King of Pride - Ana Huang - E-Book

King of Pride E-Book

Ana Huang

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Beschreibung

Sie ist sein absolutes Gegenteil - und doch seine größte Versuchung ...

Isabella Valencia und Kai Young kommen aus unterschiedlichen Welten: Er ist der Erbe eines Multimillionen-Dollar-Unternehmens, sie arbeitet als Barkeeperin in einem exklusiven Club. Eine Beziehung zwischen ihnen ist streng verboten - und doch ist das Prickeln, das sie jedes Mal verspüren, wenn sie sich sehen, nicht zu leugnen. Als der verschlossene Geschäftsmann und die lebensfrohe Isabella der Anziehung endlich nachgeben, setzen sie damit alles aufs Spiel: ihre Existenz, ihre Familien, ihre Zukunft ...

"Niemand verwebt Tropes so fantastisch wie Ana Huang. Ich liebe ihre komplexen Charaktere!" SERIESous BOOK REVIEWS

Band 2 der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Ana Huang

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Seitenzahl: 546

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Leser:innenhinweis

Playlist

1

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Ana Huang bei LYX

Impressum

ANA HUANG

KING OF PRIDE

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

ZU DIESEM BUCH

Isabella Valencia und Kai Young könnten unterschiedlicher nicht sein. Während er der Erbe eines milliardenschweren Medienimperiums ist und sich durch nichts von seinem Ziel ablenken lässt, den CEO-Posten im Familienunternehmen zu übernehmen, hat sie ihren Platz im Leben noch nicht gefunden, ist impulsiv und lässt sich von ihren Gefühlen leiten. Doch trotz all der Gegensätze knistert die Luft zwischen ihnen, wenn sie aufeinandertreffen, und sie können den Blick nicht voneinander lösen. Eine Beziehung zwischen ihnen ist allerdings verboten, denn Isabella arbeitet als Barkeeperin in dem exklusiven Valhalla Club, in dem Kai Mitglied ist, und es existieren strenge Regeln, die eine Liebesaffäre untersagen. Doch ihre Gefühle werden übermächtig, und als der verschlossene Geschäftsmann und die lebensfrohe Isabella der Anziehung endlich nachgeben, setzen sie damit alles aufs Spiel …

Für alle Frauen, die Cleverness sexy finden – und wissen, dass stille Wasser es faustdick hinter den Ohren haben.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

PLAYLIST

»I Knew You Were Trouble (Taylor’s Version)« – Taylor Swift.

»You Put a Spell on Me« – Austin Giorgio

»Love You Like a Love Song« – Selena Gomez

»Body Electric« – Lana Del Rey

»Collide« – Justin Skye

»Middle of the Night« – Elley Duhé

»Shameless« – Camila Cabello

»You Say« – Lauren Daigle

»Bleeding Love« – Leona Lewis

»Be Without You« – Mary J. Blige

1

ISABELLA

»Dann hast du die fluoreszierenden Kondome, die ich dir gegeben habe, also nicht benutzt?«

»Nein, tut mir leid.« Tessa quittierte meine enttäuschte Miene mit einem amüsierten Grinsen. »Es war unser erstes Date. Wo hattest du die Dinger überhaupt her?«

»Von der Eislaufparty mit Neon-Motto letzten Monat.« Ich war hingegangen, um meinem grauenvollen Alltagstrott zu entfliehen. Das hat zwar nicht geklappt, aber dafür konnte ich eine Tüte voll entzückend grellbunter Gastgeschenke abstauben und sie an diverse Freundinnen verteilen. Da ich für meinen Teil den Männern abgeschworen hatte, hoffte ich, indirekt am Liebesleben meiner Freundinnen teilzuhaben, was jedoch an deren mangelnder Kooperationsbereitschaft scheiterte.

Tessa runzelte die Stirn. »Wieso wurden dort überhaupt Kondome verteilt?«

»Weil diese Partys so gut wie immer in gigantischen Orgien enden«, erklärte ich. »Ich habe mitbekommen, wie jemand ganz ungeniert mitten in der Eishalle eins benutzt hat.«

»Du verarschst mich doch.«

»Nein, tu ich nicht.« Ich füllte die Garnierungen wieder auf, bevor ich mich abwandte, um die verschiedenen Gläser und Cognacschwenker in ordentlichen Reihen anzuordnen. »Krass, oder? War ein witziger Abend, auch wenn ich dort Sachen gesehen habe, von denen ich gut eine Woche später immer noch traumatisiert war …«

Ich erzählte weiter, ohne dabei wirklich auf meine Bewegungen zu achten. Nach einem Jahr als Barkeeperin im Valhalla Club – einem exklusiven, nur Mitgliedern vorbehaltenen Privatclub für die Reichen und Mächtigen – waren mir die meisten Handgriffe in Fleisch und Blut übergegangen.

Es war sechs Uhr an einem Montagabend, somit herrschte hier wie üblich Totentanz, während in jeder anderen Bar in New York die Happy Hour in vollem Gange war. Tessa und ich nutzten diese Zeit immer, um zu tratschen und uns darüber auszutauschen, was wir am Wochenende so getrieben hatten.

Ich hatte diesen Job nur angenommen, um über die Runden zu kommen, bis ich mein Buch zu Ende geschrieben hätte und es veröffentlicht wäre. Aber es machte Spaß, nach all meinen schauderhaften Erfahrungen in der Vergangenheit zur Abwechslung mal mit jemandem zusammenzuarbeiten, den ich tatsächlich mochte.

»Hab ich dir schon von dem Typen erzählt, der nur eine Flagge anhatte und sonst nichts?«, fragte ich. »Er ist einer von denen, die jedes Mal bei den Orgien mitmachen.«

»Äh, Isa.« Es klang wie ein Krächzen und so gar nicht nach Tessa, aber ich war zu sehr in Fahrt, um mich zu bremsen.

»Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich je einen im Dunkeln leuchtenden Schniedel …«

Ein verhaltenes Hüsteln unterbrach meinen Redefluss.

Ein verhaltenes männliches Hüsteln, das eindeutig nicht von meiner Lieblingskollegin kam.

Ich hielt mitten in meinem Tun inne. Tessa stieß einen bekümmerten Seufzer aus, der meinen intuitiven Verdacht bestätigte, dass es sich bei der Person nicht um unsere tiefenentspannte Chefin oder einen der Wachmänner handelte, die gern in der Pause vorbeischauten, sondern um ein Clubmitglied.

Und er hatte gerade mitangehört, wie ich über leuchtende Schniedel palaverte.

Mist.

Sengende Hitze stieg mir in die Wangen. Scheiß auf mein unvollendetes Manuskript, ich wollte nur noch vor Scham im Erdboden versinken.

Bedauerlicherweise tat sich nicht das winzigste Loch unter meinen Füßen auf, darum riss ich mich zusammen und überspielte die erlittene Blamage, indem ich die Schultern straffte und mein strahlendstes Dienstleisterinnenlächeln aufsetzte, bevor ich mich umdrehte.

Meine Mundwinkel hatten die Aufwärtsbewegung noch nicht ganz abgeschlossen, als sie regelrecht einfroren wie eine Internetseite, die den Ladevorgang abbrach.

Denn keine eineinhalb Meter von mir entfernt stand mit irritierter Miene und geradezu unverschämt attraktiv ausgerechnet Kai Young – hochgeschätztes Mitglied des Valhalla-Club-Vorstands, Erbe eines multimilliardenschweren Medienimperiums und ungeschlagener Meister darin, mit verblüffender Treffsicherheit immer wieder in meine allerpeinlichsten Unterhaltungen reinzuplatzen.

Eine frische Welle der Schmach brandete über mich hinweg und ließ mein Gesicht noch mehr erglühen.

»Tut mir leid, dass ich störe.« Sein neutraler Tonfall lieferte nicht den winzigsten Hinweis darauf, was er über unser Gespräch dachte. »Aber ich hätte gern einen Drink.«

Obwohl ich den überwältigenden Drang verspürte, mich unter dem Tresen zu verkriechen, bis Kai wieder gegangen wäre, schmolz ich beim Klang seiner Stimme unweigerlich ein bisschen dahin – tief, samtweich, mit einem vornehmen britischen Akzent, der der verstorbenen Queen zur Ehre gereicht hätte.

Mir wurde ganz warm.

Kais Brauen hoben sich ein wenig. Ich war derart gebannt von seiner Stimme gewesen, dass ich noch immer nicht auf sein Anliegen reagiert hatte. Die kleine Verräterin Tessa hatte sich unterdessen in den Vorratsraum verzogen und mich meinem Schicksal überlassen. Ihr werde ich nie wieder ein Kondom spendieren.

»Natürlich.« Ich räusperte mich und versuchte, die zunehmende Spannung, die in der Luft lag, aufzulockern. »Leider servieren wir keine fluoreszierenden Gin Tonics.«EswäreohnehinSchwarzlichterforderlich,umdasGetränkzumLeuchtenzubringen.

Ein verständnisloser Blick.

»Das sollte eine Anspielung darauf sein, dass du vor Kurzem schon einmal zufällig mitgehört hast, wie ich über, äh, spezielle Safer-Sex-Produkte sprach.« Keine Reaktion. Genauso gut könnte ich mich über die Tücken des Berufsverkehrs auslassen. »Es ging damals um, nun ja, Kondome mit Erdbeergeschmack, woraufhin du einen Erdbeer-Gin-Tonic bestellt hast.«

Ich redete mich um Kopf und Kragen. Es war mir zwar unangenehm, Kai an die peinliche Situation auf dem Herbstball des Clubs zu erinnern, aber irgendetwas musste ich ja sagen, um von meinem aktuellen Ausrutscher abzulenken.

Ich sollte wirklich damit aufhören, bei der Arbeit über Sex zu quatschen.

»Ach, egal«, fügte ich eilig hinzu. »Möchtest du das Übliche?«

Von dem einen Erdbeer-Gin-Tonic mal abgesehen orderte Kai ausnahmslos immer einen Scotch pur. Darauf war ebenso sehr Verlass wie auf einen Mariah-Carey-Song an Weihnachten.

»Heute nicht«, antwortete er leichthin. »Ich nehme stattdessen einen Death in the Afternoon.« Er hielt sein Buch in die Höhe, damit ich den Titel auf dem abgegriffenen Einband sehen konnte. Wem die Stunde schlägt von Ernest Hemingway. »Erscheint mir passend.«

Der von Hemingway persönlich kreierte Cocktail bestand aus lediglich zwei Zutaten: Champagner und Absinth. Mit seiner knallgrünen Farbe kam er einem fluoreszierenden Drink schon ziemlich nahe.

Ich kniff die Augen zusammen. War das nun reiner Zufall, oder trieb Kai ein Spielchen mit mir?

Er erwiderte meinen Blick mit unergründlicher Miene.

Ich betrachtete sein dunkles Haar, das fein geschnittene Gesicht, den perfekt sitzenden – ohne Zweifel maßgeschneiderten – Anzug. Kai war der Inbegriff aristokratischer Kultiviertheit und britischer Gelassenheit.

Normalerweise konnte ich Menschen gut einschätzen, doch bei ihm war es mir auch nach einem Jahr noch nicht gelungen, hinter die Fassade zu sehen. Und das irritierte mich mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.

»Ein Death in the Afternoon kommt sofort«, entgegnete ich schließlich.

Er nahm seinen Stammplatz am Ende der Bar ein und zog ein Notizbuch aus der Tasche seines Sakkos, während ich mit geübten Handgriffen den Cocktail zubereitete. Meine Aufmerksamkeit wanderte dabei immer wieder zu Kai, der still in seinem Roman las und sich von Zeit zu Zeit etwas notierte.

Daran war an und für sich nichts ungewöhnlich. Er kam oft vor dem abendlichen Ansturm hierher, um sich in eine Lektüre zu vertiefen und dabei einen Drink zu genießen. Das Sonderbare war der Zeitpunkt.

Es war sechs Uhr an einem Montagabend und somit exakt drei Tage und zwei Stunden früher als sonst. Er wich von seinem üblichen Muster ab.

Was ein absolutes Novum darstellte.

Neugierig und unerklärlich atemlos brachte ich ihm seinen Drink. Tessa war immer noch im Vorratsraum, und ich empfand die Stille mit jedem meiner zögerlichen Schritte drückender.

»Was schreibst du da auf?« Ich stellte den Cocktail auf einer Serviette ab und warf einen Blick auf sein Notizbuch, das aufgeschlagen neben seinem Buch lag, die Seiten mit akkuraten, eleganten schwarzen Buchstaben beschrieben.

»Ich übersetze den Roman ins Lateinische.« Er blätterte um und brachte, ohne aufzusehen oder seinen Drink anzurühren, einen weiteren Satz zu Papier.

»Warum?«

»Weil es mich entspannt.«

Ich blinzelte verdattert, bestimmt hatte ich mich verhört. »Du findest es entspannend, einen fünfhundert Seiten dicken Wälzer von Hand ins Lateinische zu übersetzen?«

»Richtig. Wäre mir an einer geistigen Herausforderung gelegen, würde ich mir ein Wirtschaftslehrbuch vornehmen. Belletristik übersetze ich in meiner Freizeit«, erklärte er so leichthin, als wäre diese Aktivität keineswegs ungewöhnlich und für ihn völlig selbstverständlich.

Ich sperrte vor Staunen den Mund auf. »Wow. Das ist …« Mir fehlten die Worte.

Viele reiche Leute besaßen exzentrische Hobbys, wie beispielsweise noble Hochzeiten für ihre Haustiere auszurichten oder in Champagner zu baden. So was hatte zumindest Unterhaltungswert, wohingegen Kais Steckenpferd einfach nur stinklangweilig war.

Peinlicherweise – offenbar das Motto des Tages – dämmerte es mir erst, als seine Mundwinkel zuckten. »Du veräppelst mich.«

»Nicht wirklich. Ich finde es tatsächlich entspannend, nur bin ich in Wahrheit kein großer Fan von Wirtschaftslehrbüchern. Mit denen musste ich mich in Oxford zur Genüge herumplagen.« Kai schaute nun endlich auf.

Mir schlug das Herz bis hoch in die Kehle. Aus nächster Nähe war er derart hinreißend, dass es fast wehtat, ihn direkt anzusehen. Die dichten schwarzen Haare fielen ihm in die Stirn und umrahmten ein Gesicht, das einem alten Hollywoodfilm hätte entstammen können: wie gemeißelt wirkende Wangenknochen, eine kantige Kinnpartie, fein geschwungene Lippen und blitzende dunkelbraune Augen hinter einer Brille, die seine Attraktivität zusätzlich betonte. Ohne sie wäre er auf eine kalte, fast einschüchternd perfekte Weise gut aussehend, doch mit ihr wirkte er nahbar. Menschlich.

Vorausgesetzt, er übersetzte nicht gerade einen Klassiker oder leitete das Medienunternehmen seiner Familie. Dann war er das genaue Gegenteil von nahbar, ob mit oder ohne Brille.

Mir lief ein Kribbeln über den Rücken, als er an meiner Hand vorbei nach seinem Glas griff. Er berührte sie nicht, trotzdem kam er ihr nah genug, dass ich die Wärme seines Körpers spürte.

Das Prickeln verstärkte sich, ließ meine Haut vibrieren, und mein Atem stockte.

»Isabella.«

»Hmm?« Plötzlich drängte sich mir die Frage auf, warum Kai überhaupt eine Sehhilfe benötigte. Er war vermögend genug, um sich eine Augenlaserbehandlung leisten zu können.

Nicht dass ich mich hätte beschweren wollen. Er mochte ein bisschen langweilig und zugeknöpft sein, doch dafür war er wirklich …

»Der Herr am anderen Ende der Theke bemüht sich um deine Aufmerksamkeit.«

Mit einem unsanften Ruck wurde ich zurück ins Hier und Jetzt katapultiert. Während ich Kai angeschmachtet hatte, waren weitere Gäste in die Bar gekommen. Tessa stand wieder hinter dem Tresen und nahm die Bestellung eines gut gekleideten Paars auf, während ein weiteres Clubmitglied noch darauf wartete, bedient zu werden.

Verflixt.

Ich eilte zu ihm und überließ den amüsiert dreinblickenden Kai sich selbst. Auf den einen neuen Gast folgte ein zweiter, dann ein dritter. Inzwischen war auch bei uns die Happy Hour angebrochen, darum bekam ich keine Gelegenheit mehr, mich ein weiteres Mal mit Kai oder seinen seltsamen Entspannungsmethoden zu befassen.

Die nächsten vier Stunden arbeiteten Tessa und ich beim Bewirten der Gäste wie gewohnt als eingespieltes Team.

Die Zahl der Mitglieder des Valhalla Clubs war auf hundert begrenzt, daher herrschte selbst an betriebsamen Abenden nicht das Chaos, wie ich es von anderen Bars in der Innenstadt kannte. Dafür waren die Gäste hier um einiges anspruchsvoller als der Durchschnittsstudent oder die typische angeheiterte Teilnehmerin einer Junggesellinnenparty. Sie erwarteten, dass man sie verhätschelte und ihr Ego streichelte. Als es auf neun zuging, war ich kurz vorm Kollabieren und höllisch dankbar, dass man mich nur für eine halbe Schicht eingeteilt hatte.

Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, hin und wieder zu Kai hinüberzuschauen. Für gewöhnlich verließ er die Bar nach ein oder zwei Stunden, aber heute war er immer noch da, trank und plauderte mit den anderen Gästen, als gäbe es keinen Ort, an dem er lieber wäre.

Irgendwas stimmt nicht. Den Wochentag mal beiseitegelassen, benahm er sich vollkommen anders als sonst, und je genauer ich ihn beobachtete, desto mehr Anzeichen für Stress bemerkte ich an ihm: die Anspannung in seinen Schultern, die kleine Furche zwischen seinen Brauen, sein verkrampftes Lächeln.

Ich weiß nicht, ob es an dem Schock lag, ihn unerwartet hier zu sehen, oder an meinem Bedürfnis, mich für die etlichen Male erkenntlich zu zeigen, die er darauf verzichtet hatte, mich wegen unangemessenen Verhaltens (zum Beispiel wegen Gesprächen über Sex während der Arbeit) feuern zu lassen. Jedenfalls trieb mich irgendetwas dazu, ihm während einer kleinen Verschnaufpause einen weiteren Drink zu servieren.

Der Zeitpunkt war perfekt. Kais letzter Gesprächspartner hatte sich gerade verabschiedet, und jetzt saß er wieder allein an der Bar.

»Ein Erdbeer-Gin-Tonic. Geht auf mich.« Ich schob das Glas über den Tresen zu ihm hin. Es war eine spontane Idee gewesen, ein humorvoll gemeinter Versuch, seine Stimmung aufzuhellen, wenn auch auf meine Kosten. »Du siehst aus, als könntest du eine kleine Aufmunterung brauchen.«

Er zog fragend eine Braue hoch.

»Du bist von deinem Zeitplan abgewichen. Und das tust du sonst nie, es sei denn, es gibt ein Problem.«

Seine Stirn glättete sich wieder, dafür erschienen winzige Fältchen in seinen Augenwinkeln. Der überraschende Anblick war so entzückend, dass mein Herz einen Schlag aussetzte.

Es ist bloß ein Lächeln. Krieg dich wieder ein.

»Mir war nicht bewusst, dass du so genau auf meinen Terminplan achtest.« In seiner Stimme schwang leise Belustigung mit.

Zum zweiten Mal an diesem Abend schoss mir das Blut in die Wangen. Das hast du jetzt von deinem Samariterdienst.

»Ich bin einfach nur eine aufmerksame Beobachterin. Seit ich in diesem Club arbeite, bist du jede Woche hergekommen, aber nie an einem Montag.« An diesem Punkt hätte ich den Mund halten sollen, aber ich plapperte schon weiter, noch ehe sich mein Hirn einschalten konnte. »Im Übrigen bist du nicht mein Typ, darum musst du dir keine Sorgen machen, dass ich dich anbaggern könnte.«

Und das war die Wahrheit. Objektiv betrachtet war Kai zweifellos reizvoll, aber ich stand auf Männer mit mehr Ecken und Kanten. Er hingegen war die Korrektheit in Person. Selbst wenn ich auf ihn stehen würde, so waren Romanzen zwischen Clubmitgliedern und Angestellten strikt untersagt, und ich würde auf keinen Fall ein weiteres Mal zulassen, dass ein Kerl mein Leben auf den Kopf stellte. Das fehlte mir noch.

Allerdings hielt das meine treulosen Hormone nicht davon ab, bei seinem Anblick jedes Mal sehnsüchtig zu seufzen, was ein echtes Ärgernis war.

»Gut zu wissen.« Seine Heiterkeit war ihm nun noch deutlicher anzumerken. Er hob sein Glas zum Mund. »Danke hierfür. Ich habe eine Schwäche für Erdbeer-Gin-Tonics.«

Dieses Mal blieb mein Herz für einen Sekundenbruchteil komplett stehen.

Eine Schwäche? Was meint er damit?

Rein gar nichts, grummelte eine Stimme in meinem Hinterkopf. Er redet nicht von dir, sondern von dem Drink. Abgesehen davon ist er nicht dein Typ. Du erinnerst dich?

Ach, sei doch still, du Spaßbremse.

Na toll. Jetzt lieferten sich meine inneren Stimmen ein Wortgefecht. Dabei hatte ich bislang noch nicht mal geahnt, dass ich mehr als eine besaß. Wenn das nicht ein eindeutiges Indiz dafür war, dass ich eine Mütze Schlaf brauchte, anstatt eine weitere Nacht über meinem Manuskript zu brüten.

»Gern geschehen«, antwortete ich einen Tick zeitverzögert. Mein Puls wummerte in meinen Ohren. »Tja, ich sollte …«

»Entschuldige die Verspätung«, unterbrach mich die frostig klingende Stimme eines großen, dunkelblonden, blauäugigen Mannes. »Mein Meeting hat länger gedauert als erwartet.«

Er gönnte mir nur einen kurzen Blick, bevor er sich neben Kai an den Tresen setzte.

Ich erkannte ihn auf Anhieb. Dominic Davenport, ungekrönter König der Wall Street. Es war schwer, dieses Gesicht zu vergessen, auch wenn seine soziale Kompetenz durchaus verbesserungswürdig war. Er hatte den Körperbau eines Calvin-Klein-Models und die Ausstrahlung eines Eisbergs.

Gleichzeitig erleichtert und ärgerlicherweise auch ein bisschen enttäuscht über die Unterbrechung, wandte ich mich, ohne auf Kais Antwort zu warten, der anderen Seite der Bar zu. Es nervte mich, dass mir die Sache mit seiner Schwäche einfach nicht aus dem Kopf ging, als wäre es mehr gewesen als nur ein flapsiger Kommentar.

Er war nicht mein Typ und ich definitiv auch nicht seiner. Kai traf sich mit Frauen, die in Wohltätigkeitsausschüssen saßen, den Sommer in den Hamptons verbrachten und Perlenschmuck trugen, der auf ihre Chanel-Kostüme abgestimmt war. Daran war nichts auszusetzen, aber ich erfüllte keins dieser Kriterien.

Ich machte mein selbstauferlegtes Zölibat verantwortlich für meine überzogene Reaktion auf seine Bemerkung. Ich sehnte mich so sehr nach Zuneigung und Körperkontakt, dass mir vermutlich schon schwummrig werden würde, wenn mir der halb nackte Cowboy zuzwinkerte, der ständig am Times Square rumlungerte. Mit Kai selbst hatte das rein gar nichts zu tun.

Den Rest meiner Schicht mied ich den Bereich der Bar, wo er saß.

Ich war heilfroh, als ich um zehn endlich Feierabend machen konnte. Ohne noch einmal Notiz von einem bestimmten Milliardär mit einem Faible für Hemingway zu nehmen, übertrug ich die noch offenen Bestellungen an Tessa, holte meine Tasche aus dem Hinterzimmer und verabschiedete mich.

Mir war, als würde ich auf dem Weg zur Tür den sengenden Blick dunkler Augen in meinem Rücken spüren, aber ich schaute nicht über meine Schulter, um mich zu vergewissern. Besser, ich wusste es nicht.

Zu dieser späten Stunde war das Foyer still und verwaist. Meine Lider waren schwer vor Erschöpfung, doch anstatt den Club zu verlassen und mich auf den Heimweg zu machen, bog ich nach links in Richtung der Haupttreppe ab.

Eigentlich hätte ich dringend nach Hause gemusst, um mein tägliches Pensum an Wörtern zu tippen, aber zuerst brauchte ich ein bisschen Inspiration. Die Vorstellung, vor einer leeren Seite zu sitzen, stresste mich so sehr, dass ich mich nicht würde konzentrieren können.

Früher ging mir das Schreiben leicht von der Hand. Ich hatte drei Viertel meines Erotikthrillers in knapp sechs Monaten verfasst. Doch als ich mein Werk anschließend las, fand ich es so schlecht, dass ich es zugunsten eines neuen Projekts verwarf. Leider war mir im selben Atemzug die Kreativität abhandengekommen, die mein erstes Manuskript vorangetrieben hatte. Aktuell konnte ich von Glück reden, wenn ich zweihundert Wörter am Tag schaffte.

Ich stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf.

Während der Arbeitszeit waren die Einrichtungen des Clubs tabu für das Personal, doch da er bereits um zwanzig Uhr schloss – lediglich die Bar hatte bis drei Uhr morgens geöffnet –, war es kein Regelverstoß, jetzt ein wenig in meinem Lieblingsraum zu relaxen.

Trotzdem schlich ich wie auf Samtpfoten über den dicken Perserteppich, während ich das Billardzimmer, den Kosmetiksalon und die im Pariser Stil designte Lounge passierte, bis ich schließlich vor einer vertrauten Eichentür stand, die Hand um den kühlen, glatten Messingknauf legte und sie öffnete.

Fünfzehn Minuten. Mehr brauchte ich nicht. Danach würde ich nach Hause gehen, mich duschen und an meinem Buch weiterschreiben.

Doch wie immer verlor ich jedes Zeitgefühl, nachdem ich mich erst mal gesetzt hatte. Aus fünfzehn Minuten wurden dreißig und dann fünfundvierzig. Ich war derart vertieft in das, was ich tat, dass ich erst bemerkte, wie mit einem leisen Knarren die Tür aufging, als es bereits zu spät war.

2

KAI

»Erzähl mir nicht, dass du mich hergebeten hast, damit ich dir zum x-ten Mal dabei zusehe, wie du Hemingway liest.« Dominic musterte sichtlich unbeeindruckt mein Buch.

»Du hast mir noch nie dabei zugesehen.« Ich warf einen Blick zu Isabella, die sich unterdessen einem anderen Gast zugewandt hatte.

Die knallroten Erdbeeren, die in dem Gin Tonic schwammen, bildeten einen leuchtenden Kontrast zu den gediegenen Erdtönen der Bar. In der Regel mied ich süße Drinks; die Schärfe und das malzige Aroma eines Scotchs waren mehr nach meinem Geschmack. Aber wie bereits erwähnt, hatte ich eine Schwäche für diese spezielle Geschmackskombination.

Na schön. Nur für den Fall, dass du deine Meinung änderst – ich habe dir Kondome mit Erdbeergeschmack mitgebracht. Extragroß und genoppt, damit du …

Entschuldigung, dass ich unterbreche, aber ich hätte gern noch einen Drink.

Ein Gin Tonic. Mit Erdbeergeschmack.

Leise Belustigung stieg in mir auf, als ich an Isabellas entsetzten Gesichtsausdruck zurückdachte. Ich hatte sie und ihre Freundin Vivian auf dem Herbstball vergangenes Jahr dabei ertappt, wie sie über Kondome sprachen, und erinnerte mich noch immer lebhaft an alle Details der Situation.

Tatsächlich hatte sich jede einzelne Interaktion mit Isabella in mein Gedächtnis eingebrannt, ob mir das gefiel oder nicht. Sie war wie ein Wirbelsturm in mein Leben gefegt, hatte während ihrer allerersten Schicht im Valhalla Club meinen Drink vermurkst und beschäftigte seither unablässig meine Gedanken.

Und das machte mich wahnsinnig.

»Vielleicht nicht persönlich.« Um meine Aufmerksamkeit zurück auf sich zu lenken, schnippte Dominic pausenlos sein Feuerzeug an und wieder aus. Obwohl er nicht rauchte, trug er das Ding ständig bei sich wie ein abergläubischer Mensch einen Glücksbringer. »Aber bestimmt machst du genau das, wenn du dich Abend für Abend in deiner Bibliothek verkriechst.«

Trotz meiner aufgewühlten Stimmung stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. »Stellst du dir oft vor, wie ich allein in meiner Bibliothek sitze?«

»Nur um mir in Erinnerung zu rufen, welch bemitleidenswertes Leben du führst.«

»Sagt der arbeitswütige Mann, der den Großteil seiner Nächte in seinem Büro verbringt.« Es grenzte an ein Wunder, dass seine Frau es schon so lange mit ihm aushielt. Alessandra war eine wahrhaft Heilige.

»Tja, es ist nun mal ein hübsches Büro.« An. Aus. Jedes Mal entzündete sich eine winzige Flamme, nur um gleich darauf wieder zu verlöschen. »Und genau dort wäre ich jetzt, hättest du mich nicht hierherzitiert. Und das ausgerechnet an einem Montag. Was ist so dringend?«

Es war eine Bitte gewesen, kein Befehl, aber ich sparte es mir, ihn zu korrigieren. Stattdessen packte ich meinen Füller, meinen Roman und mein Notizbuch weg und kam direkt zum Punkt. »Ich habe heute den Anruf erhalten.«

Dominics gelangweilte Miene wich einem Ausdruck von Neugier. »So bald schon?«

»Ja. Es gibt fünf Kandidaten, mich eingeschlossen. Die Wahl findet in vier Monaten statt.«

»Dir war immer klar, dass es keine Thronbesteigung werden würde.« Dominic fuhr abermals mit dem Daumen über das Reibrad seines Feuerzeugs. »Dennoch ist die Abstimmung eine reine Formalität. Natürlich wirst du gewinnen.«

Ich gab einen undefinierbaren Laut von mir.

Als ältestes Kind und mutmaßlicher Erbe des Young-Imperiums war ich stets davon ausgegangen, eines Tages zum CEO ernannt zu werden. Nur sollte ich eigentlich erst in fünf bis zehn Jahren übernehmen und nicht in vier Monaten.

Bei dem Gedanken wurde mir erneut beklommen zumute.

Leonora Young würde niemals freiwillig so früh das Zepter abgeben. Sie war erst achtundfünfzig, außerdem hochintelligent, kerngesund, und der Vorstand schätzte sie sehr. Ihr ganzes Leben drehte sich um die Firma – wenn sie mir nicht gerade damit in den Ohren lag, dass ich endlich heiraten sollte. Und trotzdem war es ganz eindeutig sie gewesen, die mich und vier weitere Führungskräfte während der Videokonferenz heute Nachmittag darüber informierte, dass wir in der engeren Auswahl für den Posten des CEO seien.

Ohne Vorwarnung oder irgendwelche Details, die über das Datum und die Uhrzeit der anstehenden Abstimmung hinausgingen.

Ich umfasste geistesabwesend mein Glas, dessen leicht gerundete Form eine eigenartig beruhigende Wirkung auf mich ausübte.

»Wann wird die Neuigkeit öffentlich bekannt gemacht?«, fragte Dominic nach.

»Morgen.« Was bedeutete, dass die nächsten vier Monate alle Augen auf mich gerichtet sein würden, in der Erwartung, ob ich es vermasselte. Was nicht passieren würde. Dafür hatte ich mich zu sehr unter Kontrolle.

Obwohl es offiziell fünf Kandidaten gab, würde ich Leonoras Nachfolger werden. Nicht nur, weil ich ein Young war, sondern auch, weil niemand sein Handwerk so gut beherrschte wie ich. Meine Bilanz als Präsident des nordamerikanischen Unternehmensbereichs sprach für sich selbst. Er hatte die höchsten Profite, die geringsten Verluste und die besten Innovationen vorzuweisen, auch wenn gewisse Vorstandsmitglieder mit meinen Entscheidungen nicht immer konform gingen.

Ergo machte ich mir über den Ausgang der Wahl wenig Gedanken. Das Einzige, was mir keine Ruhe ließ, war der Zeitpunkt. Folglich wurde der vermeintliche Höhepunkt meiner Karriere von Unbehagen und Besorgnis getrübt.

Falls Dominic meine verhaltene Begeisterung auffiel, ließ er es sich nicht anmerken. »Die Märkte werden den Wechsel feiern.« Ich sah ihm regelrecht an, wie er im Kopf Berechnungen anstellte.

In der Vergangenheit hätte ich als Erstes Dante angerufen, um im Boxring meinen Frust loszuwerden, aber seit seiner Heirat mit Vivian war es schwerer, ihn für einen kleinen Kampf von ihr loszueisen, als einem Hund seinen Knochen wegzunehmen.

Vermutlich war es so das Beste. Dante würde sofort hinter meine gelassene Fassade schauen, wohingegen Dominic sich ausschließlich für Fakten und Zahlen interessierte. Was sich nicht positiv auf die Märkte oder sein Bankkonto auswirkte, ging ihm am Allerwertesten vorbei.

Während er verschiedene Prognosen abgab, griff ich nach meinem Drink und hatte ihn gerade ausgetrunken, als ein herzhaftes, kehliges Lachen meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ich warf über Dominics Schulter hinweg einen Blick zu Isabella, die sich am anderen Ende des Tresens mit der Erbin eines Kosmetikunternehmens unterhielt. Sie sagte etwas, das der von Natur aus reservierten Society-Lady ein Grinsen ins Gesicht zauberte, dann steckten die beiden die Köpfe zusammen wie zwei Freundinnen, die sich bei einem Mittagessen über den neuesten Klatsch und Tratsch austauschten. Von Zeit zu Zeit gestikulierte Isabella wild mit den Händen oder lachte ein weiteres Mal auf ihre unverwechselbare Art.

Der Klang bahnte sich einen Weg in meine Brust und wärmte mich stärker als der Gin Tonic, den sie mir serviert hatte.

Mit den lila Strähnen im schwarzen Haar, dem Tattoo an der Innenseite ihres linken Handgelenks und dem spitzbübischen Lächeln wirkte sie hier so fehl am Platz wie ein Diamant unter gewöhnlichen Steinen. Nicht weil sie als Barkeeperin in einem Club der Superreichen arbeitete, sondern weil sie viel zu hell strahlte für diese dunkle, traditionsbewusste Umgebung.

Leider servieren wir keine fluoreszierenden Gin Tonics.

Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, bevor ich wieder ernst wurde.

Isabella war kühn und impulsiv und verkörperte alles, was mich für gewöhnlich vor einer näheren Bekanntschaft zurückschrecken ließ. Ich schätzte gute Umgangsformen, doch da war ich bei ihr an der falschen Adresse, wie ihre obsessive Vorliebe für sexuelle Themen an den unangemessensten Orten eindeutig belegte.

Trotzdem hatte sie etwas an sich, das mich zu ihr hinzog wie ein Sirenengesang. Gefährlich und gleichzeitig derart wundervoll, dass es die Sache fast wert schien.

Fast.

»Weiß Dante Bescheid?«, fragte Dominic am Ende seiner ökonomischen Ausführungen, von denen ich nur die Hälfte mitbekommen hatte, während er jetzt mit flinken Fingern E-Mails auf seinem Handy beantwortete. Der Kerl arbeitete mehr als irgendwer sonst, den ich kannte.

»Nein, noch nicht.« Ich beobachtete, wie Isabella sich von der Erbin wegdrehte und der Registrierkasse zuwandte. »Es ist sein Date-Abend mit Vivian, und er hat klargestellt, dass er nicht gestört werden möchte, es sei denn, jemand läge im Sterben und keine andere Kontaktperson wäre erreichbar.«

»Typisch.«

»Mhm«, pflichtete ich ihm zerstreut bei.

Isabella beendete ihre Arbeit an der Kasse, sagte etwas zu ihrer Kollegin und verschwand in dem Raum hinter der Bar. Offenbar war ihre Schicht zu Ende.

Mich durchzuckte ein eigenartiges Gefühl, und ich musste mir widerwillig eingestehen, dass es Enttäuschung war.

Seit fast einem Jahr hatte ich erfolgreich Abstand zu Isabella gehalten, und ich kannte mich gut genug in griechischer Mythologie aus, um zu wissen, welch grausames Schicksal einen Seefahrer erwartete, der sich vom Gesang einer Sirene anlocken ließ. Ihr zu folgen, war das Letzte, was ich tun sollte. Und dennoch …

Ein Erdbeer-Gin-Tonic. Geht auf mich. Du siehst aus, als könntest du eine kleine Aufmunterung brauchen.

Verdammt.

»Tut mir leid, aber ich muss los. Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas Wichtiges zu erledigen habe.« Ich stand auf und nahm mein Sakko von dem Haken unter der Theke. »Ich übernehme die Drinks. Lass uns unser Gespräch ein andermal fortsetzen.«

»Klar. Wann immer du Zeit hast.« Dominic trug meinen abrupten Aufbruch mit Fassung. Er schaute nicht mal auf, als ich unsere Rechnung bezahlte. »Viel Glück für die morgige Verkündigung.«

Das leise Klicken seines Feuerzeugs folgte mir, bis es vom anschwellenden Lärm in der Bar geschluckt wurde. Ich trat in den Flur, die Tür fiel hinter mir zu, danach waren nur noch meine gedämpften Schritte zu hören.

Ich hatte keinen Plan, was ich tun wollte, sobald ich Isabella aufgespürt hätte. Wir hatten denselben Freundeskreis – Isabella und Dantes Frau Vivian waren unzertrennlich –, trotzdem verband uns nichts. Aber die Nachricht von der CEO-Wahl in Verbindung mit Isabellas ebenso unerwarteter wie aufmerksamer Geste hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht.

Ich war es nicht gewohnt, dass jemand mir etwas Gutes tat, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.

Ein betrübtes Lächeln glitt über meine Lippen. Was sagte es über mein Leben aus, wenn das Highlight dieses Abends ein Drink war, den mir eine flüchtige Bekannte spendiert hatte?

Obwohl meine innere Stimme mich beschwor, umzukehren und die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, pochte mein Herz ruhig und gleichmäßig, als ich die Treppe ins Obergeschoss hinaufging.

Ich folgte meiner Intuition. Vielleicht würde sie gar nicht dort sein, und eigentlich hatte ich nicht das Recht, ihr nachzustellen, aber wenngleich ich von Haus aus ein zurückhaltender Mensch war, kam ich nicht gegen mein übermächtiges Bedürfnis nach Ablenkung an. Ich musste irgendetwas gegen dieses frustrierende Verlangen unternehmen, und wenn ich mir schon keinen Reim darauf machen konnte, was mit meiner Mutter los war, wollte ich wenigstens meinen eigenen Gefühlen auf den Grund gehen. Was genau zog mich an Isabella so sehr in Bann? Dieses Rätsel würde sich heute Abend womöglich leichter lösen lassen.

Leonora hatte mir während unserer Videokonferenz versichert, dass sie weder krank sei noch mit dem Tode ringe und auch nicht erpresst werde, sondern schlichtweg bereit sei für eine Veränderung.

Bei jeder anderen Person hätte ich das alles geglaubt, nur dass meine Mutter sich nie zu spontanen Entscheidungen hinreißen ließ. So etwas widersprach ihrer Natur. Trotzdem glaubte ich nicht, dass sie mich angelogen hatte. Ich kannte sie gut genug, um ihre Schwindeleien zu entlarven, und bei unserem Telefonat hatte nichts darauf hingedeutet, dass sie mir etwas vormachte.

Ich runzelte ratlos die Brauen. Es ergab einfach keinen Sinn.

Wenn ihr Entschluss nicht ihrem Gesundheitszustand oder einer Erpressung geschuldet war, was konnte dann dahinterstecken? Ein Zerwürfnis mit dem Vorstand? Der Wunsch nach Ruhe, nachdem sie seit Jahrzehnten ein milliardenschweres Unternehmen leitete? Ein Alien, der sich ihres Körpers bemächtigt hatte?

Ich war so tief in meinen Grübeleien versunken, dass ich die gedämpfte Klaviermusik, die aus dem Zimmer am Ende des Flurs drang, erst bemerkte, als ich schon vor der Tür stand.

Also war sie tatsächlich hier.

Mir flatterte kurz das Herz, so leicht, dass ich es kaum bewusst wahrnahm. Meine Gesichtszüge entspannten sich wieder, Neugier regte sich in mir, dicht gefolgt von Erstaunen, als sich der Wirbelwind aus Akkorden zu einem Ganzen fügte und ich das Stück erkannte.

Isabella spielte Beethovens Klaviersonate Nr. 29 – eins der schwierigsten Werke, die je für das Piano komponiert wurden –, und das mit Bravour.

Ich war so fassungslos, dass mir der Atem stockte.

Bisher hatte ich die Sonate nur selten in dem Tempo gehört, das Beethoven vorgesehen hatte, und die verblüffende Erkenntnis, dass Isabella selbst die Leistung professioneller Pianisten übertraf, machte meine letzten Bedenken, ihr nachzustellen, schlagartig zunichte.

Ich musste das mit eigenen Augen sehen.

Nach kurzem Zögern griff ich nach dem Türknauf, drehte ihn und trat ein.

3

KAI

Das Klavierzimmer war ebenso eindrucksvoll wie die übrigen Clubräume. Opulente Samtvorhänge flossen an den Fenstern herab, goldene Leuchten tauchten die altroséfarbenen Wände in ein weiches Licht. Im Zentrum stand erhaben ein im Mondschein silbrig schimmernder schwarzer Steinway-Flügel.

Davor saß mit dem Rücken zu mir Isabella und ließ die Finger in beinahe schwindelerregendem Tempo über die Tasten fliegen. Sie war gerade beim Schlusssatz der Sonate angelangt.

Ein kühner Triller leitete das Hauptthema ein, welches sich über mehr als zweihundert Takte in unzähligen Varianten präsentierte, bevor nach einer kurzen Atempause unaufdringlich, anrührend und würdevoll die Melodie des zweiten Themas zum Leben erwachte.

Bis sich erneut in rasendem Fortissimo das Eingangsmotiv emporschwang und das Unterthema sich zwangsläufig der Wucht der Oktaven beugen musste. Trotz ihrer diametral vollkommen entgegengesetzten Temperamente verbanden sich beide Themen zu einer unerklärlich virtuosen Harmonie, die sich höher und höher schraubte … bis die Melodie in einem glorreichen großen Finale aus Doppeltrillern, parallelen Tonarten und turbulenten Oktavsprüngen im freien Fall von der Klippe stürzte.

Ich stand wie erstarrt da, wurde Zeuge von etwas derart Unbegreiflichem, dass mein Puls dröhnend in meinen Ohren rauschte.

Ich hatte diese Sonate selbst schon Dutzende Male gespielt, aber nie hatte sie so geklungen wie bei Isabella. Der von Kritikern mit schwermütigen Superlativen belegte zwanzigminütige Schlusssatz sollte eigentlich voller Traurigkeit und emotional auslaugend sein, aber Isabellas Interpretation war erhebend, beinahe freudig.

Zugegeben, ihre Technik war nicht perfekt. Sie betonte manche Akkorde zu stark, andere zu schwach, und ihre Fingerkontrolle war nicht ausgereift genug, um sämtliche melodische Linien angemessen zur Geltung zu bringen. Doch davon einmal abgesehen, war ihr etwas Phänomenales gelungen.

Sie hatte Schmerz in Hoffnung verwandelt.

Die letzten Töne hingen noch einen atemlosen Moment in der Luft, bevor sie verklangen und Stille eintrat.

Der Bann fiel von mir ab, und ich bekam wieder Sauerstoff in meine Lungen. Trotzdem hörte sich meine Stimme ungewohnt rau an, als ich sagte: »Beeindruckend.«

Isabella wurde stocksteif, noch ehe die letzte Silbe meine Lippen verlassen hatte. Dann fuhr sie mit erschrockener Miene zu mir herum. Ihre Körperhaltung lockerte sich, als sie mich entdeckte, nur um sich eine Sekunde später wieder anzuspannen.

»Was machst du hier?«

Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. »Dasselbe könnte ich dich fragen.«

Ich erwähnte nicht, dass ich schon seit Monaten von ihren heimlichen Ausflügen ins Klavierzimmer wusste. Ich hatte sie eines späten Abends, als ich gerade die Bibliothek verließ, zufällig dabei beobachtet, wie sie mit schuldbewusster Miene aus der Tür kam. Sie war nicht auf mich aufmerksam geworden, doch seitdem hatte ich sie mehrmals spielen gehört. Die Bibliothek grenzte direkt an diesen Raum, und wenn ich mich vor die Zwischenwand setzte, konnte ich der leisen Musik lauschen, die von nebenan herüberklang. Sie wirkte überraschend beruhigend auf mich, wenn ich in der Bibliothek arbeitete. Allerdings hatte Isabella bisher nie etwas so Kompliziertes wie die Sonate Nr. 29 gespielt.

»Wir dürfen das Zimmer nach Feierabend nutzen, wenn niemand hier ist.« Sie reckte trotzig das Kinn vor. »Aber das hat sich dann jetzt wohl erledigt.« Ihre Augenbrauen zogen sich zu einem unwilligen V zusammen.

Sie machte Anstalten aufzustehen, doch ich schüttelte den Kopf. »Bleib. Es sei denn, du hast heute noch was anderes vor.« Wieder überkam mich unfreiwillig ein Anflug von Belustigung. »Ich habe gehört, Eislaufpartys mit Neon-Motto seien aktuell ziemlich angesagt.«

Rote Flecken erblühten auf ihren Wangen, doch sie nagelte mich erhobenen Hauptes mit ihrem Blick fest. »Es gehört sich nicht, fremde Gespräche zu belauschen. Hat man dir das in deinem Internat nicht beigebracht?«

»Nein. Weil dort jeder jeden belauscht. Und was deine Anschuldigung betrifft, kann ich dir nicht ganz folgen«, erklärte ich in freundlichem Ton. »Ich habe dich lediglich über einen neuen Trend im Nachtleben informiert.«

Mein Verstand sagte mir, dass ich nicht mehr Kontakt als unbedingt nötig mit Isabella eingehen sollte. Es wäre unangemessen in Anbetracht der Tatsache, dass sie eine Angestellte und ich ein führendes Mitglied des Valhalla Clubs war. Zumal ich das mulmige Gefühl hatte, dass sie mir gefährlich werden könnte – nicht im physischen Sinn, sondern auf eine Weise, die ich nicht zu benennen vermochte.

Doch anstatt auf die Stimme der Vernunft zu hören und zu gehen, trat ich zu ihr und strich mit den Fingern über die Elfenbeintasten des Flügels. Sie waren noch warm von ihren Händen.

Isabella entspannte sich auf der Klavierbank, doch ihr Blick blieb wachsam, während sie meinen Bewegungen folgte. »Nichts für ungut, aber ich kann mir dich nicht in einem Nachtclub vorstellen, geschweige denn auf irgendeiner Veranstaltung mit dem Thema Neon.«

»Ich muss nicht zwingend an etwas teilhaben, um es zu verstehen.« Wie um den Übergang zu einem anderen Thema einzuleiten, schlug ich einen Akkord in Moll an. »Du hast gut gespielt. Besser als die meisten Pianisten, die sich an dieser Sonate versuchen.«

»Ich höre ein Aber am Ende dieses Satzes.«

»Aber du warst am Anfang des zweiten Themas zu forsch. Die Stelle muss leichter, subtiler klingen.« Ich wollte ihre Leistung nicht herabwürdigen, sondern nur eine objektive Einschätzung abgeben.

Isabella zog spöttisch eine Braue hoch. »Du denkst, du kannst das besser?«

Mein Puls beschleunigte sich, und eine vertraute Flamme loderte in meiner Brust auf. Isabellas halb neckender, halb herausfordernder Ton genügte, um meinen Ehrgeiz anzustacheln.

»Darf ich?« Ich wies mit dem Kinn auf die Bank.

Isabella erhob sich, ich nahm ihren Platz ein, justierte die Sitzhöhe und legte, dieses Mal mit Bedacht, abermals die Finger auf die Tasten. Ich hatte bisher immer nur den zweiten Satz gespielt, das allerdings schon seit meiner Kindheit, als ich darauf bestand, dass mein Klavierlehrer die leichten Stücke übersprang und mich stattdessen gleich an die schwierigsten Kompositionen heranführte. Der Einstieg war schwieriger ohne den ersten Satz als Auftakt, aber mein motorisches Gedächtnis trug mich hindurch.

Zufrieden lächelnd beendete ich die Sonate mit einem großen Finale.

»Hmm.« Isabella klang alles andere als beeindruckt. »Ich war besser.«

Ich riss den Kopf hoch. »Wie bitte?«

»Tut mir echt leid.« Sie zuckte die Achseln. »Du bist ein guter Pianist, aber dir fehlt das gewisse Etwas.«

Das kam so unerwartet, dass ich sie, hin- und hergerissen zwischen Verwunderung und Entrüstung, nur anstarren konnte.

»Mir fehlt das gewisse Etwas«, echote ich, zu perplex, um eine originelle Antwort zustande zu bringen.

Ich hatte sowohl Oxford als auch Cambridge als Jahrgangsbester abgeschlossen, war ein Ass in Tennis und Polo und beherrschte sieben Sprachen fließend. Mit achtzehn hatte ich eine Stiftung zur Förderung von Kunst in unterversorgten Gegenden gegründet und war auf dem besten Weg, einer der jüngsten CEOs auf der Fortune-500-Liste zu werden.

In meinen zweiunddreißig Lebensjahren hatte noch nie jemand behauptet, dass mir in irgendeinem Bereich das gewisse Etwas fehle.

Das Schlimmste war, dass ich Isabella bei näherer Betrachtung recht geben musste.

Sicher, ich war technisch versierter als sie und traf präzise jeden Ton. Trotzdem hatte meine Darbietung nichts Inspirierendes an sich. Es mangelte ihr an den emotionalen Höhen und Tiefen von Isabellas Interpretation, sie ging über eine sterile Ästhetik nicht hinaus. Das war mir früher nie aufgefallen, doch im direkten Vergleich mit Isabella war der Unterschied offensichtlich.

Mein Kiefer spannte sich an. Ich war daran gewöhnt, der Beste zu sein, und die Erkenntnis, dass das zumindest bei diesem Klavierstück nicht zutraf, wurmte mich gewaltig.

»Was genau, denkst du, fehlt mir denn?« Trotz des Gedankenchaos in meinem Kopf klang meine Stimme ruhig.

Bis ich dieses Problem in den Griff bekommen habe, werde ich die Tennisstunden mit Dominic durch Klavierunterricht ersetzen. Ich war schon immer in allem, was ich tat, perfekt gewesen, und ich würde nicht zulassen, dass meine Fähigkeiten als Pianist die Ausnahme bildeten.

Auf Isabellas Wangen zeigten sich Grübchen. Ihr war die Freude über meine Verstimmung deutlich anzusehen, doch anstatt mich darüber noch mehr zu ärgern, hätte ich ihr verspieltes Grinsen um ein Haar erwidert.

»Dass du das nicht weißt, ist Teil des Problems.« Sie machte einen Schritt in Richtung Tür. »Aber du wirst schon noch von allein draufkommen.«

»Warte.« Ich stand auf und packte ohne nachzudenken ihren Unterarm.

Wir erstarrten beide, unsere Blicke auf meine Finger gerichtet, die ihr Handgelenk umschlossen. Ihre Haut war weich, und ihr Puls flatterte im gleichen Takt wie mein plötzlich schneller schlagendes Herz.

Eine schwere, spannungsgeladene Stille trat ein. Ich war ein Anhänger der Wissenschaft, jemand, der nichts glaubte, das physikalischen Gesetzen zuwiderlief. Trotzdem hätte ich schwören können, dass die Zeit auf einmal langsamer verstrich, sich jede Sekunde endlos hinzog.

Isabella schluckte kaum merklich, doch das reichte, um die Gesetze der Natur erneut in Kraft treten und die Vernunft das Ruder übernehmen zu lassen.

Die Zeit verstrich wieder in ihrem gewohnten Tempo, und ich ließ Isabellas Arm so abrupt los, wie ich ihn ergriffen hatte.

»Entschuldige«, murmelte ich steif und versuchte, das Kribbeln in meinen Fingern zu ignorieren.

»Schon gut.« Sie strich mit zerstreuter Miene über ihr Handgelenk. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du sprichst wie ein Komparse in Downton Abbey?«

Die Frage kam völlig aus dem Nichts, darum dauerte es einen Moment, bis sie in mein Bewusstsein drang. »In … was?«

»Downton Abbey. Du weißt schon, diese Serie über eine britische Adelsfamilie am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.«

»Ja, ich kenne sie.« Ich war schließlich nicht von gestern.

»Gut. Ich wollte nur sichergehen.« Sie warf mir ein strahlendes Lächeln zu. »Jedenfalls solltest du dich ein bisschen lockermachen. Das könnte deinem Klavierspiel zugutekommen.«

Schon zum zweiten Mal an diesem Abend machten ihre Worte mich sprachlos.

Ich stand noch immer da und suchte nach einer Erklärung, wie dieser Abend dermaßen aus dem Ruder hatte laufen können, als hinter ihr die Tür zufiel.

Erst auf dem Heimweg realisierte ich, dass mir die vorgezogene CEO-Wahl nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen war, seit ich Isabellas Klavierspiel gehört hatte.

4

ISABELLA

»Mom hat neulich nach dir gefragt«, teilte Gabriel mir mit. »Du lässt dich nur einmal im Jahr zu Hause blicken, und sie macht sich Sorgen, was du in Manhattan so treibst …«

Ich starrte mit gefurchter Stirn auf die halb leere Seite vor mir, während mein Bruder weiterredete. Es tat mir schon jetzt leid, dass ich ans Telefon gegangen war. Obwohl es in Kalifornien erst sechs Uhr morgens war, klang er so wach und fokussiert wie immer. Vermutlich war er gerade auf dem Laufband in seinem Büro, las die Nachrichten, beantwortete E-Mails und trank einen seiner widerlichen gesunden Smoothies.

Ich hingegen war stolz auf mich, es schon vor neun aus dem Bett geschafft zu haben. Obwohl ich nach meiner gestrigen Begegnung mit Kai kaum Schlaf gefunden hatte, hoffte ich darauf, dass mich dieses merkwürdige Erlebnis wenigstens zu ein paar Sätzen für mein Manuskript inspirieren würde.

Fehlanzeige.

Mein erotischer Thriller über die tödliche Beziehung zwischen einem reichen Anwalt und einer naiven Kellnerin, die seine Geliebte wird, nahm vage Gestalt an in meinem Kopf. Ich hatte die Handlung, ich hatte die Figuren, nur fehlten mir dummerweise die Worte, um die Geschichte niederzuschreiben.

Und zu allem Überfluss redete mein Bruder noch immer.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Sein Tonfall klang resigniert und vorwurfsvoll zugleich.

Die Wärme meines Laptops drang durch meine Hose und in meine Haut, aber ich bemerkte es kaum, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, eine Möglichkeit zu ersinnen, wie ich diese weiße Fläche füllen könnte, ohne weitere Buchstaben zu tippen.

»Ja.« Ich wählte den gesamten Text aus und änderte die Schriftgröße auf sechsunddreißig. Schon viel besser. Jetzt sah die Seite nicht mehr so leer aus. »Du sagtest gerade, dass du endlich einen Arzt konsultiert hast, um dir einen Sinn für Humor implantieren zu lassen. Es ist eine experimentelle Technologie, aber verzweifelte Situationen erfordern nun mal verzweifelte Maßnahmen.«

»Irrsinnig witzig.« Mein ältester Bruder hatte in seinem ganzen Leben noch nie irgendetwas irrsinnig witzig gefunden, daher mein Vorschlag mit dem Implantat. »Es ist mein Ernst, Isa. Wir machen uns Sorgen um dich. Du bist schon vor Jahren nach New York gezogen, trotzdem wohnst du immer noch in diesem rattenverseuchten Apartment und servierst Drinks in irgendeiner Bar …«

»Der Valhalla Club ist nicht irgendeine Bar«, protestierte ich. Ich hatte sechs Bewerbungsgespräche über mich ergehen lassen müssen, bevor ich den Job bekam. Und ich würde verdammt noch mal nicht dulden, dass Gabriel mir diesen Erfolg madig machte. »Und meine Wohnung ist keineswegs rattenverseucht. Ich halte eine Schlange als Haustier, du erinnerst dich?«

Ich warf einen liebevollen Blick zum Terrarium, wo Monty zusammengerollt schlummerte. Natürlich hatte er keine Schlafprobleme, schließlich musste er sich nicht mit nervigen Brüdern herumplagen oder der Sorge, im Leben zu versagen.

Gabriel überging meinen Einwand und sprach einfach weiter. »Während du schon seit einer Ewigkeit an demselben Buch schreibst. Wir wissen, dass du glaubst, Autorin werden zu wollen, aber vielleicht ist es an der Zeit, die Sache noch mal zu überdenken. Komm zurück nach Hause und schmiede einen neuen Plan. Im Übrigen könnten wir deine Hilfe in der Firma gut gebrauchen.«

Nach Hause zurückkehren und an einem Schreibtisch versauern? Nur über meine Leiche.

Bitterkeit stieg in mir auf bei der Vorstellung, meine Tage mit Büroarbeit zu vergeuden. Zugegeben, mein Manuskript machte keine nennenswerten Fortschritte, aber Gabriels »Lösung« zu akzeptieren, würde bedeuten, dass ich meine Träume ein für alle Mal an den Nagel hängte.

Die Idee zu dem Buch war mir vor zwei Jahren gekommen, als ich im Washington Square Park saß und mir die Leute anschaute. Ich hörte zufällig eine hitzige Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau mit an, die eindeutig nicht seine Ehefrau war, und sofort lief meine Fantasie auf Hochtouren. Die Geschichte hatte mir so detailliert und lebhaft vor Augen gestanden, dass ich jeden, den ich kannte, in mein Vorhaben einweihte, einen Thriller zu schreiben und zu veröffentlichen.

Einen Tag, nachdem ich Zeuge besagten Streits geworden war, kaufte ich mir einen nagelneuen Laptop, und die Wörter strömten nur so aus mir heraus. Bedauerlicherweise war das Resultat keineswegs das brillante Meisterwerk, das mir vorgeschwebt hatte, sondern ein Haufen Mist. Also löschte ich es.

Seither starrte ich auf leere Seiten.

»Ich glaube nicht, Autorin werden zu wollen – ich will Autorin werden«, korrigierte ich meinen Bruder. »Ich muss nur erst noch in die Geschichte reinfinden.«

Ungeachtet der Frustration, die für mich derzeit mit dem Schreiben einherging, hatte es etwas Magisches, neue Welten zu erschaffen und sich in ihnen zu verlieren. Bücher waren schon seit vielen Jahren meine Zuflucht, und irgendwann würde ich definitiv selbst eins veröffentlichen. Ich würde diesen Traum nicht aufgeben, um ein Büroroboter zu werden.

»So, wie du auch schon Tänzerin, Reisekauffrau oder Talkshow-Moderatorin werden wolltest?« Inzwischen überwog die Missbilligung in Gabriels Tonfall. »Du bist keine frischgebackene College-Absolventin mehr, sondern eine achtundzwanzigjährige Frau. Du brauchst ein Ziel.«

Eine säuerliche Note mischte sich in den bitteren Geschmack in meinem Mund.

Du brauchst ein Ziel.

Gabriel konnte leicht reden. Er wusste schon in der Highschool, was er einmal werden wollte. Das galt für jeden meiner Brüder. Ich war der einzige Spross der Familie Valencia, der immer noch ziellos herumdümpelte, wohingegen meine Geschwister zielstrebig ihre jeweiligen Karrieren verfolgten.

Der Geschäftsmann, der Künstler, der Professor, der Ingenieur, und ich, die Traumtänzerin.

Ich war es leid, die Versagerin zu sein, aber noch mehr ging mir gegen den Strich, dass Gabriel recht hatte.

»Du irrst dich. Weil ich nämlich …« Sag es nicht. Sag es nicht. Sag … »Mit dem Buch schon fast fertig bin.« Die Lüge platzte aus mir heraus, ehe ich es verhindern konnte.

»Tatsächlich?« Niemand außer ihm konnte in einem einzigen Wort so viel Skepsis mitschwingen lassen, dass es einen völlig anderen Sinn bekam.

Schwindelst du?

Die eigentliche, unausgesprochene Frage schlängelte sich durch die Leitung und stocherte nach Löchern in meiner Behauptung. Selbstverständlich gab es davon reichlich. Das Ganze war ein riesiges Lügengespinst, weil ich näher dran war, eine Kolonie auf dem Mars zu gründen, als mein Manuskript fertigzustellen. Aber für einen Rückzieher war es zu spät. Ich hatte mich da selbst reingeritten, jetzt hieß es: Augen zu und durch.

»Ja.« Ich räusperte mich. »Ich hatte auf Vivians Hochzeit einen echten Durchbruch. Das lag an der italienischen Luft. Sie war, äh, überaus inspirierend.«

Allerdings hatte sie mich lediglich dazu beflügelt, zu viel Champagner zu trinken und mir einen gewaltigen Kater einzuhandeln. Doch das behielt ich für mich.

»Großartig«, antwortete Gabriel. »In dem Fall würden wir es natürlich gerne lesen. Moms Geburtstag ist in vier Monaten. Bring es doch mit, wenn du zu ihrer Party nach Hause kommst.«

Ich spürte einen bleischweren Klumpen im Magen. »Ganz bestimmt nicht. Ich schreibe einen Erotikthriller, Gabe. Sprich, es kommt Sex darin vor.«

»Mir ist bewusst, was erotische Thriller beinhalten. Aber wir sind schließlich deine Familie. Wir wollen dich unterstützen.«

»Trotzdem …«

»Isabella.« Er schlug denselben Ton an, mit dem er mich herumkommandiert hatte, als wir jünger waren. »Ich bestehe darauf.«

Ich umklammerte mein Telefon so fest, dass es protestierend knackte.

Dies war ein Test. Das wussten wir beide, und keiner war bereit, klein beizugeben.

»Na schön«, sagte ich mit einem Anflug von aufgesetztem Frohsinn. »Aber gib nicht mir die Schuld, falls du hinterher so traumatisiert bist, dass du mir mindestens fünf Jahre nicht mehr in die Augen schauen kannst.«

»Das Risiko gehe ich ein. Solltest du uns dein Buch – aus welchem Grund auch immer – in vier Monaten nicht zeigen können, werden wir ein ernstes Gespräch führen.« Die Warnung war nicht zu überhören.

Nach dem Tod unseres Vaters war Gabriel zum inoffiziellen Familienoberhaupt – neben unserer Mutter – aufgerückt. Er hatte sich um unsere Brüder und mich gekümmert, wenn sie bei der Arbeit war, uns von der Schule abgeholt, Arzttermine vereinbart und für uns das Abendessen gekocht. Inzwischen waren wir alle erwachsen, aber je mehr familiäre Verantwortung Mom ihm übertrug, desto herrischer führte er sich auf.

Ich knirschte mit den Zähnen. »So kannst du nicht …«

»Ich muss jetzt aufhören, sonst komme ich zu spät zu meiner Besprechung. Wir telefonieren bald wieder. Und wir sehen uns im Februar.« Er legte auf, und zurück blieb nur das schwache Echo seiner kaum verhüllten Drohung.

Mich überkam Panik. Ich warf mein Handy beiseite und atmete gegen den Druck an, der mir die Luft zum Atmen nahm.

Verdammter Gabriel. Wie ich ihn kannte, erzählte er noch in dieser Sekunde der ganzen Familie von meinem Buch. Sollte ich mit leeren Händen zu Hause auftauchen, wäre ich dem kollektiven Unmut der Valencias ausgesetzt: Moms Bestürzung, Großmutters Missfallen und, was das Schlimmste wäre, Gabriels herablassender Klugscheißerei.

Ich wusste, dass du es nicht schaffst.

Du brauchst ein Ziel.

Wann kriegst du dein Leben endlich auf die Reihe, Isabella?

Du bist achtundzwanzig.

Wenn der Rest von uns dazu imstande ist, warum du nicht?

Ein Kloß in meiner Kehle verstärkte meine Atemnot.

Vier Monate. Mehr Zeit blieb mir nicht, um meinen Thriller zu verfassen, während ich gleichzeitig Vollzeit arbeitete und mit einer hartnäckigen Schreibblockade kämpfte. Andernfalls würde meine Familie erkennen, dass ich genau die Versagerin war, für die Gabriel mich hielt.

Ich hasste meine alljährlichen Heimatbesuche auch so schon, weil ich nie etwas vorzuweisen hatte, das meinen Umzug nach New York rechtfertigte. Es war ein unerträglicher Gedanke, einmal mehr diesen Ausdruck von Enttäuschung auf den Gesichtern meiner Angehörigen zu sehen.

Alles wird gut. Du schaffst das.

Achtzigtausend Wörter bis Anfang Februar. Absolut machbar, richtig?

Einen Moment gab ich mich der Hoffnung hin, dass mein neues Ich das bewerkstelligen würde.

Dann presste ich stöhnend die Handballen auf meine Augen. Obwohl sie geschlossen waren, blickte ich auf leere Seiten.

»Ich bin dermaßen geliefert.«

5

KAI

Ich betrachtete den Mann, der mir gegenübersaß, mit frostigem Blick.

Nach der gestrigen CEO-Bombe und meinem verstörenden Erlebnis mit Isabella hatte ich auf einen ereignislosen Arbeitstag gehofft, doch diese Hoffnung zerschlug sich in der Sekunde, in der Tobias Foster unangekündigt in der Firma auftauchte.

Er trug einen brandneuen Zegna-Anzug, eine glänzende Rolex und ein überhebliches Grinsen zur Schau, als er den Blick durch den Raum schweifen ließ.

»Nettes Büro«, kommentierte er. »Sehr passend für einen Young.«

Er sprach es nicht aus, aber die Botschaft war klar.

Ich habe mir mein Büro verdient; du wurdest in deins hineingeboren.

Dabei war das kompletter Schwachsinn. Ich mochte ein Young sein, trotzdem hatte ich mich, genau wie jeder andere hier, von unten hochgearbeitet.

»Ich bin sicher, Ihres ist genauso nett.« Ich lächelte freundlich und schaute ostentativ auf die Uhr. »Was kann ich für Sie tun, Tobias?«

Er war der Leiter unserer europäischen Niederlassung und mein stärkster Konkurrent um den Posten des CEO, darum war ich von meiner Regel, keine unangemeldeten Besucher zu empfangen, abgewichen und hatte ihn in mein Büro gebeten.

Ich bereute es schon jetzt.

Tobias gehörte zur schlimmsten Sorte Mitarbeiter. Er war forsch und eine Plage, dabei jedoch so gut in seinem Job, dass wir ihn bedauerlicherweise nicht feuern konnten. Ich schätzte seine Kompetenz, aber er hatte die leidige Angewohnheit, von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten.

»Ich wollte nur kurz vorbeischauen und Hallo sagen.« Er befingerte den kristallenen Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch. »Ich bin wegen mehrerer Meetings in der Stadt. Bestimmt wissen Sie darüber Bescheid. Der europäische Unternehmensbereich expandiert derart rasant, dass Richard mich zum Abendessen ins Peter Luger ausführen will.« Sein krächzendes Lachen schallte durch den Raum.

Richard Chu war das dienstälteste Vorstandsmitglied der Young Corporation und ein Dinosaurier, was Neuerungen betraf. Wir zwei waren schon öfter wegen der Zukunft des Unternehmens aneinandergeraten, doch ganz gleich, wie viel Macht er zu haben glaubte, zählte seine Stimme nicht mehr als die der anderen.

»Das überrascht mich nicht. Richard umgibt sich gerne mit einer ganz bestimmten Art von Gesellschaft.« Die Art von Gesellschaft, die ihm den Hintern küsst, als bestünde er aus Gold. Tobias’ Lächeln erstarb. »Vielleicht sollten Sie sich besser auf den Weg machen. Der Verkehr kann um diese Uhrzeit die Hölle sein. Soll ich Ihnen einen Wagen rufen?«

Ich streckte die Hand nach dem Hörer aus, um dem Kerl zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war.

»Nicht nötig.« Er ließ den Briefbeschwerer wieder los und maß mich mit einem harten Blick, keine Spur mehr von seinem aufgesetzten Respekt. »Ich bin daran gewöhnt, meine Angelegenheiten selbst zu erledigen. Für Sie muss das Leben um einiges einfacher sein, nicht wahr? Sie brauchen nichts weiter zu tun, als die nächsten vier Monate keinen Mist zu bauen, und die Position des CEO gehört Ihnen.«

Ich schnappte nicht nach dem Köder. Tobias konnte so viel Scheiß erzählen, wie er wollte, es änderte nichts daran, dass ich meinen Job verdammt gut machte und wir uns dessen beide bewusst waren.

»Ich habe seit über dreißig Jahren keinen Mist gebaut und nicht vor, jetzt damit anzufangen«, erwiderte ich freundlich.

Tobias verschanzte sich wieder hinter seiner Maske vorgetäuschter Umgänglichkeit, als würde ein Vorhang zugezogen. »Mag sein, aber es gibt für alles ein erstes Mal.« Er stand mit einem schmierigen Lächeln auf. »Wir sehen uns bei der Klausurtagung der Führungskräfte in ein paar Wochen. Ach, und Kai? Möge der Bessere gewinnen.«

Ich lächelte gleichgültig zurück. Zum Glück gewann ich immer.

Nachdem er gegangen war, nahm ich mir erneut die Finanzberichte des letzten Quartals vor. Die Erlöse im Printgeschäft waren um elf Prozent zurückgegangen, die Onlineumsätze um neun Komma zwei Prozent gestiegen. Nicht der Hit, aber besser als die Zahlen der anderen Unternehmensbereiche, und es wäre noch schlimmer gewesen, hätte ich nicht trotz der Einwände des Vorstands auf der Einführung digitaler Technologie beharrt.

Ein schrilles Klingeln riss meine Aufmerksamkeit von den Berichten los.

Mit entfuhr ein Stöhnen, als ich einen Blick auf die Rufnummernanzeige warf. Meine Mutter störte mich nur dann bei der Arbeit, wenn sie entweder eine dringliche oder eine unangenehme Nachricht für mich hatte.

»Ich habe großartige Neuigkeiten!« Wie gewohnt kam sie direkt zur Sache, kaum dass ich abgehoben hatte. »Clarissa wird nach New York ziehen.«

Ich ging in Gedanken meine Kontaktliste durch. »Clarissa …«

»Teo.« Das Klackern ihrer Absätze auf Marmor verlieh ihrer Ungeduld Nachdruck. »Ihr seid zusammen aufgewachsen. Wie kannst du das vergessen haben?«

Clarissa Teo.

Vor meinem geistigen Auge zogen diffuse Bilder von rosa Tüll und einer Zahnspange vorbei. Ich unterdrückte ein weiteres Stöhnen. »Sie ist fünf Jahre jünger als ich, Mutter. Es wäre zu viel gesagt, dass wir zusammen aufgewachsen sind.«

Den Teos gehörte eine der größten Einzelhandelsketten Großbritanniens. Meine Mutter und Philippa Teo waren beste Freundinnen, und die Häuser unserer Familien in Londons Kensington Palace Gardens standen direkt nebeneinander.

»Ihr wart jedenfalls Nachbarn und habt euch in denselben gesellschaftlichen Kreisen bewegt«, argumentierte meine Mutter. »Für mich zählt das. Unabhängig davon, ist es nicht wunderbar, dass sie nach Manhattan zieht?«

»Hmm«, brummte ich mit der Begeisterung eines Angeklagten in einem Strafverfahren.

Trotz der engen Beziehung zwischen unseren Familien kannte ich Clarissa kaum. Als Teenager hatte ich kein Interesse daran gehabt, mich mit einem fünf Jahre jüngeren Mädchen abzugeben, und seit wir beide erwachsen waren, lebten wir auf unterschiedlichen Kontinenten. Ich hatte in Cambridge studiert, sie in Harvard, und als sie nach London zurückkehrte, war ich schon nach New York ausgewandert.

Wir standen uns definitiv nicht nahe genug, als dass mich in irgendeiner Weise interessierte, was Clarissa so machte.

»Sie kennt nicht viele Leute in Manhattan«, erklärte meine Mutter mit der Subtilität von tausend Neonreklametafeln, die mich dazu aufforderten, Clarissa auszuführen. »Du solltest ihr die Stadt zeigen. Außerdem steht bald der Herbstball des Valhalla Clubs an. Sie wäre eine zauberhafte Begleitung.«

Ich schluckte den Seufzer herunter, der in meiner Kehle hochstieg. »Irgendwann lade ich sie gern mal zum Mittagessen ein, aber ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich in weiblicher Gesellschaft zu der Gala gehen werde.«

»Du bist ein Young«, entgegnete Leonora in strengem Ton. »Darüber hinaus wird man dich in vier Monaten zum CEO des weltgrößten Medienkonzerns ernennen. Du durftest dich lange genug austoben, es wird höchste Zeit, dass du endlich sesshaft wirst. Der Vorstand sieht es nicht gern, wenn eins seiner Mitglieder ein unstetes Privatleben führt.«

»Hat nicht jemand vom Vorstand seine Frau gerade mit dem Gärtner erwischt? Klingt, als führten die beiden trotz ihres Trauscheins ein ziemlich unstetes Leben.«

»Kai.«

Ich rieb mir mit der Hand über den Mund, während ich mich unwillkürlich fragte, wie mein ereignisloser Arbeitstag eine solche Wendung hatte nehmen können. Erst Tobias und jetzt auch noch meine Mutter. Es schien, als hätte sich das Universum gegen mich verschworen.

»Ich meine ja nicht, dass du ihr einen Antrag machen sollst, obwohl das sicherlich nicht schaden würde. Clarissa ist schön, gebildet, wohlerzogen und kultiviert. Sie würde eine wundervolle Ehefrau abgeben.«

»Du musst ihre Vorzüge nicht auflisten wie auf einer Dating-App. Wie schon gesagt, werde ich mich zumindest einmal mit ihr treffen.«

Nachdem ich ihr das mehrfach versichert hatte, legte ich auf.

Ein dumpfer Schmerz pochte hinter meiner Schläfe. Meine Mutter tat nur so, als hätte ich eine Wahl, denn in Wirklichkeit erwartete sie von mir, Clarissa eines Tages zu heiraten. Alle taten das. Und wenn schon nicht Clarissa, dann zumindest eine Frau, die so war wie sie, mit der entsprechenden Herkunft, Bildung und Erziehung.

Ich war schon mit unzähligen Vertreterinnen dieses Typus ausgegangen. Sie waren alle die Liebenswürdigkeit in Person, trotzdem sprang der Funke nie über.

Erneut tauchte ein Bild in meinem Kopf auf, dieses Mal von einer Frau mit violett-schwarzen Haaren, leuchtenden Augen und einem heiseren, unbändigen Lachen.

Ich verdrängte es und versuchte, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber immer wieder blitzte es lila vor meinen Augen auf, bis ich den Ordner schließlich zuklappte und aufstand. Meine Schultern waren völlig verspannt.

Vielleicht hatte meine Mutter recht damit, dass ich Clarissa zu dem Ball einladen sollte. Nur weil meine früheren Beziehungen nicht funktioniert hatten, musste das nicht zwangsläufig auch für die Zukunft gelten.

Es war mir vorherbestimmt, jemanden wie Clarissa zu heiraten.

Und niemanden sonst.

»Welche Laus ist dir denn heute über die Leber gelaufen?« Dante massierte sich den Kiefer. »Du hast mich in die Zange genommen, als wäre ich dieser Drecksack Victor Black.«