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Juli 1963: Die siebenjährige aus Berlin-Weißensee stammende Marita E. ist mit ihrer neunzehnjährigen Schwester zu Besuch bei einer Familie in Cottbus. Für einen verhängnisvollen Moment verliert die große Schwester das kleine Mädchen bei einem Spaziergang durch die Stadt aus den Augen – einige Tage später wird die verscharrte Leiche des Kindes aufgefunden. Berlin-Prenzlauer Berg, 29. März 1972: Freudig klingelt die neunjährige Carola morgens vor Schulbeginn an der Wohnungstür ihres »großen Freundes« Günter L. Der 28-Jährige hat dem Mädchen ein Geschenk versprochen, denn Carola hatte am Tag zuvor Geburtstag. Doch der hoffnungsfrohe Besuch endet für das Kind in einem grauenhaften Szenario … Am 15. Januar 1981 erstattet Margitt B., wohnhaft in Halle-Neustadt, auf dem örtlichen Polizeirevier eine Vermisstenanzeige. Ihr Sohn Lars, 7 Jahre alt, ist nach dem Besuch einer Kinoveranstaltung nicht nach Hause zurückgekehrt. Die fieberhafte Suche nach dem Jungen bleibt fast zwei Wochen lang erfolglos – bis ein 19-jähriger Streckenwärter der Deutschen Reichsbahn auf dem Streckenabschnitt Halle–Leipzig, in der Nähe der Ortschaft Schkeuditz, einen Koffer entdeckt, worin die Leiche des vermissten Kindes liegt, unter anderem bedeckt mit alten Zeitungen und Zeitschriften. Der erschütternde Fall wird später als »Kreuzworträtselmord« weithin bekannt. Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich schlagen ein finsteres Kapitel der DDR-Kriminalgeschichte auf. Die True-Crime-Experten schildern auf Basis der originalen Akten fünf unfassbare Gewaltverbrechen an Kindern und die aufwühlende Fahndung nach den Tätern.
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Seitenzahl: 215
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Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich
Kindermorde
Fünf authentische Kriminalfälle aus der DDR
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-831-7
1. Auflage
© 2022 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © akg-images / Sammlung Berliner Verlag / Archiv
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Axel-Springer-Straße 52
10969 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Vorwort
»Nicht zu interpretieren, ist unmöglich, genauso unmöglich wie sich am Denken zu hindern«, schrieb der weltbekannte italienische Schriftsteller Italo Calvino vor vielen Jahren in seinem phantasievollen, gegenwartsbezogenen und doppelbödigen Roman Herr Palomar. Eine Weisheit, die für jeden Kriminalisten gilt und damit auch für jene, die über wahre Kriminalfälle schreiben.
Wir berichten über fünf tragische, auf grausame Art und Weise begangene Kindermorde aus der DDR. Die ersten vier Fälle haben wir unter kriminalistischen Aspekten fachlich-sachlich unter Berücksichtigung der W-Fragen dargestellt (Was passierte durch wen, warum, wo, womit, wie und wann?). Die fünfte Geschichte mit dem Titel»Pflaumenkuchenzeit« ist dagegen als Kriminalerzählung gestaltet, in der die handelnden Personen in Dialogen agieren.
Dem in der Kriminalgeschichte vermutlich einzigartigen »Kreuzworträtselmord« in Halle-Neustadt haben wir in Abgrenzung zu den kursierenden Geschichten einen anderen Titel gegeben: »Es geschah am 15. Januar …«Der kundige Leser weiß, dass schon viel darüber geschrieben worden ist. Wir haben die Wege zur Täterermittlung und die Aussagen des sadistischen Mörders in den Mittelpunkt gestellt.
Ausführlich berichten wir nicht nur über Vernehmungen und andere kriminalistische Ermittlungen wie Anzeigenaufnahme, Tatortarbeit, Spurensuche und -sicherung, sondern auch über die zentralen und bedeutenden Inhalte der uns vorliegenden gerichtsmedizinischen und psychiatrischen Gutachten, um die Psychogramme der Täter, die ebenso in ihren biografischen Eckdaten sichtbar werden, weiter aufzuhellen.
Wir beziehen in allen Berichten das gesellschaftliche und soziale Umfeld ein und weisen auf Ursachen und Bedingungen für die geschilderten Verbrechen hin. Auch die konkreten Lebenssituationen der Opferfamilien sollen nicht ausgenommen werden, denn in einem Fall führten sie dazu, dass das Verschwinden des Kindes erst viel zu spät bemerkt wurde. Dabei gehen wir aber behutsam vor, denn die Eltern der Opfer haben gelitten und viel durchgemacht und sollten deshalb nach so vielen Jahren nicht noch an den Pranger gestellt werden, insbesondere wenn die Familienverhältnisse schwierig waren.
Ist der Kindermörder gefasst worden, bleiben wir nicht bei der Schilderung der Verbrechen stehen, sondern ergründen sowohl die inneren und äußeren Ursachen als auch die psychologischen Bedingungen für seine Taten.
In drei der fünf Fälle in diesem Buch gelang es, die männlichen Täter zu ermitteln und gerechten Strafen zuzuführen, aber zwei Verbrechen konnten nicht aufgeklärt werden. Warum wurden die Mörder nicht ermittelt? War es Unvermögen der Kriminalisten oder hatten sie einfach keine Chance, weil sich die Täter nicht im sogenannten sozialen Nahfeld befunden hatten? Denn es ist eine alte Kriminalisten-Weisheit: Wenn der große Unbekannte, der nicht aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis stammt, zufällig mit dem Opfer zusammentrifft, ist die Ermittlung des Täters in der Regel eine höchst anspruchsvolle und zumeist langwierige Aufgabe, die nicht immer gelöst werden kann.
Warum also konnten die beiden Mädchentötungen nicht aufgeklärt worden? Eine Antwort können wir nur teilweise geben, weil gerade beim Studium dieser Aktensammlungen ein sehr hoher Interpretationsbedarf bestand, um Italo Calvino noch einmal das Wort zu geben. Insofern können diese beiden Fallbeschreibungen wohl eher als ernsthafte, aber sehr kurze Skizzen bezeichnet werden, mit dem Ziel verfasst, dass diese Kriminalfälle und vor allen Dingen die Opfer nicht vergessen werden dürfen. Außerdem war es nicht sinnvoll, Hunderten von Hinweisen und Spuren zu folgen, die am Ende nicht zur Aufklärung beitrugen, sondern oft in die Irre führten. Im ersten Fall »Die Tote im Wald« wurden mehr als zweitausend Personen aufgesucht, befragt und vernommen – aber eben ohne Ergebnis.
Es gibt in der Tat einige Faktoren, die die meisten unaufgeklärten Morde gemeinsam haben. »An erster Stelle die Einfachheit«, erklärt uns der literarische Kriminalkommissar Lindström in Håkan Nessers Roman Kim Novak badete nie im See von Genezareth anhand des Falles Berra Albertsson: »… alles, was der Mörder tun musste, war, zwei Schritte vorzutreten und mit dem Hammer zuzuschlagen. Oder dem Vorschlaghammer, was auch immer. Noch ein Schlag, schon war alles klar. Dann nur noch die Mordwaffe vergraben und die ganze Geschichte vergessen … vielleicht hoffen, dass in den Morgenstunden etwas Regen fallen würde, und das tat es ja auch.« Nun, das kann im Einzelfall tatsächlich so sein. Und oft arbeitet die Zeit für den Mörder, wie im Fall »Der ominöse Onkel« nachgelesen werden kann, in dem ein in höchstem Maße Verdächtiger erst nach seinem Selbstmord ins Visier der Ermittler kam.
Einen Kriminalbericht nach Aktenlage zu verfassen, ist mit einigen Hindernissen verbunden. Die Berichte und Protokolle können noch so »vollständig« sein, die Wahrheit von der Fiktion und die Notwendigkeit vom Zufall zu trennen, bleibt eine ständige Aufgabe. Oder anders formuliert: Was war die Wirklichkeit und was Phantasie, Einbildung, Idee, Schein, Illusion oder Traum? Insbesondere dann, wenn Beschuldigte und Zeugen Aussagen machen, die ja nur noch in Protokollen existieren. Denn es ist doch so, dass in manchen gedanklichen Systemen eben verschiedene Zeiten an verschiedenen Orten existieren. Menschen können bewusst die Unwahrheit sagen oder sich irren.
Was die Befragungen und Vernehmungen betrifft, so ist es eine alte Weisheit, dass die Protokolle auf das Wesentliche konzentrierte Niederschriften der Aussagen enthalten, wodurch eine Reihe von Fehler- und Interpretationsmöglichkeiten entstehen. Die Protokolle sind dann, wenn sie keine wörtlichen sind, eigentlich nicht Protokolle der Aussage des Vernommenen, sondern eine Niederschrift der Aussage des Vernehmenden über die Aussage des Vernommenen. Das schrieb schon im Jahr 1984 der Kriminalpsychologe und Vernehmungsexperte Prof. Dr. Axel Römer, der an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte. Man kann sich gut vorstellen, dass die Interpretation solcher Niederschriften mit einigen Komplikationen verbunden ist.
Und auch die von uns zahlreich zitierten und interpretierten Protokolle über kriminalistische Maßnahmen (darunter Tatortbefundberichte, Protokolle über kriminaltechnische Tatortarbeit, Protokolle über eine vermisste Person) setzen bei deren Studium immer einen kritischen Umgang voraus. »Jedes Protokoll setzt einen Protokollanten voraus und enthält daher auch die aus dessen Person resultierende Unvollkommenheit«, schrieb Prof. Dr. Axel Römer ebenfalls im Jahr 1984.
Trotz all dieser Einschränkungen denken wir aber, dass es wahrhafte Berichte sind, die die wirklichen Vorgänge widerspiegeln. Mit anderen Worten: Wir haben uns der Wahrheit genähert, die uns und den Lesern verständlich ist.
Längere Zitate aus den Vernehmungsprotokollen und Gutachten sind zur besseren Orientierung kursiv gesetzt. Auslassungen haben wir bei den Zitaten stets mit (…) markiert.
Die Namen der Täter, Opfer und Zeugen sind aus personenrechtlichen Gründen verändert. Für die erfundenen Namen erklären Verlag und Autoren, dass Personen mit diesen Namen in den fünf Mordfällen niemals existiert oder agiert haben. Übereinstimmungen wären rein zufällig. Es war zudem notwendig, einige Wohn- und Tatorte zu verlegen oder Handlungsstränge zu vereinfachen.
Die Abbildungen entnahmen wir den im Literaturverzeichnis aufgeführten Akten. Wir haben durchgängig auf solche Fotos verzichtet, auf denen die ermordeten Opfer nach ihrem Auffinden zu sehen sind.
Wir danken Frau Christel Brandt von der BStU sehr herzlich für die Bereitstellung des Aktenmaterials in drei Fällen und dem ehemaligen Leiter der Morduntersuchungskommission Halle Siegfried Schwarz, mit dem wir uns ausführlich zum »Kreuzworträtselmord« ausgetauscht haben. Unser Dank gilt auch Dipl.-Krim. Gerd Hennig, dessen Diplomarbeit zum »Kreuzworträtselmord« aus dem Jahr 1983 uns sehr geholfen hat, den Fall anschaulich und faktenreich darzustellen.
»Es ist ein Gesetz«, sagte der Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu seinem Assistenten Dr. Watson in der Erzählung »Die Liga der rothaarigen Männer« von Arthur Conan Doyle, »dass sich die bizarrsten Geschehnisse als die am wenigsten mysteriösen herausstellen. Es sind die gewöhnlichen, gesichtslosen Verbrechen, die wirklich verwirren, geradeso wie sich ein gewöhnliches Gesicht schwer identifizieren lässt.«
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und reizvolle Interpretationen.
Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich
Die Tote im Wald
Cottbus. Sonntag, 21. Juli 1963
Am 22. Juli 1963 zeigte die neunzehnjährige Kinderpflegerin Monika Ezold aus Berlin-Weißensee bei der Kriminalpolizei Cottbus an, dass ihre Schwester, Marita Ezold, seit dem 21. Juli 1963 gegen 14 Uhr vermisst wird. Die beiden Schwestern waren am Vortag in der Stadt eingetroffen, um eine andere Schwester abzuholen.
Die Familie Ezold stammte aus Cottbus, das vermisste Kind war auch in Cottbus geboren worden. Während ihres Aufenthalts in der Stadt wohnten Marita und Monika in der Wernerstraße bei der befreundeten Familie Guth, die zu ihrem familiären Freundeskreis gehörte. Laut Protokoll sagte die große Schwester aus: »Gegen 11.00 Uhr am 21.7.1963 hat die Frau Guth die Marita mit ihren Kindern zusammen zum Eis-Essen geschickt. Marita sollte um 12.30 Uhr wieder zu Hause sein. Sie ist aber erst um 13.30 Uhr gekommen. Zu dieser Zeit habe ich mich mit meinem Kleinkind an der Ecke Karl-Liebknecht-Straße – Wernerstraße an der Drogerie aufgehalten. Dort habe ich sie getroffen. Da sie später als wie vereinbart vom Eis-Essen gekommen ist, habe ich zu ihr gesagt, dass sie jetzt essen gehen solle und dann solle sie schlafen gehen. Sie fing dann an zu weinen, vermutlich, weil ich sie nicht mitnehmen wollte. Aus diesem Grund habe ich zu ihr gesagt, dass sie schnell essen gehen solle, und ich werde auf sie warten. Bis gegen 14.00 Uhr habe ich mich dann auch in der Nähe der Drogerie aufgehalten. Ich sah Marita gegen 14.00 Uhr aus dem Haus Wernerstraße kommen. Sie ging zuerst in Richtung der Karl-Liebknecht-Straße und dann in Richtung des Geschäftes ›Lucullus‹. (…) Ich habe Marita mit ihrem Namen angerufen. Sie hat sich auch umgedreht, ist aber nicht stehen geblieben. Dann habe ich gesehen, wie sie in die Bahnhofstraße in Richtung der Berliner Straße hineingelaufen ist.«
Vor etwa fünf Jahren sei Marita, so sagte Monika Ezold aus, in Cottbus schon einmal weg gewesen. Sie hatte sich damals verlaufen, hatte dann aber Personen angesprochen und sich nach Hause bringen lassen.
Die Anzeigenerstatterin gab folgende Personenbeschreibung: scheinbares Alter sechs bis acht Jahre, kleine und zierliche Gestalt, etwa 90 bis 110 Zentimeter groß, schmales Gesicht, Augen (Iris) grün, schielt etwas, bräunliche Hautfarbe, Sommersprossen über der Nase, dunkelblondes Haar, lang herabfallend bis auf die Schultern. In der Mitte der Haare ein kleiner Scheitel, der von allein fällt. Marita trug ein blau-weißes Dederonkleid, Grundfarbe weiß, mit blauen Kreisen bedruckt, weiße Kniestrümpfe und weiße Halbschuhe. Nach Meinung der Anzeigenerstatterin hatte sie kein Hemdchen an, nur einen bunten Schlüpfer. Gegenstände und Geld führte sie nicht bei sich.
Monika Ezold ergänzte dann noch, dass ihre kleine Schwester anderen Personen gegenüber sehr aufgeschlossen wurde, wenn sie bei ihr Vertrauen erweckten. Und sie hatte ein besonderes Kennzeichen: eine große Operationsnarbe am linken Arm, die vom Schultergelenk bis zum Handgelenk reichte – die Folge eines Verkehrsunfalls. »Diese Narbe ist nicht zu übersehen.«
Schnell wurde aus der Vermisstensache ein Fall für die Morduntersuchungskommission der BDVP Cottbus. Sie war nicht nur untersuchungsführend bei Morden und Totschlagsdelikten im Bezirk Cottbus, sondern auch bei Anzeigen über vermisste Personen, bei denen der Verdacht einer vorsätzlichen Tötungsstraftat bestand.
Am 23. Juli 1963 wurde Monika Ezold dort »nachvernommen«. Sie ergänzte, dass sie sich am 21. Juli gegen 14 Uhr mit einer Freundin, die sie zufällig getroffen hatte, auf der Straße unterhielt und während dieses Gesprächs bemerkte, dass die kleine Schwester das Haus verließ und zur Drogerie rannte. Sie schaute nur kurz hinüber und unterhielt sich weiter mit der Freundin, weil sie dachte, Marita würde nun zur anderen Straßenseite kommen. Aber das geschah nicht. »Als ich mich dann wieder umdrehte, sah ich meine Schwester weiter nach dem Geschäft ›Lucullus‹ rennen. Da meine Schwester nicht zu mir gekommen war, sondern weiterrannte, verabschiedete ich mich von meiner Freundin und lief meiner Schwester hinterher«, so die Zeugin. »Ich sah dann, dass meine Schwester nach links in die Bahnhofstraße einbog. Als ich am Geschäft ›Lucullus‹ war, schaute ich in die Richtung, in der meine Schwester entlangrannte, jedoch habe ich diese nicht mehr gesehen. An der Kreuzung hielt ein Bus, und ich wartete so lange, bis der Bus die Kreuzung verlassen hatte, und lief dann über die Kreuzung. Wo der Bus hingefahren ist, weiß ich nicht, da ich darauf keine Obacht gab. Ich lief dann die Bahnhofstraße entlang bis zum Haus Nr. (…). Dort blieb ich stehen, da ich mir keinen Rat mehr wusste, denn meine Schwester habe ich nirgends mehr gesehen.«
Am 24. Juli 1963 wurde auch die Freundin von der Kriminalpolizei vernommen, ohne dass sie entscheidende Hinweise zum Verbleib von Marita geben konnte. Sie bestätigte aber alle Aussagen von Monika Ezold. Sie sei der suchenden Freundin dann hinterhergelaufen. Befragt wurde auch die gastgebende Familie, aber auch sie wusste nicht zu berichten, wo sich Marita möglicherweise aufhielt.
Der Leiter der Einsatzgruppe, Hauptmann der K Albert Wolter, erklärte in einem Gespräch mit der Tageszeitung Lausitzer Rundschau, abgedruckt am 6. August 1963, dass alle Hinweise überprüft worden seien, es aber immer noch keine Spur von Marita Ezold gäbe. Jedem noch so kleinen Hinweis werde allerdings nachgegangen, und so bat er die Bevölkerung weiter um Mithilfe.
Am 5. August 1963 fand ein aufmerksamer Bürger in einem Waldstück an der Fernverkehrsstraße 115 – circa acht Kilometer von Lübbenau in Richtung Vetschau, in Höhe des Kilometersteins 114,8 – eine blutbefleckte graue Wolldecke mit dem Eigentumsstempel »EKO« (Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt), an der ein 0,55 x 1,21 Meter großes Stück fehlte, das wahrscheinlich abgeschnitten worden war. Er übergab sie der Objektdienststelle des MfS im Kraftwerk Lübbenau,
Zeitungsartikel aus der Lausitzer Rundschau vom 6. August 1963
die die Abteilung Kriminalpolizei des VPKA Calau verständigte. Vom Kriminaldienst wurde daraufhin der Fundort besichtigt und ein Spurensicherungsbericht verfasst. Weitere Spuren konnten aber nicht gefunden werden. Am 9. August traf diese Decke bei der Abteilung Kriminalpolizei der BDVP Cottbus ein, wo sie bis zum 13. August im Sachgebiet Kriminaltechnik nicht bearbeitet wurde. Das MfS schaltete sich nun, warum auch immer, aus Berlin ein. Die Morduntersuchungskommission der Hauptabteilung IX/7 übernahm die Decke am 14. August und schickte sie zur Untersuchung und Begutachtung an die Abteilung 32 des MfS (Technische Untersuchungsstelle). Am 15. August konnte die Diplombiologin Gertraude Scharfschwerdt bereits mitteilen, dass es sich bei diesem Blut um Menschenblut handelte, wahrscheinlich mit der Blutgruppe 0. Nun wurden weitere Fragen an die Expertin gestellt:
Wie lange kann die Decke dort gelegen haben?Welche Fremdsubstanzen befinden sich an ihr?Sind die daran befindlichen Schnittstellen in der letzten Zeit verursacht worden?Ist es möglich, die genaue Blutgruppe zu bestimmen?Zu den Schnittstellen machte die Diplombiologin in ihrem Gutachten vom 24. September 1963 grundlegende Aussagen, nachdem bei weiterer Absuche des Waldstückes noch ein graues Stoffstück (0,55 x 0,58 Meter) aufgefunden worden war – mit Blutflecken und vom Material der Decke.
Sie konnte feststellen, dass es sich bei den beiden eingesandten Proben um gleichartiges Material handelte und auch hinsichtlich der Farbe Übereinstimmung bestand. Auch die Fasern, die detailliert untersucht wurden, waren gleichartig. Die Schnittkanten hatten einen gleichartigen Verlauf. Allerdings konnten keine individuellen Merkmale des Schneidwerkzeuges festgestellt werden. So blieb offen, ob der Schnitt mit einem zweiseitig wirkenden Werkzeug (Schere) oder mit einem einseitig wirkenden Werkzeug (Messer) verursacht worden war.
Dem Gutachten vom 10. Oktober 1963 über die Blutspuren wurden ebenfalls die graue Schlafdecke und der Teil dieser Decke zugrunde gelegt. Mit eingesandt wurde eine graue Schlafdecke als Vergleichsmaterial, ebenfalls mit dem Stempel »EKO« versehen.
Gertraude Scharfschwerdt kam dabei in einem sechsseitigen Gutachten zu folgenden Ergebnissen:
1. Auf der grauen Wolldecke und auf dem Teil einer grauen Wolldecke befand sich Menschenblut.
2. Infolge der langen Lagerung der Blutspur und der ungünstigen Witterungseinflüsse, die auf die Blutspur eingewirkt hatten, ließ sich eine Geschlechtsbestimmung an der Blutspur nicht mehr durchführen.
3. Auch der Nachweis von Menstrualblut war nicht möglich. Die Untersuchungen ergaben jedoch einen Hinweis, dass es sich bei dem Blut auf dem Stück Stoff eventuell um Blut eines Neugeborenen beziehungsweise Säuglings in den ersten Lebenswochen handeln könnte. Das Ergebnis war aber nicht gesichert.
4. Eine Altersbestimmung der Blutspuren war ebenfalls nicht mehr möglich.
5. Das Blut auf der Schlafdecke sowie auf dem Stück Stoff gehörte der Gruppe 0 (Null) an.
6. Es wurden auch Farbproben der grauen Wolldecke und der grauen Wolldecke als Vergleichsmaterial (jeweils mit dem Eigentumsstempel »EKO«) untersucht, mit dem Ergebnis, dass zwischen beiden Stempelfarben keine Artgleichheit bestand, so dass die Stempelabdrücke möglicherweise aus verschiedenen Zeiten stammten.
Am 20. August 1963 wurde im Eisenhüttenkombinat Ost ermittelt, dass die Schlafdecken mit dem Stempel »EKO« bereits seit 1953 ausgegeben wurden. »Es hat jeder, der dort beschäftigt ist oder dort beschäftigt war und derartige Decken benötigte, diese ausgehändigt bekommen. Eine Kontrolle darüber besteht nicht«, heißt es in dem Protokoll, »da ein großer Teil der Decken nicht wieder abgegeben wurde. So besteht die Möglichkeit, dass derartige Decken über die ganze DDR verstreut sind.«
Wir begeben uns nun in die Nähe von Sielow, nordwestlich von Cottbus gelegen. Der Ort war lange eine selbstständige Gemeinde im Landkreis Cottbus und später im Kreis Cottbus, wurde aber zum 6. Dezember 1993 nach Cottbus eingemeindet, so dass Sielow heute ein Ortsteil der Stadt ist.
Dreißig Jahre zuvor, am 25. August 1963 gegen 11 Uhr, wurde eine kindliche Leiche in einer Kiefernschonung in der Nähe von Sielow gefunden. Der Behördenangestellte vom Transportpolizeiamt Cottbus, Karl Meyer, der mit seiner Familie in Sielow wohnte, war mit seiner sechsjährigen Tochter im Wald unterwegs gewesen, um Pilze zu sammeln. In seiner Zeugenvernehmung schilderte er die Auffindesituation so:
»Bei diesem Waldstück handelt es sich um eine dichte Schonung mit sehr viel Unterholz, und meine Tochter klagte dann darüber, dass ihr die Zweige ins Gesicht schlugen. Ich sagte zu meiner Tochter: ›Wir laufen den alten Schützengraben entlang, da schlagen dir keine Zweige ins Gesicht.‹ Als ich diesen Schützengraben circa zwanzig Meter entlang gelaufen war, bemerkte ich eine schmale Lichtung, welche in Richtung Burger Chaussee führte. Diese Schneise wollte ich benutzen, um rechtzeitig und ohne Mühe nach Hause zu gelangen. Als ich circa zwanzig bis vierzig Meter diese Richtung entlang ging, kam ich an einer größeren Grube vorbei. Unmittelbar vor dieser Grube sah ich mehrere Lottoscheine und Bonbonpapier herumliegen. (…)
Meine Tochter ging vorweg, und als sie auf der Aufschüttung dieser Grube war, rief sie: ›Papi, da unten steht ein Steinpilz.‹ Sie deutete dabei in die Grube. Ich sah nach dort und bemerkte, dass inmitten der Grube auf dem Boden eine braungefärbte Kuppe zu sehen war. Ich begab mich daraufhin in die Grube und stieß mit dem Schuh gegen diese Kuppe. Hierbei bemerkte ich, dass es sich dabei um Fleisch handelte, da es während des Stoßes nachgab. Ich war der Meinung, dass es sich um ein Knie oder um ein Kinderköpfchen handelte. Daraufhin lief ich aus der Grube heraus, den von da aus führenden Schützengraben in Richtung Burger Chaussee entlang und ging zur Straße. Dort traf ich einen aus Richtung Cottbus kommenden Motorradfahrer, den ich versuchte anzuhalten, der aber nicht auf meine Zeichen reagierte. Ich lief dann zur Sielower Landstraße, dort traf ich den aus Richtung Cottbus kommenden Schulleiter Brand aus Sielow. Diesem sagte ich, dass er zu dem ABV Fenger fahren solle, da ich etwas Verdächtiges gefunden habe. Ich begab mich daraufhin zu meiner Wohnung und beabsichtigte, nochmals mit meinem Vater [die Eltern wohnten auch in Sielow, Anm. d. Verf.] zu dieser Fundstelle zu fahren. In der Zwischenzeit erschien der Genosse Fenger, mit dem ich dann zu dieser Stelle mit dessen Motorrad fuhr. Wir überzeugten uns, dass es sich um ein Knie handelte. Wir veränderten die Stelle weiter nicht. Ich blieb an dieser Stelle stehen, und der Genosse Fenger begab sich nach Hause, um den Kriminaldienst zu verständigen.«
Interessanterweise wurde Karl Meyer in dieser Zeugenvernehmung auch gefragt, was er über den Tag, als das Kind spurlos verschwunden war, berichten konnte. Nach dem Motto, wer eine Leiche im Wald findet, könnte auch der Mörder sein.
Er antwortete: »Von diesem Tag kann ich nichts berichten, da ich vom 21.7.1963 7.30 Uhr bis zum 22.7.1963 7.30 Uhr Kriminaldienst hatte. Diesen Dienst verrichte ich im Transportpolizeiamt Cottbus.«
Die Morduntersuchungskommission Cottbus der BDVP Cottbus untersuchte am 25. August 1963 in der Zeit von 12.55 Uhr bis 17.30 Uhr den Fundort und sicherte die Spuren. Dieser Ort war nur wenige Kilometer vom damaligen Wohnort von Marita Ezold in Cottbus entfernt. Im Tatortbefundbericht können wir lesen:
»Beim Versuch, die Lage der Leiche festzustellen, stößt man stellenweise bereits bei zwei Zentimetern Tiefe auf Widerstand. Nach der fotografischen Aufnahme des Fundortes sowie der Spurensuche und -sicherung wird die Leiche vom Leiter der MUK und dem Sachbearbeiter KT mit den Händen freigelegt. Der Sand wird nach den Seiten entfernt. Im Sand befinden sich eine Anzahl von Fliegenmaden und bereits verpuppte Maden. Je näher man auf die Leiche zukommt, desto feuchter wird der Sand, und es macht sich ein Verwesungsgeruch bemerkbar. Nach dem vollständigen Freilegen wird aufgrund der vorhandenen Beschreibung der Bekleidung einwandfrei festgestellt, dass es sich um die Leiche der Marita Ezold handelt. Die sichtbaren Körperteile sind mit einer dichten feuchten Sandkruste überzogen. Es wird davon abgesehen, diese Sandkruste zu entfernen, da sich bereits die Haut ablöst. Die Leiche der Marita Ezold liegt auf dem Rücken.«
Im Umkreis der Grube wurden verschiedene Gegenstände gesichert, darunter zehn Stück Lottoscheinbanderolen 28. Woche, zwei Stück Lottoscheinbanderolen 25. Woche, zwölf Stück Lottoscheine, je einmal durchgerissen, 21 innere und 21 äußere Umhüllungen von Sahnebonbons, eine Tüte für Sahnebonbons, eine Eintrittskarte vom Tierpark Cottbus, ein Zellophanbeutel mit Staniolpapier und anderen Papierresten mit ausländischer Beschriftung, zwei Stück Papierbeutel (Tüten), beide stark zerknüllt, zwei Stück Trinkmilchflaschendeckel aus Pappe mit der Aufschrift Donnerstag.
Ein alter polizeilicher Grundsatz besagt, dass allen Spuren konsequent und sorgfältig nachzugehen ist. Und zwar gleich von Anfang an. Das hat man hier auch getan, doch all der Müll, der am Fundort der Leiche hinterlassen worden war, stammte nicht vom Mörder, sondern von anderen Personen. Und so führten diese Ermittlungen vom Täter weg und nicht zum Täter hin. Aber die Kriminalisten wollten sich wohl nicht dem Vorwurf aussetzen, etwas übersehen zu haben.
Die Leiche des Kindes wurde zur Obduktion in das Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin, Hannoversche Straße 6, nach Berlin-Mitte überführt. Die Sachverständigen waren der Institutsdirektor Prof. Dr. med. Otto Prokop und Dr. med. Hildegard Falk. Im Ergebnis musste leider festgestellt werden: »Todesursache: pathologisch nicht sicher fassbar.«
Zerreißungen an der Kleidung wurden im Gutachten beschrieben, insbesondere am Schlüpfer im Bereich des Zwickels. Bei den Zerreißungen am oberen Rand des Schlüpfers wurde darauf hingewiesen, dass das Gewebe in dem Bereich bereits ziemlich »zundrig« (wie Zunder) gewesen sei und auf mäßigen Zug hin zum Zerreißen gebracht werden konnte. Die Sektion ergab keinen sicheren Anhalt für eine grobe äußere Gewalteinwirkung, insbesondere konnten keine Verletzungen des Skelettsystems oder gröbere Unterblutungen in der noch erhaltenen Muskulatur festgestellt werden. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass Teile der Haut und des Unterhautfettgewebes infolge fortgeschrittener Fäulnis bereits fehlten und dadurch nicht beurteilt werden konnten. Ein Tod durch Ersticken konnte weder mit Sicherheit nachgewiesen noch ausgeschlossen werden.
Eine Blutgruppenbestimmung war nicht mehr möglich, es wurde aber Blut zurückbehalten, wobei versucht werden sollte, die Gm-Gruppe, eine Serum-Gruppe, zu bestimmen. Das Ergebnis sollte nachgereicht werden. Auch wurden Teile einzelner Organe zur feingeweblichen Untersuchung zurückbehalten sowie Teile der inneren Organe zur chemisch-toxikologischen Untersuchung.
Die Information an die Bevölkerung erfolgte umgehend. Die Lausitzer Rundschau meldete am 27. August 1963, dass das Kind tot aufgefunden worden war.
»Marita E. aufgefunden«, Lausitzer Rundschau vom 27. August 1963
Einen Tag später bat die Volkspolizei in dieser Zeitung weiter um die Mitarbeit der Bevölkerung, weil das Kind einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Die Kriminalisten waren sicher, dass ein Sexualmord verübt worden war, der unbedingt aufgeklärt werden musste.
»Marita E. wurde Opfer eines Verbrechens«, Lausitzer Rundschau vom 28. August 1963
Wir können in dieser Fallbeschreibung nicht alle Spuren verfolgen, nicht über alle Verdächtigungen, Prüfungshandlungen und Aussagen berichten, die wir in den Akten gefunden haben. Es wurde intensiv ermittelt und geforscht, mit einem sehr hohen Kräfteaufwand – was jetzt bewiesen werden soll.
Erstens
Schätzungsweise zweitausend Personen wurden befragt und/oder auf ein Alibi hin überprüft. Dazu gibt es viele Dokumente, zum Beispiel:
Befragung der Posten des NVA-Objektes Sielower Landstraße am 2. September 1963 durch das MfS, mit dem Ziel festzustellen, ob die Torposten und die Posten des Munitionsplatzes am 21. Juli 1963 bestimmte Wahrnehmungen gemacht hatten, die mit dem Verbrechen an dem Kind Marita Ezold im Zusammenhang stehen könnten. Das Objekt befand sich etwa fünfhundert Meter vom Fundort des Kindes entfernt. Keiner der Befragten konnte einen Hinweis geben.Befragung von 43 Personen, die in der Nähe des Fundortes der Leiche von Marita Ezold wohnten, vom 4. September 1963Überprüfung der Häuser in der Nähe des Fundortes der Leiche vom 5. September 1963 (sechzig Adressen, in fast allen Fällen konnten die Bewohner befragt werden)zwei Protokolle zu Überprüfungen der Häuser in der Umgebung des Fundortes der Leiche vom 6. September 1963 (47 und 31 Adressen, es wurden fast alle Personen angetroffen und befragt).Hunderte »sittlich angefallene Personen«, wie es in den Berichten heißt, wurden überprüft und befragt. Jeder noch so geringe Verdachtsfall geriet in den Fokus der Kriminalisten: Exhibitionisten, Vorbestrafte wegen verschiedener Sexualdelikte, alte und neue Missbrauchsfälle mit unbekannten oder bekannten Tätern. So wurde das Alibi eines R. aus Cottbus überprüft, der in der Zeit von 1956 bis 1960 durch sexuellen Missbrauch an Kindern bekannt geworden war. Das Verbrechen hieß damals nach dem alten Strafgesetzbuch »Unzucht«. Die Frage war immer: Kommen diese Personen auch für den Mord an Marita Ezold infrage? Eine Sisyphusarbeit.
Zweitens
Durch die Presseberichte aufmerksam geworden, meldeten sich viele Zeugen, die das gesuchte Kind gesehen haben wollten.
Frau T. aus Aue erklärte in ihrer Zeugenvernehmung vom 30. Juli 1963 im VPKA Aue, Abt. K: »Auf die heutige Mitteilung und Aufforderung zur Mitfahndung nach dem achtjährigen Mädchen im Neuen Deutschland kann ich folgenden Hinweis geben: Gestern, am 29.7.1963, gegen 14.00 Uhr lief ich in Aue die Alberodaer Straße entlang. In Höhe der Eisenbahnbrücke sah ich ein etwa sieben Jahre altes Mädchen stehen, das am linken Arm, vom Ellenbogen nach oben verlaufend bis zum Anfang des Ärmels des Kleides sichtbar, eine Narbe an der hinteren Seite des Armes hatte. Das Mädchen kann etwa einen Meter groß gewesen sein, hatte dunkelblonde lange Haare, ob es einen Pferdeschwanz hatte, weiß ich nicht genau. Das kurzärmlige Kleid muss auch weiß mit blauen Ringen durchsetzt gewesen sein. Das Mädchen führte einen grauen Puppenwagen in Form eines normalen Kinderwagens bei sich.« Eine andere Zeugin erklärte, das Mädchen mit Sicherheit am 29. Juli 1963 gegen 16 Uhr auf der Straße der Befreiung gesehen zu haben. Sie verwies dabei auf eine Mitteilung über ein vermisstes Kind in der Bezirkszeitung Freie Presse