Kinder der Ungleichheit - Carolin Butterwegge - E-Book

Kinder der Ungleichheit E-Book

Carolin Butterwegge

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Beschreibung

Wie nie zuvor ist die junge Generation sozial tief zerrissen: Hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Wohnen, Freizeit und Teilhabe verschärfen sich die Unterschiede. Während Kinder aus wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien materielle Sicherheit genießen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaftswelt erreichen können, bleiben diese Chancen den Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien versagt. Die Sozialwissenschaftlerin Carolin Butterwegge und der Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge leisten mit ihrem ersten gemeinsamen Buch einen Beitrag zur Beendigung dieser Entwicklung. Sie zeigen das Spektrum der Kinderungleichheit, ergründen die Ursachen und schlagen Gegenmaßnahmen vor. Denn wenn ein Großteil der »Generation Corona« abgehängt wird, geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab.

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Carolin ButterweggeChristoph Butterwegge

KINDER DER UNGLEICHHEIT

Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie nie zuvor ist die junge Generation sozial tief zerrissen: Hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Wohnen, Freizeit und Teilhabe verschärfen sich die Unterschiede. Während Kinder aus wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien materielle Sicherheit genießen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaftswelt erreichen können, bleiben diese Chancen den Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien versagt. Die Sozialwissenschaftlerin Carolin Butterwegge und der Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge leisten mit ihrem ersten gemeinsamen Buch einen Beitrag zur Beendigung dieser Entwicklung. Sie zeigen das Spektrum der Kinderungleichheit, ergründen die Ursachen und schlagen Gegenmaßnahmen vor. Denn wenn ein Großteil der »Generation Corona« abgehängt wird, geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab.

Vita

Dr. Carolin Butterwegge arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln. Sie hat ihre Doktorarbeit über die Armut von Kindern mit Migrationshintergrund geschrieben.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Er beschäftigt sich seit über einem Vierteljahrhundert mit der Kinderarmut und hat dazu sowohl Forschungsprojekte durchgeführt als auch mehrere Bücher veröffentlicht.

Für Sina (13) und Miko (5)

Inhalt

Einleitung

1Was heißt überhaupt »ungleich«, »arm« oder »reich«?

Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft

Von Wohnungslosigkeit, Straßenkindern und der Existenz absoluter Armut

Wer ist arm in einem reichen Land?

Relative Armut ist kein »Leiden auf hohem Niveau«

Reich ist, wer sein Vermögen nicht antasten muss

2Die reichsten Familien werden reicher, die Armen zahlreicher

Vermögen konzentriert sich bei wenigen Familien

Armut beschränkt sich nicht mehr auf Randgruppen

3Kinderungleichheit: eine Generation, zwei Klassen

Die einen werden als Verlierer/innen geboren …

… die anderen kommen mit einem silbernen Löffel zur Welt und erben einen goldenen

Erbschaftsteuerreform als Geschenk für Kinder reicher Unternehmer

Wer ist hier wirklich neidisch, warum und auf wen?

4Und raus bist du: Kinder von Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Ausländern

In kinderreichen und Ein-Elternteil-Familien reicht das Geld hinten und vorne nicht

Ausgegrenzt: Arbeitslose mitsamt ihren Kindern

Hohe Hürden: Flüchtlingskinder und Familien mit Migrationshintergrund

5Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg – zum Abitur, zum Studium und zur beruflichen Karriere

Leben im urbanen Luxusquartier oder im Hochhaus am Stadtrand

Der steinige Aufstieg armer Kinder

Reiche haben bessere Bildungschancen

Wer reich ist, lebt gesünder und länger

6Kinderungleichheit ist nicht vom Himmel gefallen

Neoliberalismus und Weltmarktdynamik

Arbeit wurde verbilligt: Hartz, aber fair?

Sinkende Löhne – steigende Mieten

Kinder und Jugendliche als Hauptleidtragende der Sozialreformen

Familienpolitik wird für die Mittelschicht gemacht

Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip

7Spaltungslinien in der »Generation Corona«

SARS-CoV-2 ist kein Ungleichheitsvirus

Auswirkungen auf das Verhältnis der Generationen

Lehrkräfte, Schüler/innen und Familien am Limit

Kindheit im Ausnahmezustand: Was die Pandemie hinterlässt

8Gleichheit nützt allen, Kindern wie Erwachsenen

Ungleiche Lebensbedingungen sind ein Skandal

»Die Armen« und »die Reichen« – Klischees statt Aufklärung

Mit der Kinderungleichheit setzt das Land seine Zukunft aufs Spiel

Solidarität gewinnt, nicht Ellenbogenmentalität

Gleichheit ermöglicht individuelles Glück und stärkt den sozialen Zusammenhalt

9Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!

Karitatives Engagement reicht nicht

Kindergrundsicherung – keine Patentlösung

Den Arbeitsmarkt reregulieren!

Unterversorgung armer Familien beenden!

Die soziale Infrastruktur stärken!

Schluss mit der Bildungsbenachteiligung!

Für bezahlbares Wohnen sorgen!

Reiche und Hyperreiche stärker besteuern!

Anhang

Literaturhinweise zum Weiterlesen

Anmerkungen

1. Was heißt überhaupt »ungleich«, »arm« oder »reich«?

2. Die reichsten Familien werden reicher, die Armen zahlreicher

3. Kinderungleichheit: eine Generation, zwei Klassen

4. Und raus bist du: Kinder von Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Ausländern

5. Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg – zum Abitur, zum Studium und zur beruflichen Karriere

6. Kinderungleichheit ist nicht vom Himmel gefallen

7. Spaltungslinien in der »Generation Corona«

8. Gleichheit nützt allen, Kindern wie Erwachsenen

9. Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!

Einleitung

Seit der Jahrtausendwende sehen wir mit wachsender Sorge, wie sich in unserer Gesellschaft ein Problem immer mehr verschärft: Die junge Generation spaltet sich in arme Kinder einerseits sowie wohlhabende und reiche Kinder andererseits. Während junge Menschen aus »gutbürgerlichen« Familien beste Startchancen und Aussichten auf eine Führungsposition in der zunehmend globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt haben, bleiben Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien diese Möglichkeiten versagt. Die Covid-19-Pandemie hat die ökonomische und soziale Zerklüftung der jungen Generation zuletzt enorm verstärkt. Zugleich sind vielen Menschen die extrem unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern aus sozial benachteiligten und Kindern aus wohlhabenden Familien stärker bewusst geworden. Schließlich zeigen sich diese Unterschiede in sämtlichen Lebensbereichen: der Gesundheit, den Wohnbedingungen, den Bildungschancen, kultureller Betätigung sowie beruflichen Aufstiegs- und politischen Beteiligungsmöglichkeiten.

Ungleichheit würden die meisten Westeuropäer/innen wohl eher in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verorten, hat sich jedoch auch bei uns verfestigt. Sie ist bereits in Kindertageseinrichtungen deutlich spürbar, sofern dort Sprösslinge unterschiedlicher Bevölkerungsschichten aufeinandertreffen. Sie bestimmt die Bildungsbiografien junger Menschen, macht sich im gesamten Erwerbsleben bemerkbar und prägt auch das Alter. Zudem beschränkt sich die soziale Ungleichheit nicht auf eine Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermögen, sie erstreckt sich vielmehr auf sämtliche Lebensbereiche der Familien.

Wir widmen dieses Buch unseren beiden Kindern. Ihrer Generation sind wir Rechenschaft schuldig über die Situation, die wir haben entstehen lassen. Trotz des Mitgefühls und der Betroffenheit, die Kinderarmut bei Erwachsenen hervorrufen mag, wird die soziale Ungleichheit von Minderjährigen immer noch viel zu wenig beachtet. Dass es sie überhaupt gibt, ist ein Skandal, aber auch ein Armutszeugnis für die politisch Verantwortlichen, den Sozialstaat und die ganze Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, das Problem greifbar zu machen und endlich Lösungen in Angriff zu nehmen.

Wir wenden uns zunächst dem Begriff »Ungleichheit« an sich zu, bevor wir auf die bestehenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse schauen. Wir zeigen, wie sich die sozioökonomische Lage in Deutschland zunehmend polarisiert, wobei es Gewinner und Verlierer/innen gibt, und stellen die Hauptleidtragenden der wachsenden Ungleichheit und ihre Familien vor. Da sich Ungleichheit beim Gesundheitszustand, bei der Wohnsituation und bei den Bildungschancen zeigt, wird die nachwachsende Generation davon entscheidend geprägt. Im Anschluss geht es um die gesellschaftlichen Ursachen der Ungleichheit. Dabei widmen wir den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ein eigenes Kapitel. Wir analysieren Einstellungen, Argumentationsmuster und Vorurteile, um zu verdeutlichen, dass sie uns bis heute daran hindern, Kinderungleichheit erfolgreich zu bekämpfen. Und schließlich zeigen wir, wie der Kampf gegen die Ungleichheit dennoch zu gewinnen und was dazu nötig ist.

Klar ist: Wir können und dürfen uns und unserer Gesellschaft das Potenzial der jungen Menschen nicht länger vorenthalten. Deshalb müssen wir jetzt handeln, um mehr Gleichheit zwischen den Kindern und Jugendlichen zu erreichen. Und wir müssen das Richtige tun, denn nur dann können wir verhindern, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation abgehängt wird.

Köln, im Sommer 2021

Carolin und Christoph Butterwegge

1Was heißt überhaupt »ungleich«, »arm« oder »reich«?

Einführung

Politik, Wissenschaft und Medien entwerfen, formen und beeinflussen unser Bild von der sozialen Ungleichheit. Dabei handelt es sich um einen Begriff, der auf einer gesellschaftlichen Zuschreibung beruht. Wahrnehmung und Bewertung dessen, was Ungleichheit ist, werden nicht bloß von den ökonomischen Rahmenbedingungen und den herrschenden Wertvorstellungen bestimmt. Sie hängen auch stark vom Erfahrungshorizont, von der gesellschaftlichen Stellung sowie dem weltanschaulichen, religiösen und politischen Standort des jeweiligen Betrachters ab. Ein junger Migrant, der seit geraumer Zeit in einer Großstadt als Getränkelieferant, Fahrradkurier oder Paketbote arbeitet, und eine Auszubildende im Gartenbaubereich, die einer grün-alternativen Bürgerinitiative angehört, denken über soziale Ungleichheit höchstwahrscheinlich anders als eine pensionierte Grundschullehrerin auf dem Land, die regelmäßig zur Kirche geht und seit ihrer Jugend eine konservative Partei wählt, oder als ein renommierter Chefarzt, der Schatzmeister im örtlichen Tennisclub ist. Dasselbe gilt für einen Industriearbeiter, der gewerkschaftlich organisiert, Betriebsrat und Funktionär einer linken Partei ist, sowie einen Immobilienmakler, der mit seiner Familie in einer »bevorzugten Wohngegend« lebt und mehrere Mietshäuser besitzt. »Armut« und »Reichtum« gelten manchen Kommentatoren sogar als Kampfbegriffe, die man tunlichst vermeiden sollte, sind aber zur Analyse der Gesellschaft unverzichtbar.

Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft

Jene sozioökonomische Ungleichheit, die von den benachteiligten Menschen oftmals als soziale Ungerechtigkeit empfunden wird und fast zwangsläufig politische Ungleichheit nach sich zieht,1 manifestiert sich im Gegensatz von Arm und Reich. Ausgangspunkt und Kristallisationskern der Ungleichheit ist die Tatsache, dass sich der Reichtum in den Händen weniger befindet. Diese Tatsache wird noch immer weitgehend tabuisiert. Zwar sind Armut und Reichtum zwei Seiten einer Medaille. Aber wenn die Massenmedien, die etablierten Parteien und die politisch Verantwortlichen hierzulande das Thema der (wachsenden) Ungleichheit überhaupt zur Kenntnis nehmen, konzentriert sich das Interesse vorwiegend auf die Armut. Hier den Reichtum auszublenden, ist realitätsverzerrend, wenn nicht gar ein bewusstes ideologisches Ablenkungsmanöver. Warum? Ganz einfach: Armut lässt sich als individuelles Problem abtun, dem auf karitativem Wege begegnet werden kann, materielle Ungleichheit hingegen nicht. Denn sie ist ein gesellschaftliches Problem, das in der Sozialstruktur (von Klassen und Schichten) wurzelt.

In anderer Hinsicht ähneln sich sozioökonomische Ungleichheit und Armut als deren bedrückendster Teil. Zwar hat die Ungleichheit zwischen den Ländern zuletzt abgenommen, innerhalb der Länder des globalen Nordens wie des globalen Südens ist sie aber gewachsen. Wie dargelegt, bilden Armut und Reichtum den harten Kern der sozioökonomischen Ungleichheit. Auf diesen Gegensatz darf sie jedoch nicht reduziert werden, will man sämtliche Dimensionen ihrer Wirksamkeit erfassen. Denn es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem sich die Ungleichheit nicht dauerhaft bemerkbar macht. Neben der finanziellen Lage von Haushalten, Familien und Einzelpersonen prägt die zunehmende Ungleichheit auch deren Gesundheit, Bildungs- und Ausbildungsniveau, Wohnsituation und Wohnumfeld sowie Freizeitverhalten und Mobilität.

Jede/r versteht unter der Ungleichheit etwas anderes. Schließlich sind die Menschen weder biologisch noch sozial gleich, unterscheiden sich vielmehr nach Alter, Geschlecht, Gewicht, Körperbau, Größe, Haut-, Haar- und Augenfarbe voneinander, aber auch bezüglich ihrer genetischen Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie im Hinblick darauf, wo sie wohnen (Stadt oder Land), in welchem Haushaltstyp und in welcher Familienform sie leben, welchen Beruf sie ausüben, ob sie Hobbys haben (und wenn ja, welche/s) sowie ob sie regelmäßig Sport treiben (und wenn ja, welchen). Es handelt sich hierbei um spezifische Ausprägungen der Ungleichheit, die entweder schicksalhaft vorbestimmt, naturbedingt oder selbstgewählt sind.

Der österreichische Historiker Walter Scheidel differenziert zwischen absoluter und relativer Ungleichheit. Letztere bezieht er auf den Anteil, den die jeweiligen Teile der Bevölkerung an den Gesamtressourcen haben, absolute Ungleichheit dagegen auf die unterschiedlichen Mengen an Ressourcen, welche die jeweiligen Bevölkerungsteile besitzen. Ein relatives Ungleichheitsmaß wie etwa der Gini-Koeffizient lenkt Scheidel zufolge von der Kluft ab, die zwischen den Einkommen wie zwischen den Vermögen unablässig wächst.2 Ein Koeffizient von 0 bedeutet Gleichverteilung (alle Personen besitzen gleich viel oder gleich wenig), 1 extreme Ungleichverteilung (einer Person gehört alles). Somit zeigt sich darin nur ein Mittelwert, nicht der jeweilige Anteil der Armen oder der Reichen in einem Land. Laut Scheidel sind zudem Haushaltserhebungen, aus denen diese Messgrößen abgeleitet werden, als gängige Methode wenig geeignet, um auch die höchsten Einkommen zu erfassen. Tatsächlich muss stärker auf die Entwicklung der Pole des Verteilungsspektrums geblickt werden, was sich deshalb als besonders schwierig erweist, weil gerade die Allerreichsten hinsichtlich ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse wenig auskunftsfreudig sind.

Bei der Ungleichheit, um die es hier geht, handelt es sich um eine anhaltende, wenn nicht gar dauerhafte Ungleichverteilung von materiellen Ressourcen (ökonomische Ungleichheit), gesellschaftlicher Anerkennung (soziale Ungleichheit) sowie von (Zugangs-)Rechten und Repräsentation (politische Ungleichheit) zwischen großen Personengruppen, Klassen und Schichten. Dabei beruht diese Ungleichverteilung nicht auf persönlichen (Leistungs-)Unterschieden zwischen den Angehörigen dieser Gruppen und Schichten, ist vielmehr den bestehenden Herrschaftsverhältnissen geschuldet. Was normalerweise »soziale Ungleichheit« genannt wird, müsste eigentlich sozialökonomische oder sozioökonomische Ungleichheit heißen. Denn gemeint ist eine Form der Ungleichheit, die im Bereich der Wirtschaft entsteht, auf einer Fehlallokation materieller Ressourcen (Einkommen, Vermögen) beruht und sich entscheidend auf die sozialen Beziehungen der von ihr Betroffenen auswirkt.

Von Wohnungslosigkeit, Straßenkindern und der Existenz absoluter Armut

»Armut« und »Reichtum« sind in allen gesellschaftlichen Verteilungskonflikten heftig umkämpfte Begriffe, die von gegensätzlichen Interessen geprägt sind und deshalb ganz unterschiedlich verstanden werden. Sie bezeichnen die Pole eines sozioökonomischen Spektrums, das sich von größter Not und schrecklichem Elend auf der einen Seite bis zu unvorstellbarem Luxus auf der anderen Seite erstreckt. Darüber, was Armut und Reichtum oder ökonomische und soziale Ungleichheit bedeuten, wird auch in Zukunft gestritten. Entscheidend hierfür sind nicht zuletzt der Wohlstand der Gesellschaft, in der man lebt, und die Verhältnisse, nach denen Reichtum und Armut verteilt sind.

Aus diesen Gründen existiert weder eine allgemein verbindliche Definition von Armut noch von Reichtum, denn in beiden Fällen handelt es sich um normative, von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängige Bestimmungen, nicht um rein deskriptive. Durch die Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits lässt sich das Problem zwar nicht lösen, aber leichter bewältigen.3

Von absoluter, existenzieller oder extremer Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die zum Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheres Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, eine medizinische Basisversorgung und/oder eine Wohnung entbehrt. Laut den Angaben der Weltbank, die eine Internationale Armutsgrenze (International Poverty Line, IPL) festgelegt hat, ist eine Person arm, die mit weniger als 1,90 US-Dollar (kaufkraftbereinigt, d. h. bezogen auf das Preisniveau der Vereinigten Staaten) pro Tag auskommen muss. Der genannte Schwellenwert basiert auf dem Durchschnitt der Armutsgrenzen von 15 der ärmsten Entwicklungsländer und ist selbst für viele afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten viel zu niedrig angesetzt: »Es wäre abwegig zu glauben, die Armut wäre überwunden, wenn alle Menschen über ein Pro-Kopf-Einkommen von mindestens 1,91 US-Dollar pro Tag verfügten. Diese Armutsgrenze kann allenfalls die Schwelle des Überlebens markieren, nicht aber die Schwelle zum ›angemessenen Lebensstandard‹, wie er als Recht in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte allen Menschen zugestanden wird.«4

In den Vereinigten Staaten würde man mit einem so geringen Geldbetrag nach kurzer Zeit verhungern. Außerdem beruht die Bestimmung der Kaufkraftparitäten auf internationalen Warenkörben, die sich nicht am spezifischen Verbrauchsverhalten von Armen orientieren. Manches deutet somit darauf hin, dass es sich beim deutlichen Rückgang der globalen Armut um ein statistisches Artefakt handelt. Ohne den bemerkenswerten Wirtschaftsaufschwung von Indien und der Volksrepublik China wäre vermutlich sogar ein Anstieg der extremen Armut im Weltmaßstab zu verzeichnen. Würde man die nationalen Armutsgrenzen der einzelnen Staaten verwenden, ergäbe sich ein ganz anderes, jedoch viel genaueres Bild der globalen Armut.

Der Frankfurter Ökonom Richard Hauser hat darauf hingewiesen, dass selbst das physische Existenzminimum sowie die Grenze zur absoluten Armut nur schwer festzulegen sind, weil sie beispielsweise davon abhängen, ob es sich um ein warmes oder um ein kaltes Land handelt, in dem jemand lebt.5 Wer in Sibirien keinen Pullover besitzt, ist höchstwahrscheinlich arm; wer südlich der Sahara wohnt und keinen Pullover besitzt, ist es deshalb noch lange nicht.

Fast alle Mangellagen, die nicht sofort zum Tod der davon betroffenen Menschen führen, sind relativ. Nach einer sozialwissenschaftlichen Relativitätstheorie der Armut ist diese nie ohne ihr jeweiliges Umfeld zu begreifen, sondern nur, wenn man das spezifische Verhältnis berücksichtigt, in dem die Betroffenen zu ihren Mitbürger(inne)n und deren Lebensstandard stehen. Hauser zufolge spielen neben natürlichen Gegebenheiten wie dem Klima auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Rolle. So entscheiden beispielsweise kulturelle und religiöse Tabus mit darüber, was gegessen oder getrunken werden darf.

Für manche Beobachter existiert Armut ausschließlich in Staaten wie Burkina Faso, Bangladesch oder Mosambik, aber nicht in der Bundesrepublik. Während niemand bezweifelt, dass es im globalen Süden (extreme) Armut gibt, wird seit Jahrzehnten mit Verve darüber gestritten, ob sie auch hierzulande grassiert. Für die politisch Verantwortlichen wirkt es natürlich beruhigend und entlastend, wenn das Phänomen ausschließlich in Entwicklungsländern verortet wird. Realitätssinn beweist man aber nicht durch die Ignoranz gegenüber einem sozialen Problem. Wohnungs- und Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige, »Straßenkinder«, bei denen es sich meist um obdachlose Jugendliche handelt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, EU-Ausländer/innen ohne Sozialleistungsansprüche und »Illegale«, die man besser als illegalisierte Migrant(inn)en bezeichnet, gehören hierzulande zu den Hauptbetroffenen von absoluter, extremer oder existenzieller Armut.

Wohnungslos sind Menschen, die weder über selbstgenutztes Wohneigentum noch über ein Mietverhältnis verfügen und deshalb in Notunterkünften leben oder bei Freunden und Bekannten nächtigen. Obdachlos sind Menschen, die auf der Straße leben. Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er-Jahre gab es 2014 in Deutschland ca. 335 000 Wohnungslose, vier Jahre später hatte sich ihre Zahl bereits verdoppelt. Für 2018 lag die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), welcher mangels offizieller und exakter Daten auch die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung vertrauen, bei 678 000 Wohnungslosen, darunter 441 000 anerkannten Flüchtlingen. Von den Wohnungslosen lebten 71 000 (30 %) mit Partner(inne)n und/oder Kindern zusammen. Die BAG W schätzte die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 19 000, was 8 Prozent der Wohnungslosen entsprach.

Man schätzt, dass fast ein Viertel der Berliner Wohnungslosen zu Familien mit Kindern gehören. Auf einen ähnlichen Wert kommt die Bundesregierung in dem von ihr am 12. Mai 2021 vorgelegten Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht: Bei knapp 21 Prozent der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten handle es sich um Familien.6 Erheblich mehr Familien leben in überbelegten und zu engen Wohnungen, weil sie entweder keine für sie passende Bleibe finden, diese nicht bezahlen können oder trotz vorhandener Geldmittel auf einem angespannten Mietwohnungsmarkt keine Chance haben.

41 000 Menschen, darunter in manchen Großstädten fast die Hälfte osteuropäische EU-Bürger/innen, lebten laut BAG-W-Schätzung im Jahr 2018 auf der Straße. Auch unter den Betroffenen mit deutschem Pass befinden sich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die »klassischen« Obdachlosen genannt wurden. Gestiegen ist zuletzt die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von Freiberufler(inne)n, Soloselbstständigen und gescheiterten Existenzgründer(inne)n, die auf der Straße landen.

Ein häufig ausgeblendetes, aber reales und bedrückendes Problem sind Minderjährige, die ohne Obdach bzw. festen Wohnsitz auf der Straße leben. Gelegentlich als »Straßenkinder« bezeichnet, führt der Begriff in die Irre, weil es sich meistenteils um Jugendliche und Heranwachsende (zwischen 14 und 25 Jahren) handelt, die es in der Familie oder einem Heim nicht mehr ausgehalten haben und vorübergehend an Bahnhöfen, auf öffentlichen Plätzen, in Parks oder leerstehenden Gebäuden unterschlüpfen. Man kann von einer hohen Suchtgefährdung dieser Personengruppe ausgehen, ein gesichertes Wissen um deren Größe und Zusammensetzung bzw. um die Herkunft, die Motive und die Lebenslagen der Betroffenen gibt es de facto aber nicht.

Auf der Basis einer 2015 durchgeführten Fachkräftebefragung rechnete eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) die Zahl bundesweit auf rund 37 000 Wohnungs- bzw. Obdachlose bis zum Alter von 27 Jahren hoch, worunter geschätzt rund 300 Unter-14-Jährige, rund 6 200 14- bis 17-Jährige sowie mehr als 30 000 Heranwachsende und junge Erwachsene waren.7 Auffällig ist, dass der Anteil des weiblichen Geschlechts bei den Jugendlichen sehr viel höher liegt, was sich erst in der Altersgruppe über 19 Jahren ins Gegenteil verkehrt; insgesamt aber, schätzt die DJI-Studie, herrsche ein Verhältnis von zwei Männern zu einer Frau.

Der Freiburger Medizinsoziologe Alex Füller und die Sozialarbeiterin Sarah Morr haben ein vermehrtes Auftreten von Straßenkindern und drogenabhängigen Jugendlichen unter den Obdach- bzw. Wohnungslosen beobachtet, was sie mit Orientierungsproblemen angesichts zerbrechender Familienstrukturen in Verbindung bringen.8

Eine weitere Gruppe von Minderjährigen und Heranwachsenden ist infolge der Zuwanderung von Geflüchteten ab 2015 mutmaßlich vor allem in großen Städten auf der Straße untergetaucht, wobei man hier auch Menschenhandel befürchtet: Von den unbegleiteten minderjährigen Ausländer(inne)n, die als Alleinreisende zunächst in Obhut genommen wurden, galten Anfang 2020 laut einem Bericht im Tagesspiegel (v. 7.7.2020) rund 1 700 als vermisst, waren demnach aus dem Jugendhilfesystem verschwunden.

Immer mehr gestrandete Arbeitsmigrant(inn)en und Geflüchtete teilen das Schicksal von Obdachlosen, ungeschützt der Witterung und wehrlos den Angriffen rechter Schläger und alkoholisierter Jugendlicher ausgesetzt zu sein. Unterstützungsmaßnahmen wie Notunterkünfte, Nachtasyle und Kältebusse haben nicht verhindert, dass seit 1990 über 300 Obdachlose der Kälte zum Opfer gefallen sind, ohne dass die hiesige (Medien-)Öffentlichkeit mehr als nur sporadisch Notiz von den Tragödien genommen hätte, die sich auf unseren Straßen abspielen.

Statt die extreme Armut in ihrer Kommune zu bekämpfen, bekämpfen manche Stadtverwaltungen lieber die extrem Armen. Vielerorts gehen Ordnungsbehörden mit aller Macht gegen »Penner« und Junkies vor, stören sie doch das lokale Wohlstandsidyll. Bei ihnen handelt es sich um die »marktfernsten« Gesellschaftsmitglieder, denen im Zeichen der neoliberalen Globalisierung nur sehr geringe Ressourcen zur Verfügung stehen. Für die auf der Straße lebenden Menschen – Mitglieder der Drogenszene, Alkoholkranke und Bettler/innen – gilt zudem ein besonders rigides Armutsregime: Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste, durch die sozial Benachteiligte aus den Innenstädten vertrieben werden, sind typisch dafür. Indem man Obdachlosen den öffentlichen Raum und die Würde nimmt, erklärt man sie zu Menschen zweiter Klasse.

Kinder armer Eltern landen viel häufiger als ihre Altersgenoss(inn)en aus besser situierten Familien im Heim, bisweilen sogar auf der Straße, wo sie leichter verwahrlosen können. Dort fehlen ihnen nämlich die materiellen Ressourcen und der soziale Rückhalt, über welche die meisten Kinder und Jugendlichen verfügen. Obwohl es hierzulande weder die Armengettos am Rande der Großstädte – wie in den USA – noch Straßenkinder als Massenphänomen nach afrikanischem oder südamerikanischem Muster gibt, machen sich die berufliche Perspektivlosigkeit und die soziale Exklusion vieler Menschen schon im frühen Kindesalter bemerkbar. Wer in eine Familie hineingeboren wird, die von staatlichen Transferleistungen lebt und finanziell kaum über die Runden kommt, wächst unter prekären Bedingungen auf und hat unabhängig von seiner eigenen Lebensleistung wenig Chancen, sich in der postmodernen »Wissens- und Leistungsgesellschaft« zu behaupten, von einer gesicherten Existenz und einem sozialen Aufstieg ganz zu schweigen.

Wer ist arm in einem reichen Land?

Während die absolute Armut eine existenzielle Mangelerscheinung ist, verweist die relative Armut auf den Wohlstand, der sie umgibt, und den Reichtum, der sie hervorbringt. Denn ursächlich dafür ist nicht etwa das Verhalten der Betroffenen, ausschlaggebend sind vielmehr die sozioökonomischen Verhältnisse, unter denen sie leben (müssen). In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott- oder naturgegeben, sondern letztlich systemisch, d. h. durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt. Damit trifft sie besonders solche Personengruppen, die aufgrund ihrer schwachen Stellung in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung strukturell benachteiligt sind.

Armut ist ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte umfasst. In diesem Sinne arm zu sein, bedeutet vor allem:

Mittellosigkeit und Ver-/Überschuldung als Folge mangelnder Erwerbsfähigkeit, fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichender Entlohnung;

einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs »normales« Leben zu führen;

eine strukturelle Benachteiligung in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Mobilität, Freizeit und Sport;

den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind;

eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine Verkürzung der Lebenserwartung;

einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein;

Macht- und Einflusslosigkeit in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen (Wirtschaft, Politik, staatliche Verwaltung, Justiz, Wissenschaft und Massenmedien).

Von relativer Armut ist betroffen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber nur das Allernötigste leisten und mangels finanzieller Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann. Den allgemein üblichen Lebensstandard in seinem Land unterschreitet ein relativ Armer über längere Zeit hinweg deutlich. Nach einem Beschluss des Europäischen Rates vom 19. Dezember 1984 über gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut auf Gemeinschaftsebene gelten diejenigen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen als verarmt, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der in ihrem Mitgliedstaat als Minimum akzeptablen Lebensweise ausgeschlossen sind. Damit verbunden sind materielle Defizite und fehlende Partizipationsmöglichkeiten.

Kaum weniger umstritten als der Begriff »relative (Einkommens-)Armut« selbst ist das Konzept ihrer Erfassung und Messung. Denn es ist ausgesprochen schwierig, eine Armutsgrenze zu bestimmen, die als Schwelle der bürgerlichen Respektabilität gelten kann. Nach einer Konvention des Europäischen Rates sind Unionsbürger/innen armutsgefährdet, sofern sie weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens ihres Mitgliedstaates zur Verfügung haben. Noch in den 1990er-Jahren galten 50 Prozent des arithmetischen Mittels sämtlicher Einkommen als Armutsgrenze, 40 Prozent als Obergrenze zur »strengen« und 60 Prozent als Obergrenze zur »milden« Armut. Verwendet man zur Berechnung der Armuts(risiko)schwelle den Zentralwert anstelle des arithmetischen Mittels, sinkt diese und damit tendenziell auch die Armuts(risiko)quote als Indikator für das Ausmaß der Einkommensarmut.9

Wird das arithmetische Mittel (Durchschnitt) berechnet, indem man die Summe aller Einzelwerte durch deren Anzahl dividiert, so bildet der mittlere aller nach ihrer Rangfolge aneinandergereihten Einzelwerte den Median (Zentralwert). Dieser hat den Vorteil, dass Verzerrungen des Gesamtbildes durch Extremwerte verhindert werden, bildet er doch gewissermaßen einen »Normalbürger«, eine »Normalbürgerin« oder eine »Normalfamilie« ab.

Zugrunde gelegt wird das jeweilige Haushaltsnettoeinkommen, welches bedarfsgewichtet auf die einzelnen Personen umgelegt wird. Zur Orientierung dient hierbei eine Äquivalenzskala der OECD. Wurden die Kinder in der »alten« OECD-Skala wenigstens mit dem Faktor 0,5 berücksichtigt – der Haupteinkommensbezieher erhielt den Gewichtungsfaktor 1 und weitere Personen ab 14 Jahren noch 0,7 –, so hat man Unter-14-Jährige in der »neuen« OECD-Skala auf den Faktor 0,3 zurückgestuft, während alle übrigen Haushaltsmitglieder im Alter von 14 und mehr Jahren mit 0,5 zu Buche schlagen. Dies führt tendenziell zu einer Unterschätzung der Kinder- und Familienarmut.

Zur empirischen Erfassung von Armut im Kindes- und Jugendalter wird entweder nach Ressourcen oder nach Lebenslagen gefragt.10Ressourcenansätze suchen herauszufinden, über welche Mittel ein Mensch verfügt, um seine Fortexistenz zu gewährleisten. Weil sich Studien dazu meistenteils auf die finanzielle Situation konzentrieren, ohne weitere Dimensionen der Existenzsicherung zu berücksichtigen, bemängeln Kritiker/innen eine ökonomistische Verkürzung der Untersuchungsperspektive. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, wirbt hingegen mit guten Argumenten dafür, am Geld bzw. am Einkommen als Schlüsselgröße zur Vermessung der Armut festzuhalten: »Wo städtische Schwimmbäder privaten Saunalandschaften weichen, wo vielerorts Bibliotheken ebenso geschlossen werden wie Theater oder andere öffentliche Kultureinrichtungen und wo Jugendzentren, Stadtranderholung oder Gesundheitsberatung dem kommunalen Rotstift zum Opfer fallen, da kommt es immer mehr auf den eigenen Geldbeutel an.«11

Sofern weder repräsentative Daten noch aussagekräftige Statistiken zur Ungleichheit der Kinder in bestimmten Lebensbereichen vorliegen, was leider häufig der Fall ist, weil sie gar nicht, nur als Angehörige oder bloß im Haushaltskontext berücksichtigt werden, ziehen wir im Folgenden entsprechende Informationen über Erwachsene heran. Kinder haben in der Regel weder eigenes Vermögen noch Einkommen, und das der erwachsenen Haushaltsmitglieder erreicht sie auch selten anteilmäßig. Insofern ist die Betrachtung der Lebenslagen besonders im Hinblick auf die Erfassung von Kinderarmut nützlich, auch weil die jüngsten Familienmitglieder weder die Einkommensverhältnisse ihrer Eltern genau kennen noch wissen können, welch zentrale Bedeutung deren finanzielle Situation für sie selbst hat. Schließlich kommt es darauf an, möglichst präzise Informationen über die Lebensbedingungen zu erhalten, unter denen Kinder aufwachsen. Während das einer Familie zur Verfügung stehende Geld einen genau zu beziffernden Aufschluss über ihre finanzielle Lage gibt, ist es bisher nicht einmal ansatzweise gelungen, Lebenslagendimensionen wie Gesundheit, Wohnen, Bildung und Kultur oder Freizeit und Sport zu operationalisieren und die Gesamtsituation der Kinder auf diese Weise zu erfassen.

Relative Armut ist kein »Leiden auf hohem Niveau«

Besonders für Minderjährige ist Armut mehr, als über wenig Geld zu verfügen. Sie bedeutet auch, persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, in fast allen Lebensbereichen benachteiligt und bei Bildung und Kultur, Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld oder Freizeit und Konsum unterversorgt zu sein. Armut entwürdigt die von ihr Betroffenen nicht bloß, sondern schließt diese auch von der aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weitgehend aus. Wer bereits in jungen Jahren sozial deklassiert und ausgegrenzt wird, vermag soziale, kulturelle und Bildungsprozesse womöglich nie mehr im Sinne seiner Persönlichkeitsentwicklung oder Emanzipation zu nutzen.

Trotzdem wurde die Armut jahrzehntelang entweder ignoriert oder nach dem Motto »Not und Elend gibt es nur in Entwicklungsländern« relativiert. Wenn sie in den Medien überhaupt zum Thema gemacht wurde, dann höchstens im Zusammenhang mit besonders spektakulären Ereignissen oder tragischen Einzelschicksalen: dem Kältetod eines Obdachlosen, dem Verhungern eines Kleinkindes oder der Gründung einer »Tafel«, wie die Suppenküchen heutzutage beschönigend genannt werden. Derweil interessierte sich die wohlhabende Mehrheitsgesellschaft offenbar mehr für Aktienkurse als für Babyklappen, Straßenkinder, Sozialkaufhäuser, Kleiderkammern und Wärmestuben, wie es sie in großen Teilen des Landes gibt.

Westdeutsche Sozialwissenschaftler/innen sprachen kurz vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 von einer »Infantilisierung der Armut« (Richard Hauser), weil Kinder und Jugendliche seinerzeit die Kleinstrentner/innen als von Armut am stärksten betroffene Altersgruppe verdrängten. Nach der Vereinigung von BRD und DDR breitete sich die Kinderarmut besonders in den ostdeutschen Bundesländern massiv aus. Im wiedervereinten Deutschland wurde unter »Kinderarmut« denn auch bald nicht mehr ein Mangel an, sondern die Armut von Kindern verstanden.

Trotzdem leugnete die seit fast zwei Jahrzehnten von CDU und CSU geführte Bundesregierung zu jener Zeit beharrlich, dass es dieses Phänomen im eigenen Land gab. Typisch dafür, wie die CDU/CSU/FDP-Koalition das von ihr selbst mit herbeigeführte Problem verharmloste, war die öffentliche Kontroverse um den im Jahr 1998 vorgelegten Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Erstellt hatte ihn eine Sachverständigenkommission unter der Leitung des Berliner Bildungsforschers Lothar Krappmann, die Kinderarmut als »gravierendes Problem« bezeichnete, obwohl sie wegen unterschiedlicher Definitionen und Messverfahren keine Möglichkeit sah, die genaue Zahl der Betroffenen zu ermitteln. Neben dem Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen unter Kindern und Jugendlichen sei zuletzt auch der Anteil jener Kinder gestiegen, deren Pro-Kopf-Einkommen nicht die Hälfte des Einkommensanteils erreichte, der für sie im Haushalt vorhanden sein müsste, damit sie oberhalb der so definierten Armutsgrenze leben konnten. Aus der Altersarmut, die man in den 1950er- und 1960er-Jahren kannte, sei eine Armut junger Menschen geworden.

Die damalige Familienministerin Claudia Nolte (CDU) fürchtete offenbar das negative Echo einer solchen Diagnose kurz vor der Bundestagswahl am 27. September 1998 und widersprach daher öffentlich den von ihr selbst berufenen Fachleuten. Kritik übte sie insbesondere an deren Armutsbegriff. Zwar gebe es vereinzelt Notlagen, aber auch die Sozialhilfe, deren Inanspruchnahme die Ausbreitung von Armut in Deutschland verhindere. Kurzerhand erklärte die Bundesregierung in einer Stellungnahme zum Bericht das Konzept der »relativen Armut« sowie die Orientierung der Kommission am Sozialhilfebezug und an der 50-Prozent-Marke des Durchschnittseinkommens für ungeeignet, um soziale Problemlagen von Familien und Kindern zu erfassen. Die »schwierige wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre« hieß es, belaste auch Kinder und Jugendliche, denn die hohe Arbeitslosigkeit habe negative Folgen für die betroffenen Familien. Gleichwohl kam die Bundesregierung zu dem überraschenden Schluss: »Die sozialen Sicherungssysteme – Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe etc. – verhindern existenzbedrohende Not und reale Armut. Sie können aber nicht verhindern, daß sich die materielle Lage der Menschen, die arbeitslos werden, verschlechtert.«12

Es ist kaum zu glauben, aber diese Position wurde von Spitzenpolitikern der Union auch 20 Jahre später noch vertreten. Dabei hielten große Teile der (Medien-)Öffentlichkeit zumindest Kinderarmut in Deutschland für existent und skandalös, nahmen sie also im Unterschied zu konservativen Politikern in Regierungsverantwortung zur Kenntnis und ernst. Selbst die Bild-Zeitung machte am 9. März 2018 mit der Überschrift »Die traurige Wahrheit über Armut in Deutschland: 1,7 Mio. Kinder leben von Hartz IV!« auf. Hingegen beruhigte der CDU-Politiker Jens Spahn, seinerzeit designierter Bundesgesundheitsminister, die materiell Bessergestellten am darauffolgenden Tag per Interview der Funke-Mediengruppe, die mit dem Sozialgesetzbuch (SGB) II am 1. Januar 2005 eingeführte und landläufig »Hartz IV« genannte Grundsicherung für Arbeitsuchende sei »aktive Armutsbekämpfung«, weil »mit großem Aufwand genau bemessen« und aufgrund ihrer regelmäßigen Anpassung jederzeit bedarfsdeckend. Hartz IV bedeute nicht Armut, sagte Spahn weiter, sei vielmehr »die Antwort unserer Solidargemeinschaft« hierauf: »Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Mehr wäre immer besser, aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.«

Mit dieser Bemerkung knüpfte Spahn an eine Äußerung des früheren FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle an, der zwei Tage nach einem am 9. Februar 2010 verkündeten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen in einem »Hartz IV und die Frage, wer das alles zahlt: Vergesst die Mitte nicht!« überschriebenen Gastkommentar für die Welt bemängelt hatte, dass nach dem Staat gerufen werde und der Steuerzahler die Rechnung begleichen müsse: »Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet.« Im Gegenzug erhielten hart arbeitende Bürger weniger für ihre Arbeit, als sie an Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende bekämen, behauptete der damalige Bundesaußenminister und Vizekanzler wahrheitswidrig. Ebenso wie dieser spielte Spahn eine sozial benachteiligte und auf Transferleistungen des Staates angewiesene Minderheit gegen die (Einkommen-)Steuern zahlende Mehrheit der »Leistungsträger« aus.

Auch durch seine Behauptung, dass niemand in Deutschland hungern müsste, wenn es die Lebensmitteltafeln nicht gäbe, disqualifizierte sich Spahn noch vor seinem Amtsantritt im Grunde selbst. Denn als Bundesgesundheitsminister sollte man sensibler für das Problem der Ernährungsarmut sein, die es auch oder gerade bei Grundsicherungsempfänger(inne)n mit einem Regelbetrag von rund 5 Euro für Lebensmittel pro Tag gibt.13 So stellte der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in einem Gutachten fest: »In Armutshaushalten gibt es eine Fülle an unterschiedlichen Umgangsweisen mit materiellen Einschränkungen – darunter auch Verzicht und Hunger.«14

Armen müsste der Bundesgesundheitsminister einen besseren Zugang zur Krankenversicherung verschaffen. Denn mittlerweile lassen sich auch bedürftige Deutsche, die krank sind, in von karitativen Organisationen betriebenen und eigentlich für Migrant(inn)en ohne Aufenthaltstitel und Versicherungsschutz gedachten Ambulanzen kostenlos behandeln. Wie wenig Rücksicht Spahn auf die Stimmungslage der Bevölkerungsmehrheit nimmt, zeigte sich erneut, als er sich zusammen mit seinem Ehepartner während der für viele Menschen existenzgefährdenden Coronakrise im Oktober 2020 eine über 4,1 Millionen Euro teure Villa in Berlin-Dahlem kaufte. Angesichts dieser Grundhaltung von Spahn verwundert es nicht, wenn sein Ministerium die im Frühjahr 2020 offenbar massenhaft aufgekauften, jedoch als minderwertig geltenden Atemschutzmasken ohne EU-Zertifizierung zu einem späteren Zeitpunkt in »Sonderaktionen« an sozial Benachteiligte wie Obdachlose, Hartz-IV-Abhängige und Menschen mit Behinderung verteilen lassen wollte, wie der Spiegel (v. 5.6.2021) unter dem Titel »Endstation Müllverbrennung« berichtete. Als das von Hubertus Heil (SPD) geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales dagegen Einspruch erhob, sollten viele Millionen Masken in die »Nationale Reserve Gesundheitsschutz« wandern, wo sie nach ihrer Verfallszeit vernichtet würden.

Der relative Armutsbegriff steht im Kreuzfeuer einer wirtschaftsliberalen und konservativen Kritik, weil er die sozioökonomische Ungleichheit fokussiert und mit der Armuts(risiko)quote ein Maß für die Größe jenes Bevölkerungsteils bereitstellt, der vom Lebensstandard der gesellschaftlichen Mitte weit entfernt ist. »In einer Gesellschaft wachsender Statusunterschiede und größer werdender sozialer Disparitäten ist eine Abkehr vom relativen Armutsbegriff jedoch keine Option. Nicht ganz umsonst handelt es sich dabei um eine internationale Konvention, die mangels Alternative bis heute die Debatte um Armut und Ausgrenzung bestimmt.«15

Georg Cremer hält die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut zwar für sinnvoll, bemängelt jedoch, dass beide oft verwechselt würden. Für zentral erklärt der frühere Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen Armut und dem Armutsrisiko, das bereits dort beginne, wo das Einkommen weniger als 60 Prozent des Medians beträgt. »Wird die relative Position in der Einkommensverteilung ohne Umschweife mit Armut gleichgesetzt, so führt dies auch bei wachsendem Wohlstand zu der absurden Schlussfolgerung, die Armut bliebe gleich hoch.«16 Setze man das Armutsrisiko mit (relativer) Armut gleich, blieben allen zugutekommende Einkommenszuwächse und damit generelle Verbesserungen des Lebensstandards der Bevölkerung unberücksichtigt.

Um seine Argumentation zu untermauern, nennt Cremer die Studierenden und die Auszubildenden als zwei Bevölkerungsgruppen, die nicht arm genannt werden könnten, weil sie als junge Menschen nur vorübergehend wenig Geld zur Verfügung hätten und auch in einer Wohngemeinschaft oder in der eigenen Wohnung, d. h. einem Haushalt außerhalb ihrer Herkunftsfamilie finanziell mit dieser verbunden blieben. »Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, sozial abgesicherte Studierende führten ein Leben unterhalb dessen, was in Deutschland als Minimum annehmbar ist. Viele von ihnen werden sich später an die Studienjahre als eine der schönsten Zeiten ihres Lebens erinnern.«17 Berücksichtigt man die hohen Lebenshaltungskosten und die exorbitant gestiegenen Mieten in den Universitätsstädten, kann von einem »lustigen Studentenleben« ohne materielle Sorgen allerdings schon längst keine Rede mehr sein.

Reich ist, wer sein Vermögen nicht antasten muss

Zwischen der Armut und dem Reichtum wird der Wohlstand verortet. Wohlhabend ist, wer der Mittelschicht angehört, in gutbürgerlichen Verhältnissen lebt und keinerlei materielle Sorgen hat. Natürlich ist Wohlstand nicht gleich Wohlstand – auch innerhalb der Mittelschicht ist die Spannbreite groß. Differenziert man zwischen prekärem Wohlstand in der unteren und saturiertem Wohlstand in der oberen Mittelschicht, so fällt es naturgemäß schwer, eine Grenze zu ziehen, die sich in Euro und Cent bemessen lässt. Wer jedoch wie die Bundesregierung im Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht ganze acht Soziallagen auflistet, um »Armut«, »Prekarität«, »Armut – Mitte«, »Untere Mitte«, »Mitte« und »Wohlhabenheit – Mitte« bis hin zu »Wohlstand« (mittleres Nettovermögen: 142 108 Euro) und schließlich als oberster »Wohlhabenheit« (mittleres Nettovermögen: 351 170 Euro) voneinander zu unterscheiden,18 trifft nicht bloß eine mehr als gekünstelt wirkende Nuancierung, sondern lässt auch den Reichtum an dieser Stelle ganz unter den Tisch fallen und verschleiert dessen wahres Ausmaß. Zudem sind die genannten Kategorien abstrakt, sprachlich nicht überzeugend und für die Soziallagen der Kinder wenig aussagekräftig.

Begründet wird die Wahl der Bezeichnung »Wohlhabenheit« übrigens damit, dass Reichtum zwar das Pendant zu »Armut« darstelle, die genannte Soziallage allerdings die Bereiche des wirklichen Reichtums, der durch sehr hohe Vermögen geprägt sei, kaum umfasse. Ähnlich mysteriös wird es, wenn dasselbe Regierungsdokument den Einkommensreichtum bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 3 894 Euro (Reichtumsschwelle des zweifachen Medianeinkommens auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels 2017) und den Vermögensreichtum bei einem Nettovermögen von 500 000 Euro (in Preisen von 2017) beginnen lässt. Man muss schließlich gar nicht zu den mehr als 150 Milliardären im Land gehören, um es kurios zu finden, dass ein Oberstudienrat wegen seines Gehalts für einkommensreich und der Besitzer einer kleinen Eigentumswohnung in gehobener Großstadtlage für vermögensreich erklärt wird.

Ebenso wenig wie für »Armut« existiert für »Reichtum« eine allgemeinverbindliche oder fachwissenschaftlich überzeugende Definition. Während es bei Armut zumindest eine absolute Untergrenze gibt, an der die physische Existenz der von ihr Betroffenen akut bedroht ist, kennt Reichtum weder eine starre Mindest- noch eine absolute Höchstgrenze, weshalb er immer relativ ist. Dies gilt sowohl im Hinblick auf den Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft und ihren »normalen« Lebensstandard als Maßstab für Reichtum wie auch bezüglich anderer vermögender Personen.

Reichtum ist eine Lebenslage, die ebenso wie Armut ökonomische (finanzielle, monetäre), soziale und kulturelle Aspekte umfasst. In diesem Sinne reich zu sein, bedeutet vor allem:

Verfügung über ausreichend Finanzmittel, Kreditwürdigkeit und gesellschaftliches Ansehen;

Versorgung mit allen Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein angenehmes Leben zu führen;

strukturelle Privilegierung in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Mobilität, Freizeit und Sport;

optimalen Zugang zu öffentlichen und privaten Bildungsinstitutionen, medizinischer Versorgung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für eine soziale Spitzenposition nötig sind;

keine materiellen Existenzrisiken, weniger Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine hohe Lebenserwartung;

einen Gewinn an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein;

Gestaltungsmacht und Einfluss in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen (Wirtschaft, Politik, staatliche Verwaltung, Justiz, Massenmedien und Wissenschaft).

Reich ist, wer ein großes (Netto-)Vermögen besitzt, es aber gar nicht antasten muss, um von den Erträgen (Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen und/oder Pachterlösen) bis zum Tod auf höchstem Wohlstandsniveau leben zu können. Reich ist auch, wer ein so großes (Netto-)Vermögen besitzt, dass es auf höchstem Wohlstandsniveau bis zum späten Ableben im hohen Alter reicht. Wer reich ist, hat finanziell also »für immer ausgesorgt«, genießt ein hohes Maß an persönlicher Handlungsfreiheit und verfügt über viel nicht durch Erwerbstätigkeit oder andere Formen der Existenzsicherung bestimmte Zeit. »Wer wirklich reich ist, ist vollständig von dem Zwang entbunden, sich und gegebenenfalls ökonomisch abhängige Familienmitglieder über seine eigene Arbeit und Anstrengung ›am Leben erhalten‹ zu müssen.«19 Reich zu sein, heißt in einer »marktwirtschaftlich« verfassten, kapitalistischen Gesellschaft wie der unsrigen, ökonomisch erfolgreich zu sein. Der US-amerikanische Traum, dass ein Tellerwäscher zum Millionär wird, erfüllt sich allerdings wahrscheinlich ebenso selten wie der Wunsch mancher Börsianer, vom Kleinaktionär zum reichen Finanzjongleur aufzusteigen.

Während die Armutsforschung das von Minderwertigkeitsgefühlen beherrschte Selbstbild vieler sozial Benachteiligter problematisiert, übernimmt die noch immer rudimentär entwickelte Reichtumsforschung in Deutschland teilweise kritiklos das Selbstbild von Hochvermögenden, besonders zielstrebig, leistungsfähig und großzügig zu sein.20 Diese entweder gewollte oder unbewusste Parteinahme für die Reichen findet sich auch in weiten Teilen der (Medien-)Öffentlichkeit. Wirtschaftsmagnaten mit einem Privatvermögen von mehreren Milliarden Euro, die man in Griechenland, Russland oder der Ukraine als Oligarchen bezeichnet, werden bei uns liebevoll »Familienunternehmer« genannt und ihr Lobbyverband, die Stiftung Familienunternehmen, vom Staat für gemeinnützig erklärt und steuerlich begünstigt – im Unterschied zu Organisationen wie dem Trägerverein des globalisierungskritischen Netzwerks attac Deutschland.

Heute sind die meisten Reichen jedoch weniger eng als im Industriezeitalter des 19. und 20. Jahrhunderts mit den Gütermärkten verbunden, weil sie ihr Vermögen stattdessen eher auf dem Börsenparkett bzw. den Finanzmärkten erworben haben, wo mit Devisen, festverzinslichen Wertpapieren und Aktien gehandelt wird. Von besonderer Brisanz sind dabei Zertifikate (Futures, Optionen und Swaps), deren große Hebelwirkung eine Potenzierung des Reichtums ermöglicht, aber besonders im Hochfrequenzhandel enorme Stabilitätsrisiken für das Finanzsystem in sich birgt.

Weder der Börsencrash nach dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 noch die ihm folgende und wenigstens bis zur Covid-19-Pandemie 2020/21 schwerste Weltwirtschaftskrise seit Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre haben allerdings bewirkt, dass der Finanzsektor streng reguliert und Krisentendenzen vorgebeugt wurde. »Obwohl nur eine Minderheit der Superreichen sich in erster Linie als Finanzinvestoren begreift, sind doch die meisten, die in anderen Wirtschaftszweigen tätig sind, zugleich stark in spekulative Finanzgeschäfte involviert – und natürlich beteiligen sie sich auch an Stahl-, Energie- und Telekommunikationsunternehmen um der Finanzgewinne willen.«21 Unter den Reichen sind heute auch wieder mehr Gehaltsempfänger, die aber gar nicht produktiv tätig sind und deshalb ihre Spitzeneinkommen im wahrsten Sinne verdient hätten, sondern beispielsweise als Hedgefondsmanager, Investmentbanker und Finanzdienstleister sehr gut davon leben, dass sie extrem hohe Sonderzahlungen, Boni und Provisionen beziehen.

Zumindest sehr (kapital)reiche Bürger – dabei handelt es sich vorwiegend um Männer – sind auch politisch einflussreich. Über diverse Kanäle können sie ihre (Besitz-)Interessen zur Geltung bringen, was sich in Gesetzesvorhaben ebenso niederschlägt wie in den Entscheidungen von Regierungen und Verwaltungen. Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer haben im Auftrag des Arbeits- und Sozialministeriums für den Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung untersucht, ob sich die Vorstellungen der Reichen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren stärker durchsetzen als die von Armen. Sie konnten zeigen, dass Bundestagsbeschlüsse zur Wirtschafts- und Sozialpolitik systematisch die Ansichten und Anliegen der obersten Einkommensschicht widerspiegeln, wohingegen die Meinungen der unteren und mittleren Einkommensschicht kaum be- oder sogar missachtet werden. Wegen dieser mangelnden Responsivität zulasten der Armen äußerten Elsässer, Hense und Schäfer die Befürchtung, dass soziale und politische Ungleichheit hierzulande im Gleichschritt wachsen könnten: »Wenn sich die Politik in ihren Entscheidungen an den Einkommensstarken orientiert, diese aber eine Politik befürworten, die weniger umverteilend wirkt, könnte ein Teufelskreis entstehen, in welchem ungleicher politischer Einfluss und ökonomische Ungleichheit sich gegenseitig verstärken.«22

Dies ist einer der Gründe, weshalb man die Multimillionäre und Milliardäre nicht leichtfertig als »Superreiche« bezeichnen sollte. Wegen der hiermit verbundenen positiven Konnotation erscheint die Bezeichnung »Ultra-« oder »Hyperreiche« angemessener. Schließlich werden Kinder, die nachts oft noch agiler sind als tagsüber, auch nicht »super-«, sondern »hyperaktiv« genannt. Wie das Auftreten der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit einer ausgeprägten motorischen Unruhe und Rastlosigkeit die betroffenen Kinder nicht minder belastet als ihre Eltern, so ist ein riesiges Vermögen weder für die Gesellschaft noch zwangsläufig für den Besitzer selbst gut. Das zeigen die heftigen Erbstreitigkeiten und Familienfehden innerhalb mancher Unternehmerdynastien, etwa bei den Albrechts (Aldi), Deichmanns (Schuhmarktkette), Haubs (Tengelmann) oder Tönnies (Fleischindustrie).

Der österreichische Psychoanalytiker und Ökonom Martin Schürz spricht aus demselben Grund von »Überreichtum«, ohne jedoch eine Grenze anzugeben, die ihn vom akzeptablen Reichtum trennt. Nicht das Verhalten der Vermögenden entscheidet seines Erachtens darüber, ob sie der Gesellschaft nützen oder schaden: »Auch jene Überreichen, die mit ihrem Vermögen weder protzen noch den Staat zu ihren Gunsten zu unterminieren suchen, sondern großzügig den Armen helfen, sind für die Gesellschaft problematisch. Denn sie können ihr Verhalten ändern und ihre Macht missbrauchen. Der Möglichkeitshorizont markiert die Gefahren des Überreichtums.«23

Selbst der freiwillige Verzicht auf die angenehmen Seiten des Lebens fällt Menschen mit einer Schwarzen Kreditkarte (American Express Centurion Card oder Mastercard World Elite) leichter als Menschen ohne exklusives Statussymbol. Oder anders formuliert: Selbst Askese muss man sich leisten können. Reiche können im Zeitalter der Erderhitzung, die verharmlosend »Klimawandel« genannt wird, statt wie bisher zum Segeltörn auf die Seychellen zu jetten, im Erster-Klasse-Abteil eines Zuges nach Westerland auf Sylt fahren. Arme haben dagegen keine riesige Auswahl an Reisezielen, wenn sie überhaupt jemals verreisen können. Millionen Bundesbürger/innen sind so arm, dass sie sich keine Urlaubsreise leisten können. Etwa jeder Siebte (14,5 %) konnte im Jahr 2018 nicht einmal für eine Woche wegfahren, wie das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) ermittelte. Alleinerziehende waren mit 31,1 Prozent übrigens noch sehr viel stärker davon betroffen, was für ihre Kinder mit größeren Enttäuschungen und Entbehrungen verbunden gewesen sein dürfte.

Für den Dortmunder Wirtschafts- und Sozialphilosophen Christian Neuhäuser stellt Reichtum ein moralisches Problem dar, weil er seiner Ansicht nach ein Zusammenleben in Würde gefährdet: »Eine gerechte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die allen Menschen ein Leben in Würde und Selbstachtung ermöglicht. In solch einer gerechten Gesellschaft gibt es nicht nur nach unten, sondern auch nach oben hin eine klare Grenze für erlaubte sozioökonomische Ungleichheit.«24 Neuhäuser schildert die zahlreichen Vorzüge einer möglichen, aber bisher nicht realisierten Gleichverteilung des Überflusses und verdeutlicht darin die fatalen Konsequenzen der Reichtumskonzentration in unserer Gesellschaft: »Alle Menschen könnten gut wohnen, sich gut kleiden und gut essen, wenn das Geld nur anders verteilt wäre.«25

2Die reichsten Familien werden reicher, die Armen zahlreicher

Einführung

Durch ehrliche Arbeit sei noch keiner reich geworden, behauptet der Volksmund. Tatsächlich wird im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht etwa reich, wer hart arbeitet, sondern wer möglichst viele Menschen, die man verschämt als »Mitarbeiter/innen« oder »Arbeitnehmer/innen« (statt richtigerweise als »Arbeitskraftgeber/innen«) bezeichnet, für sich schuften lässt oder Vermögen erbt, das vielleicht die Vorfahren auf diese Art erworben haben. Zwar heißt es, Kapitalanleger ließen »ihr Geld arbeiten«, aber niemand hat je Münzen oder Scheine »malochen« sehen. Vielmehr verdankt die Gesellschaft ihren materiellen Wohlstand der innovativen, kreativen und produktiven Tätigkeit von Menschen. Umso mehr erstaunen Ausmaß und Dauerhaftigkeit der sozialen Ungleichheit, die nur vor dem Hintergrund einer Klassengesellschaft verständlich sind. »Klassengesellschaft« ist ein Begriff, der hierzulande bis heute als Signalwort der marxistischen Linken verpönt ist und als semantisches Relikt des Industriezeitalters im 19. und 20. Jahrhundert gilt. Man muss allerdings kein Marxist sein, um erkennen zu können, dass Deutschland eine Gesellschaft mit strukturell bedingter, seit geraumer Zeit spürbar wachsender sozioökonomischer Ungleichheit ist, deren Hauptgrund im grundlegenden, trotz allgemeiner Wohlstandsmehrung fortwirkenden Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit besteht.1

Vermögen konzentriert sich bei wenigen Familien

Die statistischen Informationen zur sozioökonomischen Ungleichheit sind überschaubar, häufig selektiv und eher wenig aussagekräftig. Wenn überhaupt seriöse Daten vorliegen, heben sie meistenteils auf hohe Einkommen, angesehene Berufe und eine akademische Bildung ab. Diese meritokratische Triade erfasst den Reichtum jedoch nur unvollständig, weil das Vermögen nicht berücksichtigt wird, vielmehr höchstens indirekt – über seine Erträge – zu Buche schlägt. Entscheidend ist aber die vor allem beim Vermögen bestehende Verteilungsschieflage. Berücksichtigt werden muss dabei nicht bloß die Quantität des Vermögens, sondern auch seine Qualität. Letztlich entscheidet nämlich die Struktur des Vermögens darüber, welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume es seinem Eigentümer bietet. Denn selbst viel Bargeld, das auf dem Dachboden gehortet wird, weil sein Besitzer den Banken misstraut, verleiht diesem keine unmittelbare Macht über andere Menschen, wohingegen der Besitz von Unternehmen oder Unternehmensanteilen (Aktien) dem Kapitaleigentümer ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Ähnliches gilt für das Privateigentum an vermieteten Immobilien sowie an Grund und Boden. Nur wenn zwischen diesen Vermögensarten unterschieden, vor allem jedoch zwischen Betriebs-, Grund-, Immobilien- und Geldvermögen differenziert wird, kann man die reale Vermögensverteilung innerhalb einer Gesellschaft fundiert beurteilen.

Über die genaue Verteilung des Produktivvermögens ist hierzulande so gut wie nichts bekannt, obwohl diese Vermögensart die Sozialstruktur der Gesellschaft entscheidend prägt. Die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse würden sich nur erschließen, wenn auch mehr über die klandestinen Vermögensbestände bekannt wäre. Damit sich die Datenbasis in dieser Hinsicht verbessert, müssten das Bank- und das Steuergeheimnis aufgehoben werden sowie alle Informationen zu Privatstiftungen im In- und Ausland, aber auch zu in »Steueroasen« wie Barbados, den Bahamas oder den Bermudas gebunkerten Vermögen vorhanden sein.2