Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen - Volker Langhirt - E-Book

Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen E-Book

Volker Langhirt

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Beschreibung

Gesellschaftliche Umwälzungsprozesse, veränderte Familienformen, Selbstoptimierung, globale Krisen - der soziale Bezug für die psychoanalytische Praxis verändert sich. Dies beeinflusst den professionellen Alltag von Psychotherapeuten. Der Autor beschreibt die Konflikte Jugendlicher - wie bspw. Identität, Familien, das heutige Ideal von Körperlichkeit - und stellt eine Auswahl sich verändernder Störungsbilder dar. Behandelt werden unter anderem geschlechtsspezifische Störungsbilder, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Auswirkungen gesellschaftlicher Krisen. Das Buch konzentriert sich auf das Spannungsverhältnis sich stetig verändernder gesellschaftlicher Impulse und deren Folgen im Praxisalltag mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien.

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Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Arne Burchartz, Hans Hopf und Christiane Lutz

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 https://shop.kohlhammer.de/psychodynamische-psychotherapie

Der Autor

Dr. Volker Langhirt ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut und psychoanalytischer Familientherapeut. Ein Arbeitsschwerpunkt seiner Tätigkeit ist die psychotherapeutische Behandlung von transidenten Entwicklungen Jugendlicher.

Volker Langhirt

Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen

Herausforderungen für die psychodynamische Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033760-2

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-033761-9

epub:        ISBN 978-3-17-033762-6

Danksagung

 

 

Ich danke insbesondere Herrn Dr. Hopf für die unermüdliche, freundschaftliche und kollegiale Unterstützung dieses Bandes. Er ist für mich seit Jahrzehnten ständiger Ansprechpartner meiner fachlichen Belange und Fragen, die ihn in dieser Zeit nicht selten erreichten. An dieser Stelle möchte ich auch Frau Kastl vom Kohlhammer Verlag danken, die stets Verständnis für meine persönliche Situation beim Schreiben des Buches zeigte und mir insbesondere auch fachliche Vorschläge unterbreitete, die ich gerne aufgegriffen habe.

Ich danke meiner Frau und meinen Kindern abermals, wie in unserer gemeinsamen Zeit des Öfteren, für Ihr Verständnis während der Zeit des Schreibens, in der sie sicherlich auch manchmal »zurücksteckten«. Meine fünf Kinder verhalfen mir in dieser Zeit zu vielen Ideen und Inspirationen aus ihrem vitalen und fantasievollen Leben.

Inhalt

 

 

Danksagung

Einleitung

1   Kinderanalyse im Wandel der Zeit

1.1   Gesellschaft und Krankheit

1.2   Veränderte Lebenswelten für Kinder und Jugendliche

1.3   Familie

1.4   Werte und Kontextwandel – das Verhältnis der Generationen

1.5   Entgrenzung

1.6   Neue Medien

1.7   Konsequenzen für die Kinderanalyse

2   Konflikte

2.1   Jugendliche – Die schwierige Zeit der Adoleszenz

2.2   Identitätskonflikte

2.2.1   Identität – Die eigene Lebens- (und Familien-)geschichte

2.3   Konfliktfeld Familie

2.3.1   »Problemfeld« Vater

2.3.2   »Problemfeld« Mutter

2.3.3   Triangulierungsstörungen

2.3.4   Problemfeld »Neue Familienformen«

2.4   Körper – Austragungsort von Konflikten

2.4.1   Körper als Schauplatz jugendlicher Konflikte

2.5   Konfliktfeld Schule

2.5.1   Schulangst und Schulphobie

3   Störungsbilder

3.1   Neue Störungsbilder

3.2   Geschlechtsspezifische Störungsbilder

3.3   Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

3.4   Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

3.5   Konflikte der sexuellen Entwicklung

3.5.1   Jugendliche Sexualität auf Abwegen

3.6   »Neue« Ängste

3.7   Depression

3.7.1   Suizidalität

4   Ausblick

5   Schlussfolgerungen

Literatur

Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

Zentrales Anliegen dieses Bandes stellt die vieldiskutierte Thematik »neuer Störungsbilder« bei Kindern und Jugendlichen dar. Eltern wie auch Kolleginnen und Kollegen1 sind des Öfteren der Meinung, dass sich die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren wesentlich verändert habe und damit neue Facetten psychischer Auffälligkeiten im Alltag und in der Praxis erscheinen. Auch ich selbst bin mit der von mir persönlich in den letzten Jahren empfundenen Veränderung des Lebensalltags und der damit zusammenhängenden Symptomatik meiner Patienten befasst. Diese Gedanken führten zu der Konzeption des nun vorliegenden Buches. Insbesondere das Spannungsverhältnis sich stetig verändernder gesellschaftlicher Impulse und der sich in der Folge ergebenden »Produktion neuer Störungsbilder« bei Kindern und Jugendlichen möchte ich näher betrachten.

Zunehmend ist in den letzten Jahren gesellschaftlich die Tendenz zur Selbstoptimierung zu beobachten. Funke (2016) hat seinem Buch den Titel »Idealität als Krankheit?« gegeben. Grenzenloser Konsum, Grandiosität und Allmacht, Effektivität, Souveränität, Selbstoptimierung u. a., all das wandelt sich zu Metaphern unserer Gesellschaft, während die eigene Begrenztheit und Endlichkeit verleugnet wird. Der Impuls, sich diesen Idealen zu unterwerfen, steht in engem Zusammenhang mit der Zunahme psychischer Erkrankungen. Auch die Psychotherapie ist davon betroffen, da sie eine Anpassung an gesellschaftliche Idealbilder erreichen soll. Der Psychotherapeut muss sich diesen Strömungen stellen und in seine Arbeit mit einbeziehen. Funke sieht beispielsweise als wichtigsten Indikator in der menschlichen Entwicklung die Verinnerlichung stabiler Beziehungen in der Kindheit (ebd., S. 28), um sich im weiteren Leben nicht an Abwehrmechanismen klammern zu müssen. Krankheit steht in einem Verhältnis zu Gesundheit, Auffälligkeit zu Normalität.

Was bedeutet im gesellschaftlichen Kontext »normal«?

Seit jeher unterliegt der Begriff der Normalität den Interpretationen im jeweiligen kulturellen Kontext. Sowohl die theoretischen Konzepte der Kinderpsychotherapie wie auch der praktische Alltag des Psychotherapeuten sind davon stark beeinflusst. Die »Abstinenz« vergangener Epochen sollte unter diesen Bedingungen neuen Konzeptionen und Überlegungen unterzogen werden. Die Kinderanalyse beschäftigt sich mit der inneren Welt des Kindes/Jugendlichen und der Etablierung psychischer Strukturen im Entwicklungsprozess. Vor diesem Hintergrund bietet sie als Wissenschaft die geeigneten Voraussetzungen für einen entsprechenden Diskurs. Eines möchte ich an dieser Stelle festhalten, der Leser wird im Folgenden merken, dass dies ein zentrales persönliches Anliegen meiner Seite darstellt: Der gesellschaftliche Rahmen und seine Veränderungsprozesse, das heißt auch die zur Erkrankung verursachenden gesellschaftlichen Phänomene, bleiben leider oft unberücksichtigt.

Welchen Grund gibt es hierfür?

Die Antipsychiatrie, die italienische Bewegung, Richter, Hopf und andere präsentierten einen Ansatz, der die soziale Umgebung des Patienten in die Behandlung miteinbezog. In einer Welt, in der scheinbar alles machbar ist und das Individuum mit seinen unzähligen Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens im Vordergrund steht, kommt diese Sichtweise kaum noch in Betracht. Auch die Psychotherapie und ihre Forschungsstudien fokussieren zunehmend Technik und Spezialisierung in der Behandlung des Individuums und tendenziell weniger soziale Umweltfaktoren. Tschuschke (2019) mahnt vor dem Hintergrund der Wandlungen und Besorgnis erregenden gesellschaftlichen Impulse die Notwendigkeit eines öffentlichen Appells und Mitwirkens der kindertherapeutischen Fachwelt an. Mit ihrer über 100-jährigen Erfahrung wäre sie besonders für den Diskurs künftiger Entwicklungsbedingungen, protektiver Faktoren und anderem geeignet.

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und seiner Begrenztheit sind in Zeiten schneller Reparationsleistungen und dem Drang nach Selbstoptimierung hinderlich und bergen in sich die Gefahr des Protests und der kritischen Haltung. Die Kinderanalyse ist ähnlichen Prozessen unterworfen und in der Gefahr, im öffentlichen Diskurs nur noch eine Randposition einzunehmen. Jedoch bietet insbesondere die psychoanalytische Sicht eine Möglichkeit, gesellschaftliche Missstände und krankmachende Faktoren, die die künftige Generation belasten, in den Fokus zu rücken. Dieses bedeutet jedoch Zeit und einen verlässlichen Rahmen, der aktuell starker Kritik ausgesetzt ist.

1     Im Folgenden verwende ich in aller Regel, der besseren Lesbarkeit des Buches wegen, das generische Maskulinum. Stets werden dabei beide Geschlechter bzw. alle Geschlechtsformen gleichermaßen angesprochen.

1          Kinderanalyse im Wandel der Zeit

 

 

Das Individuum steht in einer nicht auflösbaren Beziehung zu seinem sozialen Umfeld. Dessen stetiger Wandel setzt gewaltige Anpassungsfähigkeiten beim Einzelnen voraus, die gelingen können oder scheitern. Auch die psychoanalytische Haltung des Praktikers ist von dieser sich stetig verändernden Umwelt beeinflusst. Insbesondere Kinder und Jugendliche, Seismographen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, präsentieren in ihren Therapien Konfliktbereiche, die im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umfeld stehen. Man denke nur an die Veränderung familiärer Systeme, Keimzellen der Gesellschaft. Eine Aufgabe des Kinderanalytikers ist es, sie zu verstehen und die gesellschaftlichen Ursachen hierfür zu erkennen. Die Kinderanalyse sollte auf Stolpersteine der gesellschaftlichen Anforderung hinweisen und sich innerhalb des öffentlichen Diskurses positionieren. Aktuell bestehen gesellschaftlich massive Konflikte der Integration ausländischer Mitbürger, die Praxen werden damit konfrontiert. Zahlreiche fundierte Veröffentlichungen gelangen nicht in die öffentliche Debatte. Die Veröffentlichung von Hopf »Flüchtlingskinder« (2019) stellt in ihrer Ausgewogenheit und Authentizität eine Seltenheit dar. Die Reflexion psychotherapeutischen Arbeitens im gesellschaftlichen Kontext, das heißt der Diskurs zwischen traditioneller Theorie und aktuellen Erkenntnissen bzw. Erfahrungen, sowie die Offenheit bzw. Toleranz für aktuelle Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind für den Kinderanalytiker bedeutsam. Bereits vor über 30 Jahren verwies Hohl (1989) darauf, dass die klassischen Neurosen zunehmend von der Bildfläche verschwinden und neue Störungen, diffus und heterogen in ihren einzelnen Phänomenen, erscheinen (ebd., S. 103f). Tiefgreifende veränderte Persönlichkeitsstrukturen etablieren diese neuen Störungsbilder, z. B. Identitätsstörungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennt Hohl einen Wechsel der zentralen Problematik des Menschen von der Sexualität hin zur Identität, dem Selbst. Da die Frage der Identität für ihn in den neuen Störungsbildern offensichtlich ist, verweist er auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die es dem Individuum sichtlich erschweren, vor dem Hintergrund einer gefestigten Identität den gesellschaftlichen Anforderungen nachzukommen (ebd., S. 117). Nicht der gesellschaftliche Kontext sei ursächlich verantwortlich für die Entstehung entsprechender Pathologien, sondern sein Zusammentreffen mit der kindlichen oder jugendlichen Psyche, die eine entsprechende Disposition zur Verfügung stellten. Hohl sieht einen wesentlichen Aspekt dieser neuen Störungskategorie in einer sich verändernden Eltern-Kind-Beziehung.

Ich sehe einen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Umwälzungen und der Symptomatik von Kindern und Jugendlichen. Ich möchte diesen Band unter einem dynamischen Blickwinkel zwischen den Generationen beschreiben, das heißt, welche Schwierigkeiten sich für die ältere und jüngere Generation aus dem aktuellen gesellschaftlichen Kontext ergeben.

1.1       Gesellschaft und Krankheit

Finzen (2018) beschreibt die unübersichtliche Fülle von Definitionen und Kategorien des Begriffes Krankheit, vor allem im psychiatrischen Bereich. Der Krankheitsbegriff steht unmittelbar in einem Wechselspiel zur jeweiligen gesellschaftlichen Realität. Krankheit impliziert die jeweilige aktuelle Definition von Gesundheit, Gesundheit wiederum die Zuschreibung von Normalität. Diese Kategorien unterscheiden bzw. verändern sich entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihres Kontextes. Auffälliges Verhalten wird zunächst durch ein Verständnis von Normalität beschrieben (ebd., S. 34).

Christa, 19 Jahre, befindet sich seit einiger Zeit in psychotherapeutischer Behandlung. Ihr vorheriger Klinikaufenthalt attestierte ihr als Diagnose eine schwere Depression. Eine niedergelassene Psychiaterin, die die Patientin während ihrer psychotherapeutischen Behandlung aufsuchte, äußerte, bei Christa keine Depression diagnostizieren zu können. Christa hatte große Schwierigkeiten, ihren Lebensalltag zu meistern und ihren Entwicklungsaufgaben nachzukommen. Sie erlebte sich völlig antriebslos, hatte massive Probleme, eine Arbeitsmaßnahme des Arbeitsamtes zu absolvieren und wirkte in der Regel sehr gereizt. Ein Internist kam auf die Idee, dass die Antriebslosigkeit somatischer Herkunft sei. Diese blieb in der Folge jedoch ohne nennenswerte Ergebnisse. Christa konsultierte weiterhin verschiedene Ärzte, da sie kaum mit ihrer psychischen Problematik zurechtkam. Ihre Umwelt grenzte sie zusehends aus. Ihre Mutter meinte, sie solle sich zusammenreißen, früher ins Bett gehen und motiviert aufstehen. Sie selbst, so berichtet die Mutter, habe zeitweise keine Lust, ihrer Arbeit nachzugehen, dennoch müsse sie ihre Verpflichtungen erfüllen. Christa selbst kam zusehends unter Druck aufgrund der Reaktionen ihrer Umwelt.

Ich möchte dieses Beispiel anführen, um zu zeigen, wie unterschiedlich psychische Krankheit bewertet wird. In der Familie wird Christa als unmotiviert wahrgenommen, die es nicht gelernt hat, den Regeln oder Pflichten des Lebens nachzukommen. Auch in der Fachwelt gibt es, wie Christas Beispiel zeigt, keine eindeutige Diagnostik, sie ist scheinbar abhängig von Profession, Kenntnisstand und persönlicher Bewertung. Die Frage der Auffälligkeit oder der Normalität nimmt auch in der Fachwelt ideologisch gefärbte Beschreibungen an, das Beispiel des ADHS-Störungsbildes bestätigt dies. In einer Zeit der Individualisierung erscheint im Gegenzug die Individualität des Kindes mehr als ein Phänomen der Grenzenlosigkeit, der übersteigerten Emotionalität und der Gefahr, den Erwartungen der Gesellschaft nicht mehr entsprechen zu können. Anscheinend ist heute mehr denn je die Befürchtung der Ausgrenzung und des Versagens vorherrschend. Keupp (2007) verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Ideal der Autonomie und dem Zwang der Konformität. Göppel (1989) stellt in seinem Buch die kindlichen Auffälligkeiten vor dem Hintergrund der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Ausgehend von den Geschichten des Struwwelpeters versucht er eine Linie des auffälligen Kindes durch die Geschichte der letzten Jahrhunderte zu zeichnen.

»Jederzeit und jede Gesellschaft bringt ihre eigenen Widersprüche und Belastungen hervor, die das gedeihliche Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gefährden. Jede neue Generation entwickelt ihre eigenen Probleme, Widerstände und Störungen in Auseinandersetzung mit den kulturellen Gegebenheiten und Forderungen, die sie vorfindet.« (ebd., S. 8)

Maria, 18 Jahre, bestach durch ihre ausgezeichneten Leistungen in der Schule. Je näher das Abitur rückte, umso mehr löste sie ihre bisherigen Beziehungen auf. Ihr Wunsch war ein Studium, dessen Zugangsvoraussetzungen vom Notendurchschnitt des Abiturs das schwierigste Studienfach darstellte. Erfolg und Attraktivität durch ihre besonderen Leistungen waren die Maxime ihres Lebens. Zusehends erlebte sie ihre Umwelt als Hemmschuh ihrer persönlichen Entwicklung, Freundschaften wurden aufgekündigt, um des eigenen Zieles willen. Maria hatte einen Abiturdurchschnitt von 1,0, Begeisterung und Idealismus fehlte in ihrer Reaktion. Ihre Beziehungen prägten sich jedoch zunehmend, gewissermaßen oberflächlich. Sie spürte für Momente ein Gefühl der Einsamkeit, stets durch ein maskenhaftes Auftreten kaschiert. Sie befand sich in einem massiven Konflikt. Maria brach ihre Psychotherapie ab, da sie auch ihren therapeutischen Prozess als Hindernis ihrer Leitidee, um jeden Preis souverän und erfolgreich zu sein, erlebte. Sehnsüchte nach Geborgenheit und Halt, die Suche nach der eigenen Identität und ihres Kontinuums in der Lebensgeschichte wurden von ihr abgewehrt.

Marias Fall zeigt eine Schattenseite unserer heutigen Zeit. Beziehungen, in denen gemeinsame Lebenswege reflektiert werden können und sich der Einzelne der geschützten Betrachtung von außen unterziehen kann, treten in den Hintergrund. Wir würden diesen Fall heute den narzisstischen Störungsbildern zuordnen.

Das soziale Umfeld in seiner Bewertung von Krankheit und in der Beteiligung krankheitsverursachender Faktoren stellt ein sehr komplexes Thema dar, das den Rahmen hier sprengen würde. Ich möchte dies zur Vereinfachung am Beispiel ADHS skizzieren. Die Diskussion um dieses Störungsbild spaltet die Öffentlichkeit grundsätzlich in Gruppen, die jeweils die Wahrheit für sich reklamieren. Besonders interessant erscheint die Bewertung und Interpretation dieses Störungsbildes über die Jahrzehnte hinweg, dessen sich Göppel (1989) angenommen hat. Kritisch an diesem Krankheitsmodell ist die mittlerweile inflationäre Einbettung von Auffälligkeiten in die ADHS-Diagnostik zu sehen, die es mit sich bringt, kindlich/jugendliches Verhalten zunehmend als abweichend und störend zu bestimmen. Lebensgeschichtliche Faktoren finden in der Regel keinen Eingang in die Diagnostik, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie z. B. die Reduktion des Kindes in der Schule ausschließlich auf seine Leistung oder die Veränderung traditioneller Familienformen (z. B. der fehlende Dritte), sind bei der Diagnosestellung im herkömmlichen Sinn nicht relevant.

Zusammenfassung

Der kulturelle Kontext prägt unsere Zuschreibungen von Normalität und Krankheit, die entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten variieren. Kindliches Verhalten tritt zunehmend als Störungsmodell in den Fokus. In den letzten Jahren gewinnt diese Thematik insbesondere in der Diagnostik, Behandlung und Medikalisierung der ADHS an Gewicht. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die bei der Entstehung entsprechend »neuer Störungsbilder« beteiligt sind, sind dagegen nicht im öffentlichen Diskurs zu finden.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

Finzen, Asmus (2018): Normalität. Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft. Köln: Psychiatrie Verlag.

Göppel, Rolf (1989): »Der Friederich, der Friederich …«. Das Bild des »schwierigen Kindes« in der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg: Edition Bentheim.

Weiterführende Fragen zur Selbstreflektion

•  Stehen bestimmte Krankheitsmodelle im Zusammenhang mit dem erhöhten Anpassungsdruck gesellschaftlicher Leitideen?

•  Welche Position kann in diesem gesellschaftlichen Diskurs die Kinderanalyse einnehmen?

1.2       Veränderte Lebenswelten für Kinder und Jugendliche

Kindliche und jugendliche Lebenswelten scheinen in unserer Zeit schwierigen Anpassungsprozessen unterworfen zu sein.

Ein Beispiel: Der Tageszeitung »Kölner Stadtanzeiger« vom 14.03.2017 ist zu entnehmen, dass ein italienischer Restaurantbesitzer Familien mit braven Kindern einen finanziellen Bonus beim Besuch seines Restaurants einräumt. Eine Anpassungsbereitschaft unserer Kinder und Jugendlichen wird allgemein gefordert. Der kritische Dialog im Generationsverhältnis findet nicht mehr statt, jugendliche Proteste, wie wir sie aus früheren Zeiten kennen, sind verklungen. Der fehlende Dialog zwischen den Generationen zeigt sich in unzähligen Beispielen unserer Zeit. Während ich dieses Buch schreibe, ist in der öffentlichen Diskussion die Friday for future- Bewegung Ansatzpunkt von Kritik. Kinder/Jugendliche reagieren öffentlich mit ihrem Protest auf die Hinterlassenschaft der älteren Generation und fordern ein Umdenken, im Sinne einer besseren Zukunft. Sofort präsentieren sich Politiker, Lehrerverbände und andere, um darauf hinzuweisen, dass die jugendlichen Demonstranten ihren Platz in der Schule und nicht auf Kundgebungen einnehmen sollten. Die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sollte in diesem Zusammenhang deutlicher in den Blick des Interesses kommen. Ich möchte mich in den folgenden Kapiteln den Veränderungen der Sozialisationsinstanzen von Kindern und Jugendlichen widmen.

Die Diskrepanz zwischen den Generationen wächst: Flexibilisierung und Digitalisierung fördern die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche. Diese münden kaum in einen Dialog zwischen den Generationen, insbesondere die »Unbeholfenheit« der älteren Generation im Umgang mit den digitalen Medien erschwert das Generationenverhältnis. Jugendlicher Protest, schon immer Ausdruck und Ansatz veränderter Rahmenbedingungen, entzieht sich zunehmend der Auseinandersetzung zwischen den Generationen.

1.3       Familie

Familiäre Lebenswelten sind heute vielfältigen gesellschaftlichen Delegationen unterworfen. Zusätzliche Belastungen wie der Arbeitsmarkt, Schule und auch Freizeitgestaltung verändern das Familienklima. Der Wunsch nach einem Kind tritt heute in Konkurrenz mit der beruflichen Karriere beider Eltern oder auch in Abhängigkeit der familiären ökonomischen Verhältnisse. Kinder stellen zunehmend einen Risikofaktor ökonomischer Überlegungen dar. Die Einelternfamilie ist, zumindest im erlebten Alltag, nahezu Standard geworden, in geringerem Maße erleben Kinder heute noch ein gemeinsames Elternpaar. Berufstätigkeit, sowohl bei Vater wie auch Mutter, mütterlicher Spagat zwischen Kindererziehung und beruflicher Eigenständigkeit, fehlende väterliche Funktionen, Flexibilität und damit weite Arbeitswege, extrafamiliäre Betreuung der Kinder, veränderte Freizeitgestaltung und vieles mehr müssen in den familiären Alltag integriert werden. Eine schwierige, teilweise unlösbare Aufgabe. Der »fehlende Vater« ist nach wie vor eine Realität, die Kinder in den kinderanalytischen Praxen beschreiben. Zepf und Seel (2017) beschreiben einen hohen Zeitaufwand von Vätern außerhalb der Familie und einen verschwindend geringen in gemeinsamen Aktivitäten mit ihren Kindern. Dies wird im Kontext der 1980er Jahre aufgezeigt – hat sich die Situation zwischenzeitlich wesentlich verändert? Zusätzlich gestalten sich die heutigen Familienformen sehr vielfältig. Patchwork-Familien, Einelternfamilien, gleichgeschlechtliche Elternteile, Pflegefamilien, Familien mit Migrationshintergrund, um nur einige zu nennen. Familien sind durch die heutigen gesellschaftlichen Ideale einerseits massiven Zwängen unterworfen, müssen sich andererseits jedoch nach außen als selbstbestimmt, verantwortungsvoll und souverän beweisen. Scheitert die Familie oder der Einzelne an gesellschaftlichen Erwartungen und Vorgaben, treten Stigmatisierungsprozesse in Gang. Unsicherheiten im familiären Beziehungsgefüge folgen, Eltern empfinden sich hilflos und inkompetent. Brisch (vgl. Holzapfel, 2013) berichtet von seinen langjährigen Erfahrungen in der Babysprechstunde, in der Eltern ihre Sorge äußerten, ihr Kind zu verwöhnen. Der Spielraum für Erfahrungen, Experimentieren und elterliche Intuition scheint abhandengekommen zu sein. Hohl (1989, S. 118) sieht Verunsicherungen beim Erziehungsverhalten der Eltern in Zusammenhang mit grundsätzlichen Veränderungen psychischer Strukturen. Eine sich durch die Generationen vermittelte und durch Erfahrung speisende Elternfunktion ist unter heutigen Bedingungen schwer zu etablieren, Elternschaft strebt entsprechend gesellschaftlichen Vorgaben einem Idealbild entgegen. Hohl (ebd., S. 119) veranschaulicht Veränderungen in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Das Individuum ist wesentlich auf sich bezogen, narzisstisch getönt, frühere Werte und Normen sind längst nicht mehr die Vorgaben, an denen sich Eltern orientieren. Triebkontrolle und Selbstdisziplinierung sind nicht mehr Standard, ein partnerschaftliches Verhältnis zum Kind ist der Trend der Zeit und führt maßgeblich zu einer Irritation in den Interaktionen. Eltern befürchten, falsche Entscheidungen zu treffen. Aushandlungsprozesse innerhalb der Familie münden ins Absurde und überlassen die Entscheidung dem Kind.

1.4       Werte und Kontextwandel – das Verhältnis der Generationen

Vor dem Hintergrund globaler Krisen mutet es schwierig an zu glauben, dass wir unseren Kindern Sicherheit und Zuversicht hinterlassen. Wir passen unsere Kinder vorwiegend einer Leistungsgesellschaft an, ohne zu hinterfragen, ob sie dazu bereit sind. Proteste werden sehr schnell als pathologische Szenarien von Jugendbewegungen etikettiert. Frühe außerfamiliäre Betreuung, Ganztagesschulen, der Jugendkult der Erwachsenengeneration und die Tabuisierung des Alters sind nur einige Ausdrucksformen gegenwärtiger Realität, die zudem durch den Mangel an gemeinsamer Zeit zwischen den Generationen und der Notwendigkeit, miteinander in die Auseinandersetzung zu gehen, geprägt sind. Auch scheint es ein Relikt früherer Zeiten zu sein, Jugendlichen noch Konzepte für ihr weiteres Leben durch die Erfahrung der älteren Generation mitzugeben. Mütter werden zu besten Freundinnen ihrer Töchter, Väter zu Kumpeln ihrer Kinder. Der Freizeitkult steht an erster Stelle, der Körper wird optimiert, das Individuum möchte etwas darstellen und zeigen. Die Abarbeitung der Generationenkonflikte tritt in den Hintergrund, da die Auseinandersetzung weitgehend fehlt. Die ältere Generation unterliegt einem Jugendkult, der zunehmend die Grenzen zwischen den Generationen verwischt. Die schnelllebige Zeit mit ihrem Optimierungszwang fördert zudem eine Begrenzung des Dialogs, beide Generationen scheinen sich zu entfremden. Hopf (2020) unterstreicht die Notwendigkeit einer klaren Markierung von Generationsunterschieden. Die ältere Generation muss Verantwortung übernehmen und ist in Besitz der Lebenserfahrung. Vielfältige Konflikte resultieren aus der Nivellierung von Generationsunterschieden: Missachtung, Übergriffe und Distanzlosigkeit in den Beziehungen verdeutlichen diese Generationenkonflikte.

Stierlin (1970, 1980) hat den dialektischen Beziehungsprozess zwischen den Generationen eindrucksvoll beschrieben. Er sieht eine lebenslange gegenseitige Verpflichtung von Kindern und Eltern, denn die Versöhnung zwischen den Generationen ist zentraler Bestandteil des Generationenkonfliktes. Ebenso wie Stierlin betont auch Günter (2015) die andere Perspektive des Generationenkonflikts. Er stellt die Krise der Eltern beim Heranwachsen ihrer Kinder in den Vordergrund, den Neid der älteren Generation auf die Möglichkeiten ihrer Kinder, deren Vitalität und ihre eigene Endlichkeit, die doch so viel näher ist als bei ihren Kindern. Oftmals werden die Kinder nicht in ihrer Eigenständigkeit und Individualität wahrgenommen, sondern dienen als Selbstobjekt narzisstischer Bedürfnisse ihrer Eltern. Die vielfältigen Möglichkeiten unserer Kinder, die Loslösung aus dem Elternhaus, sich auf dem Weg zu machen, Neues zu erobern, löst in der älteren Generation, den Eltern, häufig Angst aus. Ich meine hier nicht die Angst um die Kinder, sondern die Angst der eigenen Begrenztheit als ältere Generation. Günther beschreibt die elterliche Abwehr der Vitalität ihrer Kinder in Form von deren Disziplinierung, die sich vor allem auf ihre intellektuellen Fähigkeiten im Sinne unserer Leistungsgesellschaft richtet. Eine unkontrollierte Lebendigkeit verursacht Angst (ebd., S. 147). Oftmals fehlen den Kindern und Jugendlichen klare Vorgaben und die Orientierung, da es Eltern in unserer Gesellschaft schwerfällt, sich persönlich ihren Kindern zur Auseinandersetzung entgegenzustellen. Günter fordert in der klinischen Arbeit mehr Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie die ältere Generation auf die jüngere reagiert. Auch Kinderanalytiker müssen sich fragen, inwieweit sie von den jugendlichen Patienten in ihrer Persönlichkeit infrage gestellt werden und dementsprechend Abwehrprozesse in Gang kommen. Günter erkennt auch in vielen Publikationen von Kollegen eine Abwehr gegen den Neid auf die Vitalität der Jugend.

»Speziell in der Analyse von Adoleszenten und Spätadoleszenten stellt sich dieses Problem verschärft, zumal diese häufig ganz offen die sexuelle Attraktivität des Analytikers/der Analytikerin in Frage stellen.« (ebd., S. 148)

Die Pädagogin Nelly Wolffheim verweist bereits 1927 darauf, dass die Formung des Kindes aus der Erwachsenensicht bei dem Kind zu hohen Anpassungsleistungen führt, teilweise Minderwertigkeitsgefühle die Folge sind. Auch kann das Kind aufbegehren, was zu heftigen Konflikten zwischen den Generationen führt (ebd., S. 240). Wolffheim plädierte dafür, dass die Kluft zwischen der Erwachsenenwelt und der Welt der Kinder oder Jugendlichen nicht zu stark wird. Dabei kommt dem Erwachsenen die Aufgabe zu, sich in die Welt des Kindes hineinzuversetzen. Kinder fühlen sich oftmals nicht verstanden (ebd., S. 241), das Kind muss in seiner Welt ernst genommen werden.

»Wie wenig Rücksicht wird aber auf Spiel und Beschäftigung der Kinder genommen, wie leichtfertig stören wir das Kind. Dem Erwachsenen erscheint ja im Grunde des Kindes Tun klein und nebensächlich.« (ebd., S. 241)

Vor allem in der Pubertät sollte man mit einer großen Sensibilität der jugendlichen Welt gegenübertreten, ansonsten wird sich eine Grenze errichten.

»Es pflegten nicht die schlechtesten Menschen zu sein, die sich in ihrer Sturm- und Drangperiode schroff-ablehnend und oppositionell betrugen.« (ebd., S. 242)

Wolffheim sieht schon damals die Zurückhaltung von Eltern gegenüber den andrängenden Impulsen ihrer pubertären Kinder als sehr wichtig an.

»Wir müssen doch anerkennen, dass sich die Einstellungen wandeln, und was der eigenen Jugend Ideal und lebenswert war, wird von der nächsten Generation in einem anderen Lichte gesehen.« (ebd., S. 244)

Ich finde, bemerkenswerte Gedanken zur damaligen Zeit, die heute in unserer Welt, die durchdrungen ist von Wirtschaftswachstum, globalen Krisen und vorwiegend narzisstischen Impulsen, nicht mehr, zumindest öffentlich, diskutiert werden. Die Sicht und das Empfinden der Kinder und der Jugendlichen erscheint heute mehr aus einer erwachsenen Sicht und der Notwendigkeit der frühzeitigen Anpassung kindlicher und jugendlicher Bedürfnisse an diese Welt geprägt zu sein. Der Dialog zwischen den Generationen findet in unserem traditionellen Verständnis nicht mehr statt. Jedoch sind die Übergangsräume zwischen der erwachsenen und der jugendlichen Welt nicht mehr klar abgegrenzt und strukturiert, es kommt zu fließenden Überlappungen (Becker et al., 2016, S. 45). Jugendliche erwerben heute vor dem Hintergrund rasanter gesellschaftlicher Veränderungen auf verschiedenen Wegen Erfahrungen, die der Erwachsenenwelt teilweise unbekannt sind und bleiben. Der Vorsprung an Wissen und Kompetenz, den ältere Generationen zu früheren Zeiten sozusagen von Natur aus auszeichnete, ist heute nicht mehr per se gegeben (ebd., S. 46).

»Es scheint im Zuge der Nivellierung der Generationsunterschiede oder sogar der Umkehrung des Generationengefälles kaum noch ein Autoritätsgefälle zu geben, in dem das Alter zum Entscheidungskriterium würde.« (ebd., S. 47)

Der gesellschaftliche Zwang, sich den Regeln einer Welt, die teilweise ignorant, vielleicht auch hilflos gegenüber kindlichen und jugendlichen Ausdrucksformen ist, zu unterwerfen, könnte künftig den Dialog zwischen den Generationen entgleiten lassen. Vitalität, Protest, Enthusiasmus und Leidenschaft, Ausdrucksformen der jüngeren Generation, scheinen sich zunehmend zu Störfaktoren in unserer Gesellschaft zu entwickeln. Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen haben sich merklich verändert und sind weiter rasanten, sich stetig erneuernden Impulsen ausgesetzt. Dies bedeutet, dass wir in unseren Konzepten und Bewertungen von »normal« und »auffällig« stetig wechselnden Bewertungskriterien ausgesetzt sind.

1.5       Entgrenzung

Wehmeyer (2016) legt in ihrem Aufsatz dar, dass sich zunehmend weniger Jugendliche an tradierten Rollenvorgaben und Ritualen orientieren können. Aktuell kann von einer Verstaatlichung bzw. Übernahme öffentlicher Sozialisationsinstanzen der Lebenswelten Jugendlicher ausgegangen werden. Hier ergibt sich eine Diskrepanz bzw. ein Dilemma: einerseits der freie Raum zum Erforschen, andererseits der vorgegebene Raum, an dem sich heute Jugendliche zu orientieren haben. Der Übergang zur Erwachsenenwelt bzw. die Grenze verschwindet, der Jugendliche ist sich alleine überlassen, die Maxime ist: Alles ist machbar. Die Vielzahl der Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung führt zur Individualisierung, der Gruppenprozess, der für diese Phase äußerst wichtig ist, tritt in den Hintergrund. Ich werde versuchen, einen kleinen Überblick der Grenzverletzungen bzw. fehlenden Grenzen des Praxisalltags wiederzugeben.

Adrian, acht Jahre, wird in der Praxis vorgestellt, da seine Eltern, insbesondere seine Mutter der Meinung sei, er falle durch sehr impulsives Verhalten auf. Adrian und seine Mutter sind ständig im Kampf, Grenzen werden verletzt. So werde er manchmal tätlich gegenüber seiner Mutter, raste regelrecht aus. Adrians Mutter berichtet, dass sie aus einer Familie komme, indem es vor allem an emotionaler Zuwendung fehlte. Sie selbst sei ständig mit ihren Schuldgefühlen beschäftigt, fühle sich oftmals dann als schlechte Mutter. Adrians Vater ist im Hintergrund, hält sich zurück. Im Elterngespräch berichtet er, dass er kaum Möglichkeiten habe, mit seinem Sohn in einen klärenden Dialog zu treten. Seine Frau lasse dies nicht zu, sie befürchte, dass er und sein Sohn die Grenzen überschreiten.

Adrians Impulsivität lässt sich als eine verzweifelte Suche des Kindes nach Begrenzungen interpretieren. In seiner Familie fehlt es an Grenzen, da beide Eltern solche sehr schnell als Zwang oder Bevormundung interpretieren. Beide Eltern berichten, dass sie in ihren Erwartungen als Eltern und ihrer Vorstellung von Familie äußerst vorsichtig, teilweise hilflos seien, da sie mit ihrem Sohn ein »ausgewogenes Verhältnis« haben möchten. Dieser Begriff ist für mich zwiespältig, denn, was heißt in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern »ausgewogen«?

Julian, acht Jahre, wird in der Praxis aufgrund seiner Unruhe von seiner alleinerziehenden Mutter angemeldet. Die Schule macht der Mutter Druck, ihren Sohn unbedingt auf ADHS testen zu lassen. Obwohl die Mutter nicht der Überzeugung ist, dass Julian unter einer solchen »Störung« leide, wird er künftig medikamentös behandelt. Ihr als Mutter falle es schwer, dies zu akzeptieren, massive Schuldgefühle plagten sie. Sie befürchte, die Schule werde ihren Sohn hinauswerfen, wenn er sich nicht anpasse. Sie erlebt sich völlig hilflos, überfordert und seitens der Schule gezwungen.

Hier wird eine Grenzverletzung seitens staatlicher Sozialisationsinstanzen deutlich, die eine Forderung nach Konformität im Sinne des gesellschaftlichen Idealbildes repräsentiert. Dabei handelt es sich um eine äußerst grenzverletzende Situation: Die Schule übt in ihrer Funktion als Erziehungsinstanz und Bildungseinrichtung Druck auf den Einzelnen aus, dieser muss sich um jeden Preis anpassen. Das gesellschaftliche Dilemma zwischen Schule als System der Optimierung und Weichensteller für das weitere Leben und ihrem Versagen als soziale Einrichtung und Begegnungsstätte ist ständig präsent.

Frau K. befindet sich mit ihrem neunjährigen Sohn Florian in psychotherapeutischer Behandlung. Frau K. ist in psychiatrischer Behandlung, da sie an einer Psychose erkrankt ist. Florian passt sich sehr dem mütterlichen Verhalten an, ist zeitweise auch überfordert, im Stich gelassen. Zur Vorgeschichte ist zu erwähnen, dass Florians Vater während der Schwangerschaft seiner Frau verstarb. Florian wird in einer Pflegefamilie untergebracht, da seine Mutter stationär behandelt werden muss. In der Pflegefamilie fühlt er sich nicht wohl, vertraut sich seinem Therapeuten an. Die Besuchskontakte zwischen Florian und seiner Mutter werden seitens des Jugendamtes sanktioniert, abhängig vom Verhalten der Mutter. Die Pflegemutter avanciert zur Kontrollinstanz, muss ständig dem Jugendamt Meldung erstatten. Aufgrund der psychischen Erkrankung von Florians Mutter ergeben sich vielfältige Konfliktebenen. Mithilfe der therapeutischen Behandlung unternimmt die Mutter den Versuch, nach ihrem Klinikaufenthalt das Pflegeverhältnis zu beenden und ihren Sohn mit entsprechender Unterstützung zu sich zu nehmen. Abermals wird ihr gedroht, sollte sie nicht den Vorstellungen und Erwartungen des Mitarbeiters entsprechen, würde Florian ihr wieder entzogen.

Ein Fall, der zutiefst betroffen macht. Er illustriert die Gefahr, dass die Helfersysteme ohne die intensive Reflexion des Geschehens ebenfalls in pathogene Interaktionen verstrickt werden. Dies wäre der Beginn einer psychodynamischen Interpretation, jedoch fokussiere ich hier den Eingriff staatlicher Institutionen in die Freiheit und Autonomie des Einzelnen. Selbstverständlich bedarf Florians Mutter entsprechend einfühlsamer fachlicher Unterstützung, die es tatsächlich bereits vielerorts für psychisch kranke Elternteile gibt. Im vorliegenden Fall ist jedoch in auffälliger Art und Weise eine massive Verletzung der persönlichen Grenzen Florians und seiner Mutter gegeben. Es geht mir hier nicht darum, aus der Distanz pauschal das Handeln des Jugendamtes anzuprangern. Allerdings möchte ich auf bestimmte Phänomene aufmerksam machen, denen sich heute der Einzelne trotz der Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten stellen muss.

Aufgezeigt wurden oben verschiedene alltägliche Fallbeispiele, die allesamt die Verletzung von Grenzen darstellen: Grenzen zur Wahrung der Integrität des Einzelnen. Aber diese Grenze wird zunehmend von einer unscharfen Kontur geprägt. Grenzen zu respektieren oder zu akzeptieren entzieht sich allmählich dem gesellschaftlichen Wertekodex, die individuelle Ausgestaltung persönlicher Räume scheint in Zeiten der Kurzlebigkeit und schneller Lösungsstrategien widerstrebende Impulse auszulösen. Die Psychoanalyse als Therapieform, konkret in der Errichtung innerer Strukturen, ist diesen Strömungen seit längerer Zeit ausgesetzt. Insgesamt mehren sich die Fälle, in denen Grenzen des Individuums überschritten werden. Auch die Wahrnehmung dieser Übergriffe verändert sich, einhergehend mit gesellschaftlichen Veränderungen. Die öffentliche Diskussion bezüglich Übergriffe auf Kinder, psychisch oder physisch, scheint sich in den letzten Jahren vermehrt auf die Veränderung des Strafrechts in Bezug auf die Täter zu erstrecken und kaum die Lebensräume der Kinder und unsere Verantwortung zu hinterfragen. Grundsätzlich wäre es wünschenswert, gesellschaftlich intensiver über das Recht der Kinder, ihre Unversehrtheit und damit auch über ihre gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft nachzudenken. Kindheit ist heute ein Stadium, das sehr schnell unsere frühere Vorstellung der kindlichen Entwicklung verändert. Begrenzte Räume, frühzeitige Anforderungen, schwierige Entwicklungen in der Elementarpädagogik und früher Einstieg in das Schulsystem spiegeln aktuell gesellschaftliche Wandlungsprozesse wider, denen Kinder sich stellen müssen. Eltern sind verunsichert, klare Begrenzungen, die früher als Halt für die weiteren Entwicklungen dienten, gibt es nicht mehr.

Eine andere Sicht hierzu nimmt Schröder (2006) ein. Schröder beschreibt in seinen Artikeln die veränderten Bedingungen heutiger Adoleszenz. Die Vorgaben der Gesellschaft für Jugendliche waren in früheren Zeiten sehr klar und gaben wenig Spielraum. Heute ist der Übergang dagegen individualisiert, die Rituale haben sich verändert. Schröder betrachtet dies nicht als aktuelles Problem, sondern weist darauf hin, dass diese Phänomene schon in den 1960er Jahren beschrieben wurden (ebd., S. 75). Die emotionalen Befindlichkeiten in der Adoleszenz können heute offener ausgelebt werden. Auch er beschreibt die Adoleszenz als eine Lebensphase, deren Beginn mit der frühen Adoleszenz im neunten Lebensjahr und mit der späten Adoleszenz bis zum 30. Lebensjahr endet (ebd., S. 75). Er erkennt eine hohe Ambivalenz der geschlechterspezifischen Trennung, einerseits das Streben um Gleichberechtigung, andererseits die starke Akzentuierung weiblicher und männlicher Attribute. Zunehmend verschwinden klassische Themengebiete, die die Jugendphase von der Erwachsenenwelt trennen, beide verschmelzen miteinander im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen.

Zusammenfassung

Die Familie ist vielfältigen Veränderungen unterworfen, Kinder und Erziehung sind massiven Anpassungsprozessen ausgesetzt. Die Thematik der »fehlenden Väter« besteht trotz Liberalisierungsprozessen der letzten Jahre nach wie vor. Armut wird zunehmend ein tabuisiertes Thema, dass sich im psychotherapeutischen Prozess mit Kindern und Jugendlichen widerspiegelt. Eltern sind in ihrer Rolle verunsichert, dem notwendigen Prozess des familiären Wachstums wird kaum noch Zeit und Raum gegeben. Das Generationenverhältnis ist ebenfalls Veränderungsprozessen unterworfen. Die Erfahrung der älteren Generation wird mit dem Wissensvorsprung der jüngeren Generation bezüglich der Digitalisierung konfrontiert, das zu einem veränderten Diskurs zwischen den Generationen führt. Auf den kinderanalytischen Alltag überträgt sich diese Dynamik und setzt eine intensive Reflexion des Kinderanalytikers auf die sich verändernden Rahmenbedingungen in Gang. Grenzen werden in unserer Gesellschaft zunehmend diffuser, Kinder und Jugendliche können sich kaum noch an Vorgaben orientieren. Auch im familiären Kontext zeichnet sich dieses Phänomen ab. Leitideale der Gesellschaft wie zum Beispiel demokratische Aushandlungsprozesse zwischen Eltern und Kinder drängen in die familiäre Interaktion. Zunehmend begründen Grenzverletzungen in vielfältiger Ausformung die Anmeldungen in psychotherapeutischen Praxen. Auch die Entwicklungsphasen, wie beispielsweise die der Adoleszenz, sind nicht mehr klar voneinander abgegrenzt. In Zeiten der Entgrenzung ergeben sich jedoch auch vielfältige und neue Spiel- und Erprobungsräume für Kinder und Jugendliche.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

Günter, Michael (2015): Das schwierige Verhältnis der Generationen: Angst, Neid und Dankbarkeit. In: Kinderanalyse 23 (2), S. 129–150.

Hohl, Joachim (1989): Zum Symptomwandel neurotischer Störungen. In: Keupp, Heiner, Bilden, Helga (Hrsg.), Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Göttingen: Hogrefe, S. 103–124.

Lenz, Karl, Schefold, Werner, Schröer, Wolfgang (2004): Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim: Juventa.