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Jedes Kind hat das Recht auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl. Körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt im Bereich der Familie gehören ebenso dazu wie Fehlverhalten durch Fachkräfte sowie Übergriffe unter Kindern. Im Buch wird dargestellt, was unter einem kinderrechtsbasierten Kinderschutz zu verstehen ist. Anhand zahlreicher Beispiele wird erörtert, wie der Ganztag zu einem sicheren Ort für Kinder werden kann.
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Qualität in Ganztag, Hort und Schulkindbetreuung
KINDERRECHTE UND KINDERSCHUTZ IM GANZTAG
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Gesamtgestaltung und Satz: Sabine Ufer, Leipzig
Annett Jana Berndt, Radebeul
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN (Print) 978-3-451-39612-2
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83174-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83175-1
Inhalt
Einführung
1 Den Ganztag vom Kind aus denken
1.1 Das Kind als Rechtssubjekt
1.2 Grundbedürfnisse und Grundrechte: Der Vorrang des Kindeswohls
1.3 Kindeswille und Kindeswohl
1.4 Kinderrechte und Elternrechte
2 Kinderrechte – ein Blick zurück nach vorn
2.1 Der gesellschaftliche Wandel im Bild vom Kind
2.2 Kinderrechte international
2.3 Die Entwicklung der Kinderrechte in Deutschland
3 Kinderrechte und Kinderschutz – rechtliche Rahmenbedingungen
3.1 Kinderrechtsbasierter Kinderschutz
3.2 Menschenrechte des Kindes: Die UN-Kinderrechtskonvention
3.3 Schutz, Fürsorge und Beteiligung: Die EU-Grundrechtecharta
3.4 Elternverantwortung und staatliches Wächteramt: Das Grundgesetz
3.5 Recht auf gewaltfreie Erziehung: Das Bürgerliche Gesetzbuch
3.6 Gewalt gegen Kinder als Straftatbestand: Das Strafgesetzbuch
3.7 Individueller und institutioneller Kinderschutz: Das KJHG und das Gesetz zur Information und Kommunikation im Kinderschutz
3.8 Kinderschutz in der Schule: Die Schulgesetze der Bundesländer
3.9 Kinderschutz hat Vorrang vor Datenschutz
3.10 Zusammenfassung
4 Gewalt im familiären Bereich – erkennen und handeln
4.1 Formen, Ursachen und Folgen von Gewalt
4.2 Seelische Gewalt
4.3 Körperliche Gewalt
4.4 Miterlebte häusliche Gewalt
4.5 Sexualisierte Gewalt
4.6 Instrumentalisierung nach Trennung/Scheidung
4.7 Gespräche mit Kindern
4.8 Gespräche mit Eltern
5 Gewalt im institutionellen Bereich – erkennen und handeln
5.1 Formen, Ursachen und Folgen von Gewalt durch Fachkräfte
5.2 Beschämung und Entwürdigung
5.3 Anschreien
5.4 Ständiges Vergleichen mit anderen Kindern
5.5 Mobbing unter Kindern
5.6 Sexuelle Übergriffe unter Kindern
5.7 Prävention von Gewalt
5.8 Professioneller Umgang mit Gewalt durch Fachkräfte
6 Gute Qualität im Ganztag – das Kind steht im Mittelpunkt
6.1 Der Kinderrechtsansatz im Ganztag
6.2 Bausteine eines Gewaltschutzkonzepts
6.3 Menschen- und Kinderrechtsbildung
6.4 Die Reckahner Reflexionen für eine Ethik pädagogischer Beziehungen
6.5 Die Zukunft des Ganztags
Anhang
Selbsttest „Wie fit bin ich in puncto Kinderrechte?“
Checkliste zur Umsetzung der Kinderrechte im Ganztag
Zentrale Artikel der UN-Kinderrechtskonvention
Literatur
Internet-Adressen
Der Autor
Pädagogik im Ganztag muss ihren Erfolg daran messen lassen, inwieweit sie zur Verwirklichung der Kinderrechte beiträgt.
Jörg Maywald, S. 16
Jedes Kind hat das Recht und die Pflicht, zur Schule zu gehen. Im Anschluss an die Kita ist der Ganztag1 der Ort, an dem alle Kinder unabhängig vom Elternhaus über viele Jahre hinweg an den meisten Tagen der Woche mit anderen Kindern zusammenkommen und zentrale Lern- und Lebenserfahrungen machen, die ihr weiteres Leben in hohem Maße beeinflussen.
Die Lebenszeit, die Grundschulkinder in der (Ganztags-)Schule bzw. im Hort verbringen, wird sich in den kommenden Jahren deutlich erhöhen. Mit der Verabschiedung des Ganztagsförderungsgesetzes (GaFöG) wurde die schrittweise Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine ganztägige Förderung im Grundschulalter ab dem Schuljahr 2026/27 gesetzlich verankert. Der Rechtsanspruch sieht einen Betreuungsumfang von acht Stunden an allen fünf Werktagen vor. Die Unterrichtszeit wird dabei angerechnet.
Der Rechtsanspruch soll – bis auf maximal vier Wochen – auch in den Schulferien gelten. Der Anspruch kann sowohl in Horten als auch in offenen und gebundenen Ganztagsschulen erfüllt werden. Obwohl die Inanspruchnahme des Rechtsanspruchs freiwillig ist, ist davon auszugehen, dass eine ganztägige Betreuung in wenigen Jahren zur Normalbiografie der allermeisten Kinder im Grundschulalter gehören wird.
Wer mit Kindern über den Ganztag spricht, bekommt meistens zu hören, dass sie es durchaus attraktiv finden, den ganzen Tag mit anderen Kindern zusammen zu sein. Aber es soll nicht der ganze Tag Schule sein. Der Ganztag, wie ihn sich Kinder wünschen, muss aus einer Verbindung unterschiedlicher Angebote und Aktivitäten bestehen. Bewegungs-, Spiel- und Sportmöglichkeiten sollen ebenso dazugehören wie Lern- und Bildungsgelegenheiten innerhalb und außerhalb der Schule, kreative Räume für Musik, Kunst und Theater, gutes Essen, Angebote zur Diskussion interessanter gesellschaftlicher und politischer Themen sowie Möglichkeiten zur ruhigen Beschäftigung, zum individuellen Rückzug und zum Chillen mit Freund:innen.
Das hier aus der Sicht von Kindern skizzierte Bild ist ein Ideal. Es beschreibt einen Ganztag, der vom Kind aus gedacht wird. Die besten Interessen des Kindes – das Kindeswohl – stehen im Mittelpunkt. Die interdisziplinär zusammengesetzten Fachkräfte begegnen den Kindern mit Respekt. Die Besonderheiten jedes Kindes werden berücksichtigt. Ausstattung und Angebote orientierten sich an den Bedürfnissen und Rechten der Kinder. Die beteiligten Berufsgruppen arbeiten auf Augenhöhe zusammen. Sie stehen im engen Kontakt mit den Eltern der Kinder und sind im Sozialraum gut vernetzt.
Die Realität des Ganztags sieht jedoch häufig anders aus. Das Bild vom Kind, mit dem die Schule Kindern begegnet, entspricht in vielen Fällen nicht dem Bild des aktiven und kompetenten Bürgers und Rechtssubjekts, das der UN-Kinderrechtskonvention zugrunde liegt. Die Schüler:innen werden als weitgehend unfertige Menschen angesehen mit Defiziten, die es zu beheben gilt. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder nur dann zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft werden, wenn Erwachsene sie belehren und kontrollieren. Der allgegenwärtige Vergleich der Kinder mit anderen Kindern demotiviert und führt zu einem Winner-Looser-Denken. Freude am Lernen, wechselseitige Unterstützung und Solidarität kommen häufig zu kurz. Nicht selten sind Schulunlust und Schulangst die Folge.
In vielen Schulen dominiert ein kognitiv verengtes Bildungsverständnis. Sozial-emotionale Fähigkeiten geraten häufig aus dem Blick. Sportliche, musische und kreative Begabungen bleiben nicht selten unentdeckt. Die Organisation von Schule geht davon aus, dass alle Kinder innerhalb einer normierten Zeitspanne das Gleiche lernen müssen. Individuelle Lernwege werden auf diese Weise wenig berücksichtigt.
Hinzu kommt, dass die Lern- und Lebensbedingungen im Ganztag oft nicht kindgerecht sind und manchmal sogar die Gesundheit der Kinder schädigen. Große Klassen, enge Klassenräume, stundenlanges Sitzen, ein verdichteter Unterrichtsstoff und eine Menge an Hausaufgaben führen bei vielen Kindern zu Erschöpfung und Resignation. Verhaltensauffälligkeiten sowie körperliche und seelische Leiden – nicht selten behandlungsbedürftig – sind die Folge.
Das vorliegende Buch will aufzeigen, wie der Abstand zwischen der Realität und dem Ideal eines kindgerechten Ganztags Schritt für Schritt verringert werden kann. Dafür ist es notwendig, den Ganztag vom Kind aus zu denken und die Interessen und Rechte der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Der Fokus liegt auf der Erörterung eines an den Rechten der Kinder orientierten Kinderschutzes. Vor allem sollen Antworten auf folgende Fragen gegeben werden:
• Welche Rechte haben Kinder im Ganztag?
• Was ist unter Kindeswohl zu verstehen?
• Welches Verhältnis besteht zwischen Kindeswille und Kindeswohl?
• Wie hat sich das gesellschaftliche Bild vom Kind verändert?
• Was bedeutet kinderrechtsbasierter Kinderschutz?
• Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sind zu beachten?
• Worin bestehen wichtige Formen, Ursachen und Folgen von Gewalt?
• Wie können Kinder vor Gewalt im familiären Bereich geschützt werden?
• Was tun bei Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte?
• Auf welche Weise kann der Kinderrechtsansatz im Ganztag verwirklicht werden?
• Was sind die Bausteine eines Schutzkonzepts?
• Welche ethischen Grundsätze sind in pädagogischen Beziehungen zu beachten?
• Wie sollte die Zukunft des Ganztags aussehen?
Normativer Bezugspunkt bei der Beantwortung dieser Fragen sind die globalen Kinderrechte, wie sie in der praktisch universell ratifizierten und auch in Deutschland uneingeschränkt geltenden UN-Kinderrechtskonvention niedergelegt sind. Kennzeichnend für einen solchen Kinderrechtsansatz ist, dass nicht allein nach den Bedürfnissen, sondern gleichermaßen nach den Rechten der Kinder gefragt wird. Während Bedürfnisse subjektiv und situationsabhängig sind, handelt es sich bei den Rechten der Kinder um objektive, von einzelnen Situationen unabhängige Rechtsansprüche. Der Kinderrechtsansatz bildet den Rahmen zur Ausrichtung des Handelns an den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Damit ist er ein auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern ausgerichteter Menschenrechtsansatz.
Auch die Kultusministerkonferenz hat sich dazu bekannt, die Grundsätze der Kinderrechtskonvention zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen. In einer Erklärung aus dem Jahre 2006 heißt es: „Die Kultusministerkonferenz spricht sich dafür aus, dass die altersgerechte Berücksichtigung der Rechte des Kindes auf Schutz und Fürsorge sowie auf Partizipation essentiell für die Schulkultur ist. (…) Die Kultusministerkonferenz wird bei der Erarbeitung bzw. Überarbeitung einschlägiger Empfehlungen die Grundsätze der Kinderrechtskonvention in Zukunft in besonderer Weise berücksichtigen“ (Kultusministerkonferenz 2006). Leider hat dieses Bekenntnis kaum Wirkung entfaltet. Es wurde versäumt, den an den Rechten der Kinder orientierten Ansatz zu konkretisieren und auf sämtliche Aspekte des Schullebens zu beziehen.
Mit der flächendeckenden Umsetzung des Ganztags besteht eine neue Chance, dieses Versprechen einzulösen. Denn die Verbindung zwischen einer Pädagogik, die vom Kind aus denkt, und dem Bezug zu den Rechten der Kinder liegt nahe. Wer als Pädagog:in mit Kindern arbeitet, braucht eine klare Orientierung, wo Recht aufhört und Unrecht beginnt. Traditionelle Überzeugungen – seien sie kulturell überliefert oder religiös begründet – bieten hier zwar wichtige Anknüpfungspunkte. Aber sie haben einen entscheidenden Mangel: Ihre Akzeptanz und Legitimation sind begrenzt. In einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft können sie keine fraglose Gültigkeit mehr beanspruchen. Während die Verbindlichkeit überlieferter Werte abnimmt, steigt zugleich der Bedarf nach einem für alle gültigen Wertekanon.
Einen Ausweg bietet die Orientierung an den globalen Kinderrechten als unverzichtbarem Baustein guter Qualität im Ganztag. Denn die weltweit geltenden Kinderrechte enthalten diesen verbindlichen Wertekanon. Sie fordern Respekt vor der Würde und den unveräußerlichen Rechten aller Menschen und sind der zentrale Fixstern, wenn es darum geht, die Rechte aller Kinder im Ganztag zu verwirklichen.
1 Im Ganztag arbeiten Fachkräfte unterschiedlicher Professionen im besten Interesse des Kindes zusammen. Wenn im Folgenden von „Ganztag“ die Rede ist, sind immer alle pädagogischen Fachkräfte in unterschiedlichen Formen des Ganztags gemeint.
Den Kinderrechtsansatz im Ganztag zu verwirklichen bedeutet, sämtliche Aspekte des Ganztags mit Bezug zu Kindern an den Rechten der Kinder zu orientieren.
Ziel des Kinderrechtsansatzes ist es, dass jedes Kind darauf vertrauen kann, dass seine anerkannten Rechte im Ganztag respektiert und umgesetzt werden.
Jörg Maywald, S. 120
IN DIESEM KAPITEL ERFAHREN SIE,
• dass Kinder eine Würde haben und Träger von Rechten sind
• was unter dem Vorrang des Kindeswohls zu verstehen ist
• wie Kindeswille und Kindeswohl zusammenhängen
• welches Verhältnis zwischen Kinderrechten und Elternrechen besteht
Jedes Kind ist einzigartig und hat eine eigene Würde. Als Subjekt ist es von Beginn an Träger eigener Rechte. Kinderrechte sind nicht abhängig von bestimmten Eigenschaften, sie müssen nicht erworben oder verdient werden, sondern sind unmittelbarer Ausdruck der jedem Kind innewohnenden und unveräußerlichen Würde.
Was aber ist die Würde des Kindes? Rechtlich handelt es sich bei der Menschenwürde um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der juristisch nicht definiert ist und daher in jedem Einzelfall näher bestimmt werden muss. Bei den sozialphilosophischen Versuchen, die Menschenwürde zu definieren, treten die Aspekte der Subjektstellung und der bedingungslosen Anerkennung jedes Individuums besonders hervor. Die Würde des Menschen anzuerkennen heißt demnach, zu respektieren, dass jeder Mensch und damit auch jedes Kind um seiner selbst willen als Zweck an sich existiert und niemals zum Objekt oder bloßen Mittel herabgewürdigt werden darf.
Besonders markant hat Immanuel Kant den Gegensatz von Mittel und Zweck formuliert: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1797/1983, S. 61). Kant führt diesen Gedanken wie folgt weiter: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde“ (ebd., S. 68). Die über jeden Preis erhabene menschliche Würde ist demnach mit dem Menschsein gegeben und insofern angeboren. Hierin liegt auch der Grund für die universelle Geltung der jedem Menschen innewohnenden und daher unveräußerlichen Würde. Ohne Ansehen der Person kommt sie jedem Menschen zu.
Um die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, bedarf es grundlegender Menschenrechte. „Der Grund für die Gewährleistung fundamentaler Rechte liegt in der Würde des Menschen“ (Bielefeldt 2007, S. 27). Die fundamentalen Menschenrechte sind daher ebenso wie die menschliche Würde untrennbar mit dem Menschsein verbunden. Sie stehen jedem Menschen allein deshalb zu, weil er ein Mensch ist. Menschenwürde und Menschenrechte haben eine Freiheits-, eine Gleichheits- und eine Inklusionsdimension. „Von der Trias Freiheit, Gleichheit, Inklusion her erweisen sich die einzelnen Menschenrechte als Bestandteil einer sie verbindenden gemeinsamen Zielsetzung“ (Bielefeld 2011, S. 166).
Die Freiheitsdimension kommt in dem Respekt vor der Fähigkeit jedes Menschen zum Ausdruck, eigenaktiv zu sein, Verantwortung zu übernehmen und damit selbst- und mitverantwortlich zu handeln. Die Gleichheitsdimension äußert sich darin, dass Würde und Grundrechte jedem Menschen gleichermaßen zukommen. Als Subjekt übernimmt jeder Mensch Verantwortung, und alle Menschen sind hinsichtlich Menschenwürde und Menschenrechte gleich. Die Dimension der Inklusion schließlich macht deutlich, dass Freiheit nur im Miteinander der Menschen praktisch gelebt werden kann und auf die Solidarität der Menschen untereinander angewiesen ist.
Die Forderung nach gleichen und unveräußerlichen Rechten für alle Menschen wurzelt in den Ideen der Aufklärung. Sie ist ein zentraler Bestandteil der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Rahmen der Französischen Revolution von 1789. Auch wenn gleiche Rechte in der Realität noch lange Zeit auf bestimmte Bevölkerungsteile – zunächst vor allem auf Männer mit heller Hautfarbe, später dann auch auf Frauen – begrenzt blieben, war die Vorstellung allgemeiner und gleicher Rechte nicht mehr wegzudenken und wurde zum Bestandteil sämtlicher auf die Ideale der Menschenrechte aufbauender Emanzipationsbewegungen.
Universellen Anspruch auf Umsetzung unter Einbeziehung aller Gruppen der Bevölkerung erlangten die Menschenrechte erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem menschenverachtenden Nationalsozialismus und des damit verbundenen Zweiten Weltkriegs verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In der Präambel heißt es: „Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen [bildet] die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.“ Die bereits drei Jahre zuvor beschlossene Charta der Vereinten Nationen spricht ihrerseits vom „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“.
Wenige Monate nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte trat in Deutschland das Grundgesetz in Kraft. Der Bezug auf die Würde und die unveräußerlichen Rechte jedes Menschen ist auch hier zentral: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Satz in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Absatz 2 ergänzt: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Die Würde des Kindes zu achten und Kinder als Rechtssubjekte zu respektieren, ist Aufgabe aller Akteur:innen in der Arbeit mit Kindern und für Kinder. Mit der Orientierung an den Kinderrechten ist zugleich die Absage an paternalistische Haltungen verbunden. Kinder sind nicht bloß Objekt des Schutzes und der Fürsorge. Kinderrechtsschutz ist daher weitaus mehr als Kinderschutz. Eine an den Kinderrechten orientierte Pädagogik respektiert das Kind als eigenständigen Träger von Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechten. Die Umsetzung der Rechte jedes Kindes ist somit ein zentraler Aspekt guter Qualität. Pädagogik im Ganztag muss ihren Erfolg daran messen lassen, inwieweit sie zur Verwirklichung der Kinderrechte beiträgt.
Kinderrechte sind die auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern bezogenen Menschenrechte und berücksichtigen sowohl die Gleichheit als auch die Verschiedenheit zwischen Kindern und Erwachsenen. Werden der Status des Menschseins und die damit verbundenen Rechte als Maßstab des Vergleichs genommen, sind Kinder den Erwachsenen gleich. Zugleich unterscheiden sich Kinder zweifellos von Erwachsenen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Als „Seiende“ sind sie einerseits Menschen wie alle anderen auch. Als „Werdende“ sind sie andererseits Menschen in einer besonders verletzlichen Entwicklungsphase.
Das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern ist daher asymmetrisch: Erwachsene tragen Verantwortung für Kinder, nicht jedoch umgekehrt Kinder in gleicher Weise für Erwachsene. Aufgrund dieser Entwicklungstatsache brauchen Kinder besonderen Schutz, besondere Förderung und besondere, kindgerechte Beteiligungsformen. Für eine gesunde Entwicklung sind sie auf Erwachsene angewiesen, die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Kinder zu ihrem Recht kommen.
In pädagogischen Einrichtungen für Kinder, wie zum Beispiel im Ganztag, findet die Begegnung zwischen Erwachsenen und Kindern jeweils in zweifacher Weise statt. Einerseits – gemessen am Subjektstatus jedes Menschen – als Begegnung zwischen Gleichen. Dies kommt in der Forderung zum Ausdruck, dass pädagogische Beziehungen auf Augenhöhe erfolgen sollen. Wie alle Menschen sind Kinder als eigenständige und gleichwertige Persönlichkeiten zu achten. Sie sind (Rechts-) Subjekte und Experten in eigener Sache, ausgestattet mit einer jeweils individuellen Sichtweise, die es zu respektieren gilt. Kinder bringen ihre besonderen Bedürfnisse in die Beziehung ein und gestalten diese aktiv mit.
Andererseits ist die Beziehung zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern eine Begegnung zwischen Ungleichen. Die Fachkräfte stehen in der Verantwortung, Kinder zu ihrem Recht kommen zu lassen. Diese Verantwortung besteht nicht in gleicher Weise aufseiten des Kindes. Mit dieser Asymmetrie verbunden ist eine strukturelle Machtungleichheit. Erwachsene haben die Pflicht, ihre Macht nicht für eigene Zwecke, sondern ausschließlich an den besten Interessen des Kindes (Kindeswohl) orientiert zu nutzen.
Im pädagogischen Alltag ist die Parallelität von Gleichheit und Ungleichheit nicht immer leicht zu balancieren. Eine Reduktion auf das eine oder andere Element wird den Anforderungen an pädagogische Beziehungen nicht gerecht. Wird die Gleichheit überbewertet, so leugnet dies die zwischen Erwachsenen und Kindern notwendigerweise bestehenden Unterschiede. Kinder werden in diesem Fall wie kleine Erwachsene behandelt, und die pädagogische Beziehung pervertiert zur Kumpanei mit allen damit verbundenen Gefahren von Grenzverletzungen zulasten des Kindes.
Verschiebt sich umgekehrt die Balance einseitig in Richtung Ungleichheit, geschieht dies auf Kosten der Gleichwertigkeit von Kindern und Erwachsenen. Kinder werden in diesem Fall auf einen Status des „Noch-nicht“ festgelegt. Die sich entwickelnden Fähigkeiten und die wachsende Bereitschaft von Kindern zu Verantwortungsübernahme bleiben unbeachtet. Die Verantwortung von Erwachsenen für Kinder verkehrt sich zur Verfügungsmacht über das Kind. Die pädagogische Beziehung erstarrt zu paternalistischer Inbesitznahme.
Bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen geht es also sowohl um Gleichberechtigung als auch um Anerkennung der Verschiedenheit. In der Balance von Gleichheit auf der einen und Verschiedenheit auf der anderen Seite liegt die besondere Herausforderung im Umgang der Erwachsenen mit den Kindern. Dieses ambivalente Verhältnis normativ angemessen zum Ausdruck zu bringen, ist die Aufgabe des internationalen wie auch des nationalen Rechts.
Mit der Anerkennung besonderer Bedürfnisse von Kindern, die von denen der Erwachsenen unterschieden werden können, ist die Erkenntnis verbunden, dass Kinder einen eigenen, auf ihre spezielle Situation zugeschnittenen Menschenrechtsschutz benötigen. Rund 40 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben die Vereinten Nationen daher 1989 die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet, die in spezifischer Weise die jedem Kind zustehenden Menschenrechte normiert.
Die Kinderrechtskonvention ist Bestandteil einer Reihe internationaler Konventionen, in denen die Menschenrechte für besonders schutzbedürftige Gruppen der Bevölkerung formuliert wurden. Hierzu gehören unter anderem die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (UN-Frauenrechtskonvention) und die Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention).