte ich mir hin und wieder die nackten Fakten mal vor Augen halten. Die Bertelsmann Stiftung hat 2021 eine Studie mit dem Titel »Alleinerziehende weiter unter Druck« in Auftrag gegeben. Darin kommt die Hochschule Darmstadt zu dem Schluss, »dass die Folgen der dauerhaften Mehrfachbelastung ohne ausreichende Unterstützung für viele Alleinerziehende permanente Anspannung, Erschöpfung sowie gesundheitliche Probleme« bedeuten. Weiter heißt es: »Rund 40 Prozent von ihnen erleben zudem finanzielle Armut.« 40 Prozent!!! Das bedeutet also, dass Alleinerziehende vier- bis fünfmal häufiger von Armut betroffen sind als Paarfamilien. Eine davon ist Chiara Kramer. Es sind nämlich nicht nur anonyme Zahlen und Statistiken. In der Notaufnahme bekommt die Studie für mich ein Gesicht. Und Patienten eine Geschichte. So wie Chiara Kramer, die für mich aktuell »der Blinddarm« ist. Sie macht mir zwar sehr deutlich, wie es um sie bestellt ist, emotional, finanziell und existenziell, aber ich kann, will und muss die Bauchschmerzen, die Blinddarmentzündung behandeln. Bei allen anderen Problemen kann ich leider nicht helfen. Und das fühlt sich beschissen an.

»Entschuldigung, aber Sie verstehen nichts. Sie sehen hier diesen Blinddarm und diese Blutwerte, und für Sie ist das glasklar, dass ich operiert werden muss. Sie haben die Probleme nicht. Ich will Ihnen ja gar nichts. Aber ich habe gerade keine Kapazitäten für eine Blinddarmentzündung!«

»Mama, Hause.« Matteo zieht an Chiaras Pulli. »Gleich, mein Schatz.«

»Also Frau Kramer, ich weiß jetzt nicht, wie ich …«

Wieder unterbricht sie mich.

»Ich sage Ihnen jetzt was. Ich werde nicht bleiben. Ich gehe so oder so. Und entweder helfen Sie mir jetzt oder Sie lassen es. Es ist vielleicht nicht die Hilfe, die SIE für mich vorgesehen haben, aber ich kann nicht anders.«

»Maaama! Teo lafen.« Der Kleine kann kaum noch die Augen offen halten.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, was ich überhaupt noch denken soll. Medizinisch ist das hier absolut klar. Appendizitis. Laparoskopie. Klingt sinnvoll, nach dem einzig Richtigen sogar.

Und sonst?

Meine Kinder liegen in ihren Betten. Mein Mann ist zu Hause. Ich bin gesund. Habe offensichtlich einen Beruf (sonst säße ich ja gerade nicht hier), der mir nicht nur erlaubt, meinen Lebensstandard ohne Amtshilfe zu finanzieren, sondern es auch möglich macht, krank zu werden und keine Sorge haben zu müssen, ihn zu verlieren. Ja, tatsächlich, ich verstehe wirklich gar nichts. Außer von Appendizitis, von den anderen Problemen nicht. Denn die kenne ich nicht. Chiara schon.

Was dahintersteckt, weiß ich nicht. Ob sie sitzengelassen wurde? Was vorgefallen ist? Ob sie diese prekären Zustände vielleicht schon als Kind erleben musste? Ich traue mich auch nicht zu fragen. Es bedrückt mich. Es bedrückt mich, dass jemand, der offensichtlich krank ist, der Hilfe braucht, sie nicht annehmen kann. Der sogar operiert werden müsste, sogar Schlimmes riskiert, und das aus Existenzangst?

»Ich habe gerade keine Kapazitäten für eine Blinddarmentzündung.«

Diesen Satz muss ich erst mal sacken lassen. Frau Kramer ist offensichtlich eine gute Mutter, die sich um ihren Sohn liebevoll kümmert. Darüber hinaus hat sie einen Job als Paketzustellerin, mit dem sie mehr schlecht als recht ihre kleine Familie über Wasser hält, aber mit dem sie dafür sorgt, dass ich genauso wie wir alle unsere schönen Zalando- und Amazon-Pakete bequem nach Hause geliefert bekommen. Sie hat aber keine Möglichkeit, ärztlich betreut und in Ruhe gesund zu werden? Weil ihr dazu Zeit, Geld und Hilfe fehlen. Weil der Arbeitgeber sie einfach rausschmeißen kann? Und das im 21. Jahrhundert, mitten in Deutschland.

Wie muss sich das für viele hunderttausend Menschen anfühlen, jeden Tag diesem Druck ausgesetzt zu sein, diese ständigen Ängste und Sorgen mit sich herumzuschleppen, Tag und Nacht?

Permanente Anspannung, Erschöpfung und gesundheitliche Probleme. Und damit ist wahrscheinlich nicht der Blinddarm gemeint. Das ist dann der Super-GAU.

Ja, diese dauerhafte Belastung kann krank machen, Schlafstörungen, Burnout, Depressionen, das kann ich als Ärztin sehen. Als Notärztin kann ich nur die akuten medizinischen Probleme der Patienten und Patientinnen behandeln, die Sorgen und Nöte jedes Einzelnen dahinter leider nicht. Aber was kann ich als Mensch und Privatperson im Alltag tun? Vielleicht besser hinschauen, wie es der Nachbarin mit ihrem Kind geht, dem Kollegen, dem alleinerziehenden Vater. Sind sie komplett auf sich alleine gestellt, kann ich Hilfe anbieten?

Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt, als Chiara Kramer mit dem kleinen Matteo nachts zu mir in die Notaufnahme kommt, niemals darüber nachgedacht. In meiner heilen schönen Welt. Wo Mama und Papa unterm Weihnachtsbaum Kinder mit Geschenken überhäufen. Aber es gibt die, die nicht nur alleine dort sitzen, sondern weder einen Weihnachtsbaum noch Geschenke haben. Die gar keinen haben. Ich habe tatsächlich nie darüber nachgedacht. Mit Familie und Freunden im Rücken. Mit sicherem Job und pünktlich gezahltem Gehalt. Was macht man, wenn man niemanden hat, der auch im Notfall das Kind betreut? Und dies ist ein Notfall. Ja, was macht man da eigentlich?

 

Im Sozialgesetzbuch § 38 steht, man habe als gesetzlich Versicherter Anspruch auf Weiterführung des Haushalts und Betreuung des Kindes oder der Kinder zu Hause, wenn man seinen Haushalt aufgrund einer Krankheit nicht führen kann. Haushaltshilfe und Betreuung müssen mit einer ärztlichen Bescheinigung bei der Krankenkasse beantragt werden. Anträge, Formulare, Bürokratie. Diese Hürde ist für viele schon zu hoch. Aber dann auch noch ein Notfall um Mitternacht? Man plant so etwas ja nicht: »Hey, ab morgen hab ich ’ne Blinddarmentzündung!«

Hier handelt es sich ganz klar um einen Härtefall, und dann muss tatsächlich das Jugendamt über den Kindesaufenthalt entscheiden.