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Im Sommer 1988 fährt eine 13-jährige Berlinerin zu Verwandten in den Bezirk Potsdam - und kommt dort nie an. Trotz vieler Hinweise vom Tatort und der Leiche des bei Wandlitz ermordeten Mädchens gelingt es nicht, den Täter zu überführen. Am 1. November 1989 wird der Fall zu den Akten gelegt - über zehn Jahre danach wird er jedoch wieder aufgerollt. Ein hoher Funktionär aus dem Vertrautenkreis um Margot Honecker wurde ermordet. Es beginnt eine der spektakulärsten Fahndungen der DDR-Kriminalgeschichte - vergebens. Erst ein Zufall Jahre später bringt entscheidende Hinweise. Was veranlasste den Oberleutnant aus dem Ministerium für Staatssicherheit, einen perfiden Plan zur Ermordung seiner Ehefrau monatelang umsichtig ins Werk zu setzen? Spielte seine Geliebte eine Rolle? Remo Kroll, aktiver Kriminalist, und Frank-Rainer Schurich, ehedem Professor für Kriminalistik an der HU zu Berlin, stellen drei spannende wahre Kriminalfälle aus DDR-Zeiten vor. Sachbezogen und auf Basis der originalen Akten rekonstruieren sie den Tathergang, analysieren die Ermittlungsansätze und lassen die Leser an der mit unter überraschenden Aufklärung teilhaben, die in zwei Fällen erst Jahre nach den Taten selbst erfolgt - und beweisen damit einmal mehr: Verbrechen lohnt sich (doch) nicht!
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Seitenzahl: 204
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Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich
Die Tote von Wandlitz
und zwei weitere authentische Kriminalfälle
aus der DDR
Bild und Heimat
Von Frank-Rainer Schurich liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:
Darauf können Sie Gift nehmen. Kleines Kuriositätenlexikon der Kriminalgeschichte (2013)
eISBN 978-3-95958-709-9
1. Auflage
© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © arfo, shutterstock
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Vorwort
In unserem Buch Die Tote von Wandlitz stellen wir drei spektakuläre Mordfälle aus der DDR vor, die alle einen Bezug zur Gegend um die Gemeinde Wandlitz haben. Auf der Basis der Original-Akten haben wir jeweils den Tathergang rekonstruiert, die Ermittlungsansätze analysiert und die zum Teil sehr überraschende Aufklärung der Kriminalfälle dargestellt, die in zwei Fällen erst Jahre nach den Taten selbst in der neuen BRD erfolgte.
Wir haben versucht, die schweren Verbrechen, die 1971, 1987 und 1988 verübt wurden, und deren Aufklärung aus den vielen tausend Puzzlestücken, die sich in den Akten befinden, so zu erzählen, dass diese Geschichten der Wahrheit, die in diesen Fällen verborgen ist, ganz nahe kommen. Aber wir wissen schon, dass auch in den Akten nicht immer die Wahrheit aufgeschrieben worden ist. Das war früher so, und das ist auch heute noch so.
Je dichter wir uns den vergangenen Geschehnissen genähert haben, desto mehr wurde unsere Aufmerksamkeit nachhaltig gefesselt. In der Kriminalerzählung Adam Urbas hat der Schriftsteller Jakob Wassermann (1873-1934), der in seinem Werk immer für Gerechtigkeit und Wahrheit eintrat, den Schaffensprozess umschrieben, der uns beim Schreiben, bei unserer Reise in die Vergangenheit magisch in den Bann zog: »Es war, als gingest du an einer Mauer entlang, die aussieht wie alle andern Mauern in der Welt; plötzlich gewahrst du, erst kaum bemerkbar, dann immer deutlicher, gewisse Zeichen und Runen, die zu prüfen ein Etwas dich zwingt; du kommst nicht mehr los, du beginnst Gruppe um Gruppe zu entziffern, und schließlich wird dir eine unerwartete Mitteilung über das verschlossene Gebiet, das hinter dieser Mauer liegt.«
Unser Ziel war es ebenfalls, den Lesern unerwartete Mitteilungen über ein verschlossenes Gebiet zu machen, je nach Betrachtungsweise hinter oder vor der Mauer gelegen, um die alten und neuen Zeiten besser verstehen zu können.
Die Namen der Täter, Opfer und Zeugen sowie einige Handlungsorte haben wir aus personenrechtlichen Gründen verändert. Für die so neu erfundenen Namen erklären der Verlag und die Autoren, dass Personen dieses Namens in den behandelten drei Mordfällen in keinem Fall agiert haben. Übereinstimmungen sind rein zufällig. Dadurch notwendige Namensänderungen und Ergänzungen in Zitaten haben wir in [Klammern] gesetzt.
Die Abbildungen sind bis auf einige Ausnahmen den Akten der BStU entnommen; bei der Nutzung anderer Quellen haben wir im Umfeld des Bildes darauf hingewiesen.
Wir danken allen sehr herzlich, die unser Projekt unterstützt haben, namentlich Frau Brandt von der BStU für die Bereitstellung der Akten, Herrn Dipl.-Krim. Hans Becker für die wichtigen Hinweise zum Fall des MfS-Oberleutnants Werner Maschke und Herrn Dipl.-Krim. Bernd Bories für die erhellende Mitarbeit bei den Fällen Maria Meißner und Gerhard Herdegen. Die Letztgenannten waren damals an der Untersuchung dieser Kriminalfälle beteiligt, was für uns von großem Wert war. Herr Dipl.-Biol. Dr. Detlef Kauczinski, Sachverständiger für Forensische DNA-Analytik beim Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern, gab uns wesentliche Hinweise zum Kapitel der DNA-Spuren, insbesondere für die Geschichte Tod am Autobahnsee.
In diesem Buch treten keine alles wissenden Kriminalisten auf, aber zumeist schon solche, die fachlich sehr gut ausgebildet der Aufdeckung und Aufklärung von Straftaten und damit der Wahrheit verpflichtet sind. Wir fragen nach dem Täter und seinen Motiven, nach dem oder den Opfern und nach den taktischen Fehlern, die bei der Untersuchung dieser Tötungsdelikte gemacht wurden. Und wir beweisen, dass Mord und Totschlag immer zum Weg ins Nichts führen und sich Verbrechen (doch) nicht lohnen.
Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich
Tod am Autobahnsee
Es gibt Wahrheiten, die wir herbeisehnen, und solche, vor denen wir uns fürchten müssen.
Was an diesem 1. Juli 1988 geschehen sollte, war nicht vorhersehbar, eigentlich undenkbar, und doch gab es plötzlich geheimnisvolle Tatsachen, die man nicht leugnen, verdrängen und schon gar nicht verdrehen konnte. Es war halt alles so passiert. Den nackten Tatsachen konnte auch niemand mehr etwas hinzufügen. Das Unglaubhafte war plötzlich, ganz plötzlich glaubhaft geworden.
Doch der Reihe nach.
Eigentlich begann alles mit einem deutsch-deutschen Projekt, nämlich mit dem Bau der Transitautobahn von Berlin nach Hamburg, die zur Voraussetzung hatte, dass auch der nördliche Berliner Ring, der auf dem Gebiet der DDR im Bezirk Potsdam lag, fertiggestellt werden musste. So entstand ab den 1970er Jahren durch die Förderung von Kies nordöstlich der Stadt Velten ein etwa zwölf Hektar großer See, der zunächst Autobahnsee Velten-Pinnow genannt wurde.
Er hieß deshalb so, weil er genau zwischen der Stadt Velten und der Ortschaft Pinnow lag, die nun von der Autobahn getrennt wurden, aber eigentlich gehörte er weder zu Pinnow noch zu Velten, sondern zur Gemeinde Hohen Neuendorf.
In dem Buch Baden ohne. FKK zwischen Mövenort und Talsperre Pöhl von Friedrich Hagen (VEB Tourist Verlag Berlin und Leipzig 1982) liest sich das so:
»Der Autobahnsee Velten-Pinnow liegt südlich des Berliner Autobahnringes direkt an der Anschlussstelle Velten, langgestreckt neben dem Damm, dem er seine Existenz verdankt. Beim Bau der Autobahn wurde hier der Sand für die neue Trasse gewonnen.
Das große Loch, das dabei gebaggert wurde, ist nun ein See, mit dem sich ein Zweckverband beschäftigt. Dieses blaue Rechteck von etwa 300 m mal 600 m brachte Velten in jüngerer Zeit bedeutend öfter ins Gespräch, als die Ofenkacheln, die es im Wappen führt. Jedenfalls unter Badelustigen.
Im Viereck Oranienburg – Birkenwerder – Velten – Hennigsdorf wurde die Erholungslandschaft für die Sommersaison bedeutend belebt. Havel, Lehnitzsee und die dazugehörigen Kanalarme können alle zusammen nicht so viele Badebedürfnisse decken, wie das Baggerloch in der Niederheide. Es ist auf dem besten Wege, das beliebteste Baderevier im Nordwesten der Hauptstadt [der DDR] zu werden. Nicht zuletzt auch wegen des sonnigen FKK-Strandes mit großer sandiger Strand- und Liegefläche, zu dem etwa zwei Fünftel der gesamten Uferlinie mit Badebetrieb gehören. Teile von Textil- und FKK-Strand werden von Rettungsschwimmern beaufsichtigt …
Zwischen Berlin und Plau/Malchow, Richtung Norden nach Rostock, und Erkner mit Grünheide im Osten der Hauptstadt, gibt es keine andere Badegelegenheit so nahe an der Autobahn und schon gar nicht mit FKK-Strand.«
Eine Karte lieferte das Buch gleich mit:
Seit 2008 heißt dieser See nun Bernsteinsee (der jetzt in die Stadt Velten eingemeindet wurde), und hier befindet sich heute, wie die Werbetexte verraten, eine für die Region einzigartige Wasserski- und Wakeboardanlage.
Wir müssen nicht erklären, was Wakeboard ist, denn als das geschah, über das wir berichten wollen, gab es eine solche einzigartige Anlage dort noch nicht, sondern nur bescheidene Tretboote, Strandkörbe, Liegestühle, Luftmatratzen und allerlei Spielgerät, die oder das man sich ausleihen konnte. Und natürlich fanden die Besucher eine Gaststätte auf dem Gelände vor, die leicht egozentrisch »Seeperle« hieß. Und an der Hauptbadestelle gab es sogar ein komplettes Sanitärgebäude, während man in FKK-Strandnähe mit Trockentoiletten vorlieb nehmen musste.
Und es gab natürlich Schwimmmeister, die auch Bademeister genannt wurden, die aufmerksam darüber wachten, dass nichts passierte am wunderschönen Autobahnsee zwischen Velten und Pinnow.
So hat unsere Geschichte auch damit zu tun, dass sich Hans Stolpe um eine Stelle als Bademeister beim Zweckverband Autobahnsee Velten-Pinnow mit Sitz in Borgsdorf, Veltener Chausee 6, bewarb – und diese Stelle bekam. Als Rettungsschwimmer war er für diesen Job hervorragend qualifiziert.
In Borgsdorf gab es nicht nur die Zentrale des Zweckverbandes, sondern auch eine Station der Berliner S-Bahn, und wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Autobahnsee wollte, war es von Berlin aus am günstigsten, dort auszusteigen und zum See zu laufen, aber es gab auch eine Buslinie, die zum vielleicht vier Kilometer entfernten DDR-Badeparadies fuhr.
Einen Kiessee gibt es auch bei der Ortschaft Börnicke, rund 20 Kilometer westlich von Velten. Nicht so schön, nicht so gut zu erreichen, aber auch ein Eldorado für Schwimmer und Bader. Hans-Ulrich Uhlenhorst aus Grünefeld, der östlichen Nachbargemeinde von Börnicke, fand am 2. Juli 1988 verdächtige Damenbekleidungsstücke am Kiessee. Nach Kontakt mit dem zuständigen Abschnittsbevollmächtigten (ABV) der Deutschen Volkspolizei suchten Uhlenhorst und der Leutnant der VP, Herbert Friedrichsen vom Volkspolizeikreisamt (VPKA) Nauen, also von der zuständigen Behörde, einen Tag später die besagte Stelle auf. Die aufgefundene Kleidung war durchnässt und wurde teilweise von einem Baum am See gesichert und mitgenommen. Dabei handelte es sich um die folgenden Bekleidungsstücke:
1. grau-violett, mehrfarbig karierter Rock mit weißem Reißverschluss – Größe 140 vom VEB Kinderbekleidung Groß Röhrsdorf,
2. hellrosafarbene dünne, ärmellose Bluse, hinten verschließbar, Knopfleiste ohne Knöpfe, Größe 42 mit Spitzeneinsatz,
3. hellrosafarbenes kurzes Damenunterkleid, ärmellos, mit Spitze besetzt,
4. hautfarbener BH, mit rosafarbenem Plastverschluss auf dem Rückenteil, unbeschädigt,
5. schwarzer, geblümter Damenslip, unbeschädigt, Silastik,
6. zwei bräunliche Strumpfhosen,
7. eine rechte schwarze Damensandalette mit Riemchen, Pfennigabsatz, Marke »Goldpunkt«, Größe 26,5,
8. eine linke schwarze Damensandalette mit Riemchen, Pfennigabsatz, Marke »Goldpunkt«, Größe 25, ähnliches Modell wie unter 7. aufgeführt.
Dieser Aufzählung ist erklärend hinzuzufügen, dass das Kunstwort Silastik in der DDR eine beliebte elastische Texturseide aus Dederon, einem Polyamidfaserstoff, beschrieb – mit hervorragenden Trageeigenschaften. Und auch das Wort Plastverschluss ist ein typisches DDR-Wort und bedeutete einen nichtelastischen Kunststoff. War der Kunststoff elastisch, hieß er Elaste. Das Wortpaar Plaste und Elaste war damals in aller Munde und verrät heute nur noch den DDR-Bürger, vor allen Dingen wenn er weiß, dass diese Plaste und Elaste aus Schkopau kamen.
Die Bekleidungsstücke, deren Herkunft unklar war, wurden der Kriminalpolizei in der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Potsdam zur Aufbewahrung übergeben. Die Merkwürdigkeiten in der Zusammensetzung der gefundenen Sachen sind damals wohl thematisiert worden, nicht aber in den Protokollen dokumentiert. Immerhin fand Herr Uhlenhorst aus Grünefeld Schuhe und Kleidungsstücke mit unterschiedlichen Größen.
Aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, dass der Bürger den Fund sofort meldete und nicht einfach, wie heute üblich, wegschaute. Er wusste zwar nicht, wie die Sachen an den Kiessee bei Börnicke gekommen waren, aber irgendwie musste er doch eine Ahnung gehabt haben, dass vielleicht etwas Schreckliches passiert ist ...
Am 4. Juli 1988, an einem Montag, verlief der Tag am Autobahnsee ruhig und ohne Vorkommnisse. Alle hatten alles im Griff: der Schwimmmeister und die Rettungsschwimmer, die Angestellten und Zeithilfen, die in verschiedenen Funktionen dort arbeiteten, die Mitarbeiter der Gaststätte »Seeperle«, die nett, freundlich und schnell ihre Getränke und Speisen servierten. Die Welt schien in Ordnung zu sein an diesem Montag.
Hans Stolpe, der Schwimmmeister, wohnte mit seiner Familie nur fünf Minuten vom Autobahnseebad entfernt in Borgsdorf. Auch familiär schien die Welt in Ordnung zu sein. Seine Frau, die sich gerade im Mütterjahr befand, hatte wie er Arbeit, die beiden größeren Kinder lernten fleißig in der Schule, und zu seinen Geschwistern und zur Familie seiner Frau pflegten sie herzliche Beziehungen. Wenn Hilfe notwendig war, half man sich sofort.
Seine Schwester wohnte mit ihrer Familie in Berlin, in Hohenschönhausen in der Werneuchener Straße. In der Hauptstadt der DDR zu wohnen, hatte schon immer versorgungstechnische Vorteile, und wenn die Borgsdorfer Familie etwas Besonderes benötigte, reichte ein Telefonat mit den Berlinern, und die Dinge wurden besorgt. Wichtig war zum Beispiel eine Mitteilung, wann es in der »Jugendmode« in der Brüderstraße im Stadtbezirk Mitte wieder Levis-Jeans aus dem Westen gab. Dann fuhren sie natürlich selbst dorthin, denn die Hosen sollten ja nicht nur aus dem Westen sein, sondern vor allen Dingen auch passen.
Anlässlich eines solchen Versorgungsengpasses rief Regina Stolpe am 4. Juli 1988 in den Nachmittagsstunden, gegen 16.30 Uhr, ihre Schwägerin in Berlin an und erreichte sie in ihrem Büro. Sie konnten sich nur kurz verständigen, da der Chef der Schwägerin schon hinter ihr stand und mit einer dienstlichen Frage drängte. Sie versprach kurz und knapp, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Regina Stolpe wollte schon den Hörer auflegen, als ihre älteste Tochter noch in das Gespräch ihrer Mutter hineinrief: »Und schöne Grüße an Maria!«
»Ja«, sagte Frau Stolpe, etwas genervt zur Tochter gewandt, »na klar, schöne Grüße an Maria.«
»Wieso an Maria?«, fragte die Berliner Schwägerin etwas überrascht. »Die ist doch gerade bei euch. Ich wollte gerade fragen, wie es ihr geht bei euch.«
Nach einer kleinen Pause erwiderte Regina Stolpe auch recht verwundert: »Nein, die ist nicht bei uns. Ganz sicher. Sie hatte zwar gesagt, dass sie vielleicht am Freitag nach der Zeugnisausgabe kommt … Aber hier ist sie nicht. Sie ist nicht gekommen. Ganz bestimmt.«
Die Pause, die nun entstand, gehörte zu denen der ungewissen und schrecklichsten Art. Betroffenheit und Angst machten sich breit. Plötzlich war für die beiden Frauen die Welt überhaupt nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Frage des Chefs war nun urplötzlich eine Nebensächlichkeit geworden.
»Aber, Maria ist am Freitag nach der Zeugnisausgabe zu euch gefahren, sie muss doch bei euch sein.« Dies war der letzte hilflose Versuch von Marion Meißner, die bange Wahrheit, vor der sie sich immer gefürchtet hatte, nicht eintreten zu lassen in ihr Leben, das bisher völlig in Ordnung war. »Nichts bringt uns auf unserem Weg besser voran als eine Pause«, hatte sie neulich als Spruch in der Berliner Zeitung gelesen, aber auf diese Pause hätte sie liebend gern verzichtet, weil sie ahnte, dass diese sie nicht auf ihrem Weg voranbringen wird. Im Gegenteil. Die Welt hatte sich drohend verdunkelt.
Die Eltern der 13-jährigen Maria Meißner verabredeten sich sofort und fuhren mit ihrem Auto zu den Stolpes an den Autobahnsee, weil sie nicht glauben wollten, was sie eben vernommen hatten. Aber Maria war dort wirklich nicht auffindbar. Auch in der Umgebung nicht, die sie sogar bis zum dunklen Wald absuchten.
Vorwürfe, warum die Stolpes sich nicht gemeldet und nachgefragt haben, wo Maria denn bleibe, brachten auch keine Klärung. Maria kam in der Vergangenheit oft unangemeldet, sie war bei den Stolpes immer gern gesehen. Und auch dieser Besuch von Maria war mit ihren Eltern eher vage ausgemacht worden, so dass sich Regina und Hans Stolpe dachten, dass wohl etwas dazwischengekommen sei, als Maria nicht eintraf. Auf jeden Fall gab es wohl keine Veranlassung, bei den Eltern nachzufragen, warum Maria nicht erschienen war.
Sie hatte vom 20. bis zum 25. Juni 1988 am Veltener Autobahnsee einen Rettungsschwimmerlehrgang absolviert, den der Onkel leitete. Inhalt des Kurses war eine DRK-Ausbildung, weiterhin wurden Abwehrgriffe in den unterschiedlichen Situationen im Trockentraining, aber auch im Wasser geübt. Schwimmen, Tauchen, Abschleppen und Rettungsübungen gehörten zum Pflichtprogramm. Geübt werden mussten auch unterschiedliche Knoten: der Dreiecksknoten, der Palstek mit unverschiebbarer Schlaufe, der Schotstek (mit diesem können zwei Seilstücke miteinander verbunden werden) und ein Befestigungsknoten. Trainiert wurde mit Seilstücken, und die anderen Teilnehmer, die eine höhere Rettungsschwimmerstufe anvisierten, mussten natürlich noch kompliziertere Knoten beherrschen.
Die Kurse fanden von 17 bis 19 Uhr statt, also nach der Schule. Maria war mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Autobahnsee gekommen, und ihr Vater hatte sie in dieser Woche mit dem Auto abgeholt, damit Maria schnell wieder zu Hause war, denn am nächsten Tag war ja wieder Schule. Am 25. Juni, am Tag der Prüfung, hatte sie einen Tag frei bekommen. An diesem Tag hatte Maria, zusammen mit Susanne, der Tochter des Onkels, die Rettungsschwimmerstufe I abgelegt, nach Vollendung des 14. Lebensjahres hätten sie als Strandaufsicht eingesetzt werden dürfen. Das waren ja für die beiden wundervolle Aussichten!
Aber in der ersten Ferienwoche ab dem 1. Juli 1988 wollte Maria einfach nur Urlaub bei Onkel und Tante machen – und vor allen Dingen mit der gleichaltrigen Susanne Stolpe, ihrer besten Freundin, viel Spaß haben und über die Zukunft plaudern, die in diesem Sommer 1988 weit ausgebreitet vor ihnen lag.
Maria hatte im Juni schon gesagt, dass sie gern am 1. Juli unmittelbar nach der Zeugnisübergabe wiederkommen würde. Der Onkel hatte erwidert, dass sie gern kommen kann, wenn ihre Mutter es erlaubte. Auch die anderen Teilnehmer am Rettungsschwimmerlehrgang hatten gewusst, dass Maria vielleicht am 1. Juli 1988 am Nachmittag wieder am Autobahnsee eintreffen würde. Eben vielleicht.
Die Eltern von Maria, deren Gesichtszüge nun die Zeichen eines großen Unglücks trugen, erstatteten in großer Aufregung noch in den Abendstunden des gleichen Tages eine Vermisstenanzeige in der Volkspolizeiinspektion Berlin-Hohenschönhausen. Die Anzeige erhielt die Tagebuchnummer 952/88.
Maria hatte am Freitag, an diesem 1. Juli 1988, gegen 14 Uhr die elterliche Wohnung mit der Absicht, bis zum 6. Juli einen Teil der Ferien am Autobahnsee zu verbringen, verlassen. Sie wurde letztmalig von ihrer Mutter gesehen, als diese Maria vom Balkon aus nachsah, wie sie zur Straßenbahnhaltestelle der Linie 63 ging. Maria wollte eigentlich schon längst auf dem Weg sein, aber an diesem Zeugnistag kam sie viel später aus der Schule als erwartet. Der Fahnenappell hatte sich verzögert. Maria drängelte, denn sie wollte so schnell wie möglich zum Veltener Autobahnsee aufbrechen. Marion Meißner packte die Tasche und legte auch ein Maskottchen hinein. Das sollte Maria Glück bringen …
Die Eltern beschrieben bei der Volkspolizei Marias Kleidungsstücke, die sie am 1. Juli 1988 getragen hatte: ein roter Rock mit linsengroßen weißen Punkten, eine grüne Bluse mit drei Trägern, weiße Söckchen, weiße Sandalen. Auch die Gegenstände, die sie mitgenommen hatte, und der Inhalt der Tasche wurden aufgelistet. Marion und Hans-Dieter Meißner übergaben der Polizei ein Foto von Maria. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass verdächtige Damenbekleidungsstücke am Kiessee in Börnicke gefunden worden waren.
Sorgen um ihre Tochter hatten sich die Eltern nie gemacht, denn seit Mai fuhr Maria mit öffentlichen Verkehrsmitteln immer allein zum Autobahnsee. Sie benutzte, wie an diesem 1. Juli, die Straßenbahnlinie 63, dann vom S-Bahnhof Leninallee die S-Bahn bis Borgsdorf. Dann sei sie immer mit dem Bus zum Onkel gefahren oder, wenn dieser nicht fuhr, gelaufen. Meistens traf sie gegen 17 Uhr dort ein. An dem fraglichen Tag fuhr aber kein Bus, wie die Kriminalisten später feststellen konnten.
Hennigsdorf ist eine brandenburgische Stadt, südlich des Autobahnsees gelegen und damals an Westberlin angrenzend. Das Bauelementewerk Hennigsdorf, ein volkseigener Betrieb (VEB), hatte dort, wie der Name schon sagt, seinen Sitz und produzierte auch im Werk III in Bötzow, westlich von Hennigsdorf. Dort arbeitete die 48-jährige Gerlinde Markert als Maschinenarbeiterin. Auch viel später konnte sie sich noch sehr gut an diesen 4. Juli 1988 erinnern. Die Ereignisse dieses Montags, als das Verschwinden von Maria Gewissheit wurde, hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben.
Ihr Arbeitstag begann damit, dass der Kollege Paul Schneider auf dem Weg zur Arbeit Folgendes gehört haben wollte. Ein Bekannter hätte ihm gegenüber geäußert, dass er am Wochenende zuvor am Kiessee bei Börnicke guterhaltene Frauensachen gefunden hat. Es war von einem rot-weißen Rock, einer grünen oder blauen Bluse und hellen Salamandersandaletten die Rede.
Frau Markert war durch diese Erzählung höchst beunruhigt. Denn am Freitag zuvor, am 1. Juli 1988, hatte sie durch ihren Sohn Nico erfahren, dass Maria, mit der er befreundet war, nicht am Autobahnsee erschienen war, so wie sie es eigentlich verabredet hatten. Er meinte noch, dass sie vielleicht krank geworden sei. Dennoch war sie an diesem Tag sehr beunruhigt, konnte ihre Unruhe aber nicht begründen. Sie verstärkte sich noch, als sie am Montag früh von den gefundenen guterhaltenen Frauensachen hörte. Sie hatte Maria zwar nicht gesehen, aber irgendwie bildete sie sich ein, dass ihr Sohn schon einmal über einen roten Rock mit weißen Punkten gesprochen hatte – Marias Sommerlieblingskleidungsstück. Ein Zuwachs an Kenntnis kann eben immer auch ein Zuwachs an Sorgen sein.
Als ihre Unruhe ohne weitere äußere Einflüsse immer größer zu werden schien, klingelte es abends an der Haustür. Frau Markert öffnete, und vor ihr stand Hans Stolpe, der Schwimmmeister.
»Guten Abend, Frau Markert, ist Nico zu sprechen?«
»Na klar, kommen Sie rein. Nico!!! Komm mal bitte, Herr Stolpe möchte dich sprechen. Worum geht es denn?«
»Um Maria«, sagte er mit ernster Miene. »Nico und Maria sind doch befreundet.«
Am Glanz seiner Augen und an seinen fahrigen Bewegungen mit den Händen erkannte Frau Markert, dass Herr Stolpe innerlich erregt war.
Nico kam aus seinem Zimmer, begrüßte den Schwimmmeister höflich und mit dem gebotenen Respekt.
»Geht mal auf die Veranda«, sagte Frau Markert. »Ich habe noch in der Küche zu tun.« Dann schob sie die beiden leicht und freundlich in Richtung Veranda.
In der Küche war sie mit den Abendbrotvorbereitungen beschäftigt. Von Herrn Stolpe und Nico drangen Gesprächsfetzen zu ihr herüber, die sie nicht entschlüsseln konnte. Durch diesen Umstand wurde ihre Aufmerksamkeit geradezu verschärft. Maria? Maria? Was ist mit Maria? Neugierig geworden, band sie ihre Schürze ab. Während sich die beiden auf der Veranda unterhielten, stürzte Frau Markert mitten in das Gespräch: »Was ist mit Maria?«
Ehe Hans Stolpe antworten konnte, sagte Nico: »Maria wird vermisst. Sie ist am Freitag zu uns aufgebrochen, aber nie bei uns angekommen.«
Frau Markert musste sich auf einen der Korbstühle setzen. »Und, und das haben Sie erst heute herausbekommen?«
»Nun ja«, sagte Hans Stolpe kleinlaut, als er wieder reden konnte, »es war ja nicht sicher, dass Maria kommt. Es war ja nur angedacht. Als sie am Freitag nicht kam, haben wir uns gar nichts dabei gedacht. Es wird irgendetwas dazwischengekommen sein, vielleicht ist sie krank geworden … Aber das hat Nico Ihnen ja bestimmt schon erzählt.«
Die nun einsetzende Stille war trügerisch. Innerlich brodelte es bei allen wie in einem Vulkan. Hans Stolpe bangte um seine Nichte, Nico um seine Freundin, Gerlinde Markert bangte um alle und ihre heile Welt. Dann unterbrach sie unvermittelt das kollektive Nachdenken. »Ich habe auch schlechte Nachrichten. Mein Kollege Schneider hat mir heute Morgen berichtet, dass am Wochenende jemand Frauenkleider am Kiessee bei Börnicke gefunden hatte. Wohl ein rot-weißer Rock, eine grüne oder blaue Bluse und helle Salamandersandaletten.«
Den Schluss, dass diese Bekleidungsstücke Maria gehört haben könnten, zogen alle drei für sich. Diesen schrecklichen Gedanken, nein, den konnten sie einfach nicht aussprechen.
»Na, dann will ich mal gehen«, sagte Hans Stolpe und verließ das Haus.
Gerlinde Markert weinte. »Nicht doch«, sagte Nico und drückte seine Mutter. »Es wird sich schon alles irgendwie aufklären. Maria lebt, bestimmt.«
Das Kunstwort Robotron ist heute der Allgemeinheit kaum noch bekannt; nur die ehemaligen DDR-Bürger wissen noch, dass Robotron ein Unternehmen war, das elektronische Datenverarbeitungsanlagen entwickelte, herstellte, lieferte und beim Kunden betreute. Ein Mechaniker von Robotron machte sich einen Tag zuvor, also am 3. Juli 1988, von Berlin-Hohenschönhausen auf, wo er wohnte, um an der Schönwalder Chaussee zwischen den Ortschaften Schönow und Schönwalde im Kreis Bernau, Bezirk Frankfurt (Oder), Beeren zu sammeln.
Das Beerensammeln gestaltete sich sehr erfolgreich – bis er eine furchtbare Entdeckung in einem mit Gestrüpp bewachsenen Waldstück machte. Auf dem Boden zwischen großen Farnpflanzen lag eine Leiche, die mit einer Wolldecke abgedeckt war. Der Mechaniker, 38 Jahre alt, schaute instinktiv auf seine Armbanduhr, die 12.29 Uhr anzeigte. Er rannte, zu Tode erschrocken, zu seinem Auto zurück, das er auf der Chaussee abgestellt hatte, und fuhr zum Zeltplatz Gorinsee, der ungefähr 400 Meter von der Fundstelle entfernt lag. Handys gab es noch nicht, aber die Mitarbeiter des Zeltplatzes verfügten über ein Telefon, so dass schon um 12.59 Uhr die Volkspolizei informiert werden konnte, die um 13.29 Uhr am Ort des Geschehens eintraf.
In der ersten Sofortmeldung des VPKA Bernau vom 3. Juli 1988, um 14.00 Uhr abgesetzt, war dann merkwürdigerweise von einer männlichen Leiche die Rede, die mit einem roten Damenkleid abgedeckt wäre. Veranlasst wurde der Einsatz zur weiträumigen Sicherung des Ereignisortes mit neun Polizisten und drei Funkstreifenwagen, der Einsatz von fünf Kriminalisten, die Morduntersuchungskommission wurde um 13.30 Uhr angefordert, der Fährtenhundeführer ebenfalls; ferner informierte man Staatsanwalt Pickert, die Kreisdienststelle MfS und die SED-Kreisleitung Bernau. Das hatte der Meldende, Hauptmann der VP Goldbach als Operativer Diensthabender (ODH), alles sehr richtig gemacht, auch wenn die Ausgangsdaten etwas fehlerhaft waren.
Aus der Ergänzungsmeldung von Oberleutnant der K Buchholz ist dann zu erfahren, dass die weibliche Leiche, ca. 20 bis 25 Jahre alt, linksseitig der Straße, ca. 20 bis 30 Meter von der Straße entfernt im Wald liegt, ca. 500 Meter von der Gaststätte »Libelle« entfernt. Auf der Hälfte des Weges wurde ein rotes Kleid gefunden, Schleifspuren sind sichtbar. Weiterhin lesen wir in dem Dokument, das mit dem Fernschreiber abgesetzt wurde:
»… blutverschmiertes gesicht, vor dem mund schaum, um hals waescheleine zweifach umschlungen, an der seite verknotet, person mit nicky bekleidet, bis ueber die brust hochgezogen, unterleib entkleidet. es sind spuren der gewaltanwendung erkennbar. weiter bekleidet mit weiszen socken, weiszen sandalen, person mit gemusterter decke abgedeckt.«
Die gesamte Auffindesituation zeigte den Kriminalisten, in welche Richtung zu ermitteln war: Vergewaltigung und Verdeckungsmord. Von Amts wegen wurde noch am gleichen Tag durch das VPKA Bernau ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Mordes gegen Unbekannt gemäß § 112 StGB der DDR eingeleitet.
Die weitere Bearbeitung erfolgte durch die MUK der BDVP Frankfurt (Oder). Durch den Leiter der Bezirksbehörde wurde der Einsatz einer Erweiterten Morduntersuchungskommission (EMUK) befohlen; eine Zusammenarbeit mit der MUK der BDVP Potsdam war gegeben. Eine letzte Fristverlängerung wurde bis zum 1. November 1989 durch den Generalstaatsanwalt der DDR gewährt.