Adoptivkinder fordern uns heraus - Christiane Lutz - E-Book

Adoptivkinder fordern uns heraus E-Book

Christiane Lutz

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Beschreibung

Die Grundbefindlichkeit der adoptierten Kinder und Jugendlichen ist häufig durch Angst geprägt. Bindungsstörungen werden durch Heimerfahrungen oder wechselnde Pflegefamilien meist noch verstärkt, so dass sich Trennungs- und Verlustängste entwickeln. Die Eltern scheitern häufig in ihrem Bemühen, die negativen Erfahrungen der Adoptierten zu kompensieren. Der Wunsch nach einem Traumkind soll oft in illusionärer Weise für eigene Kindheitsdefizite entschädigen. Enttäuschungen sind zwangsläufig die Folge und lösen Hilflosigkeit, Verzweiflung und depressive Verstimmungen aus, die nicht selten in Trennungsphantasien ihr Ventil finden. Christiane Lutz behandelt in ihrem Buch u. a. Fragen des Umgangs mit den leiblichen und den Adoptiv-Eltern sowie den Geschwistern, der sexuellen Aufklärung, der Erziehung in der Pubertät und der Vorbildfunktion der Eltern.

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Christiane Lutz

Adoptivkinder fordern uns heraus

Handbuch für Beratung, Betreuung und Therapie

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Yvonne Bogdanski/Fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94869-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10728-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20248-9

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

1 Adoptiveltern: Erwartungen, Wünsche und der Umgang mit der Realität

1.1 Ein unerfüllter Kinderwunsch

1.2 Eigene Kinder haben: Ausweg Adoption

Motivationen

Hürden

1.3 Das Verfahren: Prüfung auf Herz und Nieren

1.4 Formen der Adoption

Inkognito-Adoption

Halboffene Adoption

Offene Adoption

2 Jedes Adoptivkind hat eine eigene Geschichte

2.1 Idealvorstellungen vom Adoptivkind und die Realität

2.2 »Armes« Adoptivkind

Die defizitäre Bindungserfahrung und das Trauma des Abgegebenseins

Frühe Bindungserfahrungen und Verhaltensauffälligkeiten

Zwischen Anpassung und Auflehnung

Fehlende Wurzeln

2.3 Symptome der frühen Lebensphase und ihre Symbolik

2.4 Regression und Progression, ein Ambivalenzkonflikt

Die »Flucht nach vorn« in die Rationalität

Aggressionen sind Vertrauensbeweise

2.5 »Besondere« Adoptivkinder

Ein anderes Land, eine andere Hautfarbe und dennoch mein Kind

Adoptivkinder mit geistiger Behinderung

3 Leben als Adoptivfamilie

3.1 Von der Bereitschaft, Liebe, Fürsorge und Halt zu schenken

3.2 Irritationen durch die Umwelt

3.3 Das Fremde im Adoptivkind

Illusionäre Vorstellungen und die Wirklichkeit

Von der Offenheit, sich selbst zu sehen

Ein Kind kann nicht zurückgegeben werden

3.4 Was macht Adoptiveltern sicher in ihrer Elternrolle?

Die Vorgeschichte des Adoptivkindes

Die Bedeutung frühkindlicher Bindungserfahrungen

Hilfe von außen

Vernetzung mit anderen Betroffenen

3.5 Erziehungsfragen

Entwicklungsprozesse der Adoptivkinder und erzieherische Aufgaben

Schwellensituationen in der Entwicklung: Chancen oder Stolperfallen?

Gewähren lassen oder Grenzen setzen?

Förderung und Überforderung des Kindes

Die eigenen Kindheitserfahrungen der Adoptiveltern

Gewährenlassen und Anspruchshaltung

Emotionale Eskalationen, Übertragung

3.6 Anspruch und Grenzen in der Adoptivsituation

Überanspruch und Überforderung

Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen

Frustrationsvermeidung

Überanspruch und Überforderung anderer Beteiligter

3.7 Adoptiertsein, ein lebenslanges Trauma?

Schutzmaßnahmen des Kindes

Die Gefahr der Retraumatisierung in Elternhaus, Kindergarten, Schule und peer group

3.8 Familienkonstellationen

Von der Symbiose über die Triangulierung zum Gruppenerleben

Adoptierte Geschwister

Leibliche und adoptierte Kinder in einer Familie

Das adoptierte Einzelkind

3.9 Aufklärung, oder: Wie sage ich es meinem Kind?

Zeitgerechte Aufklärung

Sexuelle Aufklärung und Aufklärung über den Adoptivstatus

Aufklärung: ein lebenslanger Prozess, um Beziehungen zu festigen

Aufklärung und die Positionierung als Adoptiveltern

Spezifische Konfliktsituationen

Aufklärung und die Konfrontation mit eigenen Gefühlen

3.10 Die leiblichen Eltern, Bedrohung und Chance zugleich

Der Umgang mit den leiblichen Eltern

Das Dilemma des Kindes mit zwei Elternpaaren

4 So kann es gelingen: Konflikte und Lösungen

4.1 Die Bereitschaft, Konflikte durchzutragen

Entwicklung von Konfliktfreudigkeit und Verzicht auf Harmoniebedürfnis

Kinder brauchen klare Ansagen

4.2 Gedanken sind Kräfte

Positives Denken fördert Zuversicht

Eine gute Gegenwart als Weichenstellung für eine gute Zukunft

4.3 Erziehung zum Selbstbewusstsein

4.4 Selbstwert muss täglich neu errungen werden, bei Eltern wie Kindern

4.5 Aggression als dynamische Kraft und die Sackgasse der Autoaggression

4.6 Die Rolle des Vorbildes

Worte sind gut, Handeln ist besser

Die Wirkung der Person in ihrem Sein

5 Die therapeutische Interaktion mit Adoptivkindern

5.1 Therapie als Reifeimpuls

Psychotherapie als Hilfestellung zur Verarbeitung belastender Früherfahrungen

Die Person des Therapeuten als Mitgestalter

5.2 Wirkfaktoren in der Psychotherapie

Symbol und Symbolverstehen

Symbolische Ausdrucksformen im therapeutischen Prozess

5.3 Die therapiebegleitende Arbeit mit den Adoptiveltern

Von der angemessenen pädagogischen Einstellung

Die Berührung mit den eigenen Prägungen und dem eigenen Gewordensein

Die Konfrontation mit den eigenen Gefühlen und den eigenen Schattenseiten

6 Gedanken zum Schluss

7 Literatur zur Anregung und zum Weiterlesen

1 Adoptiveltern: Erwartungen, Wünsche undder Umgang mit der Realität

1.1 Ein unerfüllter Kinderwunsch

Ein Kind zu bekommen, wird zumeist als eine natürliche Sache betrachtet, die irgendwann ins Leben eingeplant wird. Und die Freiheit, den Zeitpunkt heute selbst bestimmen zu können, veranlasst viele Paare, länger zu warten, zuerst noch individuelle Bedürfnisse zu befriedigen, um schließlich mit dem Kind einen Schlusspunkt zu setzen und zugleich einen Neuanfang zu wagen: »Wir hatten uns beruflich etabliert, das Haus war gebaut, jetzt waren eigentlich Kinder dran– aber es klappte nicht. Die Umwelt fragte, halb belustigt, halb spöttisch nach möglichem Nachwuchs, wir antworteten in gespielter Lockerheit: Wir üben. Aber die Übung machte keinen Meister und schon gar nicht ein Kind. Ich maß die Temperatur, wir programmierten unsere Sexualität, von Lust konnte man allmählich nicht mehr reden. Alles vergebens.

Die Gänge zu Ärzten, die Enttäuschung, die Erkenntnis der Unmöglichkeit zu zeugen oder zu empfangen, Überlegungen einer künstlichen Befruchtung, das Ticken der biologischen Uhr– unsere Beziehung geriet immer mehr in Schieflage. Warum ging bei uns das nicht, was andere so selbstverständlich verhüteten? Wir konnten plötzlich das Grimm’sche Märchen von ›Hans, mein Igel‹ verstehen, den Spott der Umwelt, die Wut des Bauern, wenn er ausrief: ›Ich will ein Kind, und wenn es ein Igel ist!‹«

Hader mit sich, Vorwürfe gegenüber dem Partner, auch wenn nicht klar ist, wer der »Verursacher« ist, Enttäuschungswut gegenüber dem Schicksal, das einem die Erfüllung eines Herzenswunsches verwehrt– das Spektrum hochambivalenter Gefühle ließe sich beliebig fortsetzen.

1.2 Eigene Kinder haben: Ausweg Adoption

Motivationen

Viele Paare sind bereit, alles an Schwierigkeiten und Herausforderungen in Kauf zu nehmen, um ein Kind zu bekommen. Es ist der Wunsch, nicht nur für sich allein, zum eigenen Wohlgefallen zu leben, sondern in den Kinderaugen das Versprechen einer Fortsetzung des Lebens gespiegelt zu sehen, Teil zu haben am staunenden Entdecken der Welt, an der Bereitschaft, die Fülle des Lebens neugierig zu erforschen. Es ist, als ob man noch einmal zurücktauchen könnte in den Traum einer positiven Kindheit, vielleicht auch um dadurch eigene frühe Verletzungen zu heilen.

Die Motivation für eine Adoption und die damit verbundenen Schwierigkeiten sind Eltern in der Regel bewusst. Die Sehnsucht nach dem Kind hat jedoch oft unterschiedliche Hintergründe.

BESSERE ELTERN SEIN, ALS DIE EIGENEN ES WARENBeim Blick auf die Vergangenheit kann man oftmals ein hohes Bedürfnis erkennen, negative Primärerfahrungen zu kompensieren. Man möchte es vielleicht besser machen als die eigenen Eltern, verständnisvoller auf Kinder eingehen, ihnen eine behütetere und damit schönere Kindheit bereiten. Die Sehnsucht, mit Kindern sein Leben zu teilen, ist Ergebnis einer bewussten inneren Auseinandersetzung bei Vater und Mutter. Elternschaft wird nicht mehr als selbstverständlich angenommen.

So sagte mir eine Adoptivmutter: »Meine Eltern waren unfähig, sich in mich, in meine Gefühle hineinzuversetzen. Hatte ich Schmerzen, so hieß es: ›Stell dich nicht so an.‹ Den Wunsch nach Geliebtwerden beantworteten sie mit dem Satz, man sei erst liebenswert, ›wenn man geliebt sein will‹! Nur über erfolgreiche Leistungen hatte ich die Chance, wahrgenommen zu werden. Meinen Kindern wollte ich eine andere Mutter sein, ihnen das Gefühl geben, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Als ich wusste, dass ich keine leiblichen Kinder bekommen würde, habe ich alles daran gesetzt, zusammen mit meinem Mann Kinder zu adoptieren, um mein Anliegen, Liebe zu schenken, zu verwirklichen. Ohne Kinder wäre mir mein Leben leer vorgekommen.«

Emotionale Mangelerfahrungen, einseitige, vernunftorientierte Erziehung, aber auch ein Mangel an Wertevermittlung durch die eigenen Eltern, ein fehlendes Engagement, was die Förderung von Begabungen anbelangt, kann zum unbedingten Kinderwunsch führen. »Ich musste mir alles selbst erarbeiten. Meine musikalische Begabung wurde von meinen Eltern als ›brotlose Kunst‹ eingestuft. Dank der Fürsprache meines Lehrers durfte ich eine höhere Schule besuchen. Das möchte ich jetzt meinem Kind in einer gewissen Selbstverständlichkeit anbieten.«

DEN ALLTAG WIEDER »BUNTER« MACHENMit Blick auf die gegenwärtigen Lebensumstände besteht bei vielen das Bedürfnis, Farbe in einen grau gewordenen Alltag zu bringen. Man möchte wieder die eigene Lebendigkeit spüren, durch ein Kinderlachen den trüben Alltag vergolden. Beruflich ist häufig viel erreicht, die Partnerschaft vielleicht etwas eintönig geworden.

In bemerkenswerter Offenheit sagte eine adoptionswillige Frau, als wir ihre Motivation besprachen, zu ihrem Mann gewandt: »Du musst doch selbst sagen, der erste und eigentlich auch der zweite Lack ist ab. Weder bin ich noch die makellose Traumfrau der ersten Zeit, noch bist du für mich der große Held. Da wäre es natürlich schön, ein Kind würde wieder ein Stück Frische und Spannung in unseren Alltag bringen.«

SPUREN HINTERLASSENZusätzlich stellt sich aber auch im Wissen um unsere Endlichkeit die Frage nach der Zukunft. Hinterlasse ich einmal Spuren, die durch Liebe und Beziehung geprägt sind, nicht durch Erfolg und Leistung? War der Egotrip alles im Leben? Genügten Selbstverwirklichung und Erfolg? Oder bezieht sich die Aussage vieler Märchen, »Vergiss das Beste nicht!«, auch auf Familie und Kinder?

Ein Manager sagte mir in diesem Zusammenhang: »Das, was ich beruflich geleistet habe, ist schnell vergessen. Mein Erfolg wird vielleicht von meinem Nachfolger übertroffen. Die Bedeutung, die ich im Betrieb habe, ist jederzeit durch einen anderen ersetzbar. Die Beziehung zu Kindern ist einmalig. Meine Möglichkeiten, ihnen das Leben als lohnendes Abenteuer anzubieten, ihnen Werte zu vermitteln, das ist sinnvolles Tun, weil ich weiß, dass sie diese Erfahrungen verinnerlichen und einmal an ihre Kinder weitergeben werden. Dafür lohnt sich jeder Einsatz.«

Hürden

BINDUNGSÄNGSTEMit Kindern soll dem eigenen Leben ein tieferer und vor allem ein Generationen überdauernder Sinn gegeben werden. Die Kehrseite dieser großen Sehnsucht ist aber auch die Bindungsangst. Derselbe Manager sagte an anderer Stelle: »Aber ob es so wird, wie ich es mir idealerweise vorstelle? Kann ich in dieser Weise positiv wirksam sein? Kann ich Kinder liebevoll begleiten, auch wenn sie mich, so wie ich bin, gar nicht wertschätzen? Oder lehne ich sie womöglich ab, weil sie nicht so sind, wie ich es mir vorstelle?«

Bindungsängste können aber auch auf unbewusstem Wege gelebt werden, etwa indem Menschen zu anderen eine emotionale Distanz aufbauen und einen »Sicherheitsabstand« halten, wie es ein Adoptivvater nannte. »Ich liebe meine Adoptivkinder, aber eine wirkliche Nähe habe ich zu ihnen nicht aufbauen können. Vielleicht auch deshalb, weil ich beruflich immer unterwegs bin. Im Ausland fühle ich mich heimischer als zuhause«, setzte er nachdenklich hinzu.

Wir konnten herausarbeiten, dass es in seiner Primärfamilie wenig Nähe, wenig gelebte Emotion gab. Seine Mutter, wohl aufgrund ihres pietistischen Elternhauses, war um Fehlerlosigkeit bemüht, aber Schmusen und emotionale Wärme gab es nicht. So blieben Nähe und Hautkontakt fremd und damit, wie alles Fremde, bedrohlich.

»Ich konnte es immer vermeiden, dass mir Menschen zu nahe kamen. Die Ungebundenheit ist mir lieber.« Es gelang im Gespräch, Ungebundenheit mit Unverbundenheit auszutauschen und uns damit näher an den Schmerz fehlender liebevoller Bindung heranzutasten. »Vielleicht ist mein Schicksal dem unserer adoptierten Kinder ähnlich, zumindest was den Mangel an liebevoller Nähe anbelangt.« Das Wissen um die gleiche Geschichte, bei aller äußeren Unterschiedlichkeit, ermöglichte dem Vater ein besseres Verstehen seiner eigenen Haltung und gab den Impuls zur Neuorientierung.

UNSICHERHEITSFAKTOR GENEEin nicht unerhebliches Angstpotential liegt in der Vorstellung, dass Adoptivkinder ein irgendwie belastetes Erbgut in sich tragen. Wird mein Kind Alkoholiker, weil in der Primärfamilie eine Alkoholerkrankung bestand? Ist es darum insgesamt suchtgefährdet? Muss ich mit einer geistigen Minderbegabung rechnen, weil mein Kind aus der Unterschicht kommt?

Solche Ängste werden häufig durch die Umwelt verstärkt. Dem Erbgut wird nicht selten mehr Bedeutung beigemessen als dem prägenden neuen Umfeld. Besonders bei krisenhaften Entwicklungen kann sich das bemerkbar machen. Eine Mutter erzählte mir vollkommen verzweifelt, dass die eigenen Eltern den »Absturz« ihres Adoptivsohnes in die Drogenszene mit den Worten kommentierten: »Na ja, er ist eben in sein ursprüngliches Milieu zurückgekehrt, das war ja zu erwarten.«

Beide Eltern waren deprimiert und ohne große Hoffnung. Wir überlegten im Gespräch, inwieweit es möglich sein könnte, an das Gute, das sie in der Eltern-Kind-Beziehung gelebt hatten, zu glauben und auf seine positive Wirkung zu vertrauen. Manche Menschen müssten das Dunkle hautnah erleben, um sich des Wertes des Hellen bewusst zu werden. Der Absturz könne genauso zum Anfang einer Neuorientierung werden. Die Eltern gingen letztlich wenig getröstet und auch ich blieb mit dem schalen Gefühl zurück, mit Allgemeinplätzen Hoffnung suggeriert zu haben. Umso überraschter war ich, als die Mutter mich nach einigen Wochen anrief und freudig berichtete: »Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung. Unser Sohn ist wieder zurückgekommen und hat sich selbständig um einen Therapieplatz bemüht.« »Die Drogen helfen mir nicht, mich selbst zu finden«, so begründete er seinen Schritt. Er hat sich gefunden, konnte eine Berufsausbildung erfolgreich abschließen und sagte seinen Eltern mit einer neu gewonnenen Sicherheit: »Drogen sind für mich kein Thema mehr.«

Die Sehnsucht nach einem Kind kann eine kompensatorische Funktion hinsichtlich der eigenen Kindheit haben.

Ängste vor einer engen Bindung sind die andere Seite der Medaille.

Vertrauen und Zuversicht sind ein gutes Bollwerk gegen potentielle Gefährdungen.

Nähe und Distanz sind die Pole, zwischen denen sich eine gesunde und belastbare Beziehung entwickeln soll.

1.3 Das Verfahren: Prüfung auf Herz und Nieren

Der Weg zum Adoptivkind ist steinig. Es bedeutet schon einen mutigen Schritt im Begehen dieses Weges, Schamgefühle zu überwinden, als ob Kinderlosigkeit ein persönliches Versagen oder individuelle Schuld sei. Hinzu kommt das Darlegen der finanziellen Sicherheit, die Schilderung des eigenen Gewordenseins, das Urteil anderer über die Eignung für die Elternschaft: »Es glich einem seelischen Offenbarungseid; vom Jugendamt zum Psychologen und wieder zurück zu Sozialarbeitern, die nicht immer das notwendige Verständnis und Feingefühl aufbrachten, bis hin zu den Wartezeiten. Wir waren oft am Ende unserer seelischen Kraft und fühlten uns wie Aussätzige. Wenn unser Kinderwunsch nicht so zentral gewesen wäre, hätten wir aufgegeben.«– »Und dann dieser Bürokratismus, Formulare, die übersetzt werden mussten, weil wir uns für Kinder aus Thailand entschieden hatten, die erneute Frage nach unserer Motivation, ob wir uns das Risiko genau überlegt hätten.«– »Sie kaufen schließlich die Katze im Sack«, war die Äußerung eines Sachbearbeiters. »Wir haben schon in der Vorbereitungszeit ein hohes Maß an Frustrationstoleranz entwickeln müssen, sonst hätten uns die auftauchenden, oft von außen konstruierten Probleme zu Boden gedrückt.«

Gerade bei Auslandsadoptionen gibt es eine Fülle von Schwierigkeiten, die nicht selten den Schluss nahelegen, dass Adoption für die vermittelnden Stellen ein sehr einträgliches Geschäft ist.

Neben der erzieherischen Kompetenz spielt auch das Alter eine große Rolle. Eine Frau sagte mit einiger Bitterkeit: »Wenn heute eine Frau im fortgeschrittenen Alter Mutter wird, beglückwünscht man sie. Wir, als adoptionswilliges älteres Paar haben nur die Chance, ein älteres Kind mit einer zumeist belasteten Heimkarriere zu bekommen.« »Man braucht schon ein stabiles Selbstwertgefühl, um sich so durchleuchten zu lassen«, äußerte sich eine promovierte Juristin. »Eine solche Direktheit und fehlende Sensibilität würde ich mir in einer Beratungssituation nicht erlauben.«

Aber es gibt auch positive Erfahrungen im Vorfeld. Eine engagierte Sozialarbeiterin ermutigte, bestärkte und beriet unsichere Eltern so, dass diese sagten: »Wir fühlten uns in unserem Wunsch verstanden und getragen. Wir wissen darüber hinaus, dass wir uns in allen Schwierigkeiten immer wieder an sie wenden dürfen. Sie hat uns zugesichert, selbstverständlich jederzeit unterstützend zur Verfügung zu stehen. Das hat uns in unserem Entschluss sicher gemacht.«

1.4 Formen der Adoption

Inkognito-Adoption

Bei der Inkognito-Adoption, die früher üblich war, gibt es keinen Kontakt mit den leiblichen Eltern. Namen und Adresse sind wechselseitig nicht bekannt. Über die Vermittlungsstelle ist es für die abgebenden Eltern möglich, Informationen über die Entwicklung des Kindes zu bekommen.

Das Bemühen, die Vergangenheit vor der Adoption auszublenden, scheint die Adoptivsituation vordergründig zu erleichtern. Gleichzeitig besteht die Gefahr, eine neue Zukunft auf tönernen Füßen aufzubauen. Und eine solche Basis hält einem Entwicklungssturm, der spätestens in der Pubertät zu erwarten ist, nicht stand. Die leiblichen Eltern werden zu Schemen, im negativen Fall zu Gespenstern, die die Sicherheit in der Adoptivfamilie bedrohen können. Sowohl eine Idealisierung als auch eine Dämonisierung unterstützt und verstärkt Unsicherheit und Ambivalenz. Ist die fantasierte Welt tatsächlich das Abbild der Wirklichkeit?

Die Vorstellung, das Negieren der Wurzeln würde das Leben in der Adoptivfamilie erleichtern, ist ein Irrtum. Die Verleugnung der Vergangenheit macht Kinder von den Eltern und umgekehrt Eltern von ihren Kindern abhängig. Auf diese Weise wird der notwendige Weg in die Selbstfindung, in die Unabhängigkeit, erschwert, machmal sogar unmöglich. Aus Angst vor Bindungsverlust, der oft als gefürchtete Wiederholung traumatischer Verlusterfahrungen eingestuft wird, bietet sich die Vermeidungsstrategie eines »Nesthockers im Hotel Mama« an.

Halboffene Adoption

In der halboffenen Adoption sind Kontakte zwischen den leiblichenund den Adoptiveltern möglich. Der Kontakt läuft über die Vermittlungsstelle. Zwar können Briefe über die Institution ausgetauscht werden, jedoch bleiben Namen und Adressen bei beiden unbekannt.

Diese Form der Adoption stellt einen gewissen Kompromiss dar. Der Kontakt erlaubt eine konkretere Vorstellung von den leiblichen Eltern, sie bleiben aber in der Distanz und greifen nicht als reale Personen in das Beziehungsgeschehen ein. Ist es wirklich ein entwicklungsfördernder Kompromiss oder der Versuch, es allen Beteiligten recht zu machen? Steckt dahinter die Angst der Adoptiveltern, in einem lebendigen Vergleich in den Augen des Kindes zu verlieren? Ist die Unfähigkeit zu einem klaren Bekenntnis zur Vergangenheit, die von Realpersonen gestaltet wurde, die eigentliche Triebfeder?

Es mag objektive Gründe geben, den Kontakt mit den leiblichen Eltern zu reduzieren, um das Kind zu schützen. Als Beispiel denke ich an einen Vater, der wegen eines Gewaltverbrechens einsaß, aber diese Extremfälle sind nicht so häufig. Näherliegend scheint mir das Bedürfnis der Adoptiveltern zu sein, einen Vergleich zu vermeiden und sich als ausschließlich gute Bezugspersonen anzubieten.

Offene Adoption

Die dritte Form ist die offene Adoption. Hier sind wechselseitig Namen und Adressen bekannt. Kontakte können direkt geknüpft werden, Briefe, Geschenke und persönliche Begegnungen sind möglich. Die Interaktion geschieht in wechselseitiger Übereinkunft. Die Vermittlungsstelle hat darauf keinen Einfluss.

Diese Form der Adoption wird immer häufiger. Sie setzt Reife und Eigenständigkeit auf beiden Seiten voraus, hat aber auch mehr konkretes Konfliktpotential in sich als die anderen Formen der Adoption.

2 Jedes Adoptivkind hat eine eigene Geschichte

2.1 Idealvorstellungen vom Adoptivkind und die Realität

Der Wunsch, ein Kind zu adoptieren, wird immer begleitet von inneren Bildern, Vorstellungen und Fantasien. »Lieber ein kleiner Engel als ein frecher Bengel«, sagte eine Frau in einer Vorbereitungsgruppe etwas beschämt. »Und goldlockig sollte dieser kleine Engel natürlich auch sein«, ergänzte ihr Mann ein wenig ironisch.

Natürlich bestehen Vorstellungen und Wünsche. Im Geheimen erhofft man sich, wenn schon nicht einen kleinen Engel, so doch ein Kind, dessen man sich nicht schämen muss. Es soll in der Atmosphäre von Liebe und Akzeptanz gut gedeihen, keine groben Verhaltensauffälligkeiten zeigen, den Schulalltag meistern, sozial kompetent sein und zu einem selbstbewussten Menschen heranreifen.

Die Wirklichkeit ist oft ernüchternd, aber dafür wahrhaftiger:

Ein Elternpaar, das zwei Kinder aus Thailand adoptiert hat, begründete seine Wahl damit, dass es von der Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit und Geduld der Thailänder beeindruckt war. »Natürlich dachten wir, dass dies eine spezielle Eigenschaft aller Thailänder ist, sozusagen in ihrem Erbgut verankert, aber wir sind sehr unsanft auf dem Boden der Realität angekommen. Wir haben zwei unfreundliche, häufig aggressive Kinder. Unsere Tochter ist in der Pubertät. Ihr kann man sowieso nichts recht machen. Ich bin nur ›peinlich‹ und ›von gestern‹. Unser Sohn grenzt sich als Vorpubertierender von jeglicher Forderung lautstark ab. Eigeninitiative kennt er nur im Umgang mit dem Smartphone. Wir sind die absolute Zumutung. Aber eigentlich leben wir ja diese offene, ungeschminkte Art, mit der gefühlten eigenen Wahrheit umzugehen, vor. Wir haben durch unsere Kinder viel dazugelernt und lernen immer noch weiter. Vor allem mussten wir uns mit unseren geheimen Fantasien auseinandersetzen und unsere Harmoniebedürftigkeit, die die Kehrseite unseres Miteinanders darstellt, auf den Prüfstand stellen!«

2.2 »Armes« Adoptivkind

Sind Adoptivkinder grundsätzlich zu bedauern? Haben sie das schlechtere Los gezogen? Wenn es Schwierigkeiten gibt, sind Äußerungen der Umwelt nicht selten, die auf fragwürdige Gene hinweisen oder den Adoptiveltern eine fehlende Erziehungsfähigkeit attestieren. Traumatische frühe Erfahrungen gibt es jedoch gleichermaßen bei leiblichen Kindern. Ablehnende oder zumindest ambivalente Gefühle haben nicht nur abgebende Eltern oder Mütter, sondern ebenso häufig Eltern, die ihr Kind behalten. Frühe Bindungsstörungen finden sich nicht nur bei Adoptivkindern.

Wir wissen heute, wie wichtig eine entspannte, bezogene Schwangerschaft für einen guten Start ins Leben ist. Es gibt bei Kindern, die abgegeben werden, ebenso wie bei Kindern, die in ihrer Primärfamiliebleiben, problematische vorgeburtliche Entwicklungserfahrungen, die tiefe Spuren hinterlassen.

Das Trauma des Abgegebenseins ist deshalb zusätzlich belastend, weil es häufig in die sogenannte Trennungs- und Verlustphase fällt: Von seinem sechsten Lebensmonat an erkennt das Kind die Einmaligkeit seiner Bezugspersonen. Es hat Mutter und Vater oder die Menschen, die die individuelle Fürsorge übernommen haben, als einzigartig erkannt. Darum wirkt sich eine Trennung in diesem Zeitraum, der bis ins zweite Lebensjahr reicht, besonders belastend aus.

In einem solchen Fall werden erneut Überzeugungen einer geringen Verlässlichkeit der Umwelt verinnerlicht, die sich als Verstärker einer zumeist problematischen Schwangerschaftserfahrung erweisen. Um psychisch wie physisch zu überleben, müssen Adoptivkinder unbewusst die Schlussfolgerung ziehen, dass sie nicht wertvoll genug waren, um behalten zu werden. Nicht selten bleibt diese Trennungserfahrung nicht die einzige. Es folgen eine oder mehrere Pflegestellen, die zwar einen möglichen positiven Bezugsrahmen anbieten, der jedoch meist nicht hält. Ein Kind muss Zuversicht und Vertrauen verlieren, wenn es wie eine Ware von einem Besitzer zum anderen weitergereicht wird.

Verbringt ein Kind die erste Lebenszeit im Heim, wird in der Regel keine personale Bezugserfahrung gemacht. Es gibt zum Glück gelegentlich Ausnahmen. So erzählte mir eine Heimerzieherin, sie habe einen kleinen Jungen sehr ins Herz geschlossen und immer wieder versucht, sich für ihn ein Stück Extrazeit zu nehmen. »Er war einfach so originell und konnte mich so gewinnend anschauen, da bin ich jedes Mal hingeschmolzen.«

Dieser Junge hatte, als er mit zweieinhalb Jahren adoptiert wurde, eine gute Basis des Wahrgenommenseins, so dass er die Adoptiveltern vertrauensvoll annehmen konnte. Aber das sind leider Ausnahmen. Es liegt nicht an der fehlenden Liebesfähigkeit der Heimerzieher, sondern an dem zumeist schlechten Betreuungsschlüssel und dem häufigen Wechsel der Bezugspersonen, dass sich keine sichernde Kontinuität entfalten kann.

Die defizitäre Bindungserfahrung und das Trauma des Abgegebenseins

Man muss davon ausgehen, dass Adoptivkinder bereits während der Schwangerschaft negative Erfahrungen gemacht haben. Sie waren nicht gewollt, wurden vielleicht unter belastenden Umständen gezeugt. Sie sind möglicherweise Folge von Missbrauch oder Vergewaltigung oder gar von Inzest. Musste die Schwangerschaft verheimlicht werden, war die Mutter zu jung, gab es den moralischen Zwang, das Kind auszutragen, wurde die Mutter ausgegrenzt oder vom Erzeuger noch während der Schwangerschaft verlassen?

Viele traurige, belastende oder beschämende Geschichten sind mit der Bereitschaft, ein Kind zur Adoption freizugeben, verbunden. Zusätzlich ist bei Auslandsadoptionen häufig nicht wirklich bekannt, welche Motive im Hintergrund standen. Nicht selten werden Geschichten geschönt, um eine Adoption zu erreichen.

So denke ich an ein brasilianisches Adoptivkind, von dem berichtet wurde, beide Eltern, Studenten, hätten sich für eine Elternschaft zu jung gefühlt. Der Junge selbst wirkte eher, als ob er aus einer anderen Schicht kam. Seine Adoptivmutter äußerte häufig im Spaß: »Er ist halt unser kleiner Indianer. Er ist ein richtiger Naturbursche, Intellektualität ist für ihn ein Fremdwort. Wer weiß, wer seine Eltern wirklich gewesen sind. Aber wir lieben ihn wie er ist.«

Fast allen Adoptivkindern fehlen positive frühe Bindungserfahrungen. Viele Mütter schwanken während der Schwangerschaft zwischen assoziierten und dissoziierten Gefühlen: Einerseits bejahen sie trotz aller Schwierigkeiten die Schwangerschaft und das werdende Kind, andererseits wird oft auch die Schwangerschaft verleugnet, oder es wird angesichts der Absicht, das Kind zur Adoption freizugeben, keine emotionale Beziehung aufgenommen. Damit wird verständlich, dass seitens des Kindes Nähe und Verbundenheit statt mit Verlässlichkeit mit drohendem Verlassenwerden verknüpft wird. Und das manchmal ein Leben lang.

Als weiteres konkret belastendes Moment wirkt sich die Tatsache des Abgegebenseins aus. Auch wenn ein Kind sofort nach der Geburt in die Adoptivfamilie kommt, wird die Erfahrung eines frühen Verlustes verinnerlicht. Viele Eltern sind der Überzeugung, dass etwas, das nicht bewusst erinnert wird, keine negativen Auswirkungen hat. Erst durch die Bindungsforschung wissen wir, in wie starkem Maße sich gerade die frühesten Erfahrungen zu formenden Prinzipien entwickeln. Bereits zu diesem Zeitpunkt bilden sich im Gehirn Verknüpfungen, die das Gefühl für eine sichere Körperidentität, aber auch für Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl entstehen lassen. Adoptiveltern stehen ihrerseits vor der Aufgabe, die Weichen neu zu stellen und damit dem Kind eine neue Welt- und Selbstperspektive zu ermöglichen.

Tom, ein Zwölfjähriger, wurde abgegeben, als er neun Monate alt war. Dem ging eine extrem unsichere Zeit voraus, in der die Mutter schwankte zwischen dem Bedürfnis, das Kind zu behalten, und dem Wunsch, es abzugeben. Diese Ambivalenz prägte auch das Gefühlsleben des Kindes und wurde zu einem angsterfüllten Bindungsthema. Unterschwellig lebte er in der ständigen Furcht, wieder abgegeben zu werden. Paradoxerweise inszenierte er jedoch immer wieder Situationen, die die Eltern wütend oder hilflos machten, so dass damit die Angst, die ihn besetzte, ständig neue Nahrung erhielt. Er konnte in einer Weise verbal provozieren, entwerten und andere, vor allem auch Mitschüler, lächerlich machen, dass die Lehrer den Eltern eine Internatsunterbringung empfahlen, um dem Jungen die Chance zu geben, soziale Kompetenz zu lernen. Dieser seinerseits schien nach dem Motto zu leben »Lieber jetzt hinausgeworfen werden, als ständigin angstvoller Erwartung dieser Wahrscheinlichkeit zu leben«. Gleichzeitig war er in der Zweierbeziehung freundlich, zugewandt, höflich, vor allem Fremden gegenüber, so dass die Eltern immer wieder positiv auf ihren wohlerzogenen Jungen angesprochen wurden.