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In der Rückschau auf seine literarhistorische Arbeit erzählt der Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts Fritz Mierau van den Potenzen der Sprache, vornehmlich der Sprache der russischen Poesie, unter den Bedingungen zweier scheiternder Sozialstrukturen, welche sich zum Ziel gesetzt hatten, mit den mörderischen Mitteln ihres Titanismus utopische Gesellschaftsmodelle zu erzwingen, die sich als Diktaturen erwiesen.
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Fritz Mierau
Sprache in Zeiten gelebter Utopie
Keller der Erinnerung. Sprache in Zeiten gelebter Utopie
Autor: Fritz Mierau
© Fritz Mierau
1. Auflage 2017
epubli Verlag Berlin
Mit Dank an alle Rechteinhaber und an Kristof Steichert für Texterfassung und Layout sowie die Umschlaggestaltung unter Verwendung der Grafik „Kleiner Garten der Ovale“ von Ruth Tesmar.
Pran machte seine Sprache zu einer dünnen Schnur, prägte auf dieser die Namen ein und fesselte die ganze Welt, denn alles in der Welt Erkannte wird durch den Namen unterschieden und der Name entstand aus der Sprache und alle Namen werden mit der Sprache geredet.
Sind wir dennoch ewig ohne Heute...Cläre Otto „Die Vorläufer“ (1914)
… archaisches mütterliches Prinzip oder ein Vorschein kommender Möglichkeiten.Helga Karrenbrock „Über Cläre Jung“ (1987)
Jeden, der Cläre Jung aufsuchte, nahm sie gefangen, wenn er auch kaum zu sagen wagte, wie das geschah. Nicht, daß sie einen bezaubert hätte. Gewinnend war da weder ein besonderer Charme noch eine betonte Fürsorge. Selbst von starkem Willen konnte keine Rede sein. Obwohl Franz Jung allgegenwärtig war, fehlte ihr das Sendungsbewußtsein der Schriftstellerwitwe völlig. Mancher Besucher glaubte sein Leben ändern, ordnen zu müssen, wenn er von ihr kam. Mancher erfuhr allein schon die Begegnung mit der achtzigjährigen Greisin als ein Bad im Jungbrunnen. Für manchen Jüngeren lag ein Hauch von „Harold und Maud“ über der Szene. Und mancher vermutete immerhin, daß die bisher geschriebene Literaturgeschichte vor dem Dasein und den Berichten dieser Frau nicht bestehen würde – und nicht nur die Literaturgeschichte.
In der Tat ging es um einen Lebensstil, der eine ganze Epoche geprägt hatte und nun wie auf einer Insel der Seligen in Cläre Jungs Dunstkreis weiter gepflegt wurde. Einen Lebensstil von sonderbar anziehendem, im Grunde aber tief befremdlichem Zuschnitt: Hier traf die Diskretion und Liberalität bürgerlicher Wohlerzogenheit auf den Gemeinschaftswahn des kommunistischen Menschheitsideals, hier trafen sich die Demut und Reue der vom Schicksal scheinbar Bevorzugten mit der stolzen Strenge und Großzügigkeit der sich Opfernden. „Wir dürfen noch nicht glücklich sein …, wenn nicht alle das Glück genießen können.“
Es ging um diesen Lebensstil, wenn der fast 100jährige Simon Guttmann, der Cläre Jung noch von 1911 als Cläre Otto aus der Aktions-Zeit kannte, uns 1989 in London mit der Frage empfing, ob wir vor der Bekanntschaft mit ihr schon einer Kommunistin begegnet waren.
Es ging um diesen Lebensstil, wenn die fast 100jährige Eva Marcu, eine von Franz Jungs amerikanischen Vertrauten, die Cläre Jung nur einmal nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen hatte, der heftigen Abwehr von soviel kommunistischer Gläubigkeit, Opferbereitschaft und Treue das Eingeständnis folgen ließ, sie sei nach der Lektüre unserer Chronik auf sich selbst aufmerksamer geworden – nämlich auf die absolute Gegensätzlichkeit ihres eigenen Lebensstils.
Selbst uns hat 1991 durchaus nicht die Nähe auf den Gedanken gebracht, das Lebensbild unserer ältesten Berliner Bekannten zu entwerfen. Cläre Jungs 100. Geburtstag stand bevor und wir hatten die Jubilarin 25 Jahre gekannt und bis zu ihrem Tod im Jahre 1981 besucht – gute Voraussetzungen wohl, doch den Ausschlag für das Unternehmen gab eher die Fremdheit zwischen ihr und uns, eine Fremdheit, die sie uns geistig umso mehr entzogen hatte, je näher wir ihr im Umgang gekommen waren.
Gut möglich, daß die Irritation schon aus der Zeit unserer ersten Bekanntschaft im Frühjahr 1958 stammte. So überschwenglich die Schilderung des Empfangs in Berlin-Pankow ausfiel – dem Brief von damals ist abzulesen, wie verdutzt der 24jährige Schreiber gewesen sein muß eingedenk der Überrumpelung durch eine Art spontaner Adoption:
Nach den ersten Worten schlug man vor, Du zu sagen und dabei blieb’s. Ich war gewissermaßen gleich zum Genossen avanciert. Ich habe mich in dieser Umgebung so sehr wohlgefühlt. Das sind Genossen! Wir kamen auch auf Vertrauen und Haltung der führenden Genossen zu sprechen. Früher sei es alles offener gewesen, man war allgemein freundlicher, hilfsbereiter, opferbereiter. Über all die großen Idealisten der frühen kommunistischen Bewegung ging es: Mühsam, Pfemfert, Herrmann-Neiße, viele Unbekannte, die jetzt nicht genannt werden können. Was Franz Jung selbst gemacht und erlebt hat, erzähle ich Dir, soweit ich es von ihr erfuhr, mündlich.
In dieser schnellen Umarmung haben wir uns stets auch etwas unbehaglich gefühlt und bald geahnt, woher das Unbehagen rührte. War Cläre Jung nicht längst zu so etwas wie einer Institution geworden? Ihre Zeitzeugenschaft – trug sie nicht trotz einiger Eigenwilligkeiten die Prägung der Staatspartei, der sie nicht nur formell angehörte? In ihren Vorträgen begriff und vertrat Cläre Jung die DDR als Erbin des Aufbruchsgeists der Berliner Avantgarde, als ihre Heimat. Ganz in diesem Sinne ließ sie ihre Zusammenarbeit mit den Pionieren der Franz-Jung-Herausgabe in Stuttgart, Walter Fähnders, Helga Karrenbrock und Martin Rector, Anfang der siebziger Jahre ausdrücklich sanktionieren: „Ich habe die Partei gefragt, ob ich das machen kann. – Natürlich.“
Daß ihr dabei seitens der „führenden Genossen“ mißtraut, daß ihre Treue im gleichen Maße belohnt wie bezweifelt wurde und daß sie für die letzten drei Jahre sogar noch einen Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit auf ihre „Insel der Seligen“ gesetzt bekam, vertiefte nur unser Unbehagen. Immer noch fürchtete der Parteiapparat ihre alten Verbindungen zu Franz Jung und seinen Freunden von der antistalinistischen Linken in den USA – Ruth Fischer, Paul Mattick, Karl August Wittfogel, Adolph Weingarten und Arnold Rubinstein, dem legendären „Dicken“ aus der Frühzeit der Kommunistischen Internationale.
Als nun zehn Jahre nach Cläre Jungs Tod alles, wofür sie eingetreten, wofür sie ihr „Leben zum Experiment“ gemacht hatte, in einer Katastrophe endete, sah es so aus, als ließe sich ihre Geschichte neu erzählen als die Geschichte eines langen Abschieds von jenem Lebensstil, den sie 1914 als den „Vorläufer“-Stil beschrieben und durch 66 Jahre fortzuführen versucht hatte.
Tief verstrickt in jedes Tages Sorgen
Sind wir dennoch ewig ohne Heute,
Kennen nicht das Glück der Gegenwart,
Werden zwischen Gestern und dem Morgen
Stets nur einer besseren Zukunft Beute.
In dem Moment, da die sozialistischen Staatskonstrukte auseinander-brachen, entfiel auch für Cläre Jung die selektive Bindung an ein einzelnes Organisationsmuster, an eine Partei, an die DDR, an die UdSSR. Sie war wieder frei. Nicht länger mußten diese heiklen Erklärungen für das Ausbleiben der „besseren Zukunft“ herangezogen werden: nicht die der Usurpation des gut gemeinten Experiments durch machthungrige Diktatoren, nicht die der geringen Korrigierbarkeit der Muster durch unfähige Erben der „großen Idealisten der frühen kommunistischen Bewegung“, die nun alle wieder „genannt werden können“.
Würde es gelingen, die Person Cläre Jung aus der Gefangenschaft in der Institution herauszulösen und ihr die lebendige Gegenwart der Kameradin wiederzugeben? Versuchen wollten wir es.
Ob sich das Genre der Chronik, auf das wir verfielen, für diese Operation eignete, müßte sich zeigen. Jedenfalls waren uns alle anderen Zugänge damals verschlossen. Von einer Ausgabe ihrer Gedichte und Prosa, wie wir sie seit unserem Interview mit Cläre Jung 1977 für wünschenswert hielten und betrieben, waren die Verlage 1991 weiter entfernt als je. Und für eine typologische Studie fehlte es uns an Abstand und Entschlossenheit. Eine Chronik aber – und sei es zum Hausgebrauch – könnte wenigstens die verfügbaren Daten und Zeugnisse versammeln. Sie machte uns unabhängig von Verlagsgunst und würde gegebenenfalls Edition und Typologie vorbereiten helfen. Auf diese Weise entstand „Die Kameradin. Eine Chronik des Lebens von Cläre Jung (1892-1981)“ in fünf Kapiteln, ein Typoskript von 296 Seiten, davon 130 Abbildungen, versehen mit einem 49seitigen römisch paginierten Namen- und Sachregister.
Mit „Die Kameradin“ nahmen wir den Titel wieder auf, den nach Cläre Jungs letzter Verfügung von 1980 ihre Autobiographie erhalten sollte. Die Kameradin war die Mitte all ihrer geistigen und seelischen Anstrengungen gewesen. Kameradin sein hatte ihr von früh an vorgeschwebt, eine Verbündete aus freien Stücken, ohne Kalkül, ohne auf eigenen Vorteil zu setzen, arglos, verläßlich. Kameradschaft gegen Kameraderie. „Lieber lieber Kamerad“, endete 1915 ihr erster Brief an Franz Jung, in dem sie, sich auf Jungs Roman „Kameraden...!“ beziehend, ihn, noch als Cläre Oehring um ein Gespräch bat. Sie wollte zu denen gehören, nach denen gerufen werden konnte: „Hier – kommt, Hilfe! Kameraden!“ hatte es in Jungs Roman geheißen.
Das Bild ihres Lebens, das Sinnbild ihres Lebens war Georg Schrimpfs Berliner Gemälde von 1915 „Kameraden“, das in allen ihren Wohnungen hing und immer den Blick auf sich zog. Fünf schreitende, schwingende, tanzende androgyne Figuren in hellem Braun vor fünffach gegliedertem Hintergrund aufsteigend von Grün über Blau bis ins Rot. Das Schwingen gegenläufig: entschlossener die zwei Figuren rechts; zögernd, den Entschlossenen nachblickend die Figur links; in der Mitte eine in sich schwingende Figur, Rufende wie Gerufene, gefolgt von einer, die eben aufwacht, aufbricht. Eine Hommage für Cläre Oehring, die, selber Ruferin, den „Ruf des Andern“ – so ein früher Text von ihr – vernimmt. Es war diese Erhöhung der Cläre Oehring im Leben und im Bild gewesen, die Franz Jungs erste Frau, Margot, zu dem „Tintenfaß-Attentat“ auf die „Kameraden“ trieb, einem Eifersuchtsattentat, das mit der Rivalin die Kameradin treffen sollte, die sie, Margot, nicht war oder nicht sein zu können glaubte.
Die Kameradin war es nun, die uns eher als die „Vorläuferin“, die „Genossin“, die „Große Mutter“, die Probefassung eines „Zukunftsmenschen“ oder gar der „Paradiesvogel“ die Annäherung erlaubte. Die „Vorläuferin“ schien uns in ihrer Alltagslosigkeit ausgedacht, die „Genossin“ zu sehr Institution, die „Große Mutter“ in ihrer All-Liebe kühl, der „Zukunftsmensch“ unheimlich und der „Paradiesvogel“ ein Mißverständnis. Selbst Lutz Schulenburgs kürzliche Deutung der Titelwahl des Nautilus-Verlags für Cläre Jungs Autobiographie in der Kurzfassung (1911-1945) von 1987 – „Paradiesvögel“ – konnte uns da nicht umstimmen:
… etwas emphatisch ausgedrückt: buntgefiederte Vögel weisen als wegkundige Boten der kämpfenden Menschheit den Pfad, auf dem sie zu ihrer Emanzipation fortschreiten muß. Cläre und Franz kamen mir immer als zwei schöne Vertreter dieser besonderen Vogelart vor.
Unsere Cläre Jung war das nicht. Aber die „Kameradin“ – ja. Kameradin war sie für uns und Kameraden haben wir für sie sein können, auch als sie in den siebziger Jahren zunehmend der Betreuung bedurfte.
Cläre Jung gehörte zu den heimlichen Adressaten unserer Bücher. Wir dachten sie mit, wenn wir etwas Neues begannen. 1979 haben wir das mit einer Widmung öffentlich bekannt. Sie zögerte nie, unsere Bemühungen um die Herausgabe von Franz Jungs oder ihrer eigenen Schriften geistig und finanziell zu unterstützen, wenn diese auch leider zu ihren Lebzeiten nur im Fall des Franz-Jung-Bandes „Der tolle Nikolaus“ (1980) Erfolg hatten, aber das eben dank ihrer Beteiligung als Mentorin und Herausgeberin.
Als wir 1991 unsere Chronik „Die Kameradin“ in Angriff nahmen, stellten wir erleichtert fest, daß wir schon lange darauf zugearbeitet hatten, nur daß diese Arbeiten sich in Anmerkungen, Textauswahlen, Exposés für Buchprojekte usw. verbargen. Eigentlich waren wir seit unserem Gespräch mit Cläre Jung 1977, das 1978 in Sinn und Form erschien, darauf aus gewesen, der unbehaglichen Fremdheit zwischen ihr und uns auf den Grund zu kommen und die Kameradin aus der Verflüchtigung ins Utopische, Institutionelle oder Matriarchalische zurück zu gewinnen.
Den Auftakt bildete die Beschreibung ihres Archivs in einer Übersicht von 240 Seiten Typoskript. Diese Archivbeschreibung sicherte nicht nur die Kenntnis des durch die Nachstellungen des Ministeriums für Staatssicherheit gefährdeten Bestands, sondern holte Cläre Jung aus der Rolle der Dichterfrau, die Texte abschrieb und die berühmten Männer bemutterte, wenn sie betrunken waren, und zeigte sie als die geistige Partnerin und die so diskrete wie beherzte Hüterin eines großen Erbes, als eine Hüterin, die durch schmerzliche Verluste und Trennungen zu ihrem Amt gekommen war.
Parallel zur Archivaufnahme lief seit 1977 die Vorbereitung des „Tollen Nikolaus“ für den Leipziger Reclam-Verlag, der zu einem Viertel Teile des ausführlich kommentierten Briefwechsels zwischen Cläre und Franz Jung präsentierte. Die beiden erörterten 1947 bis 1963, Cläre von Berlin aus, Franz von San Remo, New York, San Francisco oder Paris aus, mit den dichter werdenden Erfahrungen des Nachkriegs die Schicksale der Avantgardeexperimente ihrer Frühzeit. Wir hielten und halten den Briefwechsel für ein Schlüsselereignis der vierziger und fünfziger Jahre, einen unentdeckten Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte der Zeit des Kalten Krieges und ein Dokument aus Vorarbeit und Umfeld der Autobiographien von Cläre und Franz Jung.
War an eine DDR-Ausgabe der Autobiographie von Franz Jung „Der Weg nach unten“ nicht zu denken, so rückte nach dem Erscheinen unseres Gesprächs mit Cläre Jung 1978 die Edition ihrer 1956 abgeschlossenen Erinnerungen mit dem ursprünglichen Titel „Der Rechenschaftsbericht. Chronik eines Lebens“ in greifbare Nähe. Der Verlag Der Morgen schlug vor, eine reich illustrierte Fassung des Typoskripts, vermehrt um 200 Briefe von Cläre Jung, noch 1980 herauszubringen. Doch der Versuch scheiterte trotz energischer Unterstützung durch Annegret Herzberg vom Verlag und Dr. Bärbel Schrader von der Akademie der Wissenschaften am Einspruch und schließlich Verbot seitens des Ministeriums für Kultur und des ZK der SED, wo man sich auf ein ablehnendes Gutachten von Dr. Wolfgang Kießling stützte.
Angesichts dieses Scheiterns beschlossen die Studenten Andrea Czesienski, Peter Finger und Peter Ludewig, die an der Betreuung von Cläre Jung in den siebziger Jahren tätigen Anteil genommen hatten, ihr zum bevorstehenden 89. Geburtstag eine Geburtstagszeitung zu widmen. In Anlehnung an die Neue Jugend, das Avantgardeblatt von 1917, mit dem Berlin-Dada begann und in dem auch ein Beitrag von Cläre Oehring (ungezeichnet) erschienen war, nannten sie die Zeitung Neueste Jugend: wie 1917 Format A2, 4 Seiten, 3-4 Spalten Text, neben Passagen von und über Cläre Jung und zwei Porträtfotos der Jubilarin, Cläre-Jung-Bilder und -Gegenbilder aus der Feder der drei Studenten, Vertretern der aufsässigen „neuesten Jugend“. Im Zentrum der Cläre-Jung-Texte ihr Credo aus einem ungedruckten Essay, an dem sie 1943 und 1953 geschrieben hatte: „Alle meine Arbeiten sind verschiedene Versuche über das gleiche Thema: die Eroberung des Menschen durch sich selbst, die Bekämpfung der Flucht in die Paradiesessehnsucht.“ Wie viele andere Dokumente des Archivs ist die Geburtstagszeitung den infamen „Ordnungsarbeiten“ des Inoffiziellen Mitarbeiters „Komin“ (Dr. Erwin Gülzow) zum Opfer gefallen.
Vermutlich war es gerade die Neueste Jugend, die in ihrer offenen Huldigung für die Kameradin und mit ihrer Komposition aus Biographie, Texten, Briefen, Fotos und den Cläre-Jung-Bildern und Gegenbildern ihrer Bekannten den ersten Anstoß zu Konzept und Struktur unserer künftigen Chronik gegeben hat.
Alle weiteren Unternehmungen der achtziger Jahre erbrachten dann, auch wenn manche wiederum scheiterten, immer neue Gewißheit über die lebendige Gegenwart der Kameradin Cläre Jung. Noch 1981 wird unser Vorschlag erwogen, unter dem Titel „Der Andere“ ein Buch mit Texten, Briefen und Bildern von Cläre Jung, Franz Jung, Otto Gross, Oskar Maria Graf, Max Herrmann-Neiße und Georg Schrimpf herauszubringen, das die Gemeinschaftsidee des Kreises um den Berliner Verlag Freie Straße (1915-1918) lebendig werden läßt. Erwogen und – verworfen. Eine vergleichbare kleinere Auswahl erschien 1985 in dem von Wolfgang Storch herausgegebenen Katalog zur Ausstellung „Georg Schrimpf und Maria Uhden“. 1986 interessierte sich die Verlegerin Renate Gerhardt für das von uns vorgeschlagene Buch „Die andere Biographie der Cläre Jung“ mit 250 Abbildungen zu 250 Texten – Auszügen aus Cläre Jungs Autobiographie und Briefen von und an Cläre Jung. Auch dieses Buch kam nicht zustande.
Nach so vielen vergeblichen Versuchen wirkte das Erscheinen der „Paradiesvögel“ 1987 in Hamburg wie eine Erlösung, wenn auch die Beschränkung auf die Zeit von 1911-1945 und der mißverständliche Titel das Bild von Cläre Jung verzeichnet. Die Anmerkungen und Kommentare, die wir beisteuerten, konnten der Verzeichnung nicht wehren. Die zehn Jahre nach 1945, die in der Hamburger Fassung fehlten, waren ja mit Cläre Jungs Wirken in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR die Probe aufs Exempel des Lebensexperiments, und der unter rigoroser Selbstzensur geschriebene Text bezeugte die Fragwürdigkeit des von der Autorin behaupteten Gelingens dieses Experiments.
Dafür bescherte uns die Hamburger Fassung etwas Hochwillkommenes, nämlich Helga Karrenbrocks Essay „Über Cläre Jung“ mit einem Vorschlag zur Typologie des „Vorläufer“-Stils, der uns sogleich zu lebhaftem Widerspruch reizte und der schließlich unsere Chronik prägte:
Und ich bin mir immer noch nicht darüber klar geworden, wer oder was mir da gegenübertrat: ein archaisches mütterliches Prinzip oder ein Vorschein kommender Möglichkeiten. – So hat sie, unmerklich, sich selbst in die Waagschale geworfen, um unser abstraktes Politik-verständnis zu konkretisieren und das abstrakte Menschenverständnis in Frage zu stellen: als Experiment, als Vorarbeit.
Das schien uns der trotzig beschworenen Alltagslosigkeit, dem „ewig ohne Heute“ zu schnell gefolgt. Relikt oder Vorgriff – so lebte man nicht. Das war nicht Cläre Jungs Dasein. Und so legten wir Wert darauf zu zeigen, daß Cläre Jung als Kameradin im Grunde gegen ihre „Vorläufer“-Verse gelebt hatte. Was Franz Jung einmal als Hilfe- und Sorge-Syndrom bei ihr diagnostiziert hatte, war ihre besondere Weise, sich mit dem anderen zu verbinden, um ihn zu sich selbst zu bringen. Da hatte sie ihre Vorlieben und Abneigungen. Eine sanfte Stimme, ein schönes Gesicht konnten ihr erwünscht, ein Name konnte ihr, nur seines Klanges wegen, zuwider sein. Richard Oehring, ihren ersten Mann, empfand sie als zu schwach, seinen Selbstmord als Kränkung. Die Gleichgültigkeit Peter Jungs, des Sohns Franz Jungs aus dritter Ehe, angesichts des Todes seines Vaters traf sie so sehr, daß sie das Medaillon mit seinem Kinderbild, das sie stets getragen hatte, von Stund an nicht mehr trug. Helga Karrenbrock war es, die da das Äußerste an Bekenntnis aus Cläre Jungs Mund vernahm; sie schrieb uns während unserer Arbeit an der Chronik: Einmal
ergab es sich, daß ich so im Eifer der Überzeugung, daß die Menschheit durch Revolution mächtig zu beglücken sei, vor mich hinräsonniere: „Eigentlich mag ich die Menschen gerne. Und Du?“ (Kindergeplapper). Worauf sie nachdenklich, aber sehr bestimmt antwortete: „Nein“. Ich erinnere mich genau, daß das ein richtiger Schock für mich gewesen ist.
Schock, Entsetzen, Befremden, Unverständnis, Verwunderung oder Entzücken – jeder verband seinen Eindruck von Cläre Jung mit dem, was er gerade für sie tat, verband ihre Existenz mit seinem Schicksal. Da huldigte, diente, dankte oder widersprach er nicht einem „Prinzip“ von ehedem oder „Vorschein“ von Künftigem, sondern einer Person von heute. Auf diese Anwesenheit, die reale Präsenz kam es uns an und so beschlossen wir unseren chronikalischen Bericht mit einer Auswahl aus Zuschriften und Texten von Bekannten, die sich der unmittelbaren Begegnung mit ihr gestellt hatten.
„Es war die ungebrochene Kraft ihrer Augen, die mich faszinierte“, schrieb Eckhard Siepmann, der in seinem John-Heartfield-Katalog zu Cläre Jungs Beitrag über ihren Freund „Johnny“ zwei Bilder ihrer Augen stellte: das von Georg Schrimpf im Porträt „Cläre O.“ von 1916 und das auf einem Foto von 1975.
„Unvergeßlich ihre Augen, forschende Tiefe mit dem Widerschein der Sehnsucht“, sagte Roland März in seinem Essay über Georg Schrimpfs „Kameraden“ und bekannte kurz darauf ausdrücklich: „Sie haben ja gemerkt, daß der Text, über Schrimpf hinaus, eigentlich eine späte Danksagung an Cläre Jung sein sollte.“
Mit gleicher Intensität ist ihrer großen Leidenschaft, der Kettenraucherei, gedacht worden und zwar nicht nur in der Erinnerung an beifällige Förderung – durch großzügige Zigarillo-Sendungen – oder ironisch-verklärend „ein Aroma von Café Littéraire“, sondern ehrlich entsetzt – „sie hatte wie jeder auch unangenehme Seiten“.
Was diese so blickende und so rauchende Person bewirkte, machte sie zu der Kameradin, deren Unbeirrbarkeit sich keiner entziehen konnte. Im November 1978 schaffte sie es, zu Franz Jungs 90. Geburtstag einen Leseabend im Berliner „Club der Kulturschaffenden“ mit Maria Hertwig, Wieland Herzfelde und Titus Tautz zu arrangieren. Die Schauspielerin Ingeborg Medschinski, die aus Jungs „Weg nach unten“ las, hat sie dabei erlebt: „Sie war voller Freude, daß es gelungen war, zum Geburtstag von IHREM Franz so einen Abend zusammenzubringen.“ Vierzehn Jahre zuvor hatte Cläre Jung an gleicher Stelle einen Erich-Mühsam-Abend vorbereitet: „Unvergeßlich diese Stunde“, schrieb uns Else Levi-Mühsam 1991, „mit etwa 70 Freunden und anderen, alten und jungen, die diese Stunde als Bekenntnis ansahen zu Erich und wohl – was damals nicht ausgesprochen werden ‚durfte’ – zur Freiheit des schöpferischen Geistes.“
Cläre Jungs berlinischer Lakonismus hat ihr bei der täglichen Bewältigung ihrer DDR-Existenz glänzend geholfen. Als 1976 Dr. Kurt Hager, der ZK-Sekretär für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur (der 1980 das Erscheinen ihrer Erinnerungen verbot) die Diskussion über den französischen Eurokommunismus mit dem Argument abtat, wir in der DDR hätten unseren Kommunismus in Kürze ohnehin sicher, resümierte Cläre Jung trotz ihrer Abneigung gegen alle Negativgespräche das Ereignis respektlos mit dem Satz, Hager „habe viel zu lange ‚gequatscht’“. Diese sarkastische Schärfe stand ihr für ihre tiefe Abneigung gegen die Bürokratisierung der Revolution durch Aufblähung der Apparate, Titelverleihung, Ordensorgien und Sprachzirkus stets zur Verfügung. Walter Fähnders erinnerte in seiner Analyse von Cläre Jungs Revolutionserzählung „Stanislaw Tscherwinsky“ (1932), in deren Zentrum die lebensgefährlichen Auswüchse dieser Bürokratisierung stehen, an den Anflug von „gepflegtem Anti-Autoritarismus“, den die Erwähnung des Dutzends Orden, Medaillen und Ehrenzeichen aus 20 Jahren der Rede der Berlinerin gab: „Wenn ich die alle anlege, seh ich ja aus wie Hermann Göring.“
Von den Jüngeren waren die drei von der Neuesten Jugend Cläre Jung zweifellos am nächsten gekommen. Sie hatten sie seit 1975 betreut und gepflegt und das hieß, ihr aus dem Neuen Deutschland vorzulesen, meist nur die Überschriften und die Todesanzeigen, und zum Schluß auch, sie zu säubern. Es war durchaus ein je besonderes Verhältnis, das sie zu der alten Frau fanden: ironisch distanziert das Peter Ludewigs, mitleidig das Andrea Czesienskis, skeptisch verehrend das Peter Fingers.
Peter Ludewig hatte ihr versprochen, bis zum Schluß bei ihr zu bleiben, und das hat er getan in einer Art Rollenspiel – er als Butler; der Dienst aber auch ein Zuhause. Sein Beitrag zur Chronik war der Text von 1981 für die Neueste Jugend, in dem er ein wenig beobachtetes Zeremoniell schilderte: Cläre Jungs Begegnungen mit ihrer jüngeren Schwester – wie sie sitzen und rauchen und zu Mittag essen und Mittagsschlaf halten, wieder sitzen und rauchen und meist schweigen. „Und die ältere raucht Zigarren, und die jüngere raucht Zigaretten. Und die jüngere bietet der älteren Feuer an. Und sie sitzen und schweigen. Und früher waren sie einmal Schwestern gewesen.“
Andrea Czesienski hatte nach dem Tod ihrer Großmutter Cläre Jung eher als eine Person empfunden, die – für sie ganz entscheidend – an deren Stelle getreten sei. Das Prädikat „Paradiesvögel“ fand sie falsch gewählt: „Es setzt, egal ob sich das Paradies vor oder hinter oder unter uns oder nirgendwo befindet, die Leute ins Unrecht. Macht sie klein.“ Im Rückblick verband sie Cläre Jungs Schicksal mit dem ihrer Freundin Gudrun Klatt, die sich als Germanistin – wie Andrea Czesienski selbst – auch für den Druck von „Stanislaw Tscherwinsky“ eingesetzt hatte. Als Cläre Jung zuletzt im Sterbezimmer eines Städtischen Krankenhauses lag – „ohne Zähne, ohne Zigarre, na mit neunundachtzig, was solls da noch“ – habe sie Abweisung im Gesicht gezeigt:
He, Genossen, ist denn hier keiner, der die alte Kämpferin ins Krankenhaus für die Regierenden bringen kann? War keiner da. Die neue Gemeinschaft, praktiziert bis in den Tod. Nicht bis in das Grab. Das schaufelte man ihr auf dem Friedhof der Sozialisten. Ein paar hundert Meter weiter liegt die mit siebenundvierzig an Krebs krepierte Gudrun Klatt. Zwei Jahre zuvor in einer Massenaktion zur mit jüngsten [!] Professorin der DDR ernannt. Stolz, glücklich, ergeben.
Gudrun Klatt habe – Geschenk ihrer Freundin Andrea – ein riesig vergrößertes Porträtfoto von Cläre Jung bei sich aufgehängt und zwei Kerzen darunter gestellt:
Das war wie ein Altar und Gudrun sagte Quatsch, doch kein Altar, aber die Zeit, das war eben meine Zeit. In einem Vorbestellungskatalog stand dann einige Jahre drauf: Akademie-Verlag, Gudrun Klatt, Vom Untergang mit der Moderne. Cläre und vor allem Franz hatten da ein Kapitel abbekommen und Gudrun konnte über den Untergang nicht so lachen. Es war der Umgang gemeint, nur der Umgang.
In dieser sarkastischen Reminiszenz dachte Andrea Czesienski allerdings zwei Texte ihrer Freundin zusammen, nämlich das Buch „Vom Umgang mit der Moderne“ von 1984 und den Beitrag zu dem germanistischen Gemeinschaftsunternehmen „Literarisches Leben in der DDR 1945-1960“ von 1979, in dem Gudrun Klatt u.a. Cläre Jungs „Sieben Nachtwachen“-Projekt vorgestellt hatte.
Das schwierigste Verhältnis, das Cläre Jung im Alter mit einem Menschen verband, war wahrscheinlich das mit Peter Finger. Da er seine Ausreise aus der DDR erwog und am Ende beantragte, war er nach dem Philosophiestudium auf einem Friedhof gelandet und kam als ein schon Ausgestoßener zu ihr. Aus Peter Ludewigs Munde wußte er von Cläre Jungs langen Erzählungen aus der alten Zeit, aber bei ihm habe sie manchmal zwei, drei Stunden nur geschwiegen. 1981 montierte er die Geburtstagszeitung Neueste Jugend und erklärte sie der Jubilarin wenige Wochen vor ihrem Tod. Kurz nach ihrem Tod verlieh er seinem Ausreiseantrag Nachdruck durch einen Besuch in der westdeutschen Vertretung, was ihm ein knappes Jahr Zuchthaus Brandenburg einbrachte. Freikauf und Abschiebung erlösten ihn aus der Pein. 1992 schrieb er uns in seinem Resümee der Zeit bei Cläre Jung:
… im Kommunismus mehr zu sehen als einen schäbigen Betrug fiele mir schwer, hätte ich Cläre nicht kennengelernt … eine denkbar zarte, hochbetagte und neugierige Frau … wer mit ihr zusammenkam, in ihrem Archiv stöberte, ihre Freunde, die wenigen, die noch lebten, kennenlernte, konnte wie ein Archäologe eine Ahnung bekommen, wie es in jenen interessanten Zeiten gewesen sein mag. Ludewig nannte sie deswegen auch ein lebendes Fossil. Ich spürte damals vor allem den starken Kontrast, der zwischen ihrer Lebendigkeit und dem Ausdruck Fossil bestand … ich benutzte diesen Ausdruck deswegen nicht. Aber er traf zu. Nur in jene Zeiten hatte ihre Gestalt gepaßt. Da hatte sie ihren Platz gehabt, das Leben mitgestaltet, an etwas gearbeitet, wofür wir, die Späteren, uns interessierten. Die Utopie. Als die Utopie Wirklichkeit zu werden begann, starb allmählich das Leben … Cläre war jugendlich, die Zeit, die Utopie waren gealtert. Der Blick, mit dem sie uns die Tür öffnete, war jung und neugierig … Jedem, den ihr Jung-Archiv interessierte, half sie gern. Es war vom Standpunkt der zur DDR geronnenen Utopie Feindmaterial, was Cläre da hatte … Ich hatte Cläre zu einer Zeit kennengelernt, als mir die DDR unerträglich zu werden begann … Dem Verlust an Selbstachtung, den mir das Leben in der DDR verursachte, konnte ich damals nicht anders entgehen als durch Ausreise. Cläre hatte für einen solchen Schritt nicht das leiseste Verständnis. Das brauchte sie auch nicht. Sie war aus einer anderen Zeit.
Wir widmeten diese Chronik 102 Zeitgenossen, die mit Cläre Jung „auf die eine oder andere Weise geistig verbunden sind“, unter anderen Dr. Dietger Pforte von der damaligen Berliner Senatsverwaltung für Kultur, der uns die Herstellung von 20 Exemplaren ermöglichte. Je ein Exemplar befindet sich im Cläre-Jung-Nachlaß der Stiftung Stadtmuseum Berlin sowie in den Franz-Jung-Nachlässen des Deutschen Literatur-Archivs Marbach und der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin.
Jung als ein Vordenker für die Auflösung des Totalitären, was alle erfaßt.
Journal, 25. März 1989
Franz Jungs Exerzitien
Wenn je ein Tagebuch nicht als Literatur geschrieben wurde, dann das des Deserteurs Franz Jung. Hier wird nicht Offenheit inszeniert oder mit einer Form gespielt, nicht die Justiz angeklagt oder auf Kunst hin kalkuliert.
Dies ist ein Exerzitienbüchlein. Seine Mitte ist ein Satz von Pfingstsonnabend 1915, mit dem Jung weiß, daß „die Haft auch draußen dann noch bevorsteht“: „Und das befreit mich sogar von einer Sorge – ich kann getrost dem Leben draußen noch entgegengehen.“
Jungs Gefängnisse waren immer Verdichtungen dieser Haft: Spandau 1915, Breda 1920, Cuxhaven, Hamburg, Fuhlsbüttel 1921/22, Berlin 1936/37, Budapest 1944, Bolzano 1945. Er hat sie bewußt mit Übungen gefüllt und bestanden.
Das Training in Spandau, Meditation und Gewissenserforschung, war die erste, tiefste und folgenreichste seiner Übungen. Hier geht ihm die „Idee eines Lebenswerks“ auf: „Die Technik des Glücks. In 4 Stufen zu je 12 Kapiteln. Jede Stufe nimmt die ihr vorhergehende auf. Explosion. Steigerung. Atemholend weitersprechen.“
Von den Spandauer Exerzitien her zieht sich Jungs Versuch, die „Gemütswucht“ nicht zerflattern zu lassen: der Kampf mit der Sprachlosigkeit in der Beziehung zu seiner Frau Margot, Beobachtung der Mitgefangenen in vierzig Miniaturen, Lektüre, Pläne, die tägliche Balance zwischen Disziplinierung und Lockerung (Dänischlernen, Sport, Eß-Vorsätze). Das zusammen meint jene „Technik des Glücks“, die dann nicht nur die „Sechste Folge der Vorarbeit“ von 1917 und das gleichnamige Büchlein von 1921 bildet, sondern sein „Lebenswerk“ bis zur Autobiographie „Der Weg nach unten“, deren ersten Teil er unter den in Spandau gefundenen, eigenwillig übersetzten (oder einer eigenwilligen Übersetzung entnommenen) Satz des Thomas von Kempen stellt: „Cur quaeris quietem, cum natus sis ad laborem?“ – „Was suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist?“ (Nachfolge Christi II,10).
Wie Jung für dieses Werk die Evangelien, Thomas, Nietzsche, Stirner, Spinoza, die Trivialromane und die Psychoanalyse in einer so systematischen wie lockeren Parallellektüre aufschließend sich gewinnt, für seinen Tag, seine Stunde, seine Not und seinen Jubel neu durchmacht, das ist die Übung dieses Büchleins, die das Ziel einleuchtend werden läßt: „Atemholend weitersprechen.“
Franz Jungs letzte Projekte 1961/62: eine Pamphletserie „Herausforderung“ oder „Gegner“, eine Schallplatte „Abendunter-haltung mit Franz Jung“, zwei Texte von sich. Wie immer glänzend formuliert, weite Sicht, Zusammenschluß ferner, fremder geistiger Szenerien. Angebote von großer Wucht. Wer sie liest, mag gleich wieder bereit sein, sich an die Arbeit zu machen.
Die Pamphlete möchte er am liebsten als Gegner-Serie aufziehen – mit dem Titel seiner Zeitschrift von 1931/1932, die dann Harro Schulze-Boysen übernahm. „Gegner“ nicht nur der jeweils etablierten Haltungen und Meinungen, „Gegner“ vor allem untereinander.
Marcion aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert mit seinem Evangelium vom Guten Gott, der den Gerechten Gott des Alten Testaments ablöst, gesetzt gegen Jean Paul Marat, den Radikalsten der französischen Revolution, mit seiner Attacke auf die Scharlatane in der Akademie von 1791 und gegen beide Wilhelm Reich, Ernst Fuhrmann usw. Wie für eine Schallplatte diese Flugschriften präpariert und passagenweise in der „Abendunterhaltung“ gegeneinander geführt, provokativ montiert werden sollten, bleibt Jungs Geheimnis. Nur den Ton glaubt man zu hören, wenn man in dem Einführungsprospekt zur Pamphletserie liest:
Ist der Mensch nach Pythagoras für das Glück geboren? – der Steigerung der Lebensintensität, oder erlebt er diese Intensität in Schmerz und Verzweiflung? Ich würde annehmen, beides. Seit Jahrtausenden ist das ausgesprochen worden, die entscheidenden Akzente aber sind verschüttet … Die gefallenen Engel werden in Gefängnisse und Irrenhäuser gesperrt, sie werden verfolgt, gefoltert und geschunden und hingerichtet. Keiner fragt weiter danach und es ist auch nicht wichtig. Sie haben Akzente hinterlassen in ihrem Leben und ihren Werken, auf die hinzuweisen es sich verlohnen wird. Sonst aber –
Die beiden eigenen Texte, die Jung zu drucken gedachte, waren „Der Fall Groß“ und „Der Tod ist nicht genug“, offenbar sein Text über den „Zerfall der Zeitgeschichte“, der dann unter dem Titel „Wie dem auch sei“ erschienen ist.
Jung ist 73. Er hat gerade das Fiasko mit seiner Autobiographie zu bestehen. „Der Weg nach unten“, eine visionäre Beschreibung des Jahrhunderts (wie einige wenige damals wissen), läßt sich nicht verkaufen. Die „Chronik eines letzthin franziskanischen Lebens“, wie Karl Otten sie versteht, wird ignoriert. Opulenz ist gefragt. Das Buch steht im Schatten von Grass‘ „Blechtrommel“ und Pasternaks „Doktor Shiwago“. Jung am 3. März 1962 aus Paris an Adolph Weingarten in New York: „Ich will keine Leser!“ Zehn Tage darauf: „Wir müßten schon den Leuten den Schädel einschlagen, ehe sie uns überhaupt zuhören.“ Aber da ist er schon mit einem jungen Mann im Kontakt, „dem weggelaufenen Sohn des dänischen Schweinezüchters“, der ihn lebhaft an seine eigene Jugend in Neiße, Breslau und München erinnert haben wird: Ausbruch aus dem Elternhaus, Enterbung, asoziale Existenz. Man trifft sich in Paris und Glücksburg, um ein „großes Aktionsprogramm“ zu besprechen.
Jes Petersen, 26, ist Feuer und Flamme. Er hat das – Gegenbild zu Selma Lagerlöfs „Niels Holgersons wunderbare Reise mit den Wildgänsen“ – in „Jes Petersens wundersamer Reise“ berichtet, deren Jungszenen in Sklaven 2 zu lesen sind. Hier nun Briefe von Jung und Petersen mit verstreuten Andeutungen zur Strategie und Finanzierung der Aktion.
Kernpunkt der Strategie: die schmarotzende Avantgarde-Konjunktur nutzen, um sie zu unterlaufen und zu desavouieren. Gut dadaistisch: „Avant Garde Bluff“ nennt Jung das. Es geht nur, wenn einer bereit ist, auch sich selbst bloßzustellen.
Finanzierung: „denke ich mir so, daß ich den Prospekt zunächst an etwa 1000 Namen herausschicke. Mit Bestellschein der ersten beiden Nummern, das zweite Pamphlet kann ruhig nur ‚fiktiv’ sein. Dann lasse ich 300 Exemplare drucken, verkaufe oder verschenke 30 Exemplare und gebe die restlichen 270 an das Antiquariat. Mit etwa vier Antiquariaten in Paris, London, München oder Frankfurt, Zürich (Pinkus) mache ich einen corner – das heißt, wir treiben durch fiktive Suchanzeigen und Angebote die Preise gleich zu Beginn schon auf das Fünffache, das ist mein Preis, den ich für die Druckkosten benötige, was darüber hinausgeht, ist dann der Gewinn der Antiquariate.“
Sofort befindet man sich in dem weitverzweigten Netz von Beziehungen, das Jung wie eine Verlängerung seiner Sinne, wie ein großer alter Leib zur Verfügung steht. Einer „funktioniert nicht“, sagt Jung wie von einem kranken Organ. Älteste „Verlängerungen“: Karl Otten, Raoul Hausmann, Emil Szittya und Cläre Jung. Otten, der Boheme-Gefährte aus der Münchener Vorkriegszeit, dem eigentlich Jungs Autobiographie zu verdanken ist und der Jung dämonisierend in seinem letzten Roman „Wurzeln“ beschreibt, sollte ursprünglich bei der Pamphletserie mit von der Partie sein. Hausmann, Jungs glühender Adept in der Vordadazeit des Ersten Weltkriegs, hatte Petersen seine „Sprachspäne“ zum Druck gegeben und Jung und Petersen aufeinander aufmerksam gemacht. Emil Szittya, Chronist von Jungs Münchener Jahren und nun Jungs Gewährsmann in Paris, bemüht sich um eine französisch-deutsche Koproduktion von Jungs „Der Fall Groß“. Cläre Jung endlich, Jungs zweite Frau, hat alle Schriften Jungs über Weimarer-, Nazi-, Nachkriegs- und DDR-Zeit gebracht: Wenn Jung etwas brauchte, sie hatte es noch. Ende 1961 sandte sie ihm eine Fotokopie seiner Novelle „Der Fall Groß“, nach der er seine Bearbeitung für Petersen machte. Jüngste „Verlängerungen“ 1962: Jes Petersen und Ulrich Müller, der Sohn des Rundfunkjournalisten und Trotzki-Biographen Artur Müller, der auch als Herausgeber der Pamphletserie ins Auge gefaßt war. Auf einem Zettel für Petersen notiert Jung 34 Leute und 3 Zeitungen: die Aktion konnte beginnen.
Jung hat den Prospekt geschrieben: „Meinen Gruß zuvor“. Petersen hat ihn versandt. Die Modalitäten der Schallplattenproduktion sind besprochen worden. „Der Fall Groß“ war gesetzt. Doch es ist nichts geworden aus der Aktion. Haben die Organe nicht funktioniert? Oder ist auch hier die Leistung, was man so unbeholfen Scheitern heißt? Der Prospekt ist die Aktion. Das Projekt ist das Werk. Die lebendige Dauer liegt in den Akzenten. Wie hatte Jung am 17. Oktober 1961 an Artur Müller geschrieben, lange ehe er von Petersen und dem „großen Aktionsprogramm“ etwas wußte: „Die Arbeit allerdings als eine Art Therapie gedacht, sich gegenüber dem Unverständnis dieser Zeit, der Korruption von Verleger- und Leserschaft abzuschützen und etwas immuner zu machen. Das war eigentlich mit die Basis-Idee. Die sonstigen Beiträge wären also mehr als Rahmen anzusehen – eigentlich nur dazu bestimmt, den Prospekt, auf den es ja im wesentlichen ankommt, zu rechtfertigen.“
… der harte Kampf der Worte … endet mit der höhnenden Unterjochung des ungelenkeren Wortemachers oder brachial und, wird es ganz schwarz, in irrsinnigem Gelächter, hinter dem jene Untiefe sich auftut, aus der das Verbrechen lauert.
Walter Serner „Inferno“. Sirius, 1. Okt. 1915
Verheerend erfolglos, ist Serner immer noch auf dem Sprung. Jedesmal scheint es, als genüge ein letzter kleiner Schub und er springt.
Die Bedingungen sind glänzend. Erstklassige Kolportage. Früh Beute gelenkerer Wortemacher – Paul Morands in seinen Europa-Galanterien, Tristan Tzaras im Dada-Transfer Zürich-Paris, und wie sagt Franz Jung in den fünfziger Jahren? Allein aus dem „Pfiff um die Ecke“ könne man ganze Serien von amerikanischen Kriminalromanen herausstehlen. Intrigierender Lebenslauf: am Anfang der Übertritt des Juden zum Katholizismus, der ihm auch den Namen Serner einbringt, das Ende im Konzentrationslager, dem er mit seiner Frau durch Auswanderung nach Shanghai vergeblich zu entgehen suchte.
Unheimlich, wenn so einer nicht springt. Man wittert größere Gefahr; erst kürzlich verweigerte ein deutscher Illustrator mit dem Hinweis auf die inhumane Kälte des Textes seine Mitarbeit an einer Serner-Ausgabe. Dem Mann muß himmelangst geworden sein. Und das kann einem aber auch.