Kurz & Gut - Michael Meisels - E-Book

Kurz & Gut E-Book

Michael Meisels

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Beschreibung

Der Wahrheitsgehalt der Zahl Drei, ein Mordmotiv in A-Dur oder das Zimtsterne-Desaster im Treppenviertel - kleine Geschichten, die das Leben auf Teufel komm raus nicht schreiben wollte. Da musste Meisels es schon selbst bei den Hörnern packen. Also ist manches erlebt, vieles erdacht und alles kurz und gut geschrieben.

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Seitenzahl: 128

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Über das Buch:

Der Wahrheitsgehalt der Zahl Drei, ein Mordmotiv in A-Moll oder das Zimtsterne-Desaster im Treppenviertel – bescheidene Episoden, die das Leben, das angeblich die besten Geschichten schreibt, auf Teufel komm raus garnicht schreiben wollte. Da musste Meisels die eine oder andere Story schon selbst bei den Hörnern packen. Also ist manches erlebt, vieles erdacht und alles kurz und gut geschrieben.

Über den Autor:

Michael Meisels, geboren in Berlin und seit den 80er Jahren Wahl-Hamburger ist ehemaliger Texter und Kreativ-Direktor internationaler Werbe-Agenturen. Seit den 10-er Jahren ist er Initiator der Veranstaltungs-Reihe "Perlenlese Blankenese".

Neben seinen heiteren Romanen "Teachware" und "Kl=Kröten-Intelligenz" fallen ihm immer wieder auch kurze Geschichten ein, von denen er hiermit eine Auswahl präsentiert.

Für Leonard, Jennifer und David

Inhalt

Kurz & Gut

Der Schmetterling der Knoten

Aufsatz meines Lebens

S-Bahn-Bekanntschaft

Männer gehen gerne an die Wäsche

Gute Taten liegen auf der Straße

Drey

Kein schöner Land

Mein B-Komplex genauer b-trachtet

Gut Glas-versichert

Zwölf Monate Herbst

Geständnis

Ich bin Atheist – Gott sei Dank

Nicole, bist du’s

Weißt du, wieviel Sternlein stehen

Toros y Toreros

Höhepunkte

Kurz Er Gut

In Post-Production-Studios fühlte ich mich immer zuhause wie in meinem Wohnzimmer. Bis ich eine Studio-Angestellte traf, die es sogar bis in mein Schlafzimmer schaffte. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie die Cutterin.

„Zu lang, leider!“ Sie sagte es und sah mich dabei nicht an, sondern blickte auf den zentralen Monitor, der neben anderen Bildschirmen die Video-Wand füllte. Ich stand neben ihr an dem langen, schrägen Tisch mit den tausend Reglern und Knöpfen und ließ mir das Video in seiner Rohfassung vorspielen.

Jetzt drehte sie sich um und reichte mir die Hand: „Ich bin Yelka, hallo, ich hab' schon mal alles Bild-Material locker aneinander gehängt und finde, es läuft sehr schön. Gefällt’s dir? Aber es ist natürlich noch ein ziemliches Stück Arbeit, daraus einen flotten Dreißiger zu machen. Irgendwelche Vorschläge?“

Ein Dreißiger – die in der letzten Woche abgedrehten Video-Szenen und Off-Sprecher-Aufnahmen mussten heute zu einem Dreißig-Sekunden-Werbe-Spot zusammengeschnitten werden. Das war die Aufgabe, mit der ich in dieses Post-Production-Studio kam. Und an der Technik hantierte heute für mich eine Angestellte des Studios, eine junge Frau, deren frisches Gesicht mir spontan besser gefiel, als ihr roh zusammengeschnittenes Video. Aber okay, die ästhetische Verantwortung hatte ich - sie hatte nur die Verantwortung für die technische Realisation.

Ich zog mir einen Stuhl zurecht und setzte mich neben Yelka. Ein angenehm feiner Duft erfasste mich. Das Mädel schien nicht nur fit an den Reglern, sie hatte auch einen eigenen Kleidungsstil, eben kein Sneakers-Girl, trotz ihrer Jugend. Und wie sie mich jetzt anlächelte ...

Die Studio-Arbeit gehörte sowieso zu meinen Lieblings-Aufgaben bei der Produktion von Werbespots. Es war immer das Grand-Finale nach dem Finden und Anpassen eines Konzeptes, dem Entwickeln von Ideen, dem Schreiben von Manuskripten, dem Zusammenstellen eines Storyboards, nach dem Abstimmen mit dem Auftraggeber, dem Verunstalten der Idee durch Sonderwünsche des Auftraggebers (oder seiner Frau oder seines Chefs oder der Frau seines Chefs), nach dem Korrigieren und Verschlimmbessern und schließlich nach dem Dreh der Story mit gecasteten Darstellern, bei dem meist nur die Art-Directors das Sagen hatten, weil es um die Klamotten der Darsteller oder um den Blickwinkel der Kamera ging. Nun endlich saß ich in einem Schneideraum der Produktions-Firma und genoss allein mit der Cutterin den gestalterischen Vorgang des Zusammenbaus der einzelnen Szenen und des Verständlich-Machens der Idee. Hier fühlte ich mich in meinem Element heimisch wie Zuhause. Und wie schön, dass heute neben mir eine kompetente und dabei attraktive Fachkraft fleißig war, die auf meine Anweisungen wartete.

„Okay, bitte fahr mal zur ersten Fahrrad-Szene nach dem totalen Schwenk, ich glaube, die könnte man etwas kürzen.“ Yelka ließ die Finger über das Board fliegen und Bild und Ton fuhren jaulend rückwärts bis zur gewünschten Szene: eine ältere Darstellerin um die 65 taumelte mit ihrem Rad unglücklich über einen Feldweg. Gut zweieinhalb Sekunden. Danach ihr schmerzhaft verkniffenes Gesicht in Nahaufnahme. Eine halbe Sekunde.

„Das Taumeln kannst du kürzen“ schlug ich vor. Sie fingerte zügig an sowas wie einem Schnitt-Operator und die Szene war nur noch zwei Sekunden. Im direkten Anschluss kamen einige Close-ups von drei besorgten Kindergesichtern. „Die könnte man ohne Probleme beschleunigen – und eigentlich reichen zwei voll und ganz.“ Yelka entfernte den albernen Jungen mit den roten Haaren.

Es lief. Ich sah Yelka auf die gepflegten Hände. Das Halbdunkel des Studios verlieh den Hauttönen eine sanfte Anmut. Auch ihr Teint wirkte wie durch einen Weichzeichner verklärt. Sie merkte meinen Blick, der auf sie gerichtet war, statt auf den Monitor. „Falsche Richtung“ erklärte sie nur. Doch ihr inneres Schmunzeln blieb mir nicht unbemerkt.

Es folgte eine grafische Knochengelenk-Animation, erst vor und dann nach dem lindernden Einfluss des Produktes. Die war vom Kunden bis ins Kleinste diktiert worden. Kürzen verboten. Blieb die Erfolgs-Demonstration mit einem Total-Schwenk von der glücklich radelnden Oma und ihren Enkeln. Da ließ sich was knapper fassen, damit noch Zeit für die Produkt-Darstellung und den Slogan blieb. Yelkas ganzer Oberkörper beugte sich graziös über das riesige Pult. Ihre beiden ausgestreckten Hände fummelten gleichzeitig – jede an einem anderen Knopf. Das ist so eine Gehirn-Leistung, die eigentlich nur von Pianisten und Schlagzeugern beherrscht wird. Eine Regler-Solistin. Ich behielt meine Hände besser unter dem Tisch, aus Angst, einen Knopf oder Schieber zu berühren und damit Unheil anzurichten. Auch wollte ich unbeholfene Berührungen an ihrem Arm oder ihrer Schulter vermeiden, man landet ja heute schnell vor Gericht.

Souverän gab ich gezielte Hinweise, wo man vielleicht noch was verdichten oder durch bessere Zweit-Schüsse austauschen könnte. Wir bastelten an der Eingangs-Szene, ersetzten eine Halb-Totale gegen ein Close-up, kürzten den Produktschuss – Yelka tummelte sich in ihrem Element und ich schwebte in einem süßen Tagtraum.

Immer noch zu lang. Yelka biss sich hinreißend auf die Lippen und sah mich dabei lustig an. Ich hatte ihr verträumt zugesehen, hatte ihr Alter geschätzt, verdammt jung, hatte sie mir auf einem Fahrrad vorgestellt, wie sie taumelte und ich ihr Halt gab, ganz ohne Produkt-Darreichung, nur mit meinen Armen, sie war erleichtert und mit strahlendem Lachen abgestiegen und wir ...

„Hörst du mir zu?“

Hoppla, sie tippte mir an die Schulter. Von ihr zu mir – in dieser Richtung sind feine Berührungen rechtlich unanfechtbar. Ich hatte noch gar nicht auf die Zeit geachtet. Erwacht fixierte ich den Time-Code: „Wieso zu lang, wir haben 25 Sekunden. Da kannst du noch ein paar Grüße an deine Mutti ran sprechen.“ Ein alter Studio-Schnack. Sie lachte nicht sondern deutete nur auf einen weiteren Bildschirm. Da stand eine Text-Grafik, lesefreundlich, aber zu lang. Yelka grinste:

„Du hast die Laterne vergessen.“

Es gab einmal eine Zeit, in welcher die Werbung noch mehr erzählerische Qualitäten besaß, als die faden TV-Serien, die sie unterbrach. Spots, in denen kompakte Geschichten dramatisiert wurden, die immer mit dem einzigartigen Nutzen irgendeines Produktes endeten. Die hohe Kunst war es, solche Problem-Lösungs-Sensationen so kurz wie möglich zu fassen. Denn Medien-Zeit war teuer. Die Ausstrahlung nur eines ZDF-Werbe-Spots von 30 Sekunde kostete zwischen 15 000 und 35 000 D-Mark, heute das gleiche in Euro, je nach Sendeplatz von ,nach Mitterbacht' bis ,Prime-Time'. Klar, dass die Macher sich konzentrieren und ihre Botschaften kurz und klein schneiden müssen. Die Beschränkung ist der kreative Reiz solcher Filme. Und so entstanden kompakte Kunstwerke, für die in Cannes neben den Film-Festspielen sogar internationale Werbefilm-Festspiele veranstaltet wurden.

Heute strahlt man überwiegend Spots aus, die auf Identifikation mit der Zielgruppe setzen. Hektische Schnitte fassen Haltungen oder Lebensgefühle zusammen und wollen nur noch bestätigt werden: ,genau das ist meine Welt, dieses Produkt passt zu mir'. Probleme lösen diese Video-Collagen selten.

Kompakte Geschichten werden nur noch von altbackenen Werbespots für Senior*innen erzählt, die mithilfe von sogenannten „Jesus-Produkten“ (Hura, ich kann wieder hören, mich wieder bewegen, mich wieder erinnern) endlich wieder glücklich am Leben teilhaben können.

Und so einen Jesus-Spot schnitt ich gerade mit Yelkas Hilfe zusammen. Was ich in diesem Moment vergessen hatte, das brachte mir die Cutterin zurück ins Hirn. Die „Laterne“. Weil nämlich solche Heils-Verspechen nicht immer ganz koscher sind, wird seit Jahren ein beratender Anhang gesetzlich vorgeschrieben und hinten angehängt, wie eine rote Schluss-Laterne: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Und neuerdings auch gender-gerecht: „ ... fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt oder in der Apotheke“.

Dieser Spruch ist Pflicht. Doch er verkürzt die zu bezahlenden 30 Sekunden auf 22“ oder 24“, je nachdem, wie lange es dauert, um ihn aufzusagen.

Sprecherinnen und Sprecher sind seitdem gefordert, diesen Satz so schnell sie können zu sprechen. Aber verständlich bleiben. Wer es in 6 Sekunden schafft, wird gefeiert. Wer gefeiert wird, verdient mehr. Ein Wettlauf unter professionellen Sprechern und Tonmeistern war die Folge. Denn auch die Technik konnte nachhelfen. Als man Sprache noch auf haushohen Tonband-Maschinen aufzeichnete, da war es möglich, diese Aufnahmen beim Abmischen etwas schneller laufen zu lassen, was die Stimmlage allerdings leicht anhob. Die Grenze dessen war erreicht, wenn man der Sprache den MickyMaus-Effekt anhörte. Aber seit man digital arbeitet, ist jede Aufnahme auf eine gewünschte Länge reduzierbar, ohne dass die Tonart sich verändert.

Was sich verändert ist allein die Sympathie dieses hastigen, ja fieberhaften Gequakes nach jeder heilsversprechenden, holzschnittartigen Rentner-Werbung.

Verstehen muss man diesen Text nicht mehr, denn er wird einem seit Jahren vermittels knalliger Ansagen in den Kopf gehämmert. Die warnende rote Laterne gehört als Schlusslicht an jegliche Werbung für Arzneimitteln. Weil man zu den im TV beworbenen Präparaten (für echte, medizinische Medikamente ist öffentliche Werbung verboten), keinerlei ärztliches Rezept braucht und deren Wirkung oft nur aus Glaube und Hoffnung besteht. Auch wenn im szenischen Verlauf vieler Spots zweifelhafte Prominente behaupten, dass dieses Produkt ihnen neue Lebensfreude geschenkt habe.

Yelka zog die Grafik samt Sprecher ans Ende unseres Spots und ich sah ein: wir waren bei 33,6 Sekunden. Verdammte Laterne. Das Ganze war rund und lief mit weichen Blenden schön ineinander, wo konnte man denn hier noch kürzen.

Yelka machte einen Vorschlag:

„Vielleicht gehst du mal nach vorne und holst dir einen Kaffee. Und bitte auch einen für mich – mit Milch.“

„Aber ich will doch dabei sein ...“

Sie unterbrach mich und griff kurz nach meiner Hand. „Lass mich mal machen.“

Leider brauchte sie dann wieder beide Hände am Pult. Und so saß ich nur da, hielt die Luft an und schaute ihr beeindruckt zu. Die Video-Szenen jagten in chaotischer Reihenfolge über den Bildschirm und Yelkas Hände schwebten mit feenhafter Sicherheit über Reglern und Drehknöpfen. Sie kappte Einzelbilder, das brachte jeweils eine Fünfundzwanzigstel Sekunde! Oh Mann, oh Mann! Sie drängte den Pflichttext digital zusammen, beschleunigte die glückliche Radfahrerin, alles viel zu blitzartig für mich, um ihren Aktivitäten technisch folgen zu können.

„Fertig. Dreißig Komma null, null. Was ist mit Kaffee?“

„Hey, du kannst zaubern“ ausatmete ich hingerissen und versuchte, wieder ihre Hand zu nehmen. Sie wich nicht aus, sondern ergänzte: „Du solltest mich mal in der Küche sehen.“

Was war das? Ein Angebot? Wollte sie mich zum Essen bei sich zuhause einladen? Ich wagte nicht, nachzufragen, zumal sie schon wieder mit beiden Händen an den Maschinen tobte, eine Kopie auf die Projekt-Seite hochlud und eine Video-Kopie auf einen Stick zog, den sie mir in die Hand drückte.

„Hier, dein Beleg-Exemplar! Schön geworden. Ziemlich rasant – aber so gerade noch verständlich. Und exaktamente 30 Sekunden. Deine Auftraggeber werden daran nichts zu meckern haben.“

Die Sitzung war vorbei. Schade.

Tschüss Yelka.

Oder doch nicht? Ich hatte da noch einen Trumpf im Ärmel, ein Projekt, welches unser Auftraggeber neulich ganz nebenbei angeregt hatte:

„Herrschaften, unsere Finanzen machen Stress, unser Budget steht fest – aber die verdammten Einschalt-Kosten der Medien sind unverhältnismäßig gestiegen. Deshalb denke ich, vielleicht sollten wir – ich meine, nur zur Sicherheit – für unser Produkt auch noch einen Zwanziger Spot vorbereiten.“

Der Schmetterling der Knoten

Ich habe in Altona alle Schuhläden abgeklappert: kein Mensch, egal ob Verkäufer, Boss oder Lehrling, weiß, wer auf vielen ausgestellten Schnürschuhen oder Turnschuhen die vorgebundenen Schleifen anbringt. Das Fachpersonal ging davon aus, dass die Schuhe schon mit fertigen Schleifen aus dem Karton kommen.

„Finger weg! Verdammt, nein! Nicht ziehen!“ Ich schreie das richtig. Völlig aus dem Nichts. Aber was ist passiert?

Mein kleiner David und ich, wir ziehen uns gerade gemeinsam im Flur die Schuhe an, da reitet den Jungen wie so oft der Schalk. Während er selbst noch am Boden liegend an seinen Klettverschlüssen fummelt, zieht er aus Jux an einem meiner Schnürsenkel. Ein Scherz, den er hin und wieder macht. Man lacht und bindet sich die Schleife neu. Fertig. Doch diesmal und in diesem Augenblick schreie ich spontan „Lass das!“, als hätte er eine schmerzende Stelle berührt. Er schnellt auch sofort zurück und sieht mich verwirrt an.

Ich bin selbst erschrocken über meine humorlose Reaktion. Ich fasele so was wie „Ich will mich nicht noch mal bücken müssen“. Zu spät, die Schleife ist so gut wie auf, der eine Senkel hängt lang runter. Ich binde sie neu. Und wie es immer so kommt: sie ist jetzt viel fester als die andere Seite. Also ziehe ich diese auch auf und binde sie fester.

Wir vergessen die Sache und gehen los in den Park. David tobt mit dem Hund und durch mein Hirn jagen unruhige Gedanken: Warum habe ich mich eben so aufgeregt?

Warum war ich so darauf bedacht, die Schleifen an meinen Turnschuhen unberührt zu lassen? Ich habe für gewöhnlich kein Problem damit, mir die Schuhe zuzubinden. Es gibt genug andere Schuhe, an denen ich das täglich praktiziere. Warum betrachte ich gerade diese Schleifen wie von „heiliger Hand“ gebunden.

Das ist über zwei Wochen her. Ich fand im Handel ein Paar Turnschuhe, die mir gefielen, nicht gerade von einer Weltmarke, dafür aber auch nicht zu einem Weltpreis. Ich habe sie anprobiert, habe mich gefreut über den guten Sitz der Schuhe, die mit Schnürsenkeln zugebunden waren, also nicht diese kindlichen Klettverschlüsse hatten, die mir in meinem Alter peinlich wären. Ich bin, ohne die vorgebundenen Schleifen aufzumachen, mit einem langen Schuhlöffel hinein wie in einen Slipper. Und ich konnte darin laufen, ohne die Schuhe zu verlieren. „Die nehme ich!“ Die Suche war beendet. Zurück in den Karton und ab damit zur Kasse.

Zuhause zog ich die fabrikneuen Turnschuhe sofort an und begann sie Schritt für Schritt einzulaufen. Meine Füße brauchen immer ein paar Tage, um sich an neue Schuhe zu gewöhnen, danach machen sie aber keinerlei Schwierigkeiten. Und immer noch bin ich jedes Mal mit Hilfe eines Schuhlöffels über die vom Hersteller vorgebundenen Schleifen hineingeschlüpft. Schon seit einer Woche.

Vom Hersteller? Frau Nike, Herr Adidas oder Herr Puma haben wohl kaum Hand angelegt. Auch sicher war keine „heilige Hand“ im Spiel. Doch von „Hand“ waren diese Schleifen gebunden worden. Da muss tatsächlich inmitten der voll-industriellen Schuh-Fabrikation jemand mit seinen Fingern zugange gewesen sein. Dank meiner Vorkenntnisse in Künstlicher Intelligenz habe ich erfahren, dass das Binden einer Schleife bisher noch von keiner Maschine erlernt wurde. Relais-gesteuerte Automaten können steppen, nähen, nieten, besohlen, einfärben, vielleicht sogar die Schürsenkel in die Löcher fädeln – doch eine Schleife zu binden, das ist der letzte motorische Akt, der nur von einem Menschen vollbracht werden kann. Damit ist es tatsächlich eine der letzten Fähigkeiten, die mich als Mensch von der Maschine unterscheidet, die mich über sie erhebt, die mich zum Schöpfer macht, zum Schöpfer von Schmetterlings-Schleifen.