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(K)EIN TRAUZEUGE ZUM VERLIEBEN Als die Investmentbankerin Sidney Sinclair ihren Verlobten mit einer anderen Frau erwischt, packt sie ihre Koffer und zieht zurück in ihre Heimatstadt Chicago. Eines ist sicher: Von beziehungsunfähigen Machos hat sie erst einmal genug! Dass ihre Schwester ausgerechnet jetzt beschließt zu heiraten, findet sie alles andere als angebracht, zumal der Trauzeuge des Bräutigams, Vaughn Roberts, genau die Sorte Mann ist, von der Sidney sich eigentlich fernhalten will. Aber sie ist die Trauzeugin, und das macht ihr Vorhaben ziemlich unmöglich ... "Julie James’ Bücher kann man nicht mehr aus der Hand legen!” Nalini Singh
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Seitenzahl: 416
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Danksagungen
Die Autorin
Die Romane von Julie James bei LYX
Impressum
JULIE JAMES
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Stephanie Pannen
Zu diesem Buch
Als die Investmentbankerin Sidney Sinclair ihren Verlobten mit einer anderen im Bett erwischt, zögert sie nicht lange: Sie packt ihre Sachen und zieht zurück in ihre Heimatstadt Chicago. Neue Stadt, neuer Job, neue Liebe – das hört sich nach einem guten Plan an! Eines ist allerdings klar: Von selbstverliebten Machos mit zu großem Ego und panischer Bindungsangst hat sie ein für alle Mal genug. Als sie eines Nachmittags von einem Mann angesprochen wird, auf den diese Beschreibung ganz genau zuzutreffen scheint, hat Sidney dann auch kein Problem damit, ihn ohne mit der Wimper zu zucken abblitzen zu lassen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie ihm wenige Stunden später beim Abendessen wieder gegenübersitzen würde: Denn Vaughn Roberts ist niemand anders als der Trauzeuge, mit dem sie gemeinsam die Hochzeit ihrer kleinen Schwester organisieren soll! Obwohl Vaughn sie mit seinem verschmitzten Lächeln auf die Palme bringt, kommt Sidney nicht darum herum, bei der Vorbereitung für die Feier eng mit ihm zusammenzuarbeiten. Je näher sie den FBI-Agenten kennenlernt, desto deutlicher wird ihr, dass sich hinter seiner Playboy-Fassade weit mehr verbirgt, als zunächst angenommen. Und bevor sie es verhindern kann, gerät ihr Entschluss, sich von ihm fernzuhalten, gefährlich ins Wanken …
Für meine Eltern
Seine umfassenden Kenntnisse in der Kunst, die subtilen Hinweise der Körpersprache zu deuten, verrieten FBI-Special-Agent Vaughn Roberts, dass dieses Date gerade ziemlich in die Hose ging.
Das Gute daran war, dass es sich nicht um sein Date handelte, das da in diesem Augenblick mit Pauken und Trompeten unterging. Denn das unglückselige Rendezvous fand zwischen zwei anderen Personen statt: der attraktiven Frau mit dem kastanienbraunen Haar, die ihm sofort aufgefallen war, als sie das Café vor zwanzig Minuten betreten hatte, und einem Typen in einem gestreiften Businesshemd, der es offensichtlich auf den Rekord für die längste Geschichte der Welt abgesehen hatte.
Die Frau nickte während der Geschichte immer wieder und bemühte sich, interessiert zu wirken. Sie blinzelte, unterdrückte ein Gähnen und nahm dann schnell einen Schluck von ihrem Kaffee, um es zu überspielen.
Vaughn grinste. Er nahm an, dass es sich entweder um ein Blind Date oder um eine Verabredung über eine Onlinepartnerbörse handelte, denn die Frau hatte sich beim Hereinkommen erst mal in dem Laden umgesehen, bevor sie schließlich mit einem zögernden Lächeln auf den Typen im gestreiften Businesshemd zugegangen war. Und angesichts dessen, wie die Sache lief, nahm er außerdem an, dass dies für die beiden das einzige Date bleiben würde. Aber er rechnete es der Frau hoch an, dass sie so höflich blieb, während der Kerl immer weiterlaberte.
Vaughn wusste, dass eine der wichtigsten Regeln für erste Verabredungen lautete, Fragen zu stellen. Frauen mochten Männer, die sich für sie interessierten – und genauso wichtig war es für sie, dass der Mann ihrer Antwort aufmerksam lauschte. Als Mann, der dafür ausgebildet worden war, genauestens auf Antworten zu achten, hatte er in dieser Hinsicht einen kleinen Vorteil.
Der Typ im gestreiften Businesshemd hingegen schien dieses Memo verpasst zu haben.
Vaughn wandte sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten zu. Er zog sein Handy heraus und checkte seine Mails. Er musste noch zehn Minuten totschlagen, bevor er sich mit seinem jüngeren Bruder Simon und dessen neuer Freundin in einem Restaurant um die Ecke zum Abendessen traf – ein Treffen, auf das er sehr neugierig war.
Dies war das erste Mal, dass er Isabelle begegnen würde, seit sein Bruder vor drei Monaten begonnen hatte, mit ihr auszugehen. Aber Simon hatte sie mehr als ein Mal erwähnt, und das sprach Bände. Ebenso wie Vaughn vermied es Simon normalerweise, gegenüber seiner Familie von seinen Liebschaften zu sprechen. Denn das führte unweigerlich zu knallharten Verhören durch ihre sehr traditionelle, sehr katholische Mutter, die nun schon seit einiger Zeit inständig darauf hoffte, dass sich einer ihrer Söhne häuslich niederlassen würde. Und da sie Vaughn inzwischen als hoffnungslosen Fall ansah – ein vierunddreißigjähriger überzeugter Junggeselle, der noch dazu vollkommen unirisch war –, hatte sie all ihre Hoffnungen in Simon gesetzt.
Doch nun waren sie hier. Es war das erste Mal, dass Simon Vaughn ausdrücklich gebeten hatte, eine seiner Freundinnen persönlich kennenzulernen. Natürlich hatte Vaughn sofort strikte Anweisungen erhalten, einen vollständigen Bericht abzuliefern, sobald das Essen vorüber war.
Im Café ertönte ein männliches Lachen und riss Vaughn aus seinen Gedanken. Er blickte von seinem Handy auf. Vielleicht hatte sich das Date ja doch noch zum Guten gewendet.
Im Gegenteil.
Der Typ im gestreiften Businesshemd laberte immer noch ohne Punkt und Komma und lachte jetzt auch noch über seine eigenen Witze. Denn natürlich war er nicht nur ein total gut aussehender Typ in einem teuren Anzug mit einem Händchen für brillante Geschichten, sondern auch noch saukomisch!
Na klar.
Frauen mochten selbstbewusste Männer, daran gab es keinen Zweifel. Aber als Kerl, der niemals ein Problem damit gehabt hatte, Frauen kennenzulernen – genau genommen sogar ganz im Gegenteil –, wusste Vaughn, dass Frauen einen Mann wollten, der Interesse daran bekundete, sie besser kennenzulernen. Und in dieser Hinsicht scheiterte der Typ im gestreiften Businesshemd gerade grandios.
Vaughn sah, dass die Frau ganz bewusst einen Blick auf ihre Uhr warf. Neugierig beobachtete er, was nun geschehen würde. Als der Typ im gestreiften Businesshemd das nächste Mal Luft holte, brachte sie sich lächelnd, aber nachdrücklich ins Gespräch. Das Lächeln brachte den Typen vorübergehend zum Schweigen.
Und das war auch kein Wunder, denn sie hatte ein hinreißendes Lächeln.
In diesem Moment fing Vaughn wirklich an, auf sie zu achten, anstatt lediglich diesen Verkehrsunfall von einem Rendezvous mitzuverfolgen, um die Zeit totzuschlagen. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr in einem modischen Stufenschnitt über die Schultern. Tatsächlich sah alles an ihr modisch und aufeinander abgestimmt aus, von ihrer elfenbeinfarbenen Rüschenbluse über ihren schmalen grauen Bleistiftrock bis hin zu dem leichten Sommerschal um ihren Hals. Er schätzte sie auf Anfang dreißig und vermutete angesichts ihrer teuer wirkenden Kleidung und der schicken High Heels, dass sie beruflich eine höhere Position innehatte.
Mit anderen Worten: Sie war klug, attraktiv und scheinbar Single.
Damit konnte er arbeiten.
Nach ein paar Augenblicken erhob sich der Typ im gestreiften Businesshemd vom Tisch und gestikulierte herum, als wollte er sagen: Kein Problem, ich habe auch noch einen anderen Termin. Und natürlich hatte er das, denn er war nicht nur gut aussehend und witzig und hatte einen Spitzenjob, nein, er war auch wichtig!
Sicher.
Jetzt musste die Frau mit dem kastanienbraunen Haar eine Entscheidung treffen. Sie konnte es sich einfach machen – schick mir eine E-Mail, lass uns das irgendwann wiederholen, und dann niemals zurückschreiben –, oder sie konnte sich für die unangenehmere, aber ehrlichere Variante entscheiden: Es war nett, aber ich spüre keine Verbindung zwischen uns.
Der Typ im gestreiften Businesshemd deutete auf sein Handy. Was hältst du davon, wenn ich dich mal anrufe? Dann wartete er ab, um zu sehen, ob er erfolgreich gewesen war.
Vaughn wartete mit ihm.
Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf.
Vaughns Interesse schoss in die Höhe. In seinen eigenen Beziehungen bevorzugte er Ehrlichkeit, daher gefiel ihm der Stil dieser Frau. Es erforderte Mut, in einer solchen Situation ehrlich zu sein.
Der Typ im gestreiften Businesshemd hatte eine solche Abfuhr offensichtlich nicht erwartet, und in dieser Hinsicht fühlte Vaughn mit ihm. Er sah zu, wie der Typ der Frau eine Frage stellte und ihr ironischerweise damit endlich eine Gelegenheit zum Sprechen gab. Sie schien freundlich zu antworten. Er nickte und marschierte dann mit einem verblüfften Gesichtsausdruck zum Ausgang.
Sobald er fort war, stieß sie ein erleichtertes Seufzen aus und holte ihr Handy aus der Handtasche.
Vaughn beobachtete, wie sie eines ihrer langen Beine über das andere schlug und es sich auf ihrem Platz bequem machte.
Es wäre eine Schande zuzulassen, dass eine solche Frau ihren Freitagabend auf eine derart unschöne Weise beenden musste.
Tja, das war nicht gerade ein Volltreffer.
Sidney Sinclair simste ihrer besten Freundin Trish, mit deren Hilfe sie am vergangenen Samstagabend über einer Flasche Pinot Noir ihr Datingprofil erstellt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Idee, es mal mit Onlinedating zu probieren, lustig und aufregend angehört – und das würde es ja vielleicht auch noch werden –, aber bis jetzt stand es eins zu null dagegen.
JUNGGESELLE NUMMEREINSGINGGARNICHT, schrieb sie Trish. ERHATZUVIELGEREDET.
Innerhalb von Sekunden schrieb Trish zurück. ISTDASBEIEINEMERSTEN DATENICHTGUT?
Natürlich versuchte Trish, es in einem positiven Licht zu sehen. Wenn man als glücklich verheiratete Mutter die beste Freundin einer dreiunddreißigjährigen Singlefrau war, gehörte das quasi zur Stellenbeschreibung.
SO VIEL WIE DER ESELAUSSHREK, antwortete Sidney.
AUTSCH. NICHTGUT.
Allerdings. William alias Junggeselle Nummer eins schien eine Menge Potenzial zu haben. Als Wertpapierhändler war er im Anlagegeschäft. Daher hätten sie eigentlich etwas gehabt, über das sie beide – also Sidney eingeschlossen – hätten reden können. Und er hatte angegeben, dass er gerne reiste, ins Kino ging und gerne neue Restaurants ausprobierte. Das alles hatte sie auf dem Pluskonto verbuchen können.
Was er in seinem Profil nicht erwähnt hatte, war die Tatsache, dass er es liebte, über all diese Dinge in todlangweiligen Einzelheiten zu sprechen.
Natürlich war Sidney klar, dass man bei einer ersten Verabredung schon mal nervös war und versuchte, das zu überspielen, indem man viel redete. Aber William hatte weniger nervös als wahnsinnig eingebildet gewirkt – und das war für sie wiederum ein großes Minus.
Sidney, die nach acht Jahren in New York vor Kurzem wieder nach Chicago gezogen war, hatte entschieden, dass sie für die Datingsache einen Plan brauchte. Es war nun sechs Monate her, seit sie sich von ihrem Verlobten getrennt hatte – das war mehr als genug Zeit, um das Ende dieser Beziehung zu betrauern.
In ihre Heimatstadt Chicago zurückzukehren war ihre Chance für einen Neuanfang. Und um die Gelegenheit richtig zu nutzen, hatte sich Sidney entschieden, die Fertigkeiten anzuwenden, die sie in ihrem Berufsleben kultiviert hatte. Als Abteilungsleiterin einer der erfolgreichsten Private-Equity-Firmen des Landes hatte sie ein tolles Gespür, wenn es darum ging zu entscheiden, ob ein Unternehmen eine gute oder schlechte Investition darstellte. Dieses Gespür war der Grund dafür gewesen, dass ihr neuer Arbeitgeber vor drei Monaten an sie herangetreten war, während sie noch bei einer Investmentbank in Manhattan beschäftigt gewesen war, und sie gebeten hatte, einen Vier-Milliarden-Dollar-Fonds zu managen.
Nun musste sie das gleiche Gespür nur noch in ihrem Privatleben anwenden. Man musste wohl ein wenig nüchterner an die Sache herangehen, wenn man in ihrem Alter wieder mit Verabredungen begann. Um erfolgreich zu sein, musste sie sich für neue Perspektiven öffnen, aber auch entschlossen und schnell handeln, wenn sich ein Kandidat als weniger lohnenswerte Investition entpuppte.
Manche Leute würden vielleicht sagen, dass ihre Herangehensweise etwas zu pragmatisch war und sie dadurch ein wenig unnahbar wirkte. Manche Leute würden ihr wohl raten, dass sie lieber ihrem Herzen als ihrem Verstand folgen sollte, wenn es ums Verlieben ging.
Sie hatte auch einmal zu diesen Leuten gehört.
»Wenigstens ist der Kaffee hier gut.«
Es war eine raue und doch wohlklingende männliche Stimme. Sidney sah von ihrem Handy auf und …
Heiliger Strohsack!
Er war es. Der heiße Typ, der ihr sofort aufgefallen war, als sie das Café betreten hatte. Er war groß und schaffte es irgendwie, trotz seines konservativen dunkelgrauen Anzugs und der blauen Krawatte kernig und sexy zu wirken. Vielleicht lag es an seinem kurz geschnittenen dunkelbraunen Haar. Oder an seinen aufgeweckten haselnussbraunen Augen. Oder an seinem markanten Kinn mit der perfekten Menge Dreitagebart.
Zu dumm, dass sie keine Ahnung hatte, wovon er gerade redete.
»Der Kaffee?«, fragte sie. »Im Gegensatz zu …?«
»Der Unterhaltung«, sagte er. »Ihre Verabredung wirkte, als hätte sie besser laufen können.«
»Das ist Ihnen aufgefallen, was?« Sie war sich nicht sicher, wie sie es fand, dass ein vollkommen Fremder ihr Date so genau beobachtet hatte.
»Ja. Aber nur weil ich dafür ausgebildet bin, solche Dinge zu bemerken.« Er grinste breit. »Ich bin kein Perversling oder so etwas.«
»Genau das würde ein Perversling wahrscheinlich sagen.«
»Stimmt.« Seine Augen funkelten schelmisch. »Ich könnte Ihnen meine Marke zeigen, wenn Sie sich dann besser fühlen würden.«
Sidney betrachtete ihn etwas genauer. Die Erwähnung einer »Marke« bedeutete wahrscheinlich, dass er in der Strafverfolgung arbeitete. Das konnte sie sich gut vorstellen – er hatte das Auftreten von jemandem, der es gewohnt war, eine Machtposition einzunehmen. »Warum nur habe ich das Gefühl, dass ich nicht die erste fremde Frau bin, der Sie anbieten, ihr Ihre Marke zu zeigen?«
»Glauben Sie mir, in meinem Beruf hat schon eine Menge fremder Frauen meine Marke gesehen. Fremde Männer ebenso.« Mit diesen Worten schnappte er sich den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und setzte sich.
Ähm … hallo? Sidney deutete auf den Platz, den er gerade ungebeten eingenommen hatte. »Was tun Sie da?«
Er sah sie an, als ob das offensichtlich wäre. »Eine Unterhaltung beginnen.«
»Aber ich kenne Sie nicht einmal.«
»Darum beginne ich ja eine Unterhaltung. Fangen wir mit den Grundlagen an. Wie Ihrem Namen.«
Ach so. Sidney wusste genau, was hier vor sich ging. Dieser Typ hatte ihr fehlgeschlagenes Date mitverfolgt, daraus geschlossen, dass sie Single war, und glaubte nun, sie wäre leicht zu haben.
»Ich verrate Ihnen meinen Namen nicht«, erwiderte sie.
»Meinetwegen, dann also Ms Doe«, fuhr er unbeirrt fort. »Warum erzählen Sie mir nicht ein wenig von sich, Ms Doe?«
Sie bedachte ihn mit ihrem besten »Verpiss dich«-Blick, den sie in ihren acht Jahren in New York perfektioniert hatte. »Sie versuchen es jetzt also mit der ›Guter Bulle‹-Nummer? Wie originell.«
Sein Tonfall wurde durchtrieben. »Ich kann natürlich auch den bösen Bullen geben, wenn Ihnen das lieber ist.«
Sidney bemühte sich, nicht rot zu werden. »Ich wette, dass solche Sprüche normalerweise ziemlich gut funktionieren, was?«
»Die Frage ist, funktionieren sie bei Ihnen?«
»Nicht im Geringsten.«
»Verdammt. Dann muss ich wohl beim nächsten Versuch meine Taktik ändern.«
»Und das würde ich mir furchtbar gerne ansehen. Wirklich.« Sidney warf einen Blick auf ihre Uhr. »Aber leider habe ich eine Verabredung zum Abendessen.«
In diesem Moment überraschte er sie.
Sein Gesichtsausdruck wurde ernsthafter. »Okay, hören Sie. Vielleicht habe ich mich ein bisschen zu sehr aus dem Fenster gelehnt. Normalerweise hätte ich mir eine originelle Eröffnung ausgedacht, gefolgt von diesem ganzen Programm, mit dem ich Sie bezaubere und beeindrucke – ja, ich sehe den skeptischen Blick in Ihren Augen, aber glauben Sie mir: Das ist allerbester Stoff. Aber ich habe ebenfalls noch einen Termin. Also bin ich ein wenig unter Zeitdruck.
Die schlichte Wahrheit lautet, dass Sie meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, seit Sie in dieses Café gekommen sind. Und ich würde gerne mehr wissen. Sie brauchen mir weder Ihre Nummer noch Ihren Namen zu verraten. Treffen Sie mich einfach morgen zur gleichen Zeit hier. Ich gebe Ihnen einen Kaffee aus, wir unterhalten uns, und dann können Sie entscheiden, ob ich wirklich so ein Arschloch bin, wie Sie denken.« Er lächelte spitzbübisch. »Möglicherweise kann ich Sie in dieser Hinsicht noch überraschen.«
Selbstbewusst, charmant und unverschämt gut aussehend. Es war eine tödliche Kombination, die für diesen Kerl normalerweise wahrscheinlich perfekt funktionierte. Sie hätte einfach warum nicht? sagen und ihn morgen wiedertreffen können, und wenn er wirklich so eingebildet war, wie sie annahm, hätte es sich damit gehabt. Sie würde noch einen Gratiskaffee dazubekommen sowie den billigen Nervenkitzel, dass ein Kerl, der so sexy aussah wie er, hinter ihr her war.
Aber.
Das Problem war, sie kannte diesen Typen. Sie war mit diesem Typen ausgegangen. Ja, sie war sogar mit diesem Typen verlobt gewesen. Manhattan wimmelte nur so von Typen wie ihm: selbstbewusst, gut aussehend und aalglatt. Und sie wusste genau, wie die Sache laufen würde, weil sie mit Brody genau den gleichen Weg eingeschlagen hatte: Dieser Typ würde sich nicht direkt als Arschloch entpuppen, sondern erst mal charmant und klug und witzig sein. Aus dem Kaffee würden Drinks werden, Drinks würden zu einem Abendessen, und sie würde die ganze Zeit Schmetterlinge im Bauch haben. Bla, bla, bla.
Sie hatte von diesem Typen dermaßen die Nase voll.
Denn jede Frau, die sich von der romantischen Fantasie, die das Ausgehen mit diesem Typen darstellte, hinreißen ließ, ignorierte eine entscheidende Tatsache.
Dieser Typ war eine schlechte Investition.
Und das wusste sie besser als jede andere.
Dem logischen Teil von Sidneys Verstand war natürlich bewusst, dass ihr die rehäugige Dreitagebartversion dieses Typen, die ihr gegenübersaß, nichts getan hatte. Deswegen lächelte sie, um höflich zu wirken. »Sehr nett, dass Sie fragen. Aber leider muss ich ablehnen.«
»Toll.« Er nickte, als ob er genau diese Antwort erwartet hätte. Dann runzelte er die Stirn und sah sie fragend an. »Wie bitte?«
Sidney biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Ah … wenn sie diese Geschichte später Trish erzählte, würde der perplexe Gesichtsausdruck dieses Kerls den Höhepunkt darstellen.
»Ich werde mich morgen leider nicht mit Ihnen treffen können«, erklärte sie ihm.
Sein verwirrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Begreifen. »Ach so, klar. Weil Sie schon andere Pläne haben, richtig?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es ist eher ein direktes Nein.«
»Hm.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und schien einen Augenblick lang darüber nachzudenken. »Ich muss zugeben, dass ich eine andere Antwort erwartet habe.«
Ja, den Eindruck hatte sie auch.
»Darf ich fragen, warum?«
»Ich glaube einfach nicht, dass Sie mein Typ sind«, sagte sie um der Einfachheit willen.
»Interessant. Sie wissen also nach den fünf Minuten, die wir miteinander gesprochen haben, was für ein Typ ich bin?«
Jetzt begann er ihr ein wenig auf die Nerven zu gehen. »Ja.«
»Beeindruckend. Hören Sie, es ist mein Beruf, Leute einzuschätzen. Also würde ich zu gern erfahren, ob Sie wirklich so gut sind, wie Sie denken.«
Sidney warf ihm einen strengen Blick zu. »Schätzchen, Sie wissen genau, was für ein Typ Sie sind. Genau wie jede alleinstehende Frau in den Dreißigern.«
»Ich verstehe.« Er lehnte sich zurück und vollführte eine einladende Geste. »Jetzt will ich es auf jeden Fall hören.«
Sidney wusste, dass dies nicht die Art von Gespräch war, die man mit einem vollkommen Fremden in einem Café führen sollte. Erstens hatte es keinen Zweck. Zweitens hatte sie gleich noch einen Termin und er ja angeblich auch.
Aber er warf ihr einen so herausfordernden Blick zu.
Wider besseres Wissen verspürte sie bei dem Gedanken, seine Herausforderung anzunehmen, einen Adrenalinstoß. Während ihrer Anfänge als Investmentbankerin in Manhattan hatte sie viele Männer gekannt, die angenommen hatten, sie mit genau solchen Taktiken einschüchtern zu können.
Sie hatten sich alle geirrt.
Also lehnte auch sie sich entspannt zurück. Sie hatte versucht, mit ihrer Zurückweisung so diplomatisch wie möglich zu sein, aber hey, wenn dieser Kerl auf einer klaren Antwort bestand, würde er sie auch bekommen.
»Also gut.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sie sind vier- oder fünfunddreißig Jahre alt, haben einen guten Job, waren nie verheiratet. Eines Tages wollen Sie sesshaft werden, vielleicht mit vierzig oder so, aber momentan stecken Sie all Ihre Energie in Ihre Arbeit. Allerdings feiern Sie genauso heftig. Sie neigen dazu, sich mit Frauen Mitte zwanzig zu verabreden, denn Frauen Anfang zwanzig erscheinen Ihnen ein wenig zu jung, und Dreißigjährige wollen nach dem dritten Date immer über Heirat und Kinder reden. Sie gehen ein paar Mal mit jemandem aus, haben eine Menge Spaß miteinander, und dann, wenn sie die Sache ein wenig verbindlicher machen will, gehen Sie zur Nächsten über und fragen sich, warum sich Frauen nicht damit begnügen können, ohne Verbindlichkeiten miteinander auszugehen. Und warum sollten Sie sich überhaupt auf eine Frau festlegen? Für Männer, die so attraktiv sind wie Sie, ist diese Stadt wie ein einziger großer Süßwarenladen, voll mit so vielen glänzenden Köstlichkeiten, dass Sie auf keinen Fall nur eine Einzige auswählen könnten. Stattdessen laufen Sie also mit Ihrem offensichtlich gesunden Ego herum und kosten so viele Leckereien, wie Sie wollen – einfach nur, weil Sie es können.«
Als sie fertig war, holte Sidney tief Luft und fühlte sich seltsam … gut. Die letzten sechs Monate nach ihrer Trennung von Brody war sie so entschlossen gewesen, nach vorn zu blicken und gegenüber ihrer Familie, ihren Freunden und ihren Arbeitskollegen gute Miene zum bösen Spiel zu machen, dass sie fast niemals Dampf abgelassen hatte. Also tat es gut, ihre Frustration endlich mal in Worte zu fassen.
Und das offenbar gegenüber diesem Typen.
Besser er als jemand anders, dachte sie. Sie würde ihn ja ohnehin niemals wiedersehen.
Er legte die Arme auf den Tisch. »Tja. Dann möchte ich mich erst mal im Namen der männlichen Bevölkerung für das entschuldigen, was er Ihnen angetan hat.«
Sidney warf ihm einen finsteren Blick zu. Sie hatte ihn zwar ganz schön angeblafft, aber seine sarkastische Bemerkung war jetzt doch ein wenig zu sehr unter der Gürtellinie. »Wir sind dann jetzt wohl fertig, was?«
»Das sehe ich auch so.« Er stand auf. »Lassen Sie sich Ihren Kaffee schmecken, Ms Doe.« Er verließ das Café ohne ein weiteres Wort.
Sidney atmete tief durch und versuchte, das eben Geschehene abzuschütteln. In ein paar Minuten würde sie ihre Schwester Isabelle und ihren neuen Freund treffen, und sie wollte nicht mit schlechter Laune zum Abendessen erscheinen.
Sie bemerkte, dass sie der etwa sechzigjährige Mann am Nebentisch beobachtete. Wahrscheinlich hatte er die ganze Show mitbekommen.
»Na ja, er hat mich schließlich nach meiner Meinung gefragt«, sagte sie verteidigend.
»Ich frage mich nur, was Sie mit dem nächsten Burschen anstellen, der hereinkommt«, sagte der ältere Mann. »Wenn das so weitergeht, wird man sie in Leichensäcken hinaustransportieren.«
Es war höchste Zeit, aus diesem Café zu verschwinden.
Das war dann wohl ein eindeutiges»Nein« von Ms Doe.
Vaughn überquerte die Straße und wich an der Kreuzung einem Taxi aus. Währenddessen bemühte er sich, die selbstgerechte Rede zu vergessen, die ihm wie ein nerviger Ohrwurm im Kopf herumspukte.
Und warum sollten Sie sich überhaupt auf eine Frau festlegen? Für Männer, die so attraktiv sind wie Sie, ist diese Stadt wie ein einziger großer Süßwarenladen, voll mit so vielen glänzenden Köstlichkeiten, dass Sie auf keinen Fall nur eine Einzige auswählen könnten.
Tja, kurz gesagt … genau.
Er stritt es nicht ab; er hatte gerne seinen Spaß. Er hatte ein gesundes Privatleben, es stand ihm frei, mit verschiedenen Frauen auszugehen und sich mit ihnen eine schöne Zeit zu machen, und er sah nicht ein, warum er sich deswegen schuldig fühlen sollte. Es gab keinen großen geheimnisvollen Grund, warum er sich nicht binden wollte. Er genoss sein Leben einfach, wie es momentan war. Er war ein alleinstehender Mann mit einem guten Job in einer pulsierenden Stadt voller interessanter Leute. Hier gab es ein großes Angebot an Dingen, die man tun und sehen konnte, sowie neue Restaurants und Bars zum Ausprobieren. Er nahm es niemandem übel, wenn er sesshaft werden wollte, aber er selbst hatte an diesem Punkt seines Lebens nicht das geringste Verlangen danach. Vielleicht, wenn er vierzig war.
Er konnte förmlich hören, wie die bissige Ms Doe selbstgefällig »Wusste ich’s doch!« rief.
Tatsächlich hatte sie ihn ziemlich genau beschrieben – und das hätte ihn bestimmt auch mehr beeindruckt, wenn sie dabei nicht so giftig gewesen wäre. Wegen des sarkastischen Kommentars, den er gemacht hatte, fühlte er sich ein wenig schuldig, aber weil sie es zuvor so genossen hatte, ihn in die Mangel zu nehmen, war er mehr als gerechtfertigt gewesen. Normalerweise lief es nicht so, wenn er eine Frau ansprach – er wollte nicht angeben, doch im Allgemeinen standen die Frauen total auf die FBI-Sache –, aber … Nun ja. Er würde sie ja ohnehin nie wiedersehen.
Glücklicherweise.
Endlich sah Vaughn das Boarding House, das Restaurant, in dem er mit Simon und Isabelle verabredet war, und schob alle Gedanken an die zänkische Ms Doe beiseite. Auch wenn er schon ein paar Mal in der Bar gewesen war, die für ihren riesigen Kronleuchter aus neuntausend Weingläsern berühmt war, hatte er niemals im Hauptspeisesaal im zweiten Stock gegessen. Der Raum schmückte sich mit freigelegtem Gebälk, Parkettboden, großen Erkerfenstern und einer Decke aus Tausenden von Weinflaschen.
Er sah Simon an einem Tisch in der Nähe der Fenster neben einer hübschen Frau sitzen. Sie war Mitte bis Ende zwanzig und hatte erdbeerblondes Haar.
Das war also die geheimnisvolle Isabelle.
Er ging zu ihrem Tisch. Simon stand auf, legte zur Begrüßung eine Hand auf Vaughns Schulter und stellte ihn sofort vor.
»Isabelle, das ist mein Bruder Vaughn. Vaughn, das ist Isabelle.«
»Schön, dich kennenzulernen, Isabelle«, erwiderte Vaughn freundlich, während er ihr die Hand schüttelte. Dies war für Simon offensichtlich eine wichtige Sache, also nahm er sich vor, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Was bedeutete, dass er die ganzen peinlichen Anekdoten über seinen Bruder zumindest bis zum Hauptgang aufsparen würde.
»Ganz meinerseits«, sagte sie. »Simon hat mir schon so viel von dir erzählt.«
»Ich musste ein paar der Geschichten ein bisschen überarbeiten, aber sie hat einen groben Überblick bekommen«, scherzte Simon.
Schmunzelnd setzte sich Vaughn. Er bemerkte, dass der Platz neben Isabelle ebenfalls eingedeckt war.
»Isabelles Schwester kommt auch noch«, erklärte Simon.
»Zusammenführung der Familien?« Vaughn zog eine Augenbraue hoch. »Das wird ja richtig ernst.«
»Um genau zu sein, hat Simon Sidney bereits getroffen«, sagte Isabelle. »Aber wir dachten, es wäre nett, heute mit euch beiden zusammen zu Abend zu essen.«
Vaughn fand das ziemlich … interessant. Vielleicht war ja etwas im Busch? »Je mehr, desto besser.« Er trank einen Schluck Wasser und musterte über den Glasrand hinweg Simons strahlendes Grinsen.
Und wie da etwas im Busch war.
»Ah, perfektes Timing. Da ist Sidney.« Isabelle winkte jemandem auf der anderen Seite des Restaurants aufgeregt zu.
Vaughn saß mit dem Rücken zum Eingang, also drehte er sich um.
Das.
Kann.
Doch.
Nicht.
Wahr.
Sein.
Es war die zänkische Ms Doe.
Als sie ihn im selben Augenblick sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Vaughn war sich ziemlich sicher, dass sie leise »Oh, Scheiße«murmelte.
Ganz seine Meinung.
Sidney schien sich jedoch schnell zusammenzureißen und kam zum Tisch.
Isabelle stand auf und umarmte sie. »Ich bin so froh, dass du da bist.« Sie drehte sich zu ihm um. »Das hier ist Simons Bruder Vaughn. Vaughn, das ist meine Schwester Sidney.«
Vaughn erhob sich und streckte seine Hand aus. Angesichts der Umstände hatte er nicht vor, sich anmerken zu lassen, dass sie sich bereits begegnet waren. »Schön, dich kennenzulernen, Sidney.«
Ihr Blick schien zu bedeuten, dass sie es ebenfalls so handhaben würde. Sie schob ihre Hand in seine. »Gleichfalls.«
»Sid«, sagte Simon, als ob sie alte Freunde wären. Er ging um den Tisch herum und drückte sie fest.
Danach setzten sich alle auf ihre Plätze. Vaughn saß direkt neben Sidney. Er faltete seine Hände auf dem Tisch. Na, wenn das nicht gemütlich ist.
Isabelle sah zu Simon. Er zuckte mit den Schultern und grinste dabei immer noch wie ein Honigkuchenpferd. Sie wandte sich wieder an Sidney und Vaughn und begann schnell zu sprechen. »Okay, ich weiß, dass wir lieber noch etwas warten sollten, bis ihr beide euch ein wenig besser kennengelernt habt, aber ich kann nicht anders. Simon und ich haben euch etwas zu sagen.«
»In diesem Fall überspringen Vaughn und ich gerne den Kennenlernteil«, sagte Sidney mit einem charmanten Lächeln.
»Sehr gerne«, pflichtete er ihr ebenso charmant bei.
»Oh, ihr beiden seid so lieb. Also dann, es hat wohl keinen Sinn mehr, länger um den heißen Brei herumzureden …« Isabelle warf einen verstohlenen Blick zu Simon, dann riss sie die Hände in die Höhe. »Wir werden heiraten!«
Vaughns Mund klappte auf, und Sidney bedeckte ihren im selben Augenblick mit den Händen.
»Oh mein Gott!«, stieß Sidney aus.
Dem konnte er von ganzem Herzen zustimmen. Sein Bruder hatte Isabelle nach nur drei Monaten einen Antrag gemacht? Er hatte angenommen, dass sie verkünden wollten, zusammenzuziehen, was für sich betrachtet schon ein großer Meilenstein gewesen wäre. Aber heiraten?
Das war eine ziemlich große Sache.
»Das sind wunderbare Neuigkeiten«, sagte Sidney. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht stand sie auf und umarmte ihre Schwester.
Vaughn warf einen Blick zu seinem Bruder, der ihn erwartungsvoll ansah.
Das rührte ihn.
Okay, ja. Er selbst hielt es für vollkommen verrückt, sich nach nur drei Monaten mit seiner Freundin zu verloben. Wie konnte man sich nach so einer kurzen Zeit sicher sein, dass man den Rest seines Lebens mit dieser einen Person verbringen wollte? Bei dem bloßen Gedanken begann sein Auge zu zucken. Keine Jagd mehr. Keine spaßigen One-Night-Stands. Keine Gedanken mehr an diesen Dreier, den man mal mit Wie-hieß-sie-noch und ihrer sexy Freundin gehabt hatte, und die Überlegung, ob sie das vielleicht irgendwann wiederholen würden. Puff – alles weg, einfach so.
Aber dies war Simons Entscheidung, nicht seine. Und auch wenn Vaughn nicht klar war, was seinen Bruder dazu gebracht hatte, sich so schnell zu verloben, war ihm klar, dass er sich keinesfalls wie ein Arschloch verhalten würde, indem er ihm diesen großen Moment verdarb.
Also stand auch er auf. Er grinste und klopfte Simon auf den Rücken. »Mein kleiner Bruder wird heiraten. Heilige Scheiße.«
Simon lachte und umarmte ihn brüderlich.
Weitere Beglückwünschungen folgten – Sidney umarmte Simon, Vaughn umarmte Isabelle, Vaughn und Sidney behielten gegenseitig einen sicheren Abstand bei – und dann setzten sich alle wieder.
»Einer der Gründe, warum Isabelle und ich es euch zuerst sagen wollten, besteht darin, dass wir euch als Trauzeugen haben wollen«, sagte Simon.
Isabelle drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Also kein Überspringen des Kennenlernteils. Als die beiden wichtigsten Menschen in unserem Leben …« Sie deutete zwischen Simon und sich hin und her, »seid ihr jetzt auf ewig aneinander gefesselt.«
»Was für ein Spaß, oder?«, fragte Simon begeistert.
Vaughn und Sidney beäugten einander skeptisch.
Na klar.
Alles in allem verlief das Abendessen eigentlich ganz reibungslos.
Eins musste Vaughn Sidney lassen – die Frau hatte ein wahnsinnig gutes Pokerface. Sie war ihm gegenüber zwar nicht übermäßig gesprächig, aber sie ignorierte ihn auch nicht. Ihr Tonfall und die Dinge, die sie sagte, waren vollkommen höflich.
Es half natürlich enorm, dass er und Sidney in der ersten halben Stunde kaum miteinander sprechen mussten. Fast sofort, nachdem Simon und Isabelle die Bombe hatten platzen lassen, gab es nur noch die Themen Brautparty, Hochzeitsempfang und Flitterwochen. Als Reaktion darauf tat Vaughn, was jeder FBI-Agent tat, wenn er sich in einer Situation wiederfand, die vollkommen außerhalb seines Wohlfühlbereichs lag – er hielt sich bedeckt und sagte so wenig wie möglich.
Aber als der Nachtisch kam, versuchten Isabelle und Simon, ihre jeweiligen Geschwister mehr in die Unterhaltung einzubeziehen.
»Hast du dich langsam in dein neues Büro eingelebt?«, fragte Simon Sidney. Er wandte sich erklärend an Vaughn. »Sidney ist erst kürzlich hergezogen, nachdem sie mehrere Jahre in New York gelebt hat.«
»So langsam«, antwortete Sidney. »Wir haben unseren Fonds letzte Woche abgeschlossen, also beginnt jetzt erst die eigentliche Arbeit.«
»Was tust du denn so?«, fragte Vaughn. Abgesehen davon, Männern, die dich ganz unschuldig ansprechen wollen, die Eier abzureißen, meine ich.
»Früher war ich Investmentbankerin. Aber ich habe die Seiten gewechselt – jetzt bin ich Abteilungsleiterin in einer Private-Equity-Firma.«
»Klingt beeindruckend.« Als Agent in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität wusste Vaughn zwei Dinge über Sidneys Berufszweig: Erstens, wenn sie sich die Position der Abteilungsleiterin schnappen konnte, musste sie in ihrem Job ziemlich gut sein, und zweitens verdiente sie damit zweifellos eine Menge Geld. Aber sie brauchte nicht zu wissen, dass er von einem beruflichen Standpunkt aus beeindruckt war. Er konnte sie sich leicht in ihrem schicken Büro vorstellen, wo sie Unternehmen aufkaufte und darüber nachdachte, wie man sie mit Profit wieder verkaufen konnte.
Unter anderen Umständen hätte er dieses Bild wahrscheinlich ziemlich sexy gefunden.
»Vaughn arbeitet beim FBI«, erzählte Isabelle ihrer Schwester, um die Unterhaltung am Laufen zu halten.
Sidney musterte ihn und erinnerte sich wahrscheinlich daran, wie er ihr scherzhaft angeboten hatte, ihr seine Marke zu zeigen. »Mit was für Fällen hast du zu tun?«
»Ich arbeite in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität.«
»Vaughn führt eine Menge verdeckter Ermittlungen durch«, erklärte Simon stolz. »Er ist einer der wenigen Agenten, die die FBI-Undercoverschule in Quantico absolviert haben.«
»Ich wusste nicht, dass ihr dafür tatsächlich eine Schule habt«, sagte Sidney.
»Ich auch nicht.« Isabelle wirkte fasziniert. »Gibt es da Klassenräume und all so was?
»Ja, aber meistens sind wir gar nicht auf dem Schulgelände, sondern benutzen ein nahe gelegenes Städtchen, damit sich die Situationen authentischer anfühlen«, sagte Vaughn. »Im Grunde genommen spielen wir drei Wochen lang Undercoverszenarien durch und lernen, wie man reagiert, wenn die Sache schiefläuft.«
»Sehr cool«, kommentierte Isabelle. »Ist das nicht interessant, Sid.«
»Faszinierend.« In Sidneys Tonfall schwang ein Hauch Sarkasmus mit. Schnell nahm sie einen Schluck Wein.
Und so ging der Tanz weiter.
Vaughn und Sidney brachten den Rest des Abends mit höflichem und charmantem Small Talk irgendwie hinter sich. Nur ein einziges Mal bröckelte die Fassade für einen kurzen Moment. Sie standen vor dem Restaurant, nachdem sie mit dem Abendessen fertig waren. Isabelle war noch auf der Toilette, und Simon ging davon, um dem Parkwächter sein Ticket zu geben.
Damit waren Sidney und Vaughn allein.
Sie ging zu einem wartenden Taxi. Vaughn folgte ihr und öffnete, ganz der Gentleman, die Tür für sie.
»Ich würde ja anbieten, dass wir uns ein Taxi teilen, aber ich befürchte, mein ›offensichtlich gesundes Ego‹ und ich würden zu viel Platz einnehmen.« Für den Fall, dass Simon zusah, schob er ein Lächeln hinterher.
»Du hast bestimmt den ganzen Abend darauf gewartet, das zu sagen, oder?«, spottete sie.
»Glaub mir, von all den Dingen, die ich den ganzen Abend sagen wollte, war das noch das höflichste.« Er machte eine einladende Handbewegung und sah dann zu, wie sie ins Taxi stieg.
Dabei teilte sich der Schlitz ihres Bleistiftrocks bis zur Mitte des Oberschenkels.
Sie blickte auf und erwischte ihn dabei, wie er auf ihre Beine starrte.
Ja, was auch immer. Schnell warf Vaughn die Tür zu.
Schreckschraube hin oder her, die Frau hatte verdammt schöne Beine.
Während das Taxi das Restaurant hinter sich ließ, schüttelte Sidney den Kopf. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass der Kerl, dem sie im Café einen verbalen Einlauf verpasst hatte, der Bruder ihres zukünftigen Schwagers war.
Offenbar handelte es sich um einen dieser verrückten Zufälle. Um ihre Zeit effizient zu nutzen, hatte sie ihre Verabredung mit William in einem Café abgehalten, das in der Nähe des Restaurants lag, in dem sie später Simon und Isabelle treffen würde. Wenn sie das Gespräch zwischen Vaughn und Simon richtig mitbekommen hatte, war Vaughn später als erwartet von der Arbeit weggekommen und hatte nicht mehr genug Zeit gehabt, um noch nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, also hatte er sich entschieden, eine halbe Stunde im selben Café totzuschlagen.
Das Schicksal lachte sich über seinen Einfall wahrscheinlich gerade tot.
Sie holte ihr Handy heraus, um Trish zu schreiben, sah dann aber, dass es nach zweiundzwanzig Uhr war. Es war wahrscheinlich ein wenig spät, um mit jemandem zu plaudern, der ein vier Monate altes Baby zu Hause hatte. Also entschied sie, dass die Sache bis zum Morgen warten konnte.
Das Taxi hielt vor ihrem Zuhause an, einem Sandsteingebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende, das der Vorbesitzer komplett saniert hatte. Sidney bezahlte den Fahrer, überquerte die Straße und schloss die Haustür auf. Dann stellte sie ihre Handtasche ab und zog ihre Schuhe aus. Dabei ging ihr immer wieder Vaughns letzter Kommentar durch den Kopf.
Glaub mir, von all den Dingen, die ich den ganzen Abend sagen wollte, war das noch das höflichste.
Er war so … eingebildet. Und nervig. Und noch nerviger war die Tatsache, dass er zufällig auch noch gut aussehen musste und diesen interessanten Beruf hatte – oh, sieh mich an, ich bin ein attraktiver FBI-Agent, ich bin zur Schule gegangen, um so ein toller Kerl zu werden –, bla, bla, bla. Und jetzt würde ihre Schwester seinen Bruder heiraten, was bedeutete, dass sie bis in alle Ewigkeit mit diesem Typen zusammenstoßen würde.
Na herrlich.
Ein Klopfen an der Haustür ließ Sidney zusammenzucken. Da sie um halb elf an einem Freitagabend keine Gäste erwartete, warf sie erst mal einen Blick auf das Bild der Sicherheitskamera, die mit ihrem Fernseher verbunden war.
Überraschenderweise war es Isabelle.
Sidney ließ ihre Schwester herein. »Hey, ich dachte nicht, dass ich dich so schnell wiedersehen würde.«
»Ich habe Simon gebeten, mich hier abzusetzen, damit wir reden können. Du weißt schon, nur wir beide.«
Sidney lächelte. Nun war sie schon weniger überrascht. Trotz der fünf Jahre Altersunterschied hatten ihre Schwester und sie sich immer nahegestanden. Durch die ständige Abwesenheit ihres Vaters und eine dauernd wechselnde Horde von Kindermädchen und Stiefmüttern waren sie einander in ihrer Kindheit die einzige Konstante gewesen. Sie und Isabelle hatten während ihrer Zeit in New York ständig miteinander telefoniert und geskypt, aber das hier hatte sie dennoch vermisst – die Möglichkeit, sich jederzeit persönlich zu treffen.
Sie führte ihre Schwester ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Sie war sehr auf die Einzelheiten gespannt, die sie in Anwesenheit von Simon und seinem ach so tollen FBI-Bruder nicht hatte fragen wollen. »Also? Warst du total überrascht, als Simon gefragt hat, ob du ihn heiraten willst? Ich meine, ihr seid ja erst seit drei Monaten zusammen.«
Isabelle setzte sich im Schneidersitz neben Sidney. »Ja und nein. Das Thema kam auf, als wir ein Gespräch über etwas anderes hatten.«
»Was denn?«
»Ich habe Simon gesagt, dass ich schwanger bin.«
Wie bitte? Sidney blinzelte. »Oh mein Gott.«
Isabelle musste schmunzeln. »Das war ziemlich genau auch meine erste Reaktion. Und Simons ebenfalls.«
Wow. Ihre Schwester – ihre kleine Schwester – war schwanger. Sidney wusste nicht, wo sie vor lauter Fragen anfangen sollte. »Es war also nicht geplant.«
»Ähm, nein. Vor drei Wochen habe ich mich entschieden, Simon seine eigene Schublade in meinem Schlafzimmer zu geben. Du weißt schon, damit er einen Platz für seine Sachen hat, wenn er bei mir übernachtet. Um das zu feiern, haben wir eine Flasche Champagner geöffnet – weil das in dem Moment ein großer Schritt für unsere Beziehung war –, und wir waren schnell ein wenig beschwipst. Die Einzelheiten sind etwas schwammig, aber meine Theorie ist, dass wir das Kondom nicht schnell genug übergezogen haben.«
Ups.
Sidney nahm die Hand ihrer Schwester in ihre. »Und wie fühlst du dich dabei?«
Isabelle atmete tief durch. »Seit ich es weiß, ist alles ein einziger Wirbelwind, und ich muss natürlich bei meinen Klienten ein wenig jonglieren, sobald das Baby da ist.« Damit bezog sie sich auf ihre Stelle als Sozialarbeiterin. »Aber ich denke, dass Simon und ich uns so langsam an den Gedanken gewöhnen.«
»Und wollt ihr deswegen so schnell heiraten? Denn … ich will ja jetzt nicht wie die große Schwester klingen … aber man muss nicht mehr heiraten, nur weil man ein Kind erwartet, Izz.«
»Das weiß ich doch.« Isabelle sah sie ernst an. »Aber es ist so: Ich wusste schon nach der zweiten Verabredung, dass ich Simon heiraten will. Er ist der Richtige, Sid. Und zu heiraten, bevor das Baby geboren wird, ist sehr wichtig für ihn. Also ja, vielleicht geht alles schneller, als ich es mir vorgestellt habe, aber wir nehmen die Dinge so, wie sie kommen.«
Sidney suchte im Gesicht ihrer Schwester nach Anzeichen für Unsicherheit. »Bist du sicher, dass du das willst?«
Isabelle nickte, ohne zu zögern. »Absolut.«
Sidneys Beschützerinstinkte entspannten sich ein wenig. »Okay. Dann beeilen wir uns mal besser mit der Hochzeitsplanung.« Aufgeregt klatschte sie in die Hände. »Wie lange haben wir? Acht Monate, um die Sache durchzuziehen? Vielleicht besser sieben, um auf Nummer sicher zu gehen?«
Isabelle schürzte die Lippen. »Tja, weißt du, das ist der Haken. Simons Mutter ist offenbar sehr traditionell katholisch. Er macht sich Sorgen, dass sie enttäuscht sein könnte, wenn sie erfährt, dass ich vor unserer Hochzeit schwanger geworden bin, also haben wir gehofft, die Hochzeit hinter uns zu bringen, bevor wir ihr von dem Baby erzählen.«
»Oh, ihr wollt also durchbrennen und heimlich heiraten?«
»Das habe ich als Möglichkeit in Betracht gezogen, aber Simon sagt, dass seine Eltern am Boden zerstört wären, wenn wir das täten. Also wollen wir die Hochzeit einfach hier durchziehen, bevor man es mir ansieht.«
»Das ist toll, Izz. Aber ich glaube, dass Simons Mutter wissen wird, was Sache ist, wenn fünf Monate nach eurer Hochzeit ein Baby auf die Welt kommt. Es sei denn, ihr wollt ihr erzählen, dass der Storch jetzt auch Expresslieferung anbietet.«
Isabelle warf ihr einen finsteren Blick zu. Ha, ha. »Natürlich müssen wir es ihr vorher sagen. Ich will nur nicht, dass sie noch vor der Hochzeit sauer auf mich ist.« Sie hielt inne. »Ich meine, ich habe die Frau noch nicht mal kennengelernt, und ich möchte einfach nicht, dass ihr erster Eindruck von mir darin besteht, dass ich diejenige bin, die ihren Sohn in die Ehe gezwungen hat, weil sie nach nur drei Monaten Beziehung schwanger geworden ist. So soll es nicht laufen, wenn ich meine zukünftige Schwiegermutter das erste Mal treffe. Meine Schwiegereltern sollen sich darüber freuen, dass ich ihren Sohn heirate, und meine Schwiegermutter soll mir … keine Ahnung … Familienrezepte weitergeben und mir vielleicht zeigen, wie man die perfekte Pastete backt, und mir dabei helfen, das Taufkleid für das Baby auszusuchen. Halt all diese Sachen, die Mütter eben so tun.«
Bei diesen Worten schnürte sich Sidneys Kehle ein wenig zu. Sie wusste genau, was Isabelle meinte. Sie beide hatten so viele dieser Momente verpasst, seit die damals neunjährige Sidney und die erst vier Jahre alte Isabelle ihre Mutter durch Brustkrebs verloren hatten. Und da ihr Vater … na ja, nun einmal ihr Vater war, hatte er ihnen nie wirklich ein typisches Familienleben bieten können.
»Ich will einfach nur, dass Simons Eltern mich mögen.« Isabelle lächelte spitzbübisch. »Sobald sie sehen, wie wunderbar ich bin und wie perfekt Simon und ich zusammenpassen, werden wir ihnen die frohe Botschaft verkünden. Und fairerweise sei gesagt, dass es nicht nur um Simons Eltern geht. Diese Schwangerschaft ist etwas Besonderes, etwas ganz Persönliches zwischen Simon und mir. Ich will nicht, dass sich die Leute das Maul darüber zerreißen, dass ich mich habe schwängern lassen, bevor ich verheiratet war. Nach der Hochzeit können sie sagen, was sie wollen, aber jetzt wollen Simon und ich die Sache noch geheim halten. Du bist außer uns die Einzige, die davon weiß.«
Sidney drückte die Hand ihrer Schwester. »Weißt du, was ich denke? Ich denke, dass es niemanden etwas angeht, ob du schwanger bist. Du solltest es den anderen erst erzählen, wenn du bereit bist. Als Trish schwanger war, hat sie gewartet, bis das erste Trimester vorbei war, bevor sie es jemandem gesagt hat. Du erweiterst diesen Zeitraum nur ein wenig.«
»Genau«, sagte Isabelle nachdrücklich.
»Also, drei Monate, was? Das wird echt knifflig.« Sidney zwinkerte ihrer Schwester zu. »Aber glücklicherweise hast du zufällig eine verdammt gute Trauzeugin, die dir helfen wird.«
Isabelle biss sich auf die Lippe und wirkte plötzlich zum ersten Mal an diesem Abend zögerlich. »Jetzt kommt der Teil, bei dem du wirklich total ehrlich zu mir sein musst. Ich habe in der ganzen Stadt nach einem freien Veranstaltungsort gesucht – aber überraschenderweise ist in den nächsten drei Monaten alles voll. Ich habe allerdings einen Ort gefunden, der am Samstag vor dem Labor Day frei wäre. Und es ist dort auch total schön.«
»Großartig. Und was ist das Problem?«
»Es ist der Lakeshore Club.«
Sidney verstummte.
Oh.
»Ich wusste, dass es eine schreckliche Idee ist«, sagte Isabelle schnell. »Vergiss, dass ich es überhaupt erwähnt habe, Sid.«
Schrecklich war vielleicht ein wenig übertrieben. Aber Sidney hatte nicht unbedingt erwartet, dass ihre Schwester ihre Hochzeit dort feiern würde, wo Sidney noch vor sechs Monaten ihren eigenen Hochzeitsempfang hatte abhalten wollen.
Angesichts dessen, wie diese Erfahrung geendet hatte – Sidney hatte zwei Wochen vor dem großen Tag alles abgesagt –, war die Vorstellung, dass Isabelle dort ihre Hochzeit feiern wollte, tatsächlich ein wenig … seltsam. Aber wollte sie ihrer Schwester deswegen wirklich Steine in den Weg legen? Sie wusste, wie viel Isabelle daran lag, und außerdem war der Lakeshore Club tatsächlich ein toller Veranstaltungsort.
Wie so oft in den letzten sechs Monaten strich Sidney ihre Gefühle aus der Gleichung und berief sich auf ihren Pragmatismus.
Und ein Pragmatiker würde sagen, dass ihre schwangere Schwester nicht davon abgehalten werden sollte, ihre Traumhochzeit zu bekommen, nur weil Sidneys Exverlobter seine vierundzwanzigjährige Fitnesstrainerin gebumst hatte.
Nachdem das entschieden war, antwortete sie Isabelle mit einem bewusst lockeren Lächeln.
»Das ist überhaupt keine schreckliche Idee. Dann also der Lakeshore Club.«
Am darauffolgenden Montagmorgen saß Sidney am Kopfende eines langen grauen Granittischs in einem der Besprechungsräume bei Monroe Ellers. Sechs Augenpaare starrten sie an. Sie gehörten Männern und Frauen, die zu den besten Absolventen ihrer MBA-Programme zählten und nun als Analysten bei einer der erfolgreichsten Private-Equity-Firmen des Landes arbeiteten.
Und diese Männer und Frauen würde sie nun führen.
In den vergangenen Wochen hatte sie sich langsam an ihre neue Rolle und das Unternehmen gewöhnt, genauso wie daran, mit den anderen Abteilungsleitern an ihrem Fonds und dem Auftun neuer Investoren zu arbeiten. Sie hatten durch das Kombinieren von Firmeninvestoren, Universitätsstiftungen, privaten Investoren und Lehrerpensionsfonds vier Milliarden Dollar zusammenbekommen, einen ziemlich großen Fonds.
Jetzt war es an der Zeit, den Ball ins Rollen zu bringen. Sie hatten das Geld, also bestand der nächste Schritt darin, Unternehmen zu finden, in die ihre Klienten investieren sollten. Es war für sie an der Zeit, sich der Herausforderung zu stellen und zu beweisen, dass sie so gut war, wie die Partner bei Monroe Ellers glaubten.
»Wer in dieser Runde hat für mich den nächsten Dunkin’ Donuts gefunden?«, fragte sie die Gruppe.
Sechs Augenpaare sahen einander besorgt an. Mit dieser Frage hatten sie offensichtlich nicht gerechnet. Scheiße, erwartet sie etwa von uns, darauf eine Antwort zu haben? Dunkin’ Donuts war eins der erfolgreichsten Private-Equity-Konzepte der vergangenen Jahre. Das Unternehmen hatte kurz davorgestanden, von Krispy Kreme ausgelöscht zu werden, bis es von mehreren Private-Equity-Firmen aufgekauft worden war. Das Marketing wurde verändert und anstelle von Donuts mehr auf Kaffeeprodukte und Getränke ausgerichtet. Das hatte sich als brillante Strategie herausgestellt: Sechs Jahre später hatten die Private-Equity-Fonds ihre Investition fast verdoppelt, indem sie Dunkin’ Donuts mit knapp zwei Milliarden Dollar Gewinn verkauft hatten.
Aber kein Abteilungsleiter, ganz egal wie gut, sollte so einen Gewinn seinen Klienten versprechen oder ihn von seinem Team erwarten. »Das war ein Scherz, Leute. Sie haben alle so ernst gewirkt, da konnte ich nicht widerstehen.«
Sie sah, wie sich die Mitarbeiter entspannten. Dies war ihre erste Teambesprechung, und sie konnte verstehen, dass die Nerven blank lagen. Wahrscheinlich hatten sie schon einiges über Sidney gehört, zum Beispiel, dass sie sich als Spezialistin für Konsumentenprodukte einen Namen gemacht hatte, als sie noch Vizepräsidentin bei ihrer früheren Investmentbank gewesen war. Möglicherweise nahmen sie an, dass sie aggressiv und – wie viele New Yorker Investmentbanker hier – darauf aus war, sich zu profilieren. Und damit hätten sie auch recht.
Aber.
Wie sie in den letzten acht Jahren gemerkt hatte, machte es einen großen Unterschied, ob man von einer aggressiven und karrierebewussten Person geführt wurde oder von jemandem, der einfach nur ein Arschloch war. Also war dieses erste Treffen ihre Chance, direkt von Anfang an klarzumachen, was ihr Team von der Zusammenarbeit mit ihr erwarten konnte.
Sie verschränkte die Hände auf dem Tisch ineinander. »In den letzten paar Wochen habe ich Sie alle einzeln kennengelernt, und wir hatten allgemeine Gespräche über einige Möglichkeiten, die ich gerne mit diesem Fonds erkunden möchte. Aber da dies das erste Mal ist, dass wir alle beieinander sind, dachte ich, wir sollten darüber sprechen, wie meine Vision für dieses Projekt aussieht.
Als ich mit den Partnern über die Aussicht sprach, bei Monroe Ellers zu arbeiten, wurde ich gefragt, wie meine Strategie für einen erfolgreichen Fonds aussehen würde. Meine Antwort war schlicht: Ich sagte, dass ich Unternehmen gerne wachsen lasse. Ich suche nach Firmen, die Probleme haben und einen Richtungswechsel benötigen, oder vielleicht nach einem kleineren Unternehmen, das eine vermarktbare Idee hat, aber nicht über die Ressourcen zum Expandieren verfügt. Hier kommen wir ins Spiel. Wir finden dieses Potenzial und kultivieren es. Und bringen unseren Klienten damit eine Menge Geld ein.«
Sidney sah ein paar lächelnde Gesichter. Die Zuhörer nickten, und ihre Rede schien gut bei ihnen anzukommen. Andererseits hatten fünf von den sechs Leuten am Tisch große Kaffeebecher vor sich stehen, also konnte es auch sein, dass einfach nur das Koffein zu wirken begann. »Also lautet die wichtigste Frage: Welches Unternehmen hat unserer Meinung nach ein solches Potenzial? Und wie es der Zufall will, habe ich auf diesem Gebiet ein paar Ideen.« Sie startete die PowerPoint-Präsentation, die sie auf ihrem Laptop vorbereitet hatte.
Auf der Leinwand vor ihnen erschien das Foto einer Ladenfront. »Vitamin Boutique. Hauptsächlich im Mittleren Westen verbreitet und auf, nicht weiter überraschend, Vitamine spezialisiert. Einhundertfünfundzwanzig Läden in zwölf Staaten. Ich habe mich letzte Woche mit den Investmentbankern des Unternehmens getroffen. Sie sagten mir, dass sie nach einer Gelegenheit suchen, über den Mittleren Westen hinaus und in andere Absatzwege zu expandieren sowie ihre Onlinepräsenz erheblich zu steigern. Sie haben deutlich gemacht, dass sie an einer Übernahme interessiert wären.«
Sidney sah, dass sich die Mitarbeiter am Tisch Notizen zu machen begannen. »Übrigens werde ich Sie in zwei Teams aufteilen, also suchen Sie sich bitte von meiner Liste aus, welche Unternehmen Sie in den nächsten vier Wochen in- und auswendig kennenlernen möchten. Die übliche Prospektprüfung: ihre Finanzen, ausstehende Rechtsstreitigkeiten, wer ihre Firmenanwälte sind und wie sehr die uns nerven werden, wenn wir den Handel abschließen.«
Einer der Mitarbeiter, ein Mann namens Spencer, lachte auf. Dann hielt er inne und sah sie unsicher an.
Sidney nickte ermutigend. »Nein, ganz richtig, das war wieder ein Scherz. Bleiben Sie locker, wir werden die nächsten fünf oder sechs Jahre zusammen an diesem Projekt arbeiten. Lachen sie ruhig über meine witzigen kleinen Kommentare, wann immer Sie möchten … Hey, genau so, langsam werden wir warm miteinander, was?« Unter erneutem Gelächter tippte sie auf das Touchpad ihres Laptops, und das Logo einer weiteren Firma erschien. »Also gut. Als Nächstes Evergreen Candles.«
Die Besprechung dauerte noch eine weitere halbe Stunde, danach zerstreute sich das Team. Sidney blieb noch ein paar Minuten im Raum, um einem Mitarbeiter ein paar Fragen zu beantworten, dann kehrte sie in ihr Büro zurück.