Mörderfrauen - Remo Kroll - E-Book

Mörderfrauen E-Book

Remo Kroll

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Beschreibung

Berlin-Treptow, 24. April 1968, später Abend: Katrin H. steckt die Wohnung ihres Lebensgefährten Alfred M. in Brand, in der sein 13-jähriger Sohn schläft. Um sicherzugehen, dass der Junge in den Flammen umkommt, zertrümmert sie ihm mit einem Hammer den Schädel. Was hat die 24 Jahre junge Frau zu dieser grausamen Tat bewogen? – Am 18. Juli 1969 verlässt Gabriele G. gegen 13 Uhr nach einem offenbar wichtigen Telefonanruf ihre Arbeitsstelle in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte. Sie kehrt nicht an ihren Arbeitsplatz zurück und trifft auch am Abend nicht in der elterlichen Wohnung in Pankow ein. Ist der 19-Jährigen, die im sechsten Monat schwanger ist, etwas Schreckliches zugestoßen? – Ralf S. wird am 17. März 1975 von seiner Gattin auf einer Polizeiwache in Wolmirstedt als vermisst gemeldet. Seit dem 8. März sei der 37-Jährige verschwunden. Er bleibt es. Monatelang. Bis am 22. November durch drei Zoolehrlinge am Barleber See in Magdeburg im Buschwerk eine verstümmelte Leiche entdeckt wird … Was lässt Frauen im Zustand des Hasses zu brutalen Mörderinnen werden? Dieser Frage geht das erfolgreiche Autorenduo Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich nach und schlägt damit ein weithin unterbeleuchtetes Kapitel der DDR-Kriminalgeschichte auf. Die True-Crime-Experten schildern auf Basis der originalen Akten drei von Frauen verübte skrupellose Verbrechen und deren aufwühlende Aufklärung

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Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Mörderfrauen

Drei authentische Kriminalfälle aus der DDR

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-809-6

1. Auflage

© 2021 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © akg-images / Sammlung Berliner Verlag / Archiv

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Axel-Springer-Straße 52

10969 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Vorwort

»In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen«, schreibt Friedrich Schiller in seiner berühmten Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre.

Wir berichten über drei Mordfälle aus der DDR – Mordtaten, die auf grausame Art und Weise von Frauen begangen wurden. Dabei soll in unseren Ausführungen das gesellschaftliche und soziale Umfeld einbezogen werden. Deshalb bleiben wir nicht bei der Schilderung der Verbrechen stehen, sondern versuchen, in allen drei Lebensgeschichten sowohl die inneren und äußeren Ursachen für diese Taten zu ergründen als auch die psychologischen Bedingungen der Verbrechen aufzuhellen. Die Frauen töteten, weil sie unterschiedliche Sehnsüchte stillen wollten.

Auf Basis der originalen Akten haben wir aufs Neue die realen Tathergänge rekonstruiert und schildern umfassend die kriminalistischen Ermittlungen, die Spurensuche und -sicherung sowie die Befragungen und Vernehmungen, aber auch die psychiatrische Begutachtung der Mörderinnen, soweit diese Dokumente in den Akten gefunden werden konnten. Längere Zitate aus den Vernehmungsprotokollen und Gutachten sind zur besseren Orientierung kursiv gesetzt.

Die Namen der Täter, Opfer und Zeugen sind aus personenrechtlichen Gründen verändert. Für die so neu erfundenen Namen erklären Verlag und Autoren, dass Personen mit diesen Namen in den behandelten drei Mordfällen niemals existiert oder agiert haben. Übereinstimmungen wären rein zufällig.

Die im vorliegenden Buch enthaltenen Abbildungen entnahmen wir zwei Diplomarbeiten und einer Akte der Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berlin.

Wir danken allen sehr herzlich, die unser Projekt engagiert unterstützt haben, an erster Stelle Frau Christel Brandt von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) für die Bereitstellung der drei Diplomarbeiten.

Im Fall »Der rote Gürtel« danken wir Kriminalhauptkommissar a. D. Diplom-Kriminalist Bernd Bories sehr herzlich für die Mitwirkung bei der Spurensuche. Ohne ihn hätten wir die kongenialen Kriminalisten Hauptmann der K Heiner Kraft und Hauptmann der K Günter »Jäcki« Rohne nicht so lebensnah schildern können.

Heiner Kraft spielt als Chef der Mordunter­suchungskommission (MUK) auch im ersten Fall »Die Hammermörderin« neben dem untersuchungsführenden Oberleutnant der K Kaiser eine tragende Rolle. Die Diplomarbeit von Berndt John und Stefan Richtsteiger sowie die von Enzio Kluge und Frank Dreßler – Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin 1975 und 1982 – bildeten gute Grundlagen für die Fallbeschreibung. Beide Diplomarbeiten wurden durch Dr. Hans Girod betreut, später Professor für Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, dessen Berichte über wahre Kriminalfälle aus der DDR uns ebenfalls inspiriert haben.

Unser herzlicher Dank gilt auch Kriminalhauptkommissar a. D. Bernd Lamprecht, ehemals MUK Magdeburg. Im Fall »Mord am Frauentag«, der in Sachsen-­Anhalt in Wolmirstedt und Umgebung spielt, war er uns durch seinen fachkundigen Rat und seine Hinweise zu den handelnden Personen eine große Hilfe. Bernd Lamprecht gab uns auch den Tipp, dass der Schriftsteller Heinz Kruschel Mitte der 1980er Jahre den beeindruckenden Kriminalroman Tantalus geschrieben hatte, der auf dem Kriminalfall »Mord am Frauentag« basierte. Insbesondere bei der Beschreibung der Arbeit der Kriminalisten und ihrer Charaktere haben wir einige Anleihen genommen, auch für den fachlich versierten Mordermittler Ernst Schmidt. Die ausgezeichnete Diplomarbeit von Jürgen Lange (Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin 1978) mit dem Thema »Erfahrungen bei der Leitung kriminalistischer Untersuchungsprozesse im Rahmen der Vermisstenfälle mit Verdacht eines Tötungsverbrechens, dargestellt an einem Beispiel aus dem Bezirk Magdeburg« mit ihrem umfangreich und akribisch zusammengetragenen Anlagematerial war überhaupt die Grundlage unserer Fallbeschreibung. Die kritischen Punkte zur Bearbeitung der Vermisstenanzeige haben wir voll und ganz übernommen und den nun in der Geschichte handelnden Personen in den Mund gelegt. Jürgen Lange war als Sachbearbeiter der Morduntersuchungskommission an der Tatortarbeit und Aufklärung des Falles beteiligt sowie später der stellvertretende Leiter für Untersuchung der Kriminalpolizei im Bezirk Magdeburg.

Alle drei Verbrechen wurden aufgeklärt. Die Fall­beschreibungen beweisen, dass die fachlich sehr gut ausgebildeten Kriminalisten der DDR eine überaus anerkennenswerte Strafverfolgung betrieben haben. Die engagierte Arbeit in den drei Kriminalfällen könnte heute noch, wenn man es denn wollte, in der Ausbildung von Kriminalisten als Lehrbeispiel dienen. Sie haben sozusagen den Charakter von Musterakten bis in die heutige Zeit bewahrt.

»Bildung endet nie, Watson«, legte schon Arthur Conan Doyle seinem Meisterdetektiv Sherlock Holmes in der Geschichte »Der Rote Kreis« in den Mund. »Das Leben ist eine Folge von Lektionen, und am Schluss steht die größte.« – Wovon auch dieses Buch berichtet …

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!

Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Die Hammermörderin

Berlin-Treptow. Mittwochnacht, vom 24. auf den 25. April 1968

Willi Hagedorn, geboren 1922, von Beruf Schlosser, zu dieser Zeit Oberlöschmeister der Feuerwehr im Kommando 26 Niederschöneweide, Grünauer Straße 9, trat am 24. April 1968 um 7 Uhr seinen Dienst an, ab 18 Uhr war er als Einsatzleiter auf dem Tanklöschfahrzeug 104 eingesetzt. Es schien eine ruhige Nacht zu werden.

Am 25. April, genau um 2.16 Uhr, wurde auf der Feuerwache in der Grünauer Straße ein Alarm ausgelöst – ein Wohnungsbrand. Das Tanklöschfahrzeug 104 rückte sofort in die Fennstraße aus. Bereits um 2.18 Uhr wurde die Einsatzstelle erreicht.

Aus dem Haus kam dem Einsatzleiter ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann entgegengelaufen, der ihm zurief: »Wohnungsbrand, Seitenflügel, dritter Stock, es befindet sich ein Kind in der Wohnung!«

Hagedorn gab daraufhin einen klaren Befehl: »Angriffstrupp mit Kübelspritze und Brechwerkzeug vor!«

Der junge Mann zeigte ihnen den Aufgang im Seitenflügel des Hauses und sagte noch, dass der Brand bei der Familie Möhring ist. Hagedorn lief in die dritte Etage, der Angriffstrupp hinterher.

Als Erster oben angekommen, stellte Hagedorn Folgendes fest: In der dritten Etage führten links und rechts je eine Wohnungstür ab, die linke stand offen, das war die Eingangstür zur Wohnung »Möhring«. Aus dieser Wohnung drang starker Brandgeruch ins Treppenhaus, und es war eine leichte Rauchentwicklung zu verzeichnen. Auf dem Podest der dritten Etage lag in Rückenlage ein ungefähr dreizehnjähriger Knabe, an seiner rechten Seite kniete ein Mann auf dem Boden. Der Kopf des Jungen befand sich in unmittelbarer Nähe der rechten Wohnungstür, seine Beine zeigten zur Wohnungstür »Möhring«. Brandspuren an der Kleidung des Jungen konnte Hagedorn nicht erkennen, auch an den freien Körperstellen konnte er nach kurzem Hinsehen keine Brandverwundungen feststellen. Die Treppenhausbeleuchtung war allerdings so schlecht, dass er Verletzungen am Kopf des Jungen nicht erkennen konnte. Der Junge machte auf ihn einen völlig leblosen Eindruck. Der neben ihm kniende Mann, der wohl eine manuelle Wiederbelebung durchführte, indem er die Arme des Kindes vom Brustkorb über den Kopf hastig hin- und herbewegte, beendete seine Versuche und erhob sich, als er den Einsatzleiter sah.

»Sind noch andere Personen in der Wohnung?«, fragte Hagedorn.

»Nein«, entgegnete der Mann und wies auf den Jungen, als wenn er sagen wollte, dass nur der in der Wohnung war. »Das Feuer habe ich bereits gelöscht.«

Hagedorn befahl seinen Kollegen vom Angriffs­trupp, den Jungen sofort in das Tanklöschfahrzeug zu bringen und dort mit der Mund-zu-Mund-Beatmung zu beginnen.

Dann ging er in die Wohnung, über den Flur geradezu in den Brandraum, der Wohn- und Schlafzimmer zugleich war. Im Zimmer gab es noch eine Rauchentwicklung, die Fenster waren weit geöffnet, aber das Feuer war gelöscht. Zwei kleine Glutnester waren noch erkennbar, einmal an der rechten Wandseite in unmittelbarer Nähe zur Wohnungstür, dann auf der Couch, die linkerseits der Tür stand. Beide Glutnester waren aber gering.

Hagedorn begab sich wieder zum Tanklöschfahrzeug 104, gab den ersten Lagebericht und forderte einen Rettungswagen an, der kurz darauf eintraf und das Kind übernahm.

Als der Feuerwehrmann wieder in der Brandwohnung war, empfand er das Verhalten des sich ebenso dort befindlichen Wohnungsinhabers und Vaters des Jungen, Alfred Möhring, sehr eigenartig. Herr Möhring äußerte jetzt, dass er nun das letzte Feuer gelöscht hätte, wobei er nur die geringfügigen Glutnester, von denen keine Gefahr mehr ausging, gemeint haben kann. Jeder Vater, so dachte Hagedorn, würde sich doch zunächst weiter um sein Kind kümmern. Er war aber den Feuerwehrmännern, die den Jungen in das Tanklöschfahrzeug gebracht hatten, nicht einmal gefolgt. Auch zeigte er keine größere Erregung, wie es in einer solch schwierigen und emotionalen Situation doch eigentlich verständlich wäre.

Kurz darauf erschien Oberlöschmeister Laumer mit seiner Löschgruppe 26 und übernahm als Wachabteilungsleiter die Brandstelle.

Einsatzleiter Hagedorn wurde durch Leutnant der K Ziegler vor Ort von 5.15 Uhr bis 6 Uhr vernommen – als Zeuge. Wir zitieren aus dem Vernehmungsprotokoll:

Frage:

Welche Feststellungen trafen Sie selbst im Brandraum?

Antwort:

In der gesamten Wohnung, bestehend aus Flur, Küche, Toilette und dem Zimmer, brannte kein Licht.

Im Zimmer stellte ich vier voneinander unabhängige Brandstellen fest.

Einmal war zu erkennen, dass es auf der Couch (Kopf­ende und Seitenlehne) gebrannt hatte. Außerdem war das an der rechten Wandseite des Zimmers aufgestellte Bücherregal in Nähe der Zugangstür ausgebrannt.

An dieses Bücherregal schließt sich ein Kleiderschrank an. Davorstehend befindet sich links ein Wäschefach. In diesem hatte Wäsche gebrannt. An der linken Wandseite des Zimmers (Fensterseite) steht hinter dem Fenster schräg zur Raummitte hin ein Wohnzimmerschrank. Vor diesem Schrank stehend hatte es in der rechten Hälfte, welche ebenfalls Bücher enthielt, gebrannt. Dabei war an dieser Stelle auch die Rückwand des Wohnzimmerschranks verbrannt.

Hinter dem Wohnzimmerschrank steht an der linken Wandseite ein Bett. Das Kopfende befindet sich in der Wandecke. Von dem Genossen Laumer wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass das Kopfkissen starke Blutflecke aufwies. Weitere Blutspuren waren am Kopfteil des Bettes und an der linken Wandseite in Höhe des Kopfes an der Tapete zu erkennen. Das Oberbett war aufgerissen und lag vor dem Bett. Die Federn des Bettes waren um das Bett und auf dem Bett verstreut.

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Herr Möhring an seiner Oberbekleidung ebenfalls mit Federn behaftet war.

Auf dem Kopfkissen waren die Eindrücke des Kopfes und der Schulterpartie erkennbar.

Vor dem Wohnzimmerschrank lag auf dem Fußboden eine Lampe. Ich erkannte, dass diese Lampe nicht durch Brandeinwirkung von der Zimmerdecke gefallen war. Es hatte den Anschein, als ob sie gewaltsam abgerissen wurde.

Nach dem Verlassen der Brandstelle entdeckte ich vor der gegenüberliegenden Wohnungstür, dort, wo der Junge mit dem Kopf gelegen hatte, Blutspuren.

Durch andere Genossen erfuhr ich später, dass der Knabe am Kopf eine Wunde davongetragen hatte und an dieser gestorben ist.

Frage:

Haben Sie, als Sie die Wohnung betraten, Benzin- oder ähnlichen Geruch wahrgenommen?

Antwort:

Nein. Später wurde ich von Genossen des Rettungswagens darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Wohnung nach Äther oder etwas Ähnlichem riecht. Ich selbst habe aber nichts bemerkt.

Frage:

Haben Sie im Verhalten des Herrn Möhring weitere Eigentümlichkeiten gesehen, oder war dieser alkoholisch beeinflusst?

Antwort:

Weiteres ist mir nicht aufgefallen. Alkoholgeruch habe ich an ihm auch nicht wahrgenommen.

Es stellte sich heraus, dass Anton Möhring, der dreizehnjährige Sohn von Alfred Möhring, schon im Bett gestorben war. Die Abteilung Kriminalpolizei im Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin, namentlich die Morduntersuchungskommission (MUK), verfügte sofort am 25. April 1968 gemäß Paragraph 98 Strafprozess­ordnung (StPO) der DDR ein »Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt«. Zu den Gründen wurde ausgeführt:

In der Nacht zum 25. April 1968 wurde der Schüler Anton Möhring, geboren 1954 in Berlin, wohnhaft gewesen in Berlin-Niederschöneweide, Fennstraße, durch unbekannte Täter in seiner väterlichen Wohnung im Bett liegend mittels Schlagen mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf getötet. Der oder die Täter haben in der Folge mehrere Brandherde im Tatzimmer gelegt, die eine starke Rauchentwicklung hervorriefen.

Es besteht der dringende Verdacht der vorsätzlichen Tötung in Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung.

Strafbar gem.: §§ 212, 211, 307, 73 StGB [Strafgesetzbuch].

Unterzeichnet wurde die Verfügung von Oberleutnant der K Kraft. Zuvor, um 5 Uhr, hatte die MUK eine »Anzeige von Amtswegen« aufgenommen. Darin wurde auf eine nicht unerhebliche Kopfverletzung an der rechten Schädelseite des Jungen verwiesen, »die ursächlich für den Todeseintritt sein kann«. Die Leiche wurde in das Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin überführt, heißt es in der Anzeige auf »KP 81«, dem dafür vorgesehenen Vordruck der Kriminalpolizei. Als Tagebuchnummer ist 771/68 Treptow notiert, denn die Fennstraße lag in diesem Ostberliner Stadtbezirk (heute: Bezirk Treptow-Köpenick).

Von 5 bis 10 Uhr wurde am 25. April 1968 Alfred Möhring vernommen, der Vater des Jungen. Er war vierzig Jahre alt und arbeitete als Kellner in der HO-Gaststätte Müggelspree in Berlin-Baumschulenweg, Bezirk Treptow. Die Vernehmer waren Oberleutnant der K Hergesell und Oberleutnant der K Debes.

Zuerst sagte Alfred Möhring zu seiner Person aus: Er hatte im März 1953 geheiratet, aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Im September 1963 wurde die Ehe geschieden. Das Sorgerecht für alle sechs Kinder war seiner Ehefrau zugesprochen worden. An Unterhaltsgeld hatte er laut Scheidungsurteil monatlich 30 Mark pro Kind, also insgesamt 180 Mark gezahlt. Seine geschiedene Frau Elfriede Möhring hatte nicht wieder geheiratet und wohnte in Berlin-Mitte in der Invalidenstraße. Sein ältester Sohn Wolfgang befand sich seit Sommer 1967 in einem Spezialkinderheim im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

Nach seiner Scheidung zog er im Herbst 1963 als Untermieter zu Karin Hacker, geboren 1944, in die Erich-Weinert-Straße in Berlin-Prenzlauer Berg. Seit dieser Zeit bestand zwischen beiden ein intimes Verhältnis. Karin Hacker war im Volkseigenen Betrieb (VEB) Transformatorenwerk »Karl Liebknecht« (TRO) in Oberschöneweide in der Wickelei beschäftigt.

Alfred Möhring schätzte in seiner Vernehmung ein, dass zu seiner geschiedenen Frau ein sehr gutes Verhältnis besteht, was auch dadurch zum Ausdruck kam, dass er sie und die Kinder häufig besuchte. Auch suchte Elfriede Möhring ihren Ex-Ehemann allein oder mit den Kindern in der Erich-Weinert-Straße auf. Zwischen seiner Freundin und seiner geschiedenen Frau würde ebenfalls ein ausgesprochen gutes Verhältnis bestehen. Angeblich verkehrten alle drei ständig miteinander. Jüngst hatten alle mit den Kindern seinen Geburtstag zusammen gefeiert.

Sein Sohn Anton hielt sich seit circa Mitte 1967 ständig bei ihm auf. Bis dato war es so, dass er überwiegend in den Schulferien bei seinem Vater war. Alfred Möhring hatte schon lange vor, seinen Sohn Anton zu sich zu holen. Er liebte seinen Sohn, und außerdem wollte er seine Ex-Frau ein wenig entlasten. Zum Ende der Winterferien 1968, als Anton seine Mutter einmal besuchte, kam er mit der freudigen Nachricht zurück, dass sie jetzt einverstanden sei, dass er ständig bei seinem Vater lebe. Schon am nächsten Tag holte er sich die Schulmeldung und seine Sachen von seinem bisherigen Zuhause ab. Anton wohnte sehr gern bei seinem Vater. Seine geschiedene Frau begründete ihre Entscheidung später damit, dass sie sich eine Verbesserung seiner schulischen Leistungen erhoffen würde. Anton besuchte die siebente Klasse der 6. Oberschule in Niederschöneweide in der Hasselwerderstraße. Nach Meinung des Vaters war Anton ein Durchschnittsschüler, hatte keine körperlichen Leiden oder geistige Einschränkungen und war ziemlich selbständig.

Dann berichtete Alfred Möhring über sein Arbeitsleben in der Gaststätte Müggelspree in Berlin-Baumschulenweg, Schraderstraße 12. Seine geregelte Arbeitszeit war an fünf Tagen pro Woche von 15.30 Uhr bis 1 Uhr nachts. Montags und dienstags waren Schließtage, und da hatte er frei.

Alfred Möhring bewohnte die Einzimmerwohnung in der Fennstraße, in der Anton sein eigenes Bett gehabt habe. Die Wohnung mit der gesamten Einrichtung hatte er im Juni 1967 für 3.000 Mark von einem Arbeitskollegen übernommen, und zwar von Horst Lichtmann aus Berlin-Baumschulenweg, Heidekampweg. Lichtmann selbst war Kellner beim MITROPA-Fahrbetrieb am Ostbahnhof. Er gab die Wohnung damals auf, da er wieder zu seiner Mutter gezogen war. Sie seien »etwas befreundet«, was vor allem bedeutete, dass Alfred Möhring und Horst Lichtmann oft zusammen in verschiedenen Gaststätten waren.

Bei Alfred und Anton Möhring machte eine Rentnerin aus Niederschöneweide einmal pro Woche sauber. Zu diesem Zweck hatte sie den dritten Wohnungsschlüssel, die beiden anderen Schlüssel hatten Vater und Sohn. Die Wohnungstür war mit einem Zeiss-Ikon-­Sicherheitsschloss versehen. Wenn die Rentnerin einmal verhindert war, hatte Karin Hacker einen Schlüssel, wie auch in dieser Woche.

Am Dienstag war Karin Hacker letztmalig bei ihm in der Wohnung. Sie hatte die Schlüssel nicht mitgenommen, diese hingen nach der Aussage von Alfred Möhring noch in der Küche am Schlüsselbrett.

Vater und Sohn hatten vereinbart, dass sie das Sicherheitsschloss nur dann abschließen, wenn beide die Wohnung verlassen haben. Sonst war es üblich, dass die Tür nur »zugeschnappt« wird. Der Vater hatte seinen Sohn auch nie darauf hingewiesen, dass das Sicherheitsschloss von innen zu schließen sei, wenn Anton allein in der Wohnung war. Wenn der Vater nachts von der Arbeit nach Hause kam, fand er die Wohnungstür immer nur »zugeschnappt« vor. Heißt, dass Anton von innen nie das Sicherheitsschloss betätigt hatte.

Am 24. April 1968 verließ Anton um 7.45 Uhr die Wohnung und ging zur Schule. Der Vater war wie üblich aufgestanden und hatte Frühstück gemacht. Zwischen 9 Uhr und 9.30 Uhr kam Anton kurz nach Hause, denn er hatte seine Schulessenmarke vergessen. Zu dieser Zeit war der Klempnermeister Lansnick, der im selben Haus seine Werkstatt besaß, in der Küche damit beschäftigt, ein neues Waschbecken zu montieren. Gegen 13.30 Uhr verließ Alfred Möhring dann seine Wohnung und fuhr zur Arbeit. Die Wohnungstür hatte er wieder nur zugezogen.

Nach Dienstschluss verließ der Vater um 1.30 Uhr die Gaststätte Müggelspree und lief zu Fuß zum S-Bahnhof Baumschulenweg. Das Lokal hatte er in der Zeit seines Dienstes nicht verlassen, dafür gäbe es Zeugen. Alfred Möhring fuhr mit dem Zug in Richtung Spindlersfeld, Abfahrt am S-Bahnhof Baumschulenweg um 1.51 Uhr. Um 1.54 Uhr war er am S-Bahnhof Schöneweide angekommen, gegen 2 Uhr traf er zu Hause in der Fennstraße ein. Die Haustür war nicht verschlossen. Als er über den Hof ging, sah er beim Mieter Liebig, mit dem er befreundet war, noch Licht im Zimmer brennen, was ungewöhnlich war. In seiner Wohnung war alles dunkel, die Fenster waren ordnungsgemäß verschlossen.

Alfred Möhring klingelte bei Nachbar Liebig (es hätte ja etwas passiert sein können) und Reinhard Liebig machte nur mit einer Dreiecksbadehose bekleidet sofort seine Wohnungstür auf. Er erklärte seinem Nachbarn, dass er bereits geschlafen und vergessen habe, das Licht auszuschalten.

Dann betrat Alfred Möhring seine Wohnung. Als er die wie immer nur »zugeschnappte« Tür geöffnet hatte, schlug ihm Qualm ins Gesicht. Seine erste Reaktion war: Sofort in die Küche gehen! Er nahm an, dass Anton sich etwas in der Küche gekocht hatte, nicht aufmerksam genug war und es so zu einem Brand gekommen war.

Er wollte das Licht anschalten, aber es funktionierte nicht. Durch den Qualm in der Küche bekam er einen solchen Hustenanfall, dass er sofort umkehrte und wieder ins Treppenhaus hastete. Er nahm ein Taschentuch vor den Mund, ging zurück in die Küche und öffnete das Fenster. Dann eilte er in den Flur und drückte die beiden Automatiksicherungen, die ausgeschaltet waren, auf Betrieb. Bei der einen Sicherung sprühten beim Eindrücken einige Funken, und der Knopf sprang sofort wieder zurück. Es musste ein Kurzschluss vorhanden sein.

Er öffnete die Wohnzimmertür. Hier kam ihm noch stärkerer und heißerer Qualm entgegen. Er trat sofort auf Glasscherben und bemerkte rechts an der Wand rot glimmende Glut. Da stand das Holzschränkchen von Anton, in dem er seine persönlichen Sachen aufbewahrte. Alfred Möhring versuchte, auch hier das Fenster zu öffnen, was ihm aber aufgrund der heißen Rauch­entwicklung nicht gelang.

Er lief aus der Wohnung zum Nachbarn Reinhard Liebig, der wieder sofort öffnete. »Du musst mir helfen, bei mir brennt es in der Wohnung!«, rief Alfred Möhring und rannte, ohne eine Reaktion abzuwarten, wieder in seine Wohnung zurück. Aber er hörte, dass sein Nachbar ihm folgte. In der Wohnung stürzte der Vater zu Antons Bett und rief dem jungen Nachbarn zu: »Mach das Fenster auf!« Im Raum war es stockdunkel, nur an verschiedenen Stellen waren unheimliche Glutnester zu sehen. Offene Flammen waren nicht auszumachen.

Alfred Möhring tastete sich in Richtung Antons Bett. Als er ins Bett griff, um nach Anton zu fassen, bekam er nicht die Zudecke in die Hände, sondern er griff in Bettfedern. Anton lag regungslos auf dem Bett. Der Vater packte seinen Sohn und trug ihn hinaus auf das Treppenpodest, wo er ihn, mit seinem Schlafanzug bekleidet, flach auf den Boden legte. Der Junge war völlig leblos, Gesicht, Arme und Beine waren rußgeschwärzt und mit Federn behaftet.

Alfred Möhring versuchte, die Federn aus Antons Gesicht zu entfernen, und sprach ihn an. Er fühlte seinen Puls und begann sofort durch Armbeugen mit Wiederbelebungsversuchen. Seinem Nachbarn rief er zu, dass er sofort die Feuerwehr verständigen solle. Liebig war ihm in der Dreiecksbadehose gefolgt. Die Feuerwehr erschien auch nach ganz kurzer Zeit. Als Erstes nahmen die Kollegen das Kind und brachten es nach unten.

Zu Reinhard Liebig, das führt Alfred Möhring in seiner ersten Vernehmung aus, hätte er ein freundschaftliches Verhältnis – seit seinem Einzug. Sie besuchten sich gegenseitig, kannten also auch die jeweiligen anderen Verhältnisse. Bis Weihnachten 1967 hatte der Nachbar die Wohnungsschlüssel der Möhrings. Er besaß keinen eigenen Fernseher, und Alfred Möhring gestattete ihm, während seiner Abwesenheit bei ihm in der Wohnung fernzusehen. Aber zu diesem Weihnachtsfest legte sich Liebig ein Fernsehgerät zu, so dass er die Schlüssel zurückgab.

Der Vater hatte Reinhard Liebig auch gebeten, ab und an, insbesondere an den Abenden, nach dem Sohn zu sehen. Sie waren also abends öfter zusammen und spielten Karten. So kannten sie sich gut, und Anton hätte ihm jederzeit die Tür geöffnet, auch nachts.

Fremde Personen ließ Anton aber nicht in die Wohnung, vor allem nicht zur Abend- oder Nachtzeit. Zu den Bekannten, die er hereingelassen hätte, zählten die Ex-Frau des Vaters, also Antons Mutter, die Freundin Karin Hacker, Horst Lichtmann und die Reinemachefrau sowie ihre Enkelin, die mit Reinhard Liebig befreundet war. So klein war die Welt.

Zu Horst Lichtmann ergänzte Alfred Möhring, dass dieser als MITROPA-Kellner die Strecke Karl-Marx-Stadt–Stralsund und umgekehrt befahre. Am gestrigen Abend war er noch in MITROPA-Dienstbekleidung kurz vor Ausschankschluss ins Lokal Müggelspree gekommen. Möhring und er tranken zusammen jeder ein Glas Sekt und verließen die Gaststätte gleichzeitig.

Bereitwillig gab Alfred Möhring auch noch Auskunft über seinen ältesten Sohn Wolfgang: Dieser befand sich im Spezialkinderheim Kreuztanne, Post Friedebach, Bezirk Karl-Marx-Stadt. Wolfgang war im Sommer 1967 auf Antrag des Referats Jugendfürsorge beim Rat des Stadtbezirks Mitte dort eingewiesen worden. Er war ein Schulbummler gewesen, der sich oft am Bahnhof Friedrichstraße aufgehalten und »sich seinen weiblichen Geschwistern genähert hatte«. Nach Informationen des Vaters würde sich Wolfgang im Heim sehr gut führen und hätte nie versucht, auszureißen.

Zur vorsätzlichen Brandstiftung noch einmal befragt, fand Alfred Möhring keinerlei Erklärung, wie es zu diesem Brand kommen konnte. »Ich kann auch keine Person nennen, die ich dieser Tat verdächtigen könnte.«

Gegen 6.30 Uhr führte Dr. med. Gunther Geserick vom Institut für Gerichtliche Medizin in der Hannoverschen Straße in Berlin-Mitte eine Tatortbesichtigung durch. Er stellte ebenfalls fest, dass das Kopfkissen des Bettes flächenhaft blutdurchtränkt sei. »An der Kopfwand des Bettes sowie geringfügig auch an der darüber gelegenen Wand des Kopfendes und an der rechts neben dem Kopfkissen befindlichen Zimmerwand finden sich mehrfach kleinfleckige Blutspuren, zum Teil auch großfleckig. An zahlreichen Stellen zeigen die Blutspuren eine Abrinnrichtung von oben nach unten. Soweit bei der mangelhaften Beleuchtung feststellbar, finden sich keine anderweitigen Blutabrinnspuren oder Spritzrichtungen.« So steht es in der Präambel des später erstatteten Gutachtens, womit auch wieder einmal bewiesen wurde, wie enorm wichtig es ist, dass die Experten eine genaue Vorstellung und eigene Wahrnehmungen vom Tatort haben.

Nun war einiges vom Vater gesagt worden, aber bei weitem nicht alles. Das meinte Oberleutnant der K Kraft, als er mit den Vernehmern Hergesell und Debes das Protokollierte auswertete. Da waren sich alle drei einig. Und sie hatten jetzt zwei Namen, die ihnen irgendwie verdächtig vorkamen. Karin Hacker und Reinhard Liebig, der ja den Alarm ausgelöst und die Feuerwehr eingewiesen hatte. Was den Nachbarn Liebig betraf, so hatten die Kriminalisten schon einige Fälle untersucht, in denen der Anzeigenerstatter auch der Brandstifter war. Und Karin Hacker? »Möhring hat gelogen, was ihre wirklichen Beziehungen betrifft«, meinte Kraft.

Der für diese Verbrechen zuständige Staatsanwalt Miltz von der Generalstaatsanwaltschaft von Groß-­Berlin, Abteilung I, eilte in die Fennstraße. Zunächst musste überprüft werden, ob ein Hausbewohner für diese abscheuliche Tat verantwortlich war, vielleicht auch, weil Konflikte im Haus schwelten. Rasch entschloss man sich zu einer Durchsuchung und Beschlagnahme beim Kraftfahrer Reinhard Liebig, der im selben Aufgang wie die Möhrings wohnte und sich ja irgendwie verdächtig gemacht hatte. Man war vor Ort, und Staatsanwalt Miltz ordnete sofort wegen Gefahr im Verzuge diese kriminalistische Maßnahme an. Das könnte der Brandstifter und Mörder sein!

Kraft erfasste solche Augenblicke intuitiv und sofort. Er hatte das Gefühl, der Lösung des Rätsels ganz nah zu sein. »Frisches Holz, das im Feuer liegt, bewegt sich und zuckt, bäumt sich auf und spricht, es knackt und knistert«, dachte schon Kommissar Korsar im Roman Tantalus von Heinz Kruschel. Das Holz, überlegte nun Kraft, es musste immer frisch sein. Frisch wie dieser Verdacht. Nein, bloß keine Verschiebung. Kraft musste immer dicht am Stier kämpfen und ihn bei den Hörnern packen, konnte aber auch mit Niederlagen gut umgehen.

Die Kriminalisten der MUK beschlagnahmten in Reinhard Liebigs Wohnung aus einem Wäschestapel im Korridor ein grünes Campinghemd, im Bett unter dem Kopfkissen ein weißes Damentaschentuch mit dem Monogramm »WB« und ein weißes Herrentaschentuch, das sie neben dem Klappbett auf einem Wäschestapel fanden.

Im Durchsuchungsbericht können wir lesen, dass diese Durchsuchung zwei Stunden dauerte, von 13 bis 15 Uhr. Oberleutnant der K Terpe schrieb: »Alle Räumlichkeiten machten einen unaufgeräumten und ungepflegten Eindruck. Die im Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokoll aufgeführten Gegenstände wurden beschlagnahmt und dem Kriminaltechniker der MUK zur weiteren Auswertung übergeben, da sich an diesen Gegenständen eine blutähnliche Substanz befindet.«

Am 25. April 1968 von 6.30 Uhr bis gegen 11 Uhr war der Tat- und Brandort eingehend untersucht worden. Aus dem »Tatortbefundbericht« der MUK geht hervor, dass auch von der Abteilung Feuerwehr der Brandursachenermittler Oberleutnant der F Kittel zum Einsatz gekommen war.