KI = Kröten-Intelligenz - Michael Meisels - E-Book

KI = Kröten-Intelligenz E-Book

Michael Meisels

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Beschreibung

Was das Blankeneser Treppenviertel attraktiver macht als das Silicon Valley, ist der Blick auf die Elbe und der Appetit auf eine Bäckerei-Spezialität, die nirgends woanders berauschender schmeckt als hier. Ein jung aufgestelltes KI-Team entwickelt hier eine künstlich intelligente Software, auf die man weltweit noch nicht gekommen ist. Dazu digitalisieren sie das Gehirn der benachbarten Bäckermeisterin. Dass sich für dieses innovative Projekt neben einem Romeo-Agenten auch eine surinamesische Kröte einsetzt, klingt verwunderlich - ist aber so.

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Über das Buch:

Was das Blankeneser Treppenviertel attraktiver macht als das Silicon Valley, das ist der Blick auf die Elbe und der Appetit auf eine Bäckerei-Spezialität, die nirgendwo sonst berauschender schmeckt.

Ein jung aufgestelltes KI-Team entwickelt hier eine künstlich intelligente Software, auf die man weltweit noch nicht gekommen ist.

Dazu digitalisieren sie das Gehirn der benachbarten Bäckermeisterin. Dass sich für dieses innovative Projekt neben einem Romeo-Agenten auch eine surinamesische Kröte einsetzt, klingt verwunderlich – ist aber so.

Über den Autor:

Für David

Inhaltsverzeichnis

01 – Come together

02 - Kick-off

03 – Die Idee

04 - Romeo

05 - Johanna

06 – Geständnis

07 – Versuchskaninchen

08 – Erfolg

09 – One-night

10 – Was nun?

11 – Erwachen

12 – Bunker

13 – Suche

14 – Besucher

15 – Konfusion

16 – Gewinn/Verlust

Aufruf

01 – Come together

„Getrennt oder zusammen?“

Die Frage des Kellners verwirrte Johanna, denn sie saß allein im Café und hatte die Rechnung verlangt. Einiges hatte sich wieder gestapelt neben der Kaffee-Flatrate, Teller von belegten Brötchen, Törtchen und ein oder zwei Gläschen von unterstützendem ‚Flying Uwe‘. Gut zwei Stunden hatte sie heute hier gesessen und sich abgemüht, hatte ihr Laptop gequält und für Ihre Prüfung gebüffelt.

Spöttisch nahm sie die Frage des Kellners als Angebot, während sie souverän ihre Karte zum Bezahlen zückte: „Gern getrennt, wenn Sie hier jemand finden, der die andere Hälfte übernimmt.“

Der Kellner, ein leicht fülliger 30-jähriger mit einer langen, weißen Schürze, er schien darauf vorbereitet: „Ich dachte da an mich selbst. Ich bin gern bereit, alles, was du verzehrt hast mit dir zu teilen.“

Johanna lächelte säuerlich. Diese Anmache war neu, wenn auch unverschämt. Und natürlich absolut sinnlos. Sie flappte ihre Karte auf die Rechnung und legte ein paar Euro dazu.

„Netter Versucht. Aber in meiner Familie wird das Teilen nicht so hoch geschätzt. Deshalb könnte ich heute den ganzen Laden hier kaufen.“

Zwinkernd packte sie ihr Zeug zusammen und wartete auf die Abwicklung der Bezahlung. Als sie dann aufstand und ging erlaubte sich der Kellner nach einem frechen Blick auf die Kreditkarte den Nachsatz: „Schönen Tag noch, Johanna, bis zum nächsten Mal.“ Und er nickte ihr unterwürfig hinterher.

Es war nicht ihr erster Besuch im Café Prantner. Johanna hatte sich angewöhnt, hier unter Leuten und mit Kaffee versorgt zu lernen. Die Atmosphäre half ihr sich zu konzentrieren: gedämpfte Stimmen, klappernde Tassen, stimulierende Getränke, trübes Licht von vorzeitlich geschwungenen Deckenleuchtern, Alt-Eppendorf lässt grüßen. Zwei bis drei Nachmittage in der Woche konnte sie es hier möglich machen.

Vor einigen Tagen hatte eben dieser Kellner sich erkundigt, woran sie so fleißig arbeitete. Und sie hatte ihm verraten, dass sie sich gerade auf ihre Meisterprüfung für das Bäckerhandwerk vorbereitete, ganz höflich, wie man eben so antwortet, wenn ein freundlich interessierter Kellner einen fragt. War das zu viel des Guten? Hatte sie ihn damit ermuntert, sich ihr aufzudrängen?

Als sie Tage später wieder in das Café kam, war sie leicht verkrampft. Zu dumm, dass so eine billige Anmache das entspannte Arbeiten hier belastet hatte. Vorsichtig scannte sie den Raum ab. Dort vorn am Fenster links stand der Typ und schwafelte schmierkäse-freundlich auf ein älteres Pärchen ein. Johanna schlich an einen freien Tisch hinten rechts, klappte ihren Rechner auf und vertiefte sich wegduckend in eine Vergleichs-Tabelle von Roggen- und Weizen-Mehl-Eigenschaften. Doch, oh Gott, der Laden war wohl so klein, dass der Typ an sämtlichen Tischen bedienen musste. Kein Wunder, dass er in Kürze neben ihr auftauchte: „Hallo Johanna, wie immer?“

Verdammt, es ärgerte sie, dass dieser Mensch wusste, wie sie hieß, was sie trank, was sie aß, woran sie arbeitete und dass sie vermögend war. Und was wusste sie über ihn? Außer, dass er ein aufdringlicher Schleimer war und es wohl auf sie abgesehen hatte, wusste sie gar nichts. Aber das ließ sich ändern. Noch bevor sie ihre Meisterprüfung ablegte, heiratet sie ihn an einem Freitag im August.

Ja, das kam etwas plötzlich. Aber Johanna war in Eile, das Vermögen ihrer Eltern drängte auf eine traditionelle Erbschaft. Und besser ein Schwiegersohn, der sich, wenn auch übertrieben, für Johanna und das Bäckereifach interessierte, als ein gleichgültiger Strauchdieb.

Ganz besonders kurios war, dass sie nun standesamtlich seinen Familien-Namen trug. Normal, aber drollig. Er hieß nämlich: ‚Johann Jakob‘. Und sie nun ‚Johanna Jakob‘. Wie ein Traumpaar der Volksmusik: Johann und Johanna.

Als sie vier Wochen später ihre Meisterprüfung mit Blätterteig und Schwertern bestand, prangte auf dem dekorativ handgeschriebenen Meisterbrief ihr neuer Name: Johanna Jakob. In Fraktur. Mit Goldkontur. Gratulation.

Genau richtig, um mit dem Vermögen ihrer Eltern – vor allem weit weg von denen – einen kleinen Meisterbetrieb aufzubauen. Eine Bäckerei im Treppenviertel von Blankenese. Überraschend erfolgreich. Obwohl es im oberen Ortskern allein fünf Bäckereien gab, war diese im unteren, elbenahen Bereich des Hanges sehr willkommen. Der Laden wurde schnell angenommen von Leuten, die keine Lust hatten, endlose Stufen einer norddeutschen Bergwanderung auf sich zu nehmen, um ein paar Franzbrötchen zu kaufen.

Und solche fußfaulen Leute gab es hier zu Hauf: neu angesiedelte Millennium-Kids, die jeden Morgen den Fahrer der ‚Bergziege‘ grüßten, einem speziellen Kleinbus, der die Leute über die einzig befahrbare Straße des Viertels hinauf zur S-Bahn kutschierte, mit der sie dann in die Stadt und in ihre Büros fuhren.

Noch vor wenigen Generationen lebten hier nur Menschen, die unmittelbar mit dem Fischfang oder der Schifffahrt auf der Elbe zu tun hatten. Der Hang mit seinen vielen steinigen Stufen züchtete einen Menschenschlag mit starker Beinmuskulatur und der Erfahrung, dass es immer auf und ab geht im Leben (wobei 'Auf' beschwerlich und 'Ab' erfreulich bedeutet – eine Art norddeutsches Ying & Yang). Solche vor Widerstandskraft strotzenden Veteranen waren nicht tot zu kriegen, weil sie noch mühelos den Steilhang hinauf zum Bäcker und wieder hinab sprangen, um zwei Rundstücke (Brötchen) zu erwerben. Später zog es, vermögende Hamburger Kaufleute an den Hang, die den alten Kapitäns- und Lotsen-Witwen ihre niedlichen Villen mit schräg abfallendem Grundstück aber weitem Elbblick abkauften und zu ihrem Sommersitz ausbauten. So kam weniger Gesundheit in den Ort – die Zahl der Arztpraxen und Apotheken stieg an – die Zahl der Volkstanzgruppen nahm ab. Dafür kam aber auch mehr Reichtum und Eleganz nach Blankenese.

Von Anfang an hatten Johann und Johanna viel Glück damit, im Viertel Kunden zu finden. Auslöser für ihren Erfolg war sicher ihr ungewöhnliches Ladenkonzept, das für die Blankeneser zu so etwas wie einem besonderen Ort wurde. Dazu bei trug auch, dass Johanna neben den üblichen Bäckerei-Produkten einige Artikel anbot, mit denen sie die Herzen der Hangbewohner im Sturm eroberte. Im ganzen Ort berühmt waren zum Beispiel ihre Pfahlewer, kleine Teigschiffchen mit einer Johannisbeeren-Ladung und einem dreieckigen Papiersegel. Das war clever. Denn bei Erwähnung des Pfahlewers, dieses früher üblichen, flachen Schiffes für Elbtransporte rund um Blankenese, kriegen traditionelle Blankeneser feuchte Augen und offene Brieftaschen. Die kleinen Backwaren machten alle verrückt und sorgten mit ihrem gefühlten Suchtpotenzial für eine anhaltend begeisterte Kundschaft und damit für die stetige Grundlast an Erfolg der Bäckerei Johann Jakob.

Schon schwieriger war es für Johann und Johanna, im Viertel gleichgesinnte und in etwa gleichalte Freunde zu finden. Zur Jugend zählte man hier zwischen 40 bis 50 Jahren, denn der Rest der Bevölkerung gehörte noch zu den unsterblichen Alten, die alle an der Hunderter-Marke kratzten. Besser wurde es in den letzten Jahren. Und eines Tages zog nebenan eine Gruppe junger IT-Aktivisten ein. Keine Ahnung, was die da trieben oder löteten. Aber es waren nette junge Leute, die sich ein silbernes Firmenschild neben die Tür ihrer weißen Kapitänsvilla schraubten:

„SOFTPEARS-unlimited“.

Und schon bald verbrachten diese Neu-Blankeneser gelegentlich ihre Mittagspause an einem der beliebten Stehtische bei Johann und Johanna in ihrem rauschhaft gemütlichen Backparadies.

Gegenseitige Freundschaft war da fast unvermeidlich.

02 - Kick-off

Irgendwo am Hang des Treppenviertels von Blankenese, die genaue Adresse zu verraten wäre schon der erste Fehler, denn ihr digitales Projekt war noch ach so geheim, jedenfalls sind die „SOFTPEARS-unlimited“ dort untergekommen. Hinter der Firma in einem alten Kapitäns-Anwesen stecken eine Frau und zwei Männer, alle drei sind geschäftsführende CEOs, kaum älter als ein guter Single-Malt-Whisky, jedoch Cola-Mate-Trinker, Kinder der 90er Jahre. Die Drei, zusammen mit einer Handvoll freier IT-Informatiker, befassen sich mit einem Sektor der Superhirn-Entwicklung. Künstliche Intelligenz, ein Thema, das zurzeit alle Welt beschäftigt, und das sowohl zu berechtigten Hoffnungen als auch zu Ängsten Anlass gibt.

Der Konferenzraum der digitalen Innovations-Clique, sonst eine Art unübersichtliches Basislager, atmet heute Business-Aroma. Die junge Frau, Hella Hansen, quasi Frontfrau der Gruppe, hat gerade die Begrüßung der möglichen Sponsoren und die Vorstellung ihres SOFTPEARS-Teams hinter sich gebracht und will nun das Gedanken-Abenteuer eines „Superhirns im Mini-Format“ in einer Präsentation vorstellen.

Auf einem kleinen Podest thront das Baby der Gruppe, das KI-fähige Algo-Gehirn, ein Schuhkartongroßes Gerät, vollgelötet mit Platinen, die als digitales Groß- und Kleinhirn fungieren, voll gefüttert mit Daten von Woody, dem Entwickler des Programms, verbunden mit dem W-LAN. Im Nebenraum summen die Server. Auf dem Konferenztisch lagern an jedem Platz Wasserflaschen, Knabberstangen, Schreibblocks und zugeklappte Booklets. Der großformatige Bildschirm an der Wand zeigt das Logo der SOFTPEARS-unlimited: eine angebissene Birne. Im hinteren Kühlschrank warten mehrere Flaschen Champagner Taittinger Brut Réserve auf den Erfolg dieser Veranstaltung. Man darf gespannt sein.

Die Einstiegs-Formalitäten sind inzwischen abgewickelt. Hella stellt sich in Pose:

„Wie Sie wissen, meine Herren, leistet ein Gehirn nahezu Übermenschliches, denn es muss fast gleichzeitig Millionen von Informationen verarbeiten. Dazu geben wir unserem IT-Hirn die Power, das komplette Internet abzufragen und jederlei Suchaufträge intelligent zu beantworten ...“

Einer der feinen Herren Geldgeber, ein gewisser Herr Hinrichsen, unterbricht sie schon mit der ersten Zwischenfrage:

„Pardon, Frau Hansen, finden Sie das Logo Ihres Unternehmens nicht ein wenig nahe am Apple-Logo, dem angebissenen Apfel?“

Hella kennt diesen Punkt: „Schön, dass Sie es ansprechen, Herr Hinrichsen. Das ist genau unsere Absicht. Wir stellen dem bekannten Apfel-Logo nämlich etwas nahezu Gleiches, aber doch ganz anderes, entgegen: die Birne. Denken Sie mal zurück an die Computer-Entwicklung in den 80er Jahren. Damals gab es nur Großrechner, die Etagen füllten und Unsummen verschlangen. Nur die NASA oder das Militär konnte diesen Aufwand treiben. Und dann kam Steve Jobbs mit Apple und seinem Personal-Computer, der auf jeden Schreibtisch passte. Das hat sofort einen Milliarden-Markt begründet.“

Hella machte eine Pause, um die Zustimmung der Herren, von denen wohl keiner die 80er Jahre bewusst erinnern dürfte, abzuwarten.

„Sehen sie, genau so machen wir es heute mit unserer Künstlichen-Intelligenz-Technologie. Denkzentren in aller Welt basteln gegenwärtig daran herum und entwickeln riesige Elektronen-Hirne, die immer allwissender werden. Und die viele neue Möglichkeiten bieten, die aber auch vielen Menschen unheimlich sind.

Und jetzt kommen wir – wir stellen jedem Verbraucher diesen Apparat, den Sie hier sehen, auf den Tisch. Wir verzichten bei unserem Superhirn auf die albernen Anbindungen an haustechnische Funktionen oder Assistenzen, wie zum Beispiel, die Musik einzuschalten oder Kinokarten zu bestellen. Wir beschränken uns einzig auf das Wissen der Welt.

„Dann weiß Ihr Programm ja auch nicht viel mehr als Wikipedia. Statt Künstlicher Intelligenz ist das ja nur noch eine KI für Arme“ Herr Hinrichsen, der Zwischenrufer von eben, hat das Konzept wohl missverstanden. Er will mit diesem provozierenden Einwurf nur deutlich machen, dass er die Idee als zu gering empfindet, um als Innovation zu gelten.

Hella hält durch: „Aber man kann mit unserem Programm in ganz natürlicher Sprache reden und es gibt Antworten, auch in natürlicher Sprache. Dabei haben wir die Technik soweit reduziert und komprimiert, bis unser Gerät auf jeden Schreibtisch, nein, auch auf jeden Nachttisch passt. Mit dieser Innovation – und mit uns – können Sie einen neuen Markt eröffnen und beherrschen.“

Kein Widerspruch – aber auch keine Zustimmung. Mit Pokerface-Minen verlangen die Finanz-Fürsten nach Erfrischungen und beginnen die Mineralwasserflaschen auf ihren Plätzen anzuzapfen. Dabei lacht einer der Herren plötzlich unvermittelt laut auf: „Gehirne – Birne – haha, SOFTPEARS – weiche Birnen – ich verstehe.“

„Tja, Spaß muss sein“ erklärt Hella leicht genervt und bereitet jetzt ein paar grafische Darstellungen der Funktionen und Strategien des Programms vor. Der Beamer faucht auf. Doch ihr Vortrag klemmt vor einem Hindernis: Raumverdunkelung. Etwas zu nervös redet sie auf Alexa, das elektronische Hausmädchen ein:

„Alexa, mach dunkel … Alexa, Rollos runter, Licht aus … mach schon!“

„Ich habe dich nicht verstanden“ erklärt die sympathische Stimme des Gerätes. „Kannst du deinen Wunsch wiederholen?“ „Du sollst dunkel machen, verdammt nochmal!“ Nichts passiert. Vielleicht klappt es auf Englisch: „Alexa, hör auf mit diesem Scheißspiel: turn the lights down!“

Endlich passiert was: zwei drahtlos verbundene Boxen schalten sich ein und der ganze Raum summt in angenehmer Soul-Music, bis eine erotische Männerstimme in sonorem Flüstergesang haucht: Baby, turn the lights down low …

“Alexa, … was soll der Quatsch …!“

Die seelenlose Maschine war schwer von Begriff – aber gut im Soul. Peinlich. Ein IT-Unternehmen, in dem die IT nicht funktioniert. Die potenziellen Investoren sitzen in ihren dunklen Anzügen mit offenen Hemden und verschlossenen Taschen und tippen dezent den Rhythmus des Songs auf der Tischplatte mit. Hellas bisher beherrschte Performance steigert sich langsam zu gereiztem Gezappel. Ganz schlechte Voraussetzung.

Als der Titel verklungen ist lächeln die Herren Kapital-Löwen unbesiegbar und greifen zum bereitstehenden Knabbergebäck. Das Grummeln der Heizungs-Anlage drängt sich in die Stille.

„Ganz ruhig, Frau Hansen.“ In dieser scheinbar wohlmeinend klingenden Floskel des Herren Hinrichsen steckte so unendlich viel herablassende Arroganz. Er demonstriert seinen Führungsanspruch, indem er als einziger der anwesenden ‚Big Spender‘ echte Lederschuhe mit Senkeln trägt. Der Rest der Gruppe orientiert sich mit Sneakers zum Anzug an zeitgeistiger Jugendlichkeit, was unter dem Konferenztisch jedoch weitestgehend unbemerkt bleibt.

Hella schüttelt das sinn-entleerte Gerät und droht Alexa mit dem Mülleimer. Es bleibt stumm. Sie schaltet es aus, zählt rückwärts bis zehn (die Herrschaften zählen laut mit) und wieder an. Danach fällt ihr nichts Besseres ein, als das meist-gegebene Versprechen aller IT-Spezialisten: „Jetzt müsste es eigentlich laufen.“ Das Gerät schmollt weiter.

Die Herren bleiben überheblich lächelnd im Abwarte-Modus. Einer äußert demonstrativ hörbar für alle: „Dann kann ich die Sonnenbrille ja auflassen.“ Sie waren auf Anraten des Im-und-Export-Managers Heiner Hinrichsen ins Treppenviertel gekommen, um sich für eine zugesicherte, grandiose Innovation auf dem IT-Markt zu engagieren. Doch sie erleben, außer einem grandiosen Elb-Blick, nur das grandiose Versagen der Haustechnik.

Heiner Hinrichsen macht Anstalten aufzustehen: „Frau, Hansen, vielen Dank, ich schlage vor, Sie sorgen erst einmal dafür, Ihre ‚little helpers‘ in den Griff zu bekommen“. Die alten Holzdielen knarren schon unter seinem Leder-beschuhten Abgang. Dabei schnipst er seinen Partnern das Signal, es ihm gleich zu tun.

„Halt, halt!“, Manuel, der zweite CEO im immer noch nicht abgedunkelten Raum springt seiner Partnerin zur Seite: „Meine Herren, ich bitte Sie, Sie werden doch wegen einer wahrscheinlich durchgeknallten Sicherung nicht das ganze Projekt aufschieben?!“

Der Häuptling der Finanzmänner kratzt sich mit kopfschüttelndem Unverständnis seinen Dreitagebart: „Aufschieben, das wäre zu viel versprochen, ich denke mal: die Finger davon lassen, das trifft es besser.“

Die erhofften Investoren bitten noch darum, zwei Taxen kommen zu lassen, dann schlendern sie mit verschlossenen Minen den Gang entlang zu den dort hängenden Mänteln, bewegen sich dankend durch die formschöne Art-Deko-Flügeltür der Villa zum Ausgang und sind up and away.

Zurück bleiben drei so schnell nicht klein zu kriegende Start-up-Helden. Woody, der Dritte im Bunde, schlägt sich mit der Hand vor die Stirn:

„Bang – so tritt man kiloweise Wochen in die Tonne. Aber die kommen wieder, wenn sie merken, was hier läuft. Okay, Leute, wer kriegt Pizza?“

Vor der Tür haben die Finanz-Herren kurz zu entscheiden, wer von ihnen ein Taxi braucht. Heiner Hinrichsen jedenfalls nicht, denn er wohnt selbst in Blankenese, wenn auch nicht im Treppenviertel. Er war es, der die Gruppe hochkarätiger Pfeffersäcke aus dem Hamburger Westen zusammengerufen hatte, weil er, allein am Namen SOFTPEARS-unlimited und deren Web-Auftritt ein neuartiges, IT-Konzept in Richtung KI, also Künstlicher Intelligenz, vermutete. Klang nach frischem New-Business. Doch nun hatte er sich für die Enttäuschung der Kollegen zu entschuldigen. Gleich morgen muss er mit jedem einzelnen reden.

Ein Spaziergang an der frischen Luft würde ihm jetzt helfen, sich Argumente auszudenken, um die natürlich desillusionierten Partner zu beruhigen. Das reizvoll gewürfelte Mosaik der übereinander gestapelt erscheinenden Häuschen und Gärten im Elb-Hang des Treppenviertels bot ihm eine willkommene Ablenkung. Obwohl er schon lange in der feinen Wilhelms Allee nahe dem Goßlers Park wohnte, kam er selten hier ins Hangviertel am Elbufer. Sein Büro lag weit weg am Neuen Wall, einer Straße der Hamburger City, die nicht nur nach Wallstreet klang, sondern die auch einige Dependancen finanzstarker Player beherbergte.

Schon nach wenigen Schritten steht er vor der Bäckerei Johann Jakob. Von außen hatte er den Laden schon mal gesehen, war aber noch nie reingegangen. Zumal die Schaufensterscheibe aus undurchsichtigem Milchglas bestand. Lebensmittel und Sonstiges brachte er sich normalerweise aus der City mit. Aber irgendetwas Gebackenes wäre genau das, was er jetzt brauchte: ein Franzbrötchen, dazu vielleicht einen Kaffee und den warmen Genuss des Bäckerei-Aromas. Die SOFTPEARS-Leute von eben hatten ihren Gästen ja außer guten Aussichten mit Elbblick nur Mineralwasser und Salzstangen geboten.

Zwei Stufen aufwärts, und Hinrichsen steht mitten im Laden. Was er hier vorfindet, ist für das ansonsten distinguierte Blankenese eher ungewöhnlich: eine gedämpfte Beleuchtung der Wände aus vielerlei Öl-in-Öl-verlaufenden Licht-Projektionen. Die groben Mauerflächen sind, völlig aus der Zeit gefallen, dunkel bis schwarz gehalten und werden von verborgenen Lautsprechern mit psychodelischen Klangwelten warm beschallt. Dazu passt die für den Ort untypische Distanzlosigkeit der Kundschaft. An wenigen Stehtischen und auf diversen Plüschsofa-Sitzecken wird sinnenfroh Gebackenes genossen. Und nicht nur das. Die Stimmung ist entgegen aller hanseatischer Zurückhaltung geradewegs blumenkinder-umarmend, einige der ältlichen Kundinnen winseln miteinander Schulter an Schulter ein süßliches ‚california dreaming‘, andere deuten mit erhobenen Armen in der Enge beschränkte Tanzschritte an und rufen sich vereinigende Losungen zu, über alle Sofas und Tische hinweg.

Und auch der Außerhausverkauf floriert bemerkenswert. Kundin um Kundin verlässt mit gut gemeintem Bäckerdutzend froh gestimmt den Laden.

Als Hinrichsen endlich dran ist, bestellt er sich einen Kaffee und ein Franzbrötchen und sucht sich einen freien Stehtisch. Absolut hoffnungslos. Schließlich gesellt er sich zu zwei träumerisch schwebenden Damen, was hier im Hamburger Westen eigentlich als aufdringliche Belästigung gilt. Doch man empfängt ihn summ-selig und fragt gerade heraus:

„Warum hast du kein Ewer-Schiffchen genommen, Bruder?“

Hinrichsen ist es nicht gewohnt, fremd-geduzt zu werden. „Pardon, mein Name ist Hinrichsen, ich mag halt Franzbrötchen“ stammelt er hilflos gegen die Tonkulisse aus dunkler, meditativer E-Gitarren-Akrobatik an.

„Einen wunderschönen Anzug hast du an, Bruder, so farbenfroh, so weltbefriedend.“ Die zweite der Damen greift nach seinem dunkelgrauen Jackett und befühlt es schwärmerisch. Unbeholfen erwidert Hinrichsen das Kompliment: „Gleichfalls, gleichfalls, sehr hübsch!“ Der altrosa Kaftan der etwa zwei Generationen älteren Frau gefällt ihm nicht wirklich. Die Damen zeigen sich zufrieden und schließen wieder die Augen.

Um nicht weiter angesprochen zu werden, holt Hinrichsen aus seinem Aktenkoffer das Booklet der SOFTPEARS und versucht, sich gegen die raumgreifenden Harmonie-Kaskaden Pink Floyds auf diese Lektüre zu konzentrieren.

Zugegeben, der ganze IT-Kram war nicht seine Stärke. Zwar operiert man im internationalen Import-Export auch schon mit Digitaltechnik an Monitoren, doch richtig interessiert war er nur an expandierenden Gewinnen, die damit zu machen waren.

Die gigantischen Ambitionen der Künstlichen Intelligenz einzuschränken und die albernen Licht-aus-Funktionen wegzulassen, um das Teil auf eine Schreibtisch-geeignete Größe zu reduzieren, das erschien ihm gar nicht so dumm. Als Idee hatte ihm das schon gereicht. Deshalb hatte er absichtlich die kleine Alexa-Panne der jungen Leute zum Anlass genommen, um die ganze Präsentation platzen zu lassen. Mal sehen, ob er diese Idee nicht selbst weiterentwickeln und zu Geld machen konnte. Er vertieft sich in Zahlen und Fakten des Booklets.

Als er kurz überlegt, noch einen Kaffee zu nehmen, und dabei aufschaut, entdeckt er, fast direkt neben sich, die drei SOFTPEARS-Leute. Sie hängen an einem der Stehtische und vertilgen bereits diverse belegte Brötchen.