Kinder der Gewalt - Julian Hans - E-Book

Kinder der Gewalt E-Book

Julian Hans

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Beschreibung

Woher kommt die ungeheuere Brutalität, mit der die russischen Soldaten in der Ukraine morden, plündern und vergewaltigen? Warum wehren sich so wenige Russen gegen den Krieg? Julian Hans, der langjährige Moskau-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, macht anhand von fünf spektakulären Verbrechen sichtbar, wie sich Gewalt und Erniedrigung in das Leben der Menschen gefressen haben. Wer verstehen will, wie die russische Gesellschaft tickt, findet hier seismographisch-genaue Antworten. Auch wenn Putin irgendwann nicht mehr im Kreml sitzt – die russische Gesellschaft tritt nicht ab. Menschen, die ihr Leben lang erniedrigt wurden und daher schnell bereit sind, andere zu erniedrigen. Menschen, die nie erfahren haben, dass ihr eigenes Leben geschützt und geachtet wird, und die deshalb schwer Achtung und Mitgefühl für andere entwickeln können. Menschen, die gelernt haben, dass es keine Wahrheit gibt, die nicht morgen in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Diese Buch nähert sich dem Zusammenspiel von Angst, Gewalt und Lüge in Russland am Beispiel von fünf Kriminalfällen – eine brutale Bande terrorisiert eine Kleinstadt, jugendliche Polizistenmörder werden zu Volkshelden, drei Schwestern töten ihren tyrannischen Vater, ein Enkel klagt die Henker seines Urgroßvaters an, ein Folteropfer überwindet den Hass. Dabei zeigt sich auch, welche Kräfte helfen könnten, die über Generationen geprägten Muster der Gewalt zu überwinden.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Julian Hans

Kinder der Gewalt

Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen

C.H.BECK

Zum Buch

Woher kommt die ungeheure Brutalität, mit der die russischen Soldaten in der Ukraine morden, plündern und vergewaltigen? Warum wehren sich so wenige Russen gegen den Krieg? Julian Hans, der langjährige Moskau-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, macht sichtbar, wie sich Gewalt und Erniedrigung in das Leben der Menschen gefressen haben. Wer verstehen will, wie die russische Gesellschaft tickt, findet hier seismographisch-genaue Antworten.

Auch wenn Putin irgendwann nicht mehr im Kreml sitzt – die russische Gesellschaft tritt nicht ab. Menschen, die ihr Leben lang erniedrigt wurden und daher schnell bereit sind, andere zu erniedrigen. Menschen, die nie erfahren haben, dass ihr eigenes Leben geschützt und geachtet wird, und die deshalb schwer Achtung und Mitgefühl für andere entwickeln können. Menschen, die gelernt haben, dass es keine Wahrheit gibt, die nicht morgen in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Julian Hans nähert sich dem Zusammenspiel von Angst, Gewalt und Lüge in Russland am Beispiel von fünf Kriminalfällen – eine brutale Bande terrorisiert eine Kleinstadt, jugendliche Polizistenmörder werden zu Volkshelden, drei Schwestern töten ihren tyrannischen Vater, ein Enkel klagt die Henker seines Urgroßvaters an, ein Folteropfer überwindet den Hass. Und er zeigt, welche Kräfte helfen könnten, die über Generationen geprägten Muster der Gewalt zu überwinden.

Über den Autor

JULIAN HANS war viele Jahre Moskau-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Er lebt als freier Journalist in München.

Inhalt

Einleitung

Angst

Kuschtschowskaja Rus

Aufstieg

Widerstand

Leben und Tod

Kapitulation

Rollentausch

Nachspiel

Wut

Die Partisanen von der Küste

Hass auf den Staat

Nachspiel

Verzweiflung

Tyrannenmord

Traditionelle Werte

Die Faust in der Familie

Männer und Mütter

Gegengewalt

Vergeltung

Die Namen der Täter

Die Fragen der Enkel

Eine Antwort

Trauma

Folter

Verarbeitung

Russische Seelen

Ich bleibe hier

Schuld

Buße

Absolution

Hoffnung

Dank

Anmerkungen

Bild- und Rechtenachweis

Für Djamilia

Einleitung

Wer die Gewalt zu seiner Methode macht,muss die Lüge zu seinem Prinzip erwählen.

Alexander Solschenizyn, Nobelpreisrede 1970

Zwanzig Jahre lang hält eine Bande rücksichtsloser Gewalttäter eine Kleinstadt in Russlands Süden im Griff. Sie raubt den Bauern ihr Land, missbraucht die Mädchen, kauft die Polizisten. Gegner werden getötet, Hilferufe nicht gehört. Die Anführer des Clans sitzen als Abgeordnete im Parlament, ihre Firmen erhalten Millionen aus der Staatskasse. Erst als in einer Nacht zwölf Menschen brutal ermordet werden, darunter vier Kinder, schreckt das Land auf und die Öffentlichkeit fragt sich: Wie konnte das Verbrechen so mächtig werden? Und warum haben die Menschen diese Tyrannei so lange geduldet? Viele in Russland erkennen Parallelen: Die Angst im Alltag, die Willkür der Polizei, die manipulierte Justiz, die Verbindung zwischen den Staatsorganen, der Wirtschaft und der organisierten Kriminalität gibt es auf allen Ebenen im ganzen Land bis in den Kreml. Und die Fragen, warum die Menschen das mit sich machen lassen und warum es nicht mehr Widerstand gab, betreffen die ganze Gesellschaft.

Seit dem 24. Februar 2022 stellen sich diese Fragen noch dringlicher. Unter dem Eindruck von Russlands Überfall auf die Ukraine und der Gräueltaten seiner Soldaten versuchen wir zu begreifen, warum diese Gesellschaft so bereitwillig in diesen Krieg zieht. Warum wehren sich nicht mehr Russinnen und Russen? Warum lassen sie sich scheinbar schicksalsergeben für einen Feldzug rekrutieren, dessen Sinn sie nicht wirklich verstehen? Warum zeigen so wenige Mitgefühl für ihre Verwandten in der Ukraine? Und warum fehlt ihnen scheinbar jede Wertschätzung für das Leben – das Leben anderer, aber auch das eigene? Am Beispiel von fünf Verbrechen schildert dieses Buch, wie Willkür, Gewalt, Machtmissbrauch und Lüge auf eine Gesellschaft wirken und welche Wege Menschen finden, darauf zu reagieren – mit Resignation, mit neuer Gewalt, aber auch mit Mut und Klugheit.

Die hier geschilderten Verbrechen haben die russische Gesellschaft bewegt, wurden aber bei uns kaum wahrgenommen. Die außenpolitische Berichterstattung konzentriert sich vor allem auf den Kreml, auf die Repressionen gegen die Opposition und auf russische Einmischungsversuche in seiner Nachbarschaft und anderswo – und hat damit oft schon mehr als genug zu tun. Warum lohnt sich ein Blick auf russische Kriminalfälle? In Russland wird wenig über Politik gesprochen. Seit Jahren antworten etwa drei Viertel der Befragten, sie interessierten sich nicht für Politik und wollten damit auf keinen Fall etwas zu tun haben. Gleichzeitig interessiert sich eine aufgeklärte Minderheit sehr für Politik: Die Anhänger von Alexej Nawalny, die Vertreter der inzwischen verbotenen Organisation Memorial, die Journalistinnen und Journalisten der unabhängigen Medien und ihre Zuschauer und Leser. Aus dieser aktiven, aber relativ kleinen Gruppe rekrutieren sich im Wesentlichen die Gesprächspartner internationaler Medien. Das ist keine Parteilichkeit, westliche Korrespondenten haben kaum eine andere Wahl: Wenn offizielle Stellen konsequent Lügen verbreiten und Tatsachen verdrehen, wenn untergeordnete Behörden schweigen, wenn Bürgermeister, Schuldirektorinnen und Wissenschaftler aus Angst nicht öffentlich reden wollen und die Mehrheit der Bevölkerung aus dem gleichen Grund sorgsam darauf achtet, erst gar nicht mit politischen Fragen in Berührung zu kommen, dann bleiben nur die wenigen Aufgeschlossenen und Engagierten, die natürlicherweise die Diktatur ablehnen, aber darin letztlich doch nicht für die Mehrheit sprechen können.

Es wurde in den vergangenen Jahren viel Energie darauf verwendet, Wladimir Putin zu verstehen, und viel Papier, um zu erklären, was der Führer im Kreml «wirklich will». Das war zweifellos notwendig, da sich viele auch in deutschen Parteien und bei Wirtschaftsverbänden bis zuletzt Illusionen machten über einen rationalen Verhandlungspartner, für den man nur die richtige Sprache finden müsse. Seit Februar 2022 ist klar, dass die einzige Sprache, die Wladimir Putin versteht, die Sprache der Macht ist und ihr Dialekt die Gewalt. Nur kam dabei das Bemühen zu kurz, auch die russische Gesellschaft verstehen zu wollen. Sie ist noch schwerer zu fassen als ihr Präsident. Sie tritt nicht öffentlich auf, veröffentlicht keine Aufsätze über ihre Sicht der Welt, und sie ist weniger homogen als es scheint. Vor allem ist sie nicht identisch mit ihrer politischen Führung. Wenn das Entsetzen über den Krieg bisweilen dazu verleitet, ein Gleichheitszeichen zwischen den Kriegsverbrecher im Kreml und die Menschen in Russland zu setzen, wird dieser Kurzschluss nicht helfen, den richtigen Umgang mit Russland zu finden, wenn Putin einmal nicht mehr da ist.

In einem Land, in dem es seit Jahrzehnten keine freie öffentliche Debatte gibt und das sich seit zwei Jahren mit beschleunigten Schritten in Richtung einer totalitären Diktatur bewegt, darf man sich nicht viel davon erwarten, wenn man Passanten ein Mikrofon entgegenstreckt und fragt: «Wie beurteilen Sie die Kriegsverbrechen in Butscha?» Die Befragten haben viele Gründe, nicht, oder nicht ehrlich zu antworten. Der naheliegendste ist Angst: Kritik am Krieg ist heute ein sicheres Ticket ins Gefängnis. Desinteresse ist ein weiterer: Warum soll ich mich mit Fragen befassen, die mich belasten und auf die ich keinen Einfluss habe? Der einzig sichere Ausweg ist das zu wiederholen, was im Staats-TV gerade als offizielle Linie vorgegeben wird. Erfahren wir also auf diesem Weg, was die Russen denken? Schwerlich.

Dieses Buch versucht einen anderen Ansatz. Es stellt fünf Kriminalfälle vor, die in deutschen Medien entweder gar nicht oder nur am Rande erwähnt wurden, dafür aber in Russland quer durch alle Gesellschaftsschichten die Gemüter erregt haben. Sie geben einen Einblick in eine Wirklichkeit, die durch den Fokus auf die Politik zwangsläufig ausgeblendet wird oder zumindest unterbelichtet bleibt. Eine Wirklichkeit, die das Bewusstsein der Mehrheit in der Regel stärker bewegt als ein politischer Prozess gegen Vertreter der Opposition. Darüber hinaus handelt es sich um Fälle, zu denen jede und jeder eine Meinung hat und oft auch bereit ist, sie zu äußern. Und schließlich haben alle diese Themen auch eine politische Dimension. Zu Butscha äußern sich nur wenige öffentlich. Zu dem Massenmord an einem Bauern und seiner Familie im Gebiet Krasnodar 2010 hatte dagegen jeder eine Meinung. In beiden Fällen geht es um die Frage, wie dieser Ausbruch blinder Gewalt möglich war und was passieren müsste, damit Gewalt von der russischen Gesellschaft nicht mehr als normal hingenommen wird?

Um die Prägung zu verstehen, die zu den Exzessen russischer Soldaten führten, erscheinen mir die Verhältnisse in der Kleinstadt Kuschtschowskaja, die jahrzehntelang im Griff einer mordenden und vergewaltigenden Bande lebte, aufschlussreicher als der jährliche Bericht über Putins ritualisierte Pressekonferenz. Und die landesweite Sympathie, die einer Handvoll Zwanzigjährigen entgegenschlug, die als «Partisanen von der Küste» Polizei und Staat mit Waffengewalt herausforderten, lehrt einiges über Jewgenij Prigoschin und die Reaktionen auf den von ihm angeführten Wagner-Aufstand im Frühjahr 2023.

Jeder der vorgestellten Kriminalfälle ist Ausgangspunkt für einen eingehenden Blick auf grundlegende Phänomene und Entwicklungen der russischen Gesellschaft. Nicht der Tathergang steht im Mittelpunkt, sondern die Reaktionen der Gesellschaft auf das Verbrechen. Die Kontroversen um den Mord der Schwestern Chatschaturjan an ihrem Vater sind nur zu verstehen, wenn man die Bedeutung von Putins Politik der «traditionellen Werte» kennt. Und die Art und Weise, in der die Aktionskünstlerin Katrin Nenaschewa mit den Traumata umgeht, die sie von Geiselnahme und Folter im besetzten Donezk davongetragen hat, ist ein Beispiel für einen neuen Umgang mit seelischen Wunden, für den in den vergangenen Jahren immer mehr Russinnen und Russen die professionelle Hilfe von Psychotherapeuten in Anspruch nehmen. Letztlich führt jedes Verbrechen direkt zu den zentralen Fragen menschlichen Zusammenlebens – den Fragen nach Gut und Böse, nach Schuld und Vergebung und nach Gerechtigkeit.

Im Zusammenhang mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem Verhalten von SS und Geheimpolizei sprach Hannah Arendt vom «Eindringen der Kriminalität in den Bereich des Öffentlichen».[1] Dieser Prozess hat sich in Russland auf eigene Weise vollzogen. Nicht über eine menschenverachtende Ideologie, sondern über Gier und Korruption. Ein nüchternes Verständnis für das Land hieße, sich diese Entwicklung vor Augen zu führen, statt sich auf die entlastende Position zurückzuziehen, dass «die Russen» eben diese Führung und den Staat wollen, so wie er ist. Entweder um der Führung auf diese Weise eine Carte Blanche zu geben, oder um das ganze Land in Bausch und Bogen zu verurteilen. Stattdessen lohnt es sich, die Frage zu stellen, was in den Köpfen der Frauen, Männer und Kinder in Russland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten passiert ist, dass sie ein solches Regime unterstützen und bei seinen Verbrechen mittun?

Seit dem Beginn des offenen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird immer mehr Menschen im Westen klar, dass es in diesem Konflikt nicht allein darum geht, ob Moskau zusätzliche Territorien in seine Gewalt bringt. Für uns ist entscheidend, ob wir die regelbasierte Ordnung verteidigen können, die Europa über sieben Jahrzehnte aufgebaut hat. Oder ob Wladimir Putin auch außenpolitisch das Recht des Stärkeren durchsetzen kann.

Darüber, wie es danach weitergehen soll, gibt es derweil nur vage Vorstellungen. Was muss passieren, damit Russland nicht mehr gefährlich ist für seine Nachbarn und für die Welt? Auch wenn Putin dann nicht mehr im Kreml sitzt – die Gesellschaft tritt nicht ab. Menschen, die ihr Leben lang erniedrigt wurden und daher schnell bereit sind, andere zu erniedrigen. Ein Muster, das sich seit Generationen wiederholt und aus dem auszubrechen nur einzelnen gelingt. Wer Angst hat, ist bereit, Dinge zu glauben, die jeder Logik und jeder Erfahrung zuwiderlaufen, wenn sie nur Rettung versprechen. Er ist nicht nur bereit, Schwarzes weiß zu nennen und Weißes schwarz, sondern auch daran zu glauben und diese Einstellung morgen wieder zu ändern, falls es verlangt wird. Der letzte verbliebene Maßstab, nach dem Gut und Böse unterschieden werden, Richtig und Falsch, ist die Identifikation mit dem Staat und seinem Anführer: Wir sind gut, weil wir Russen sind, und weil wir Russen sind, kann, was wir tun, nicht schlecht sein. Der unter Putin von Jahr zu Jahr gesteigerte Pomp um den Tag des Sieges am 9. Mai hat neben der Militarisierung der Gesellschaft noch eine weitere Komponente: Er festigt die Erinnerung, dass Russen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Dass ihr Kampf ein gerechter ist und ein notwendiger. Und wer ihn kämpft, wird siegen. Ständig wiederholt und flankiert von Gesetzen gegen «Geschichtsfälschung», die alle Grautöne beseitigen.

Bewusst wurden hier große politische Prozesse ausgelassen. Die zahlreichen Verfahren gegen Alexej Nawalny etwa, der Prozess gegen die Mörder an Boris Nemzow, in dem von den Auftraggebern nicht gesprochen werden durfte. Das Urteil gegen den Historiker Juri Dmitrijew von der Organisation Memorial, die sich die Suche nach der historischen Wahrheit zur Aufgabe gemacht hat. Diese Fälle sind zum einen der westlichen Öffentlichkeit bereits bekannt. Zum anderen muss man davon ausgehen, dass sie direkt vom Kreml gesteuert wurden. Stattdessen liegt das Augenmerk auf alltäglichen Fällen, wie sie jeder erleben kann, ganz unabhängig von seiner oder ihrer Einstellung zum Regime. Und darauf, wie die Mühlen der Justiz und der Bürokratie ohne unmittelbare Lenkung von ganz oben mahlen. Kurz: der alltägliche Umgang mit Wahrheit, Lüge und Gewalt.

Dass keine politischen Fälle ausgewählt wurden, hilft auch, eine im Westen verbreitete Fehlannahme zu korrigieren: Russland ist zwar ein autoritäres Regime. Gleichwohl wird auch in einer Diktatur, die in totalitärer Manier auf alle Lebensbereiche ausgreift, nicht alles vom Kreml gesteuert. Nicht überall zieht Wladimir Putin die Fäden. Während die Propaganda den Eindruck aufrechtzuerhalten bemüht ist, der Präsident habe alles unter Kontrolle, läuft in Wahrheit vieles chaotisch ab, ja teilweise anarchisch. Die Herausforderung ist, zu versuchen, sich Russland als Diktatur und Anarchie gleichzeitig vorzustellen. Die vorgestellten Beispiele veranschaulichen das.

Wenn dem Leser manches ungereimt oder widersprüchlich erscheint – etwa dass Banditen Verbindungen bis in die höchsten Kreise von Politik und Justiz haben, und dann doch im Gefängnis landen –, so sind solche Widersprüche Teil der Realität. Wenn der Leser davon irritiert ist, hat dieses Buch sein Ziel erreicht. Denn in dieser Irritation verbringen 146 Millionen Menschen in der Russischen Föderation ihr ganzes Leben. Sie versuchen täglich, sich einen Reim darauf zu machen, was um sie herum geschieht, und ihr Verhalten anzupassen, um möglichst unbeschadet durch diese Realität zu kommen. Ein vermeintlicher Ausweg aus der anstrengenden Widersprüchlichkeit des Lebens sind übrigens Verschwörungserzählungen, die in Russland seit jeher viele Anhänger finden.

Die geschilderten Verhältnisse werden auch nach Putin noch da sein. Sie zu überwinden wird noch mühsamer und langwieriger sein als ein Machtwechsel im Kreml. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Russlands autoritäres Erbe nicht allein durch Veränderung in der Politik oder in den Institutionen überwunden werden wird. Es gibt nicht die demokratische Kraft, die nur eine Chance braucht, und Russland wird frei sein. Es fehlt nicht einfach die passende Reform, um aus der kleptokratischen Diktatur eine soziale Marktwirtschaft zu machen oder aus dem sadistischen Lagersystem einen humanen Strafvollzug. Veränderung wird nur möglich sein, wenn der Staat und die Gesellschaft Gewalt und Lüge hinter sich lassen.

Angst

RAPED WHILE DYINGAND STILL NO ARRESTS? HOW COME, CHIEF WILLOUGHBY?

Three Billboards Outside Ebbing, MissouriMartin McDonagh, USA/GB 2016

Kuschtschowskaja Rus

Der 4. November 2010 ist ein arbeitsfreier Tag. Noch verbindet kaum jemand etwas mit dem Datum, das fünf Jahre zuvor vom Parlament als neuer Feiertag eingeführt wurde. Der «Tag der Einheit des Volkes» ersetzt den Tag der Großen Oktoberrevolution. Die Sowjetunion ist Geschichte, für das neue Russland ist noch kein passender Gründungsmythos gefunden. Doch der 4. November 2010 wird für immer in Erinnerung bleiben als der Tag, an dem eines der grausamsten Verbrechen in der Geschichte des Landes verübt wurde.

Im Haus der Familie Ametow ist an diesem Tag der Tisch reich gedeckt. Es gibt Sekt, Wein und Cognac und schwere Salate mit Mayonnaise. Serwer Ametow, der Hausherr, führt ein eigenes Agrarunternehmen; ein zupackender Mann mit kurzem Schnauzer und grauen Schläfen, 51 Jahre ist er alt. Auf Hunderten Hektar Land baut er Getreide und Sonnenblumen an. Die Geschäfte laufen, den Ametows geht es gut. Ein befreundeter Unternehmer ist mit seiner Familie aus dem zweieinhalb Autostunden entfernten Rostow am Don angereist. Eine Nachbarin und ihr Sohn sind ebenfalls gekommen. Insgesamt zwölf Personen haben sich im Haus der Ametows versammelt: acht Erwachsene, drei Kinder und ein Säugling, die Enkeltochter der Gastgeber. Alles sieht danach aus, als würde es ein geselliger Abend im Kreise guter Freunde.

Als die Mörder durch das Seitenfenster eindringen, überraschen sie die Männer beim Billard. Die Frauen unterhalten sich beim Tee. Die Kinder sehen fern. Die Angreifer zerren den Hausherrn ins Wohnzimmer. Vor seinen Augen erstechen sie seine Frau Galina, seine Schwiegertochter, seine Gäste. Serwer Ametow soll zusehen, wie ihm die liebsten Menschen genommen werden. Erst ganz zum Schluss erstechen die Angreifer auch ihn. Sie haben sich lange auf ihre Tat vorbereitet. Wochenlang haben sie das Haus der Ametows observiert. Sie haben sich Schuhe besorgt, die ihnen ein paar Nummern zu groß sind, damit die Spuren keine Rückschlüsse auf ihre Besitzer zulassen, und ein Set langer Küchenmesser, das sie nach der Tat wegwerfen. Die Kinder erwürgen sie. Dann übergießen sie die Leichen mit Benzin und zünden sie an. Die Obduktion wird später ergeben, dass Amira, die neun Monate alte Enkeltochter der Ametows, noch lebte. Sie erstickte an den Rauchgasen des Brandes, mit dem die Täter ihre Spuren verwischen wollten.

Djalil Ametow, der Sohn von Serwer und Galina, hat die Feier früh verlassen, um im Betrieb eine Lieferung anzunehmen. Die Arbeiten enden erst nach Mitternacht. Am nächsten Morgen will er seine Eltern und seine Frau anrufen, aber niemand geht ans Telefon. In einer Nacht hat er seinen Vater, seine Mutter, seine Frau und seine kleine Tochter verloren.

Vielleicht wäre auch dieses Verbrechen nie aufgeklärt worden. So wie Hunderte zuvor in dieser Kleinstadt im Süden Russlands – Morde, Erpressungen, Vergewaltigungen. Für die Bewohner der Staniza Kuschtschowskaja gehörten sie irgendwann zum Leben dazu. So wie die Tatsache, dass niemand zur Rechenschaft gezogen wurde für diese Taten. Hätte nicht der Zufall geholfen, der Name der ehemaligen Kosakensiedlung im Gebiet Krasnodar wäre wohl noch heute kaum jemandem geläufig. Wäre an jenem Morgen im November 2010 nicht ein Team des Staatsfernsehens vor Ort gewesen, um Aufnahmen für die Show «Bitte melde dich!» zu drehen, wäre vielleicht auch dieser Fall zwischen zwei Pappdeckeln im Aktenschrank der örtlichen Polizeistation verstaubt wie viele andere Verbrechen zuvor. Begangen von der Bande, die diesen Aktenschrank bezahlt hatte. So wie andere Möbel, Computer und Autos für Polizisten. Kuschtschowskaja, eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern im Süden Russlands, wo der Himmel weit ist und der Boden fruchtbar und die Polizei von Banditen gesponsert wird.

Den Bewohnern der Staniza Kuschtschowskaja ist gleich klar, wer hinter der Tat steht. Aber sie sprechen höchstens flüsternd darüber. Aufgeschreckt vom Bericht des zufällig anwesenden Fernsehteams schicken russische Medien ihre Reporter in die Kleinstadt. Staatliche wie dem Kreml gegenüber kritisch eingestellte berichten in den folgenden Wochen gleichermaßen von Angst und Terror, die seit den 1990er Jahren den Ort im Griff haben. Bei der Schilderung des Massenmordes unterscheiden sich die Berichte kaum, wohl aber bei der Deutung der Zustände: In den staatlichen Medien erscheint die Staniza Kuschtschowskaja als ein Provinznest, in dem eine kriminelle Bande von Moskau unbemerkt ihr Unwesen treiben konnte, bis der Präsident das föderale Ermittlungskomitee losschickte, um aufzuräumen. In unabhängigen Medien liest man auch von den engen Verflechtungen von Gangstern und Behörden und vom Aufstieg ihres Anführers Sergej Zapok vom Schutzgeldeintreiber zum Abgeordneten des Regionalparlaments. Die Nowaja Gaseta entdeckt sein rundes Gesicht mit den in die Stirn gekämmten Haarfransen auf einem Video von der Feier zur Amtseinführung von Präsident Dmitrij Medwedew unter den Gästen im Kreml.

Es gibt Leute in der Staniza Kuschtschowskaja, die sagen, das Leben unter den Zapoks war gar nicht so schlecht. Damals waren wenigstens die Verhältnisse klar. Man wusste, wer das Sagen hatte am Ort, mit wem man sich einig werden musste, wenn man etwas anfangen wollte: Einen Acker kaufen, ein Haus bauen, einen Betrieb eröffnen, eine Bar betreiben, ein Problem lösen. Oder auch einfach nur mit einem Mädchen ausgehen. Denn wie die Äcker, die Grundstücke und die Wirtschaft betrachteten die Zapoks auch die Mädchen als ihr Eigentum.

Trotzdem regen sich die Menschen auf, als bekannt wird, dass die Männer aus der Zapok-Bande über zwei Jahrzehnte Hunderte Schülerinnen, Studentinnen und junge Frauen in der Kleinstadt vergewaltigt haben. Sie haben ihnen vor den Schulen aufgelauert, waren vormittags in Klassenzimmern und abends in Diskotheken aufgekreuzt und haben mit den Fingern auf die Schülerinnen gezeigt, die ihnen gefielen: «Du und du und du, ihr kommt mit.» Wenn ihre Autos an der Bushaltestelle hielten und sie ein Mädchen zwangen, einzusteigen, sahen die anderen Wartenden weg. Wenn sie nachts die Studentinnen aus ihren Unterkünften holten, stellte sich ihnen niemand in den Weg.

Doch als die Zeitungen jetzt davon berichten, empören sich die Eltern. Nicht über die Zapoks. Nicht über die Lehrer oder die Ausbilder, die sich der Willkür schweigend untergeordnet hatten. Nicht über das Wachpersonal in Berufsschulen und Wohnheimen oder gar über die Polizisten, die nichts unternommen hatten. Die Mütter und Väter empören sich über die Journalisten. Dass bekannt wurde, dass sich Banditen ihre Töchter nahmen wie ihnen beliebte, brachte Schande über sie. Nicht über die Täter wohlgemerkt. Über ihre Opfer und deren Familien.

In Russland wirkt der grausame Massenmord in der Staniza Kuschtschowskaja wie ein Blitz: Sein grelles Licht macht die Konturen einer Welt sichtbar, an die sich die Menschen über die Jahre gewöhnt und an die sie sich angepasst haben – und vor denen sie jetzt selbst erschrecken. Aus allen Winkeln des Landes berichten Menschen auf Twitter, Facebook und VKontakte von ähnlichen Erfahrungen aus ihrer Region. Unter dem Hashtag #KuschtschowskajaRus entsteht ein Mosaik von Willkür, Gewalt, Erpressung und Schutzlosigkeit. Von der Verquickung von Polizei, Justiz und Politik mit der organisierten Kriminalität und vom Leben mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins ohne Hoffnung, etwas an der eigenen Lage ändern zu können. Kommentatoren deuten die Staniza Kuschtschowskaja als ein Russland en miniature. Kuschtschowskaja Rus, das hört sich an wie eine eigene Epoche in der russischen Geschichte. Nach der Kyjiwer Rus und der Moskauer Rus nun die Kuschtschowskaja Rus, ein Reich in dem allein das Recht des Stärkeren gilt und Verbrechen nicht geahndet werden. Am Beispiel einer Kleinstadt im Süden kann man studieren, wie es so weit kommen konnte.

Aufstieg

Eigentlich fehlt diesem Land nichts zum Glück. An den Ausläufern des Kaukasus ist das Klima mild, die Böden sind fruchtbar. Auf seinem Weg aus den Bergen ins Asowsche Meer versorgt der Kuban die Schwarzerde mit Wasser. An seinen Ufern lebten Kosaken und Turkvölker lange Zeit unter der Herrschaft des Krim-Khanats. Im späten 18. Jahrhundert nutzte Katharina II. die Schwäche des Osmanischen Reiches, um das russische Imperium nach Süden auszudehnen. Die Sicherung des Grenzlandes übertrug sie den Kosaken. Viele Orte tragen bis heute das Wort Staniza im Namen, die alte Bezeichnung einer Kosaken-Siedlung.

Sich selbst zu Ehren gab die Zarin der Gebietshauptstadt den Namen «Jekaterinodar», was soviel heißt wie «Geschenk Katharinas», obwohl es ja eher kein Geschenk war, sondern das Gegenteil: erobertes Land. Nach der Oktoberrevolution tauschten die Bolschewiki den Namen der Zarin gegen die Farbe Rot: Krasnodar. Das sollte ihren Anspruch auf das Gebiet unterstreichen, das in Wahrheit im Bürgerkrieg aber eine Hochburg der Weißen war, also ihrer Gegner. Mit 5,8 Millionen Einwohnern ist das Gebiet Krasnodar heute die am dichtesten besiedelte Region der Russischen Föderation nach der Hauptstadt und zugleich eine der wohlhabendsten.

Die Staniza Kuschtschowskaja ist kein trister Ort mit grauen Plattenbausiedlungen. Sie hat überhaupt nichts von einem kriminellen Brennpunkt, aber viel von einer Idylle: Einfache Häuser aus roten Ziegeln säumen die Straßen. In den Vorgärten wachsen Feigen und Tomaten. Mitten durch den Ort fließt die Jeja; Männer werfen ihre Angeln aus, an den Wochenenden treffen sich Familien zum Picknick am Ufer. Aus der flachen Ebene ragt nur die Kirche des Heiligen Johannes des Evangelisten hervor, ihre goldenen Kuppeln glänzen im Sonnenlicht. Ein Priester ließ sie vor 30 Jahren an der Dzierżyński-Straße errichten. Die Straße heißt heute noch nach dem Gründer der bolschewistischen Geheimpolizei. In der Staniza gibt es außerdem den Lenin-Park, den Gorki-Park, den Park des Sieges und einen Springbrunnen mit Musikbegleitung. Auf den Straßen fahren Traktoren und Mähdrescher. Auf den Feldern ringsum wachsen Weizen, Mais und Zuckerrüben. Überall in Russland lieben die Menschen die Sonnenblumenkerne aus dem Kuban: schwarz und fett und vollgepumpt mit der Sonne des Südens. Knackig geröstet und behutsam gesalzen in der Staniza Kuschtschowskaja.

Was nach dem Ende der Sowjetunion im Kuban passiert, wirkt wie eine kleinere Version der landesweiten Entwicklung: Menschen, die im alten System Einfluss und Kontakte hatten, nutzen diese, um im neuen System Besitz anzuhäufen. Nur dass es hier nicht um Öl und Gas und die Schwerindustrie geht, sondern um Land und Ackerfläche. Kolchos-Direktoren, Beamte und Parteibonzen versorgen sich mit den attraktivsten Stücken und nehmen dann den weniger Privilegierten ihre Anteile zum kleinen Preis ab. Wollen die nicht freiwillig verzichten, hilft meist ein wenig Druck.

Nikolaj Zapok ist zwar weder Kolchos-Direktor noch Beamter und schon gar kein Parteibonze, aber von Druck machen versteht er etwas. Als Falschspieler hat er die kriminelle Unterwelt der Sowjetunion kennengelernt und die ungeschriebenen Regeln, nach denen diejenigen leben, die sich außerhalb des Gesetzes stellen. Als nach dem Bankrott des sozialistischen Systems die Verteilungskämpfe um Land und Besitz beginnen, ist Nikolaj Zapok in einer guten Startposition. Noch in den frühen Jahren der Perestroika hat er einen Betrieb gegründet, der Zierleisten aus Kunststoff herstellt. Aber es sind nicht die Zierleisten, die den Grundstein zur Macht des Zapok-Clans in der Staniza Kuschtschowskaja bilden werden. Viel wichtiger ist der Trainingsraum für Kraftsport, den Nikolaj Zapok auf dem Betriebsgelände einrichtet. Hier wachsen seine beiden Neffen auf, Nikolaj junior und Sergej. Ihre Freunde aus dem Kraftraum nennen Nikolaj den Älteren respektvoll «Onkel Kolja». Die Jungs an der Hantelbank und den erfahrenen Onkel Kolja verbindet das Verständnis, dass mit dem alten System auch die alten Regeln in Auflösung begriffen sind. Und in einer Welt ohne Regeln zählt nur noch Stärke.

Als die Sowjetunion 1991 zerfällt, hat sich im Kraftraum von Onkel Kolja bereits eine Gruppe von gut zwei Dutzend durchtrainierten Kämpfern gebildet. Das Wort «Sportler» bekommt in den 1990er-Jahren in Russland eine neue Bedeutung: Sportler sind nicht mehr nur die Athleten, die zum Ruhm ihres Landes bei Olympia Medaillen sammeln. Sportler werden auch jene jungen Männer genannt, die ihre Tage mit Gewichtheben und Kampfsport verbringen, in gefälschten Adidas-Anzügen abhängen und immer dann gerufen werden, wenn Geschäftsleute ihre Interessen gegenüber Konkurrenten durchsetzen wollen. Ein anderer Name beschreibt die Rolle der Sportler noch anschaulicher: «Torpedos». Sie kommen immer dann zum Einsatz, wenn Widerstand gebrochen werden muss. Im ungeregelten Kapitalismus der 1990er-Jahre ist Gewalt eine wertvolle Ressource.

Bald kennt jeder in der Staniza Kuschtschowskaja die Sportler aus dem Trainingscamp von Onkel Kolja mit ihren Kampfnamen: Da sind Nikolaj junior, genannt Kolja der Wahnsinnige und Wjatscheslaw Zepowjas, genannt der Bösewicht. Wladimir Alexejew, bekannt als der skrupellose Wowa. Weiter Suchoi, Maff, Odessa, Byk der Bulle. Alle zusammen bilden die «Brigade». Bei Bedarf erinnert die Brigade säumige Schuldner an überfällige Forderungen, treibt Schutzgelder ein oder zwingt Konkurrenten zur Aufgabe.

Nach und nach zieht sich der alte Nikolaj aus dem Geschäft zurück und übergibt die Führung an seinen Neffen, Nikolaj den Jüngeren. Der 18-Jährige befehligt jetzt an die 50 Mann. In der Staniza Kuschtschowskaja und in den umliegenden Siedlungen werden Bauern und Geschäftsleute erpresst. Am 16. September 1998 wird in einem Nachbarort ein 30 Jahre alter Mann tot in seiner Garage gefunden. Seine Mörder haben ihm mit einer Eisenstange den Schädel zertrümmert. Alexej Iwanow war einige Tage zuvor an einer Schlägerei beteiligt gewesen, bei der die Zapok-Brüder und ihre Leute den Kürzeren gezogen hatten. Der Mord an dem Widersacher ist der früheste, den das Gericht der Bande viele Jahre später nachweisen wird.

Nikolaj junior betreibt das Geschäft systematischer als sein Onkel. Er teilt die Kleinstadt in Zonen auf. Jedes Objekt hat einen Aufseher: der Park, die Bar, der Lebensmittelladen, die Berufsschule. So bekommen alle zu spüren, wer am Ort das Sagen hat. Als Heranwachsender hat man in der Staniza die Wahl, ob man zu den Geschlagenen gehören möchte, für die jeder Gang ins Zentrum zum Spießrutenlauf wird. Oder ob man lieber einer von denen ist, die aus dem Schutz der Gruppe heraus andere drangsalieren und abziehen. Bald wächst die Bande auf 150 Mitglieder. Nach innen gilt strenge Disziplin: Rauchen und Alkohol sind tabu. Was zählt, sind Sport, gesunder Lebensstil und Gehorsam. Jeder muss jederzeit erreichbar sein; wer den Ort verlässt, muss sich vorher abmelden. Regelmäßiges Training ist Pflicht. An christlichen Feiertagen haben alle in der Kirche zu erscheinen. Eine Mischung aus vulgärer Orthodoxie und Nationalismus prägt die Geisteshaltung.