Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Unter dem Blickwinkel der Psychologie C. G. Jungs bietet das Buch einen Überblick über die Vielfalt symbolischer Gestaltungsmöglichkeiten in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen. Es wird die Entwicklung des kindlichen Zeichnens beschrieben und anhand von reichem Bildmaterial in seiner konflikthaften Thematik interpretiert. Daneben findet das therapeutische Sandspiel als zentrales therapeutisches Angebot unter entwicklungspsychologischer Perspektive Raum. Schließlich wird auf die kindliche Fähigkeit einer freien Gestaltung mit geformtem und ungestaltetem Material eingegangen. Insgesamt machen kurze Fallvignetten und Abbildungen die dargestellten Möglichkeiten einer symbolischen Konfliktverarbeitung anschaulich.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 302
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Autorinnen
Christiane Lutz studierte Heilpädagogik in Zürich bei Jakob Lutz und bei Paul Moor. Im Anschluss arbeitete sie zwei Jahre lang mit geistig Behinderten in der Schweiz.
Es folgte ein Studium der analytischen Psychologie an der Akademie für Tiefenpsychologie in Stuttgart. Parallel dazu leitete Christiane Lutz die Psychologische Beratungsstelle in Ludwigsburg.
Seitdem arbeitet sie als selbstständige Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie als Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Stuttgart.
Seit 1971 ist Christiane Lutz Dozentin am C. G. Jung-Institut in Stuttgart und an der Akademie für Tiefenpsychologie in Stuttgart.
Gabriele Wurster studierte an der Universität Tübingen Diplom-Pädagogik. Sie arbeitete unter anderem acht Jahre in einer Beratungsstelle von Pro Familia. Zu ihren Aufgaben dort gehörten Beratung, Leitungstätigkeiten und Sexualpädagogik.
Nach dem Studium der Analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie am C. G. Jung-Institut in Stuttgart ließ sie sich 2004 in eigener psychotherapeutischer Praxis nieder.
Fort- und Weiterbildungen in Sandspiel, Traumatherapie sowie in tanz- und körpertherapeutischen Verfahren vertieften ihre Arbeit.
Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer therapeutischen Tätigkeit ist die stetige Suche nach den Ressourcen und dem schöpferischen Potenzial der Kinder und Jugendlichen.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-030850-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-030851-0
epub: ISBN 978-3-17-030852-7
mobi: ISBN 978-3-17-030853-4
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Teil I: Kinderzeichnung
Einführung Kinderzeichnung
1 Malen – Form und Gehalt
1.1 Strichführung und Wahl des Materials
1.2 Die Orientierung im Raum
1.3 Die Bedeutung der Farben und der Farbwahl
1.3.1 Farbe Grün
1.3.2 Farbe Blau
1.3.3 Farbe Rot
1.3.4 Farbe Violett
1.3.5 Farbe Gelb
1.3.6 Farbe Braun
1.3.7 Farben Schwarz und Weiß
2 Malen in den verschiedenen Altersstufen
2.1 Malen des Kleinkindes
2.1.1 Die Gestaltung des Urknäuels
2.1.2 Die Gestaltung des Kopffüßlers
2.1.3 Eindruck wird zum subjektiven Ausdruck der menschlichen Gestalt
2.1.4 Abbildung des Menschen in seinen Körperfunktionen
2.2 Malen im Vorschulalter
2.3 Malen in der Latenz
2.4 Malen in der Vorpubertät
2.5 Malen in der Pubertät und Adoleszenz
3 Das Malen in seiner therapeutischen Funktion
3.1 Die Bearbeitung der Komplexe in der bildnerischen Darstellung.
3.1.1 Das Mutterthema aus Sicht der Analytischen Psychologie
3.1.2 Das Vaterthema aus Sicht der Analytischen Psychologie
3.1.3 Das Geschwisterthema
3.1.4 Die Auseinandersetzung mit Autoritätsfiguren
3.2 Darstellung konfliktgeladener Themen
3.2.1 Ängste in der symbolischen Darstellung
3.2.2 Aggressionen in der bildhaften Darstellung
3.2.3 Depressionen, eine Perspektive der Hoffnungslosigkeit?
3.2.4 Eifersucht, Neid und Rivalität: Eine Chance, sich selbst neu zu sehen
3.3 Archetypische Signaturen
3.3.1 Das Leben ergreifen, das Leben begreifen
3.3.2 Wandlung und Neuwerdung
3.3.3 Leben, eine ständige dynamische Bewegung
4 Malen und therapeutische Beziehung
4.1 Gefühle malen
4.1.1 Armut im Reichtum
4.1.2 Der abgewehrte Komplex Angst und die Chance der Bewusstwerdung
4.1.3 Der abgewehrte Komplex Aggression und die Chance der Integration
4.2 Der Therapeut als Projektionsfeld
4.2.1 Das Leiden an der Doppelbödigkeit der Erwachsenen
4.2.2 Täterschaft oder Opferstatus, die Frage nach dem Ich und dem Du
Fazit Kinderzeichnung
Teil II: Gestaltung
Einführung Gestaltung
5 Der Umgang mit den Elementen
5.1 Wasser
5.2 Erde (Sand)
5.3 Feuer
5.4 Luft
6 Der Umgang mit natürlichem Material
6.1 Steine
6.2 Ton
6.3 Holz
6.4 Wachs und Knete
6.5 Papier
6.6 Schnur, Seil, Stoff
7 Der Umgang mit vorgefertigten Materialien
7.1 Holzbausteine
7.2 Metallbaukästen
7.3 Lego
7.4 Perlen
8 Der Umgang mit Material, das zu eigenständiger Kreativität herausfordert
8.1 Trommeln, Blasinstrumente, Musik und Rhythmus
8.2 Symbolträchtige Figuren
8.3 Kasperfiguren und Puppen
9 Die Themen
9.1 Ich-Identität
9.2 Ich und geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen
9.3 Ich und Sprache
9.4 Kreativität, Spiritualität und Sinnsuche
Fazit Gestaltung
Teil III: Sandspiel
Einführung Sandspiel
10 Das Sandspiel in der Therapie
10.1 Die erste Begegnung mit dem Sand
10.2 Sandspiel nach M. Lowenfeld, D. Kalff und C. G. Jung
10.3 Die Bedeutung des Sandspiels für psychodynamische Prozesse
11 Sandspiel im Rahmen der psychodynamischen Therapie – ein phasenspezifischer Blick
11.1 Das Sandspiel bei frühkindlichen Bindungsstörungen und Ängsten
11.1.1 Den Rhythmus finden
11.1.2 Zerstörerische Wutausbrüche
11.1.3 Die Drachen wollen gefüttert werden
11.1.4 Uroborus
11.1.5 Das Chaos
11.2 Übergangsrituale im Sand
11.3 Sandspiel in der Latenzzeit
11.3.1 Trennungsdrama eines Mädchens in der Latenz – die vierstufige Deutung
11.3.2 Identitätssuche zweier Mädchen
11.3.3 Geschlechtsspezifische Merkmale in der Bildbetrachtung in der Latenz
11.4 Sandspiel in der Adoleszenz
11.4.1 »Das Wegwischen des Alten«
11.4.2 Körperselbstbild
11.4.3 »Wer bin ich?«
Fazit Sandspiel
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Teil IV: Anhang
Zeichnen und Malen ist von jeher Anliegen der Menschen, bereits in den frühen Höhlenmalereien – zum Beispiel in den Höhlen von Lascaux, Chauvet und Altamira, um die bedeutendsten zu nennen. Diese Malereien sind 20–30-tausend Jahre alt. Es wurde, wie in der Höhle von Chauvet, über Jahrhunderte an den Wänden gemalt. Im Wesentlichen stellen die Bilder archaische Tierwesen dar, Stiere, Bisons und Pferde. In der Sahara wurden Felszeichnungen und Ritzungen entdeckt, die 10 000 Jahre alt sind. Sie stellen neben Tieren auch Menschen dar, die in ihren Formen frühen Kinderzeichnungen gleichen. Es sind die Bilder einer mythisch-religiösen Welt, in der auf symbolischem Wege Gott, Mensch und Tier als Repräsentanten archaischer Kräfte zu verstehen sind. Suchen wir nach der sich im Symbol verbergenden Bedeutung, können wir nur vermuten, dass in dieser archaischen Zeit, in der die Menschen sehr viel stärker mit dem Unbewussten lebten, mythisch fühlten und dachten, die Zeichnung unterschiedliche Aspekte zum Ausdruck brachte. Zum einen dürften sie apotropäischen Charakter gehabt haben: Es sollten die in den Tieren wohnenden gefährlichen, vielleicht auch bösen Geister abgewehrt werden. Zum anderen könnten diese Abbildungen, subjektstufig gesehen, als Ausdruck der eigenen vitalen Triebbedürfnisse verstanden werden, die in den Höhlen, im Dunkel des Unbewussten erahnt und mit der Zeichnung sichtbar gemacht wurden. Schließlich könnten in dieser mythischen Zeit die mächtigen Tiere auch gottähnliche Instanzen vertreten haben, die günstig gestimmt werden sollten und Leben und Überleben in ihrer Stärke garantierten.
In diesen Höhlenmalereien zeichnet sich das Bedürfnis des Menschen ab, das, was beschäftigt, ängstigt und quält, über das Abbild zu verarbeiten. Es geht dabei jedoch nicht nur um das fertige Bild selbst, sondern um den Prozess aktiver Gestaltung. Indem die innerseelische Befindlichkeit Gestalt annehmen konnte, lernte der Zeichner, auf seine kreativen Kräfte zu vertrauen. Es vollzog sich ganz selbstverständlich die Erfahrung, dass aktives Handeln passives Erleiden reduziert. Über die Tatkraft können Ängste, das Gefühl ausgeliefert zu sein oder die Furcht vor einem unwägbaren Schicksal am besten bewältigt werden.
Das galt menschheitsorientiert in der philogenetischen Perspektive. Das gilt aber genauso für die Gegenwart. So hat das Malen und Zeichnen, unabhängig vom Können, einen konfliktlösenden Gehalt, eine Erkenntnis, die aus dem archetypischen Urgrund kommt als ein jahrtausendealtes sich durch die Menschheitsgeschichte ziehendes Wissen.
Es sind ähnliche Impulse, die Kinder veranlassen, zu zeichnen und zu malen. Die von ihnen so erlebte, von magischen Mächten erfüllte Umwelt wird begreifbar; gleichermaßen aber auch die von vielschichtigen Triebimpulsen erfüllte eigene Triebnatur, die es zu zähmen und zu entwickeln gilt.
Kinder greifen von klein auf ganz spontan zum Stift, um ihr Innenleben zu zeigen und gleichzeitig damit umzugehen. Über bildnerisches Gestalten vollzieht sich spontan ein Akt der Selbstwahrnehmung, die die Gefahr, sich in einer rationalen Begrifflichkeit zu verlieren, umgeht.
Es lohnt sich, den Spuren eines unbewussten Wissens um die eigene Person nachzugehen und diese Inhalte zu »materialisieren«. So öffnet sich ein Raum, der therapeutisches Arbeiten erlaubt.
Eine Zeichnung an sich löst schon heilende Kräfte aus. Das Kind kann auf diese Weise belastende Erfahrungen und Erlebnisse sozusagen aus sich herausstellen. In der Gegenüberstellung werden sie vom Ich bewusst wahrgenommen. So kann ein Prozess der Auseinandersetzung mit den dargestellten Inhalten auf verschiedenen Ebenen beginnen. Häufig äußern sich Kinder spontan dazu. Ganz offensichtlich können sie über ein Bild leichter sprechen, als wenn die Konfliktbearbeitung ausschließlich im verbalen Raum bleibt. Darum ist es wichtig, ein Kind zu ermutigen und jeden Versuch positiv zu unterstützen, damit es die konfliktlösende Wirkung des Malens zulassen kann.
»Kinder können sich selber mit ihren Bildern in eine ferne Welt der Fantasie versetzen und selbstvergessen in eine tiefe Entspannung kommen, bei der sie Raum und Zeit völlig ausblenden.« (Krenz, 2010)
Um die kindliche Persönlichkeit zu erfassen, ist es von Bedeutung, wie die Strichführung ist. Wie hält das Kind den Stift oder die Kreide. Wagt es, zügig seine Idee zu vergegenständlichen oder zögert es, setzt es den Strich vielfach ab oder haucht es ihn förmlich aufs Blatt. Wird der Stift wie ein Besenstiel in die Hand genommen? Werden die Linien förmlich eingraviert? Müssen so, selbst wenn wieder ausradiert wird, Spuren hinterlassen werden? All das sind primäre wichtige Beobachtungen, die erste Hinweise auf die kindliche Persönlichkeit zulassen.
Die weitere Aufmerksamkeit gilt der Wahl des Stiftes. Manche lehnen die expressiven Möglichkeiten der Wachskreiden spontan ab und wählen lieber Buntstifte. Andere bleiben beim Bleistift und bevorzugen damit grau in seiner unverbindlichen Aussage. Kreiden und Wasserfarben in ihrer weichen Konsistenz ermöglichen Ausdruck, aber auch Eindruck. Dabei faszinieren diese Möglichkeiten ebenso wie sie ängstigen können. Erfahrungsgemäß braucht es Vertrauen in die Beziehung, um sich gerade dieser Gestaltungsmöglichkeiten zu bedienen.
Von Bedeutung ist, wie das Kind mit dem Raum umgeht. Wie wird das Blatt eingeteilt? Wird links oder rechts bevorzugt? Ein selbstunsicheres Kind wird Schwierigkeiten haben, die angebotene Fläche auszunutzen. Dann bleiben die Objekte oder Personen am unteren Bildrand kleben. Es gibt aber auch Kinder, die ihre Figuren am den oberen Rand orientieren. Diese scheinen in der Luft zu schweben, haben im wahrsten Sinn keinen Boden unter den Füßen. Sind die dargestellten Objekte klein oder sprengen sie nahezu den Rahmen? All das sind Fragen, die uns Kinder als Rätsel aufgeben und die wir in der Wahrnehmung der Einmaligkeit des Kindes lösen müssen, um die Bildersprache als nonverbale Mitteilung zu verstehen.
Ein weiterer Aspekt, der die Raumsymbolik zu einem Schlüssel macht, um die Befindlichkeit eines Kindes zu erfassen, ist die Rechts-Links-Orientierung. Der linke Raum steht für Vergangenheit, für das Unbewusste ganz allgemein und für ein Bedürfnis, sich regressiv zu orientieren. Der rechte Raum ist Ausdruck für Bewusstsein, Realitätsorientierung und Progression. Liegt das Schwergewicht einer Zeichnung im linken Raum, kann man es als möglichen Hinweis interpretieren, dass die Entwicklung nach vorn mit Angst besetzt ist und Wünsche nach kleinkindlicher Geborgenheit dominieren.
»In der Vielzahl der Farben vermag sich die Vielfalt der Gefühle widerzuspiegeln. Farbe ist dadurch (…) eine hochdifferenzierte Sprache der Gefühle. Daher sind Farben visualisierte Gefühle.« (Lüscher, 1978)
Jede Farbe hat ihre eigene Aussage und birgt gleichzeitig Geheimnisse in sich.
Tatsächlich hat jede Farbe eine spezifische Wirksamkeit, die die körperliche wie seelische Befindlichkeit beeinflusst. Aus dieser Erfahrung heraus gibt es »königliche« Farben, die früher ausschließlich hohen Würdenträgern vorbehalten waren und bei Strafe nicht vom einfachen Volk genutzt werden durften. Farbe hat damit auch eine hohe Signalwirkung, die als eindeutiges Zeichen zum Beispiel im Alltagsleben und Verkehr genutzt wird.
Jede Farbe kann sich in unendlich vielen Schattierungen darstellen. Vorsichtig formuliert lässt der Grad der Helligkeit Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur zu. Aufgehellte Farben könnten den Schluss nahelegen, es mit einer extravertierten Persönlichkeit zu tun zu haben, die offen auf die Welt zugeht. Verdunkelte Farben weisen vor diesem Hintergrund auf eine eher introvertierte Persönlichkeit hin.
Nachdem jede symbolische Interpretation aber immer den doppelten Charakter eines Plus- und Minuspols berücksichtigen muss, kann eine helle Farbe auch unter kompensatorischem Aspekt bevorzugt werden und damit eine mögliche depressive Stimmungslage kompensieren. Umgekehrt kann eine verdunkelte Farbnuance den notwendigen und gewünschten Rückzug von der Welt und eine Konzentration auf die eigene Person, den eigenen Gefühlsbereich signalisieren.
Betrachten wir die Farbe Grün, dann wird wohl am deutlichsten, wie unendlich viele Schattierungen diese Farbe in sich birgt. Das helle Frühlingsgrün der ersten Blätter nach der kalten Jahreszeit ist von jeher mit dem Gefühl hoffnungsvollen Werdens verknüpft. Die Leichtigkeit des Seins, die Unbekümmertheit, das erwartungsvolle Ahnen auf eine unbekannte Zukunft zuversichtlich ausgerichtet sein, das mag der verborgene psychologische Gehalt sein.
»Durch Feld und Wald zu streifen, mein Liedlein weg zu pfeifen, so geht’s von Ort zu Ort…« – unbekümmert, offen neugierig, hier symbolisiert das helle Grün den extravertierten Abenteurer! Kompensatorisch wird es ersehnt in den Versen »nach grüner Farb’ mein Herz verlangt, in dieser trüben Zeit…«. Hier zeigt sich die Lebenssehnsucht eines depressiven eher introvertierten Menschen, der sich in seinem Sehnen allein gelassen fühlt. Ein kräftiges Grün signalisiert Stärke und Kraft. Nach Lüscher ist es die Farbe der Ich-Identität und Ich-Integrität: »Ich weiß, was ich will und ich suche mein Wollen zu verwirklichen« (Lüscher, 1978). Aus positiver Perspektive können sich in der Bevorzugung dieser Farbnuance vitale Ich-Kräfte zeigen, die Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl in sich schließen. Der Minuspol kann aber auch auf Egomanie und Rücksichtslosigkeit hinweisen. Dominiert diese Farbe insgesamt, weist sie unter Umständen auf fehlende Einfühlung in die Gefühle des Gegenübers hin. Der andere interessiert nur insoweit als er den eigenen Zielen dient.
So sagte ein Jugendlicher, der in seinen Bildern vorzugsweise diese kräftige grüne Farbe wählte, ohne eine andere Farbe im Prozess eines Austauschs einzubeziehen: »Wo käme ich hin, wenn ich mir immer wieder Gedanken um andere machte. So gestört wie sie möchte ich nicht sei. Den ganzen Tag mir die Probleme fremder Menschen anzuhören. Da gehe ich doch lieber zweimal in der Woche in Therapie und in der übrigen Zeit lebe ich mir zu Gefallen!«
Grün signalisiert somit Selbstwahrnehmung, Integrität und Selbstachtung
Ist dem Grün mehr Blau beigemischt, nähert sich die Farbe dem Petrol. Hier ist der Aspekt der Selbstbehauptung noch unterstrichen, außerdem erzeugt das Blau verstärkt den Eindruck, zu sich selbst zu kommen, die eigene Tiefe zu suchen und zu sich selbst zu finden. Diese Farbe signalisiert Ruhe, eine Bereitschaft sich auf sich selbst zu konzentrieren nicht in enger Egozentrik, sondern unter dem Aspekt des Beisichseins, statt außer sich zu sein. Aber auch hier besteht eine Dunkelseite in der Gefahr, sich in den eigenen inneren Bildern zu verlieren und die Realität aus dem Auge zu verlieren. Andererseits kann für solche Menschen ohne Rücksicht auf die Meinung anderer zentrales Anliegen sein, die eigene Großartigkeit zu demonstrieren. Dafür sind dann Statussymbole wichtig. Geltungsbedürfnis tritt an die Stelle eines belastbaren Selbstbewusstseins.
Blau ist grundsätzlich eine Farbe der Ruhe. Im Blau kann man sich selbst finden, sich aber auch in den inneren Bildern verlieren. Blau, die Farbe der Ruhe und Beruhigung, das abgestufte dunkle Blau als Ausdruck von Schutz und Geborgenheit. Blau ist Ausdruck der Harmonie, eines inneren Gleichgewichtes. In dieser Farbe symbolisiert sich Selbstbescheidung und die Bereitschaft, sich in unabänderliche Notwendigkeiten einzufügen. Das wird am Beispiel der Schutzmantelmadonna sichtbar (Neufrach, St. Peter und Paul), und ihres an der Innenseite blauen Mantels, die den Gläubigen offensichtlich Geborgenheit bietet. Blau dient aber auch als Ausdruck von Wert und Würde. Das Königsblau war einzig den hohen Würdenträgern vorbehalten, das Blau des Lapislazuli galt als Ausdruck hoher Werte in Ägypten.
Die blaue Blume schließlich war in der Romantik ein Synonym für die Rückkehr zum fühlenden Erleben – eine Gegenbewegung zur rational bestimmten Aufklärung.
Mit Hellblau assoziieren Kinder in der Regel die lichte Weite des Himmels. Unter den Lüscher-Blautönen (Lüscher) steht bei ihnen signifikant das helle Blau an erster Stelle. Befreiung, »Vogelfrei sein«, assoziierte eine Jugendliche, die von der Symptomatik her in Zwängen gefangen wie in einem Käfig lebte. Alles musste nochmals gewaschen werden, bevor sie die Wäsche berührte, Essen ging nur, wenn sie vorher nochmals Besteck und Teller abgespült hatte. Schulsachen mussten wiederholt kontrolliert werden, bevor sie morgens in die Schule gehen konnte. Stand eine Klassenarbeit bevor, musste sie über lange Strecke magisch beschwörend mit einem Fuß auf dem Gehsteig, mit dem anderen in der Rinne gehen, selbst wenn es angesichts des Verkehrs gefährlich wurde. Als sie einmal spontan in die hellblaue Farbe eintauchte und das ganze Blatt damit bemalte, bezeichnete sie dieses Tun als eine Erlösung.
Von der dunklen Seite des Blaus kann ein Sog ausgehen, der in Passivität bis hin zu depressiven Stimmungen münden kann. Der negative Pol umreißt die Verführung sich aufzulösen bis hin zur suizidalen Gefährdung.
Eine 11-Jährige, die wenige Wochen vorher ihren Vater verloren hatte, kam bedrückt in die Stunde und meinte, sie müsse jetzt einfach blau malen (Bild 1*). Das Gemälde gestaltete sie mit enormem Druck, sodass die Farben nahezu brachen. Aufseufzend endete sie das Bild mit Lila. »Das passt eigentlich nicht dazu, aber es musste trotzdem so sein.« Wenn wir die rechte Seite als die von Entwicklung und Progression sehen, dann deutet das violett in seiner Mischung von blau und rot auf Wandlung und Veränderung. Das könnte bedeuten, dass die Entwicklungsdynamik trotz des traumatischen Verlustes in die Zukunft weist. Ihre Aufschrift, dass Frau Lutz die beste Therapeutin sei, signalisierte, dass die Therapie für sie sowohl sicherer Hort als auch die Chance zu bedeuten schien, den Verlust des Vaters zu verarbeiten. Im Gespräch wurde sichtbar, dass neben der Trauer auch Wut angesichts des Verlustes des Vaters aufflackerte: »Der konnte doch nicht einfach gehen und Mama und mich allein lassen.«
Zu dieser Aussage passt, dass dieses Bild der primären Trauerverarbeitung mit so viel spürbarer Aggression gemalt wurde. Im Anschluss konnte das Mädchen dann in einem dramatischen Gekritzel ein Wutbild produzieren, das sie zu einer Kugel zusammenballte und mit Löchern versah. »Das werde ich in der nächsten Stunde verbrennen«, beschloss sie und konnte sich dann anderem Tun zuwenden. Ich verstand das Malen als selbstheilenden Versuch, die Depression mithilfe von Aktivität zu bewältigen und dabei auch aggressive Gefühle zu spüren. Die Abhängigkeit von der sorgenden Unterstützung seitens der Therapeutin wurde in einem lebendigen Übertragungsprozess zur Demonstration von Autonomie: Auf dem zweiten Blatt hatte sie nämlich zunächst nochmals in goldenen Buchstaben meinen Namen geschrieben. Dann wurde es durch das vielfarbige Gekritzel unleserlich und schließlich durch das Zerknüllen, die Löcher und das tatsächlich eine Stunde später erfolgte Verbrennen vernichtet.
Rot ist eine Farbe mit hoher Signalwirkung. Es hat, insbesondere als Gelbrot, die dynamischste Wirkung innerhalb des Farbkreises. Rot bedeutet Dynamik, Aktivität, Macht und Stärke, aber auch Freude und Begeisterung. Rot symbolisiert Lebenslust und Liebesfähigkeit, vitales Engagement, Eigeninitiative und Kreativität. Auf der negativen Seite dominiert rücksichtsloses Machtbedürfnis, aggressive Affektentladung, fehlende Impulskontrolle bis hin zur Destruktivität. Das Element des Feuers symbolisiert diese zwei Seiten in eindrucksvoller Weise.
Ein 17-Jähriger mit schwerer Ticsymptomatik konnte seine Gefühle am besten bildnerisch darstellen. »Ich bin voll von unterdrückter Wut«, sagte er und malte nebenbei einen ausbrechenden Vulkan. »Der speit förmlich sein Feuer aus«, meinte er bei der nachträglichen Betrachtung.
»Wir sind doch fast alle versteckte Pyromanen«, äußerte ein Vater und nahm gern die Empfehlung auf, mit seinem ängstlichen, depressiven neunjährigen Sohn Feuerspiele zu machen. »Und dir tut das auch gut«, fügte die Mutter des Jungen hinzu.
Verdunkelt sich das Rot mithilfe einer winzigen Spur Blau, dann entsteht das Pupurrot. Die Farbe Purpurrot zeichnet seinen Träger als Würdenträger aus. Der Purpurmantel sollte größte Macht zum Ausdruck bringen. Im Jahr 1468 führte der Papst den Purpurmantel als Zeichen der Würde bei den Kardinälen ein (Reichholf, 2015). Nachdem diese Farbe bei Kindern und Jugendlichen häufig verwendet wird, darf ein archetypischer Aspekt vermutet werden, der in Bildern und Zeichnungen eine besondere Akzentsetzung erlaubt.
Während sich im Rot der aktive Impuls widerspiegelt, das Leben dynamisch zu gestalten, versinnbildlicht das Blau Hingabe und friedliche Übereinstimmung. In der Verbindung beider Farben entsteht violett, gewissermaßen die Vereinigung der Gegensätze. So symbolisiert diese Farbe Veränderung, Wandlung. Es ist bezeichnend, dass Kinder auf der ganzen Welt vor der Pubertät zu einem hohen Prozentsatz violett als Lieblingsfarbe bezeichnen. Auch in Zeiten des Übergangs bei Schwangeren oder alten Menschen wird violett bevorzugt. Violett hat in seinen vielfältigen Mischformen eine hohe Faszination, die ins Mystische führen kann und darum auch in Religion und Magie eine bedeutsame Rolle spielt.
Das Violett im blauen Bild der 11-Jährigen (Bild 1) weist auf diese Bereitschaft zur Wandlung und Veränderung hin. Der Tod des Vaters will als Impuls zur Verwandlung und Neuwerdung verstanden werden. Es ist zusätzlich Anstoß, sich auf die eigene weibliche Entwicklung einzulassen und den Schritt ins Jugendlichenalter zu wagen.
Die dunkle Kehrseite der Farbe liegt in der Unbestimmtheit, die sich als Strukturlosigkeit etablieren kann. Es ist die Haltung einer »Egal-Stimmung«, die Unfähigkeit, sich zu entscheiden und auf ein »ja« oder »nein« festzulegen. Farbpsychologisch steht hinter der Farbe auch die Verführbarkeit durch Erotik oder die Sehnsucht nach entgrenzenden Drogen. Es ist das Vage, Unbestimmte, was die Farbe in Schwellensituationen der Entwicklung so faszinierend macht.
Gelb, die hellste der Farben, wird nicht umsonst mit der Sonne in Verbindung gebracht. Die Farbe symbolisiert Leichtigkeit, die freie Bewegung, Wärme, Leuchtkraft. Gelb hat die Tendenz, sich über den Rahmen hinaus auszubreiten. Nicht umsonst wird ein ausgefüllter gelber Kreis neben einem dunkelblauen als größer erlebt. Mit dem Gelb wird das Empfinden von freier Selbstentfaltung verbunden. Es ist Lösung, Weite und Befreiung von engen Grenzen oder Zwängen. Es ist der Mut zur Veränderung, der gerade im Rahmen einer therapeutischen Beziehung wichtiges Arbeitsmittel ist. Die Minusvariante dieser Farbe ist die Gefahr einer gewissen Oberflächlichkeit. Die Gelbstimmung unterstützt die Tendenz zur Projektion der eigenen Schwierigkeiten auf andere oder die Vorstellung, mit einer Änderung der äußeren Bedingungen vollzieht sich eine anstehende Konfliktlösung wie von selbst.
»Wenn ich eine Weltreise mache, nabele ich mich ganz automatisch von meiner Mutter ab«, sagte mir eine 18-jähriger junger Mann. Wir konnten herausarbeiten, dass eine äußere Distanzierung noch keine wirkliche Ablösung garantiert. »Ich nehme meine Abhängigkeit von ihr letztlich mit auf die Reise«, meinte er anschließend mit spürbarem Ärger in der Stimme. »Ich komme also nicht darum herum, mich bewusst um Verselbständigung und Unabhängigkeit zu bemühen.« Damit ist die Kehrseite der gelben Farbe offensichtlich: Die Bereitschaft, sich der Lösung eines Konfliktes durch Flucht zu entziehen mit der Tendenz, davon überzeugt zu sein, dass das Glück immer da zu finden ist, wo ich gerade nicht bin.
Auch das Braun in seinen verschiedenen Nuancen spielt in Kinderbildern häufig eine Rolle. Es ist die Farbe der Mutter Erde und wird darum häufig unter dem Aspekt einer sicheren Erfahrung im mütterlichen Raum ebenso wie als Ausdruck der Sehnsucht verwendet. Diese Farbe hat sehr viel mit dem eigenen Körpergefühl zu tun, mit Genussfähigkeit und Sinnenfreude. Hierzu gehört sowohl der Genuss des Essens, als auch die Freude an der Fähigkeit, etwas ausscheiden zu können. Kinder, die ihren Stuhlgang zurückhalten, die die Lust des Hergebens nicht als Befreiung erleben können, zeigen häufig die Bereitschaft in ihren Bildern braun zu verwenden. Braun als Ausdruck eines Wunschdenkens ebenso wie als Ekel.
Schwarz und weiß sind auch aussagekräftig, gerade weil sie »unfarbig« sind. Schwarz ist Ausdruck der Verneinung, der absoluten Ablehnung ebenso wie eines bedingungslosen Wollens. Es ist nicht von ungefähr, dass alle radikalen Gruppen schwarze Kleidung wählen. So ist es bei den Faschisten ebenso zu beobachten wie bei der SS, bei den Rockern gleichermaßen wie bei den Gothics. Aber auch in der Eroberung neuer Perspektiven, wie bei den Existentialisten, man denke nur an Juliette Greco, ist Schwarz Ausdruck einer geistigen Radikalität. Gleichzeitig kann Schwarz aber auch Wert und Bedeutung einer Person unterstreichen: Audrey Hepburn im »kleinen Schwarzen« in dem Kultfilm »Frühstück bei Tiffany« ist unvergesslich. Psychologisch symbolisiert diese Farbe aber auch das Dunkle in all seiner Bedrohlichkeit: Der eigene Schatten, die eigenen Triebaspekte und -Impulse, die solange sie unbewusst sind, so gefährlich erscheinen, wie Zerberus, der dreiköpfige schwarze Hund der Unterwelt.
Weiß im Gegensatz dazu hat die Bedeutung der Unberührtheit, des Reinen.
Es sind die blühenden Kirschbäume, die unser Herz berühren, das Versprechen des Neubeginns im Frühling. Und gleichzeitig ist weiß die Farbe des Schnees, der alles bedeckt und häufig mit einem Leichentuch gleichgesetzt wird. So ist auch verständlich, warum in China weiß als Farbe des endgültigen Abschieds, der Trauer, des Todes gewählt wird. Wir dagegen sehen im Schwarz diese Aspekte. So zeigt sich über die Symbolik, dass die Gegensätze zusammengehören und erst die Verbindung der polaren Aspekte das Geheimnis einer Farbe ausloten kann.
Strichführung ebenso wie die Orientierung im Raum können wichtige diagnostische Hilfsmittel sein. Es geht dabei nicht nur darum, was das Kind malt, sondern wie es malt und wie es das angebotene Material nutzt.
Farben drücken die Gefühle eines Menschen häufig deutlicher aus, als es die Sprache vermag. In Kinderzeichnungen kann man über die Farbwahl wichtige Eindrücke hinsichtlich der seelischen Befindlichkeit des Kindes gewinnen. Betrachtet man Farben aus der Perspektive der Symbolik, enthält jede Farbe in sich die Polarität von hell und dunkel, von positiv und negativ. Sie muss darum immer im Kontext der kindlichen Persönlichkeit verstanden und darf nicht bewertet werden. Dieser Blickwinkel erst erlaubt die Nähe zu einer archetypischen Gesetzmäßigkeit, die zum Verständnis menschlichen Seins einen vertieften Zugang erlaubt.
Anati, E. (2002). Höhlenmalerei. Mannheim: Albatros.
Bosinski, G. (1998). Altamira. Stuttgart: Jan Thorbecke.
Lorblanchet, M. (2001). Höhlenmalerei. Stuttgart: Jan Thorbecke.
Lüscher, M. (1989). Die Lüscher Farben. München: Mosaik.
Lüscher, M. (2005). Der 4 Farbenmensch. Überarbeitete Neuauflage. Berlin: Ullstein TB.
Ruspoli, M. (1998). Die Höhlenmalerei von Lascaux. Augsburg: Bechtermünz.
• Welche Schlussfolgerungen erlauben Strichführung, Raumorientierung und Wahl des Materials hinsichtlich der psychischen Befindlichkeit des Kindes oder Heranwachsenden?
• Inwieweit ist es problematisch, Farben mit einer allgemeinen Befindlichkeit gleichzusetzen, wie es zum Beispiel der Volksmund tut?
• Können Farben in ihrer Aussage besser verstanden werden, wenn man von aktiven und passiven Farben spricht?
• Können Farben bei einseitigen Bewusstseinszuständen ausgleichend wirken?
• Haben Farben bei pathologischen Prozessen unter Umständen eine heilende Wirkung?
* Die Bilder 1–34 befinden sich im Anhang am Buchende (Teil IV: Anhang).
Bilder von Kindern in verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen ermöglichen dem Laien wie dem Fachmann/der Fachfrau ein vertieftes Verstehen von Kindern und Jugendlichen in ihren unterschiedlichen Fühl- und Erlebnisweisen. Dabei wird sichtbar, dass seelische Erkrankungen als Ausdruck eines inneren Ungleichgewichtes zu verstehen sind. Im therapeutischen Malen kann sich ein harmonischer Gefühlszustand entfalten. Staunend vor dem eigenen Werk zu stehen und zu wissen, das bin ich, das habe ich geschaffen, damit habe ich mich von Komplexen gelöst, lässt in zunehmendem Maß auf die Gewissheit vertrauen, eine innere Stabilität zu erreichen. Das Kind malt nicht primär was es sieht, sondern vermittelt uns wie es wahrnimmt. Dabei ist äußerer Eindruck und inneres Erlebnis noch eng verbunden.
Wenn das Kleinkind zum Stift greift, gestaltet es in einem ersten Schritt sogenannte Kritzelbilder. Auch sie haben bereits eine Aussage. Das Kind versucht seine Eindrücke auszudrücken und damit für die eigene Person verständlich zu machen. Die für unsere Wahrnehmung scheinbar wahllosen Striche enthalten Botschaften, die sich erst über die begleitenden Worte erschließen. Es kann ein Auto sein, das fährt, damit wird die Erfahrung von Bewegung verarbeitet. Von einem bekannten zu einem unbekannten oder zumindest weniger bekannten Ort zu kommen schließt eine Fülle von Bildern ein, für die das Kind in seinen Kritzelbildern Ausdruck und Verarbeitung sucht. Es kann aber auch die Beziehung zu einem älteren Geschwister gemeint sein. Die roten, gelben und orangen Striche kommentierte eine Zweijährige: »Momi rennen, ganz schnell weg«. Damit ist der 5-jährige Bruder Moritz gemeint, der sich am Morgen eilig von Mutter und kleiner Schwester trennte und in den Kindergarten zu seinen Freunden lief.
Der nächste Entwicklungsschritt im Malen ist die Gestaltung des sogenannten Urknäuels. In lustvoller kreisender Bewegung scheinen Außenwelt und Innenwelt in einem ganzheitlichen Umkreisen zusammengefügt zu werden. Hierbei ist es nicht ein einziger Kreis, sondern es wird das umrundende Prinzip einer gefühlten oder gewünschten Einheit in ständiger Wiederholung dargestellt. Bereits dieser erste Versuch, innen und außen in Gemeinsamkeit und wechselseitiger Bedingtheit aufs Papier zu bannen, verrät viel über die Befindlichkeit des Kindes. Kann es den Raum ergreifen, den Stift in die Faust nehmen, sich in die Bewegung vertiefen und in die lustvolle Wiederholung eintauchen? Kann es sich mit seinem Tun verbinden, sich dem Erleben der Ganzheit vertrauensvoll annähern oder verlangt es nach der helfenden Hand des Erwachsenen? Unterscheidet es schon in einem ersten Schritt zwischen den Farben oder greift es wahllos zu den Stiften?
Im Bild eines Dreijährigen dominiert das »Große Runde«, wie er es bezeichnet (Bild 2). Aus einem noch diffusen Ich-Kern, der vom Farbeindruck noch eher blass und zurückhaltend wirkt, entwickelt sich ein klarer grüner Kreis, der wiederum vom Gelb umhüllt ist. Wenn diese Farbe den Aufbruch in eine wachsende Selbstbestimmung symbolisiert, könnte sich hier eine altersspezifische Bereitschaft abbilden, den mütterlichen Schutz, das Enthaltensein zu verlassen. Dies wird durch die Farbwahl unterstrichen. Grün, Blau und Braun sind farbpsychologisch dem Mütterlichen zuzuordnen. Dass dieser Aufbruch sich nicht ohne familiäre Dramatik abspielt, könnte durch das wirre Braun einerseits, aber auch die farbkräftigen senkrecht gestalteten Bereiche rechts und links vermutet werden. Orange als Ausdruck von Vitalität und Kraft scheint hier die Gegenposition zum schützenden Runden zu besetzen. Tatsächlich berichtete die Mutter im Gespräch, dass sie mit ihrem geliebten und umsorgten Sohn gerade »massive Kämpfe ausficht«, wie sie sagt. Wir verstanden das notwendige Aufbegehren als leicht verspätetes Trotzalter. »Ich dachte, ich könnte das umschiffen«, äußerte die Mutter etwas wehmütig, »aber es muss wohl sein!«
Die nächste zeichnerische Entwicklungsstufe ist die der so bezeichneten »Kopffüßler«. Das zentrale Erleben repräsentiert der Kopf, der groß und mächtig als das beherrschende Runde das Bild dominiert. Bezeichnend ist, dass die Kinder in der Regel viel Wert darauf legen, dass der Kopf zwei Augen, einen Strich als Nase und einen Mund erhält. An den Kopf werden zwei lange Striche als Beine senkrecht angefügt. Die Arme wachsen aus dem Kopf, so dass sich insgesamt nahezu eine Kreuzform ergibt (Abb. 1). Für ein kleines Kind hat der Kopf des Gegenübers eine zentrale Bedeutung: Im Kopf repräsentiert sich für seine Wahrnehmung das Gegenüber, der ganze Mensch (Abb. 2).
»Das Kind meint mit dem Kopf die Gesamtgestalt des Menschen […] in ihm verdichtet sich ein Grossteil derErfahrungen mit den anderen Menschen.« (Seitz, 1980)
Als weitere Wahrnehmung kommt für das Kind hinzu, dass der Mensch sich bewegen und dass er greifen kann. So wachsen aus dem Kopf Arme und Beine. Und schließlich ist das Hören fürs Kind von besonderer Bedeutung. Wie tönt die Welt, was ist Sprache, was muss ich hören, oder was soll ich nicht hören. Aus dieser Sicht ist verständlich, dass die meisten Kinder ihrem Kopf noch riesige Ohren anfügen (Abb. 2).
Abb. 1-4: Monster unter verschiedener Akzentsetzung
Die Malserie eines knapp Fünfjährigen (Abb. 1–4) unterstreicht die Weiterentwicklung in Wahrnehmung und Gestaltung der menschlichen Figur. Beeindruckend ist das erste Bild, in dem er Arme und Beine gestaltet. Wichtig waren ihm die Finger und die Füße, die selbstbewusst Schritte nach rechts in die Progression wagen. Interessant ist die Wahrnehmung von senkrechten und waagrechten Linien, die jedoch noch keinen Körper abbilden. Augen und Mund haben eine zentrale Bedeutung. Das Beißen im Sinne einer Erkenntnis, Biss zu entwickeln, könnte damit gemeint sein (Abb. 3). Begeistert über seine Gestaltungsfähigkeit, sicher auch angeregt durch mein gespanntes Beobachten, folgten nun weitere Menschbilder, die als Monster bezeichnet werden. Im dritten Bild wird erstmals die Nase dargestellt. Die beiden Öffnungen waren dem kleinen Zeichner dabei besonders wichtig. Der über dem Bauch hängende Halbkreis soll die ausgestreckte Zunge darstellen. Die Arme werden nun selbstverständlich am Bauch befestigt (Abb. 4).
Und schließlich nehmen die Körperfunktionen einen wichtigen Raum ein: So entstand das »Pipimonster« (Abb. 4). Die Eltern berichteten von ihrem Sohn, dass er im Kindergarten dadurch auffiel, dass er sich und anderen Kindern gern Perlen in alle Öffnungen des Körpers steckte. Es schien, als ob er damit in besonderer Weise wahrnehmen wollte. Im Gespräch konnten die beunruhigten Eltern erkennen, dass ihr Sohn seine und die Körperlichkeit anderer Kinder erfassen wollte. So auch die geschlechtliche Unterschiedlichkeit, die sich in seiner Frage ausdrückte, warum die Mädchen ein Loch hätten, in das man etwas hineinstecken könnte und die Jungen nicht.
Es war offensichtlich, dass der Junge nach Informationen hinsichtlich der geschlechtlichen Unterschiedlichkeit suchte. Mit Hilfe von Büchern und bezogenen Gesprächen war es möglich, die Grundtatsachen von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt zu beschreiben und dem Jungen über die Information seine über das Perlenspiel symbolisch geäußerten Fragen zu beantworten. Die Eltern erkannten, dass ihr Sohn Sicherheit in seiner männlichen Rolle suchte. In der Folge wagte er immer wieder, ein kleines Monster zu sein. Die Perlenspiele dagegen hörten wie selbstverständlich auf.
Im letzten Kindergartenjahr wird zunehmend die Bedeutung des Leibes erkannt. Kinder setzen nun an den Kopf den zumeist kugelrunden Bauch, der gern mit einem Bauchnabel versehen wird. Jetzt werden auch Farben bewusst eingesetzt. Das Kind ist wählerisch und sucht »seine« Farben aus.
In der Abbildung eines Menschen (Bild 7) legt die Sechseinhalbjährige großen Wert auf die Blaufärbung des Bauches. »Da ist es sehr gemütlich da drinnen«, meint sie nachdenklich. Angesichts dieser subjektiven Erfahrung von Geborgenheit wagt sie die Darstellung aggressiver Impulse. Die Hände als zupackende, greifende und begreifende Organe sind für sie sehr bedeutsam. Sehr genau wird abgezählt, ob die Anzahl der Finger stimmt und sie möglichst naturgetreu mit ihren Gelenkverdickungen abgebildet werden. Das Gesicht mit seinem deutlich aggressiven Ausdruck, die Zähne und die wild in die Luft ragenden Haare zeichnen den anderen Aspekt. Es geht um den Mut, sich aus regressiv orientierter Geborgenheit zu befreien und zupackend die Welt zu ergreifen und zu begreifen. Es ist die notwendige Vorbereitung auf die Schule, die zunehmend Autonomie und Eigenständigkeit verlangt. Dass dieses Erfordernis durchaus zwiespältige Gefühle weckt, vermittelt die Doppelbödigkeit des Bildes. Das Mädchen, als solches bezeichnet die Malerin ihr Werk, ist nicht »angezogen«. Der Bauch weist noch auf frühere Entwicklungsstufen hin, während der dynamische zupackende Aspekt auf die anstehende Entwicklungsaufgabe hinweist.
Die Frage nach der Schulreife des Kindes war Grund der Vorstellung bei mir gewesen. Zum einen lässt sich am Bild ablesen, dass ausreichend vitale Ressourcen bestehen. Zudem signalisieren die gelben Haare die Bereitschaft, in die neue Welt des Lernens und Leistens aufzubrechen. Die Eltern meldeten nach dem ersten Vierteljahr Schule erleichtert und beglückt, sie sei mühelos »angekommen«.
Allmählich beginnen Kinder in der Phase des ersten Gestaltwandels die Menschen geschlechtlich deutlich zu unterscheiden und sie »anzuziehen«.
Unabhängig von der Kleidermode werden Mädchen immer noch in den meisten Fällen mit einem Rock, die Jungen mit Hosen gemalt.
Die Zeichnerin, eine wache, sehr redefreudige knapp Siebenjährige wurde mir wegen ihrer heftigen Wutanfälle vorgestellt. Ihr Bild, dass sie spontan in der ersten Stunde malte, kann man wie eine Darstellung ihrer innerpsychischen Konfliktsituation lesen (Bild 8