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Er ist der Bruder ihrer besten Freundin. Ihr Feind. Ihre Versuchung
Hass beschreibt nicht annähernd, was Jules Ambrose für Josh Chen und sein viel zu großes Ego empfindet. Dem heißen Doktor ergeht es Ähnlich, Jules‘ vorlaute Art nervt ihn gehörig. Aber Jules ist die beste Freundin seiner Schwester, und so ist es unvermeidbar, dass sie sich ständig über den Weg laufen. Und doch ist da noch etwas anderes, ein Prickeln, das sie einfach nicht leugnen können. Nach einer unvergesslichen Nacht treffen sie eine Vereinbarung: Sie werden zu Feinden mit gewissen Vorzügen. Die Regeln sind einfach: keine Eifersucht, keine Bedingungen, kein Verlieben. Jules und Josh merken allerdings schnell, wie süchtig sie danach sind, dass zwischen ihnen die Funken ̶ und die Fetzen ̶ fliegen ...
»Eine sexy und gefühlsintensive Enemies-to-Lovers, Bruder-der-besten-Freundin-Liebesgeschichte, die von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.« ESCAPISTBOOKBLOG
Band 3 der heißen und romantischen TWISTED-Reihe von Bestseller-Autorin Ana Huang
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Seitenzahl: 688
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
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Epilog
Bonusszene 1
Bonusszene 2
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Ana Huang bei LYX
Impressum
Ana Huang
Twisted Hate
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Jules Ambrose hat ihre schwere Vergangenheit hinter sich gelassen und an der Thayer Universität ein neues Leben angefangen. Sie hat nur ein Ziel: Sie will Rechtsanwältin werden und konzentriert sich mit aller Kraft auf ihre Abschlussprüfung. Das Letzte, was sie braucht, ist sich mit einem arroganten Arzt einzulassen, der ihr den letzten Nerv raubt. Josh Chen ist der Bruder ihrer besten Freundin und unglaublich gut aussehend. Er hat bisher noch keine Frau getroffen, die er nicht verzaubern konnte – außer Jules. Die schöne Rothaarige ist ihm ein Dorn im Auge, seit sie sich kennengelernt haben, aber sie beherrscht auch seine Gedanken auf eine Weise, wie es noch keine Frau zuvor getan hat. Nach einer unvergesslichen Nacht schließen sie einen Deal – und werden zu Feinden mit gewissen Vorzügen. Die Regeln sind einfach: keine Eifersucht, keine Bedingungen, kein Verlieben. Doch je näher sie sich kommen, desto klarer wird, dass da mehr ist als nur die körperliche Anziehung zwischen ihnen …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält neben expliziten Szenen und derber Wortwahl auch Elemente, die potenziell triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für jeden, der schon einmal das Gefühl hatte, nicht genug zu sein.
Don’t Blame Me – Taylor Swift
Talk – Salvatore Ganacci
Free – Broods
Daddy Issues – The Neighbourhood
You Make Me Sick – P!nk
Animals – Maroon 5
Give You What You Like – Avril Lavigne
wRoNg – Zayn
Waves – Normani featuring 6LACK
50 Shades – Boy Epic
Only You – Ellie Goulding
One More Night – Maroon 5
I Hate U, I Love U – Gnash
Wanted – Hunter Hayes
Es ist noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, bei einem Typen nach rechts zu wischen, der auf einer Dating-App einen Fisch hochhält. Und weil der Typ Todd hieß, sollte man doppelt gewarnt sein.
Ich hätte es besser wissen müssen, aber da saß ich nun, allein im Bronze Gear, der angesagtesten Kneipe von Washington, und trank meinen sündhaft teuren Wodka Soda, nachdem ich versetzt worden war.
Jawohl.
Zum ersten Mal war ich von einem mit Fischen wedelnden Todd versetzt worden. Was genügte, dass ein Mädchen »Fuck it« sagte und sechzehn Dollar für einen Drink auf den Kopf haute, obwohl es noch nicht einmal eine Vollzeitstelle hatte.
Was sollte das mit den Bildern von Männern mit Fischen überhaupt? Konnten sie sich nicht etwas Originelleres wie Käfigtauchen mit Haien überlegen? Also schon auf Meerestiere ausgerichtet, aber nicht ganz so banal.
Vielleicht war es seltsam, sich auf den Fisch zu fixieren, aber wenigstens hielt es mich davon ab, mich zu sehr auf meinen missratenen Tag und das Gefühl von Beschämung zu konzentrieren.
Von einem Regenschauer auf halbem Weg zum Campus ohne Regenschirm erwischt werden? Check. (Von wegen fünf Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit. Ich sollte die Wetter-App-Firma verklagen.)
Wegen eines Stromausfalls vierzig Minuten in einem überfüllten U-Bahn-Waggon gefangen sein, in dem es nach Schweiß stank? Check.
Drei Stunden mit Wohnungssuche verbringen, die außer zwei Blasen an den Füßen nichts eingebracht hatte? Check.
Nach solch einem höllischen Tag wollte ich mein Date mit Todd am liebsten canceln, aber das hatte ich bereits zwei Mal getan – einmal wegen einer kurzfristig verlegten Lerngruppe und das zweite Mal, weil ich mich angeschlagen fühlte – und ich wollte ihn nicht schon wieder hängen lassen. Also hatte ich in den sauren Apfel gebissen und war aufgetaucht, nur um versetzt zu werden.
Das Universum hatte wirklich einen fiesen Sinn für Humor.
Ich trank noch einen Schluck und winkte die Barkeeperin herbei. »Kann ich bitte bezahlen?« Die Happy Hour hatte gerade erst begonnen, aber ich konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen und es mir mit zwei wahren Lieben meines Lebens gemütlich zu machen. Netflix und Ben & Jerry’s ließen mich nie im Stich.
»Ist bereits erledigt.«
Als meine Brauen nach oben schnellten, neigte die Barkeeperin den Kopf in Richtung eines Ecktisches mit adrett aussehenden Jungs in den Zwanzigern. Nach ihrem Outfit zu urteilen Unternehmensberater. Einer von ihnen, ein Clark-Kent-Doppelgänger in kariertem Hemd, hob sein Glas und lächelte mich an. »Eine Aufmerksamkeit von Clark, dem Unternehmensberater.«
Ich unterdrückte ein Lachen, als ich mein eigenes Glas erhob und sein Lächeln erwiderte. Also war ich nicht die Einzige, die fand, dass er wie Supermans Alter Ego aussah.
»Clark, der Unternehmensberater, hat mich davor bewahrt, Instant-Ramennudeln zu Abend zu essen, also auf sein Wohl«, sagte ich.
Das waren sechzehn Dollar, die meinem Bankkonto erhalten blieben, auch wenn ich Trinkgeld gab. Ich hatte mal in der Gastronomie gearbeitet, und seither war es eine Herzenssache für mich, großzügig zu sein. Niemand hatte fortwährend mit mehr Arschlöchern zu tun als Servicepersonal.
Ich trank meinen kostenlosen Drink aus und hielt die Augen auf Clark, den Unternehmensberater, gerichtet, der seinen Blick anerkennend über mein Gesicht, mein Haar und meinen Körper gleiten ließ.
Ich glaubte nicht an falsche Bescheidenheit – ich wusste, dass ich gut aussah. Und ich wusste auch, wenn ich jetzt zu diesem Tisch hinüberging, würde ich mein angekratztes Ego mit weiteren Drinks, Komplimenten und später vielleicht einem oder zwei Orgasmen wieder aufpäppeln, falls er wüsste, was er tat.
Verlockend … Aber nein, ich war zu erschöpft, um mich auf eine Affäre einzulassen.
Ich wandte mich um, nicht ohne vorher einen Anflug von Enttäuschung auf seinem Gesicht zu erhaschen. Für ihn sprach, dass Clark die Botschaft verstand – danke für den Drink, aber ich bin nicht interessiert – und nicht versuchte, sich mir zu nähern, was mehr war, als ich über die meisten Männer sagen konnte.
Ich hängte mir meine Handtasche über die Schulter und wollte meinen Mantel von dem Haken unter der Bar nehmen, als ich eine tiefe, großspurige Stimme vernahm und sich mir prompt die Nackenhaare sträubten.
»Hey, JR.«
Zwei Worte. Mehr brauchte es nicht, um eine Kampf- oder Fluchtreaktion bei mir auszulösen. Inzwischen war das ehrlich gesagt ein pawlowscher Reflex. Wenn ich seine Stimme hörte, schoss mein Blutdruck in die Höhe.
Jedes. Einzelne. Mal.
Der Tag wird ja immer besser.
Meine Finger umklammerten den Taschenriemen, bevor ich mich zwang, sie zu entspannen. Ich würde ihm nicht den Gefallen tun, mir irgendetwas anmerken zu lassen.
Das im Hinterkopf, holte ich einmal tief Luft, setzte eine neutrale Miene auf, drehte mich langsam um und wurde mit dem unwillkommensten Anblick zusammen mit dem unwillkommensten Klang empfangen.
Josh fucking Chen.
Die gesamten eins dreiundachtzig in schwarzen Jeans und einem weißen Button-down-Hemd, das eng genug war, um seine Muskeln zu zeigen. Das war ohne Zweifel Absicht. Wahrscheinlich verwendete er mehr Zeit auf sein Äußeres als ich, und ich war nicht gerade nachlässig. Im Wörterbuch sollte neben dem Wort »eitel« sein Gesicht abgebildet werden.
Das Schlimmste daran war, dass Josh eigentlich gut aussah. Dichtes dunkles Haar, hohe Wangenknochen, wohlgeformter Körper. Alles, worauf ich stand … wenn da nur nicht dieses Ego gewesen wäre, das eine eigene Postleitzahl brauchte.
»Hallo, Joshy«, gurrte ich in dem Wissen, dass er den Spitznamen hasste. Ich durfte Ava, meiner besten Freundin und Joshs Schwester, für diese wertvolle Information danken.
Verärgerung funkelte in seinen Augen, und ich lächelte.
Der Tag wurde langsam besser.
Der Fairness halber sei erwähnt, dass Josh der Erste war, der darauf bestanden hatte, mich JR zu nennen. Es war die Kurzform für Jessica Rabbit, die Trickfilmfigur. Ein paar Leute mochten es als Kompliment auffassen, aber wenn man ein Rotschopf mit Doppel-D ist, wurde der ständige Vergleich schnell schal, und das wusste er.
»Allein trinken?« Josh richtete seine Aufmerksamkeit auf die leeren Barhocker links und rechts von mir. Die Happy Hour war noch nicht in vollem Gange, und die begehrtesten Plätze waren die Nischen entlang der holzverkleideten Wände, nicht die an der Bar. »Oder hast du bereits jeden im Umkreis von fünf Metern verscheucht?«
»Witzig, dass ausgerechnet du davon sprichst, Leute zu verscheuchen.« Ich betrachtete die Frau neben Josh. Sie war wunderschön, mit braunen Haaren, braunen Augen und einem schlanken Körper in einem unglaublichen Wickelkleid mit grafischem Muster. Schade nur, dass sich ihr guter Geschmack nicht auch auf Männer erstreckte, falls sie mit ihm ein Date hatte. »Wie ich sehe, hast du dich von deinem Syphilis-Krampfanfall so weit erholt, um eine andere ahnungslose Frau zu einem Date zu verleiten.« Meine nächsten Worte waren an die Brünette gerichtet. »Ich kenne dich nicht, aber ich bin mir sicher, dass du was Besseres kriegen könntest. Vertrau mir.«
Hatte Josh tatsächlich Syphilis gehabt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er trieb sich in genug Betten herum, es würde mich also nicht überraschen, und es wäre ein Verstoß gegen Frauensolidarität, wenn ich Wickelkleid nicht wenigstens vor der Möglichkeit, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen, warnen würde.
Anstatt zurückzuschrecken, lachte sie. »Danke für die Warnung, aber ich denke, mir passiert nichts.«
»Witze über Geschlechtskrankheiten. Wie originell.« Falls Josh genervt war, weil ich ihn vor seinem Date bloßstellte, ließ er es sich nicht anmerken. »Ich hoffe, deine Verbalattacken sind kreativer, sonst wirst du es schwer haben in der Juristerei. Vorausgesetzt, du schaffst überhaupt das Examen.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen, was ein kleines Grübchen auf seiner linken Wange zum Vorschein brachte.
Ich verkniff mir ein Schnauben. Ich hasste dieses Grübchen. Jedes Mal, wenn es auftauchte, wollte ich nichts lieber als mit einem Messer hineinstechen.
»Das werde ich«, sagte ich gelassen und bezähmte meine gewalttätigen Gedanken. Josh brachte stets das Schlimmste in mir zum Vorschein. »Sei lieber froh, dass du nicht wegen Behandlungsfehlern verklagt wirst, Joshy, sonst bin ich die Erste, die ihre Dienste der gegnerischen Seite anbietet.«
Ich hatte mir den Arsch aufgerissen, um einen Platz an der Thayer Law School und anschließend ein Jobangebot von Silver & Klein zu bekommen, der angesehenen Anwaltskanzlei, bei der ich letzten Sommer ein Praktikum gemacht hatte. Ich würde meinen Traum, Anwältin zu werden, nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben.
Unter gar keinen Umständen.
Ich würde die Zulassungsprüfung bestehen, und Josh Chen würde alles zurücknehmen müssen. Hoffentlich wäre es ihm peinlich.
»Große Worte für jemanden, der noch nicht einmal einen Abschluss hat.« Josh lehnte sich an die Bar und stützte den Unterarm auf den Tresen, wobei er irritierenderweise aussah wie ein Model, das für eine GQ-Doppelseite posierte. Er wechselte das Thema, bevor ich ihm eine scharfe Antwort geben konnte. »Für ein Solo-Date hast du dich aber ganz schön herausgeputzt.«
Er ließ seinen Blick von meinem lockigen Haar zu meinem geschminkten Gesicht gleiten, bevor er hinabwanderte zu dem goldenen Anhänger in meinem Dekolleté.
Mein Rückgrat wurde hart wie Metall. Anders als bei Clark, dem Unternehmensberater, brannte sich Joshs prüfender Blick heiß und spöttisch in mein Fleisch. Das Metall meiner Halskette brannte auf meiner Haut, und ich konnte mich gerade noch beherrschen, um sie nicht herunterzureißen und ihm in seine eingebildete Visage zu schleudern.
Doch aus irgendeinem Grund hielt ich still, während er seine Inspektion fortsetzte. Es war weniger lüstern als abwägend, als fügte er alle Puzzleteile zusammen und arrangierte sie in seinem Kopf zu einem vollständigen Bild.
Josh senkte den Blick zu meinem grünen Kaschmirkleid, das sich an meinen Oberkörper schmiegte, strich mit ihm über meine schwarz bestrumpften Beine und stoppte bei meinen hochhackigen schwarzen Stiefeln, bevor er seine Augen auf meine haselnussfarbenen richtete. Sein Grinsen verschwand, und seine Miene war undurchdringlich.
Die Stille zwischen uns knisterte, bevor er erneut das Wort ergriff. »Du bist wie für ein Date angezogen.« Seine Haltung blieb entspannt, aber seine Augen wurden zu dunklen Messern, die gern meine Verlegenheit herausgeschnitzt hätten. »Aber du wolltest gerade gehen, und es ist erst halb sechs.«
Ich reckte das Kinn, obwohl meine Haut vor Verlegenheit prickelte. Josh war vieles – nervig, eingebildet, eine Teufelsbrut –, aber er war nicht dumm, und er war der Letzte, der erfahren sollte, dass man mich versetzt hatte.
Er würde mich das nie vergessen lassen.
»Erzähl mir nicht, er ist nicht aufgetaucht.« Seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton.
Mir wurde noch heißer. Gott, ich hätte kein Kaschmir anziehen sollen. Ich verging in meinem blöden Kleid. »Du solltest dich weniger um mein Liebesleben als vielmehr um dein Date kümmern.«
Josh hatte Wickelkleid keines Blickes gewürdigt, seit er aufgetaucht war, aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie war inzwischen dazu übergegangen, mit der Barkeeperin zu plaudern und zu scherzen.
»Ich versichere dir, dass dein Liebesleben auf meiner To-do-Liste nicht unter den ersten fünftausend Punkten steht.« Trotz der abfälligen Bemerkung starrte mich Josh noch immer mit diesem nicht zu deutenden Ausdruck an.
Mein Magen rebellierte aus keinem erkennbaren Grund.
»Gut.« Es war eine lahme Erwiderung, aber mein Gehirn funktionierte nicht richtig. Ich gab Erschöpfung die Schuld. Oder dem Alkohol. Oder einer Million anderer Dinge, die nichts mit dem Mann zu tun hatten, der vor mir stand.
Ich griff nach meinem Mantel und glitt von dem Hocker, in der Absicht, ohne ein weiteres Wort an ihm vorbeizugehen.
Leider hatte ich den Abstand zwischen Barhocker und Boden falsch geschätzt. Ich rutschte aus, und ein kleiner Aufschrei drang aus meiner Kehle, als mein Körper wie von selbst nach hinten kippte. Ich war nur zwei Sekunden davon entfernt, auf dem Hintern zu landen, als eine Hand hervorschoss, mich am Handgelenk packte und in eine stehende Position zog.
Josh und ich erstarrten im gleichen Moment, unsere Blicke auf die Stelle gerichtet, wo seine Hand mein Handgelenk umfasst hielt. Ich konnte mich nicht erinnern, wann wir uns das letzte Mal absichtlich berührt hatten. Vielleicht im Sommer vor drei Jahren bei einer Party, wo ich mich damit gerächt hatte, dass ich ihm »aus Versehen« mit dem Ellbogen einen Stoß in die Eier versetzt hatte.
Die Erinnerung daran, wie er sich vor Schmerz gekrümmt hatte, verschaffte mir in schwierigen Zeiten noch immer die größte Genugtuung, aber daran dachte ich jetzt nicht.
Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, wie beunruhigend nah er mir war – nah genug, um sein Eau de Cologne zu riechen, das angenehm und zitronig statt nach Feuer und Schwefel roch, wie ich es erwartet hatte.
Das Adrenalin pumpte durch mein System und jagte meinen Puls in ungesunde Höhen.
»Du kannst loslassen.« Ich zwang mich, trotz der erstickenden Hitze gleichmäßig zu atmen. »Bevor ich noch einen Nesselausschlag bekomme.«
Josh verstärkte seinen Griff für einen winzigen Augenblick, bevor er meinen Arm losließ, als wäre er eine heiße Kartoffel. Verärgerung trat anstelle seiner zuvor undurchdringlichen Miene. »Ich habe gern verhindert, dass du dir dein Steißbein brichst, JR.«
»Übertreib nicht, Joshy. Ich hätte mich schon gefangen.«
»Bestimmt. Gott behüte, dass dir das Wort Danke über die Lippen kommt.« Sein Sarkasmus wurde schärfer. »Du bist eine echte Nervensäge, weißt du das?«
»Noch immer besser, als ein Arsch zu sein.«
Alle sahen in Josh den attraktiven, charmanten Arzt. Ich sah nur einen voreingenommenen, selbstgerechten Mistkerl.
Du kannst andere Freunde finden, Ava. Sie ist eine Last. So jemanden brauchst du nicht in deinem Leben.
Ich errötete. Es war sieben Jahre her, als ich zufällig mitbekommen hatte, wie Josh mit Ava über mich sprach, direkt nachdem sie und ich uns angefreundet hatten, und die Erinnerung daran versetzte mir noch immer einen Stich. Nicht dass ich ihnen je davon erzählt hätte. Ava hätte nur ein schlechtes Gewissen gehabt, und Josh verdiente es nicht zu wissen, wie sehr seine Worte wehgetan hatten.
Er war nicht der Erste, der glaubte, ich sei nicht gut genug, aber er war der Erste, der deswegen eine meiner entstehenden Freundschaften zu zerstören versuchte.
Ich setzte ein sprödes Lächeln auf. »Wenn du mich entschuldigst, meine Toleranzgrenze, was deine Anwesenheit angeht, ist bereits überschritten.« Ich schlüpfte in meinen Mantel, zog die Handschuhe über und rückte meine Handtasche zurecht. »Richte deinem Date mein Beileid aus.«
Bevor er etwas erwidern konnte, ging ich an ihm vorbei und beschleunigte meinen Schritt, bis ich in der eisigen Märzluft stand. Erst dann erlaubte ich mir, mich zu entspannen, obwohl mein Puls noch immer raste.
Von allen Menschen, denen ich in der Bar zufällig hätte begegnen können, musste es ausgerechnet Josh Chen sein. Konnte der Tag noch schlimmer werden?
Ich konnte mir bereits die Sticheleien vorstellen, mit denen er mich bei unserer nächsten Begegnung nerven würde.
Weißt du noch, wie man dich damals versetzt hat, JR?
Weißt du noch, wie du eine Stunde allein an der Bar gesessen hast?
Weißt du noch, wie du dich herausgeputzt und den Rest deines Lieblingslidschattens für einen Typen namens Todd aufgebraucht hast?
Okay, von den letzten beiden Dingen wusste er nichts, aber ich traute ihm zu, dass er es herausfand.
Ich schob die Hände tiefer in die Taschen und ging um die Ecke, erpicht darauf, so viel Abstand wie möglich zwischen mich und die Teufelsbrut zu bringen.
The Bronze Gear befand sich an einer belebten Straße mit zahlreichen Restaurants, wo Musik aus den Türen drang und die Menschen sogar im Winter die Bürgersteige belebten. Diejenige, die ich jetzt entlangging, war, obwohl nur eine Straße weiter, gespenstisch still. Verrammelte Läden säumten beide Gehsteige, und Unkraut wucherte aus Rissen im Asphalt. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, aber die langen Schatten verliehen der Umgebung eine unheilvolle Atmosphäre.
Instinktiv ging ich schneller, obwohl ich nicht nur von meiner zufälligen Begegnung mit Josh abgelenkt war, sondern auch von Dutzenden anderer Dinge auf meiner To-do-Liste. Jetzt, wo ich allein war, besetzten meine Sorgen und Pflichten mein Gehirn wie Kinder, die die Aufmerksamkeit ihrer Eltern einforderten.
Abschluss, Zulassung, vielleicht Todd per SMS abkanzeln (nein, das war es nicht wert), weiter Wohnungssuche, Avas Überraschungsgeburtstagsparty kommendes Wochenende …
Moment mal.
Geburtstag. März.
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Oh mein Gott.
Außer Ava gab es noch jemanden, der Anfang März Geburtstag hatte, aber …
Ich fischte mit zitternder Hand das Telefon aus meiner Tasche, und das Herz rutschte mir in die Hose, als ich das Datum sah. 2. März.
Es war ihr Geburtstag heute. Ich hatte es komplett vergessen.
Schuldgefühle quetschten meine Eingeweide wie Tentakel zusammen, und ich fragte mich, wie ich es jedes Jahr tat, ob ich sie anrufen sollte. Ich tat es nie, aber … dieses Jahr könnte anders sein.
Auch das sagte ich mir jedes Jahr.
Ich sollte keine Schuldgefühle haben. Sie rief mich auch nie an meinem Geburtstag an. Oder an Weihnachten. Oder an irgendeinem anderen Feiertag. Ich hatte seit sieben Jahren nicht mit Adeline gesprochen.
Anrufen. Nicht anrufen. Anrufen. Nicht anrufen.
Ich bearbeitete meine Unterlippe mit den Zähnen.
Es war ihr fünfundvierzigster Geburtstag. Das war eine große Sache, oder? Groß genug, um ein paar Glückwunsche von ihrer Tochter zu verdienen … falls es ihr überhaupt etwas bedeutete, etwas von mir zu bekommen.
Ich war so in Gedanken, dass ich nicht merkte, wie sich mir jemand näherte, bis der harte Lauf einer Waffe gegen meinen Rücken gepresst wurde und eine krächzende Stimme bellte: »Gib mir dein Telefon und dein Portemonnaie. Sofort.«
Mein Herz machte einen Satz, und ich ließ das Handy beinahe fallen. Ungläubigkeit ließ mich zu Stein erstarren.
Das sollte wohl ein Witz sein.
Bitte das Universum nie um Antworten auf Fragen, die du nicht beantwortet haben willst, denn der Tag könnte sich tatsächlich als noch viel schlimmer erweisen.
»Sag es nicht.« Ich öffnete meine Bierdose und ignorierte Claras amüsiertes Gesicht. Die hübsche Barkeeperin, mit der sie geflirtet hatte, war gegangen, um sich um den Happy-Hour-Ansturm zu kümmern, und seither blickte sie mich mit wissendem Lächeln an.
»Na schön. Ich tu’s nicht.« Clara verschränkte die Beine und nahm einen kleinen Schluck von ihrem Drink.
Sie war Krankenschwester in der Notaufnahme vom Thayer University Hospital, wo ich im dritten Jahr als Assistenzarzt arbeitete und mich auf Notfallmedizin spezialisierte, also kreuzten sich unsere Wege häufig. Wir waren seit meinem ersten Assistenzjahr befreundet und teilten die Liebe für Action-Sport und kitschige Neunzigerjahrefilme, aber sexuelles Interesse an mir oder anderen Vertretern der männlichen Spezies hatte sie nicht das Geringste.
Clara war bestimmt kein Date, jedenfalls nicht im romantischen Sinne, aber ich hatte Jules’ Vermutung nicht korrigiert. Mein Privatleben ging sie nichts an. Herrje, manchmal wünschte ich, es ginge nicht einmal mich etwas an.
»Gut.« Mir fiel eine hübsche Blondine am anderen Ende des Tresens ins Auge, und ich schenkte ihr ein verführerisches Grinsen. Sie erwiderte es mit einem vielsagenden Lächeln.
Das war es, was ich heute Abend brauchte. Alkohol, mit Clara das Wizard Game schauen und harmloses Flirten. Irgendwas, das mich von dem Brief ablenkte, der zu Hause auf mich wartete.
Ich korrigiere: Briefe. Im Plural.
24. Dezember. 16. Januar. 20. Februar. 2. März. Die Datierungen der jüngsten Briefe von Michael kamen mir kurz in den Sinn.
Ich erhielt jeden Monat einen, und ich hasste mich dafür, dass ich sie nicht augenblicklich wegwarf.
Ich nahm einen großen Schluck von dem Bier und versuchte, den Stapel Post zu vergessen, der in meiner Schreibtischschublade lag. Es war mein zweites Bier in weniger als zehn Minuten, aber egal, ich hatte einen langen Arbeitstag hinter mir. Ich musste ein bisschen entspannen.
»Ich mag Rotschöpfe«, sagte Clara und verwickelte mich in ein Gespräch, das ich gar nicht führen wollte. »Vielleicht weil Die kleine Meerjungfrau früher mein Lieblingsfilm von Disney war.« Sie setzte ein Lächeln auf angesichts meines Stoßseufzers. »Dein Mangel an Feinfühligkeit ist erstaunlich.«
»Ich möchte zumindest eine Eigenschaft haben, die erstaunlich ist.«
Claras Lächeln wurde breiter. »Wer war das?«
Es war zwecklos, ihrer Frage auszuweichen. Sobald sie etwas mitbekam, das sie für pikant hielt, war sie schlimmer als ein Pitbull mit einem Knochen.
»Die beste Freundin meiner Schwester und eine Nervensäge.« Meine Schultern verspannten sich bei der Erinnerung an meine Begegnung mit Jules.
Es war typisch für sie, dass sie abweisend reagierte, selbst wenn ich ihr zu helfen versuchte. Vergiss den Ölzweig als Zeichen des Friedens. Ich sollte ihr einen Strauß Dornen überreichen und hoffen, dass sie sich daran zu Tode stach. Jedes Mal, wenn ich versuchte, nett zu sein – was ehrlich gesagt nicht oft geschah –, erinnerte sie mich daran, weshalb wir niemals befreundet sein könnten. Wir waren beide zu stur und unsere Persönlichkeiten zu ähnlich. Es war, als wollte man Feuer mit Feuer bekämpfen.
Leider waren Jules und meine Schwester Ava seit dem ersten Collegejahr eng befreundet, was bedeutete, dass ich Jules in meinem Leben hatte, egal wie sehr wir uns auf die Nerven gingen.
Ich wusste nicht, was sie für ein Problem mit mir hatte, aber ich wusste, dass sie dazu neigte, Ava in Schwierigkeiten zu bringen.
In den sieben Jahren, die sie sich jetzt kannten, hatte ich mit angesehen, wie Ava mit Jules’ Graskeksen und beinahe nackt auf einer Party auf einen Trip gegangen war, hatte sie getröstet, nachdem sie sich die Haare auf Jules’ Geburtstagsparty zum Zwanzigsten in betrunkenem Zustand orange gefärbt hatte, und hatte sie irgendwo in Maryland am Straßenrand eingesammelt, nachdem Jules die brillante Idee gehabt hatte, sich mit ein paar Fremden zusammenzutun, die sie in einer Bar auf einer Last-minute-Autofahrt nach New York kennengelernt hatten. Der Wagen blieb unterwegs liegen, und zum Glück erwiesen sich die Fremden als harmlos, aber trotzdem. Das hätte auch ins Auge gehen können.
Das waren nur ein paar der Highlights. Es hatte tausend andere Gelegenheiten gegeben, in denen Jules meine Schwester dazu überredet hatte, bei irgendeinem verrückten Vorhaben mitzumachen.
Ava war erwachsen und dazu in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, aber sie war auch viel zu vertrauensselig. Als ihr älterer Bruder war es meine Aufgabe, sie zu beschützen, vor allem nachdem unsere Mom gestorben war und sich unser Vater als verdammter Psycho entpuppt hatte.
Es gab für mich überhaupt keinen Zweifel daran, dass Jules ein schlechter Einfluss war. Punkt.
Claras Mundwinkel zuckten. »Hat die Nervensäge einen Namen?«
Ich nahm noch einen Schluck Bier, bevor ich knapp antwortete: »Jules.«
»Hmm. Jules ist ziemlich hübsch.«
»Die meisten fleischfressenden Sukkuben sind hübsch. So fangen sie einen.« Verärgerung schlich sich in meine Stimme.
Ja, Jules war schön, aber Eisenhut und Blaugeringelte Kraken ebenfalls. Hübsche Erscheinungen, die tödliches Gift in sich trugen, das, in Jules’ Fall, in Form eines giftigen Mundwerks daherkam.
Die meisten Männer waren geblendet von ihren Kurven und den großen haselnussfarbenen Augen, aber nicht ich. Ich fiel nicht auf sie herein. Die armen Würstchen, deren Herzen sie am Thayer brach, waren ein weiterer Beweis dafür, dass ich mich um meiner geistigen Verfassung willen besser von ihr fernhielt.
»Ich habe noch nie erlebt, dass du dich über eine Frau so aufgeregt hast.« Clara wirkte, als amüsierte sie sich königlich. »Warte nur, bis ich den anderen Krankenschwestern davon erzähle.«
Herrje.
Nicht einmal Gossip Girl konnte der Schwesternstation das Wasser reichen. Sobald ihnen Neuigkeiten zu Ohren kamen, verbreiteten sie sich wie ein Lauffeuer im Krankenhaus.
»Ich habe mich nicht aufgeregt, und es gibt nichts zu erzählen.« Ich wechselte das Thema, bevor sie mir weiter zusetzen konnte. Ich hatte nicht den Wunsch, auch nur eine Sekunde länger als nötig über Jules Ambrose zu sprechen. »Wenn du echte Neuigkeiten willst, hier ist eine: Ich habe endlich entschieden, wo ich Urlaub machen werde.«
Sie verdrehte die Augen. »Das ist nicht halb so interessant wie dein Liebesleben. Die Hälfte der Schwesternschaft ist in dich verknallt. Ich begreife es nicht.«
»Ich bin eben ein guter Fang.«
Es stimmte einfach, daher war ich auch nicht arrogant. Aber ich würde niemals im Krankenhaus mit jemandem anbändeln. Man aß nicht, wo man sein Geschäft machte.
»Und so bescheiden.« Clara gab es schließlich auf, mir weitere Informationen über Jules aus der Nase zu ziehen. »Na schön, ich spiele mit. Wohin fährst du in den Ferien?«
Mein Lächeln war diesmal ehrlich. »Neuseeland.«
Ich war hin- und hergerissen gewesen zwischen Neuseeland zum Bungee-Jumping und Südafrika zum Käfigtauchen mit Haien, doch schließlich hatte ich mich für Ersteres entschieden und gestern Abend mein Flugticket gekauft.
Assistenzärzte hatten beschissene Arbeitszeiten, aber wir in der Notfallmedizin hatten es zumindest besser als zum Beispiel Chirurgen. Ich arbeitete abwechselnd Zwölf- und Achtstundenschichten mit einem freien Tag alle sechs Tage und vier fünftägigen Pausen im Jahr. Dafür arbeiteten wir nonstop während unserer Schichten, aber mir machte das nichts aus. Beschäftigt zu sein war gut. Beschäftigt zu sein hielt mich davon ab, an andere Dinge zu denken.
Ich war allerdings reif für meinen ersten Urlaub dieses Jahr. Man hatte mir eine Woche im Frühjahr bewilligt, und ich konnte mir meine Zeit in Neuseeland bereits vorstellen: strahlend blauer Himmel, schneebedeckte Berge, das Gefühl von Schwerelosigkeit, während ich fiel, und der Adrenalinrausch, der meinen Körper lebendig machte, wann immer ich mich einer meiner liebsten Abenteuersportarten widmete.
»Halt den Mund.« Clara stöhnte. »Ich bin eifersüchtig. Welche Wanderungen willst du unternehmen?«
Ich hatte bereits nach den besten Wanderrouten des Landes recherchiert, und ich berichtete ihr von meinen Plänen, bis die Barkeeperin zurückkehrte und sie abgelenkt war. Weil ich ihr nicht die Tour vermasseln wollte, widmete ich mich meinem Bier und dem Basketballspiel der Wizards gegen die Raptors im Fernsehen.
Ich wollte mir gerade noch ein Bier bestellen, als eine leise Frauenstimme mich unterbrach.
»Ist der Platz hier frei?«
Ich drehte mich um und hatte die Blondine vor mir, mit der ich vorhin Augenkontakt hergestellt hatte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie ihren Platz an der Bar verlassen hatte, aber jetzt stand sie so dicht vor mir, dass ich die hellen Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen konnte.
Routiniert schenkte ich ihr ein breites Lächeln, das sie erröten ließ. »Er gehört ganz dir.«
Die ganze Anbaggernummer war mir inzwischen so vertraut, dass ich mich kaum anstrengen musste. Es war wie Muskelgedächtnis. Lad sie zu einem Drink ein, stell ihr Fragen über sie, hör aufmerksam zu – oder tu wenigstens so –, mit dem gelegentlichen Nicken und passenden Einwürfen, berühr sie wie zufällig, um Körperkontakt herzustellen.
Früher war es aufregend, aber jetzt machte ich es, weil … nun, ich war mir nicht sicher. Wahrscheinlich weil es das war, was ich schon immer gemacht hatte.
»… möchte Tierärztin werden …«
Ich nickte erneut und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Was war nur los mit mir?
Robin, die Blondine, war sexy und bereit, irgendwohin mitzukommen, falls ich ihre Hand auf meinem Oberschenkel richtig deutete. Ihre Kindheitsabenteuer auf einem Pferderücken waren nicht gerade fesselnd, aber ich war gut darin, wenigstens eine interessante Sache in einem Gespräch zu finden.
Vielleicht lag es an mir. Langeweile war in diesen Tagen mein ständiger Begleiter, und ich wusste nicht, wie ich den Bastard loswerden sollte.
Die Partys, auf die ich ging, waren immer das Gleiche. Meine Affären waren unbefriedigend. Meine Dates waren wie lästige Pflichten. Die einzige Zeit, in der ich etwas empfand, war in der Notaufnahme.
Ich blickte zu Clara. Sie flirtete noch immer mit der Barkeeperin, die ihre Kunden einfach ignorierte und Clara mit verliebter Miene ansah.
»… ich kann mich nicht entscheiden, ob ich einen Zwergspitz oder einen Chihuahua will …«, plapperte Robin weiter.
»Zwergspitz klingt nett.« Ich blickte ostentativ auf meine Uhr, bevor ich sagte: »Hey, tut mir leid, wenn ich das hier abbreche, aber ich muss meinen Cousin vom Flughafen abholen.« Es war nicht die tollste Ausrede, aber es war das Erste, was mir einfiel.
Robin blickte enttäuscht. »Oh, okay. Vielleicht treffen wir uns irgendwann mal wieder.« Sie kritzelte ihre Nummer auf eine Serviette und drückte sie mir in die Hand. »Ruf mich an.«
Ich reagierte darauf mit unverbindlichem Lächeln. Ich versprach nicht gern Dinge, die ich nicht halten konnte.
»Viel Spaß«, formte ich stumm mit den Lippen in Richtung Clara auf dem Weg nach draußen. Sie schüttelte den Kopf und schenkte mir ein kurzes Grinsen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Barkeeperin zuwandte.
So schnell hatte ich eine Bar schon lange nicht mehr verlassen. Ich war nicht verstimmt darüber, wie der Abend geendet hatte. Clara und ich gingen häufig zusammen etwas trinken und trennten uns, wenn wir … abgelenkt wurden, aber jetzt musste ich mir überlegen, wohin ich gehen würde.
Es war noch immer früh, und ich wollte noch nicht nach Hause. Ich wollte aber auch nicht in eine der anderen Bars in der Straße, falls Robin noch eine Kneipentour unternahm.
Ach, was soll’s. Ich würde mir den Rest des Spiels in der Spelunke in der Nähe meiner Wohnung anschauen. Bier und Fernsehen waren Bier und Fernsehen, egal, wo das war. Hoffentlich fuhr die Metro pünktlich, damit ich das Spiel nicht ganz verpasste.
Ich bog in die ruhige Nebenstraße ein, die zur Metro führte. Ich war auf halbem Weg, als ich rote Haare und einen vertrauten dunkelroten Mantel in der Gasse neben einem verrammelten Schuhgeschäft aufscheinen sah.
Dann bemerkte ich das Blitzen von Metall in ihrer Hand – eine Pistole. Sie zeigte direkt auf den abgehalfterten Kerl vor ihr.
»Was zur Hölle ist hier los?« Meine Worte hallten in der leeren Straße wider.
Vielleicht war ich an der Bar eingeschlafen und in die Twilight Zone geraten, denn die Szene vor mir ergab nicht den geringsten Sinn.
Woher zum Teufel hatte Jules eine Pistole?
Jules veränderte ein wenig ihre Position, damit sie mich anschauen konnte, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Eine abgewetzte Mütze saß auf den braunen Haaren des Kerls, und ein schwarzer Mantel, der zwei Nummern zu groß war, hing um seine magere Gestalt.
»Er hat versucht, mich auszurauben«, stellte sie nüchtern fest.
Mütze blickte sie böse an, war aber schlau genug, den Mund zu halten.
Ich kniff mir in die Schläfe in der Hoffnung, es würde mich aus welcher Parallelwelt auch immer herausholen. Aber nein. Noch immer hier. »Und ich nehme an, das ist seine Waffe.«
Irgendwie überraschte es mich nicht, dass Jules den Spieß umgedreht hatte. Wäre sie gekidnappt worden, hätte der Kidnapper sie wahrscheinlich binnen einer Stunde aus purer Verzweiflung freigelassen.
»Ja, Sherlock.« Jules’ Hand schloss sich fester um die Waffe. »Ich habe die Polizei angerufen. Sie sind unterwegs.«
Wie aufs Stichwort erklang Sirenengeheul.
Mütze erstarrte, und sein Blick schnellte in Panik hin und her.
»Denk nicht mal daran«, warnte ihn Jules. »Oder ich schieße. Ich bluffe nicht.«
»Sie tut es«, sagte ich zu ihm. »Ich hab gesehen, wie sie einmal einem Typen eine Smith & Wesson in den Hintern gesteckt hat, weil er ihr eine Tüte Chips gemopst hatte.« Ich senkte die Stimme zu einem hörbaren Flüstern. »Bei ihr bekommt das Wort wütend eine ganz neue Bedeutung.«
Die Situation war so schon absurd genug. Ich konnte mich genauso gut einmischen.
Wie gesagt, ich hatte Langeweile.
Jules’ Mund zuckte angesichts meines Lügenmärchens, bevor sie die Stirn runzelte.
Mütze machte große Augen. »Echt jetzt?« Sein Blick wanderte zwischen uns hin und her. »Woher kennt ihr zwei euch? Treibt ihr’s miteinander?«
Jules und ich schüttelten beide heftig den Kopf.
Entweder stellte Mütze eine so dumme Frage, um uns abzulenken, oder er wollte, dass ich mich übergab. Falls Letzteres zutraf, hätte er beinahe Erfolg gehabt. Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Niemals. Schau ihn dir doch an.« Jules zeigte mit ihrer freien Hand auf mich. »Als würde ich so etwas auch nur anfassen.«
Mütze sah mich zwinkernd an. »Was stimmt nicht mit ihm?«
»Ich würde dir nicht mal erlauben, mich anzufassen, wenn du mein Studiendarlehen übernehmen würdest«, knurrte ich. Und selbst wenn Jules Ambrose die letzte Frau auf der Welt wäre. Sie war jemand, mit dem ich niemals schlafen würde. Nie und nimmer.
Sie ignorierte mich. »Hast du je das Sprichwort gehört ›Je größer das Ego, desto kleiner der Penis‹?«, fragte sie Mütze. »Das trifft auf ihn zu.«
»Oh. Das ist scheiße.« Mütze sah mich mitleidig an. »Tut mir leid, Kumpel.«
Eine Ader in meiner Schläfe pochte. Ich öffnete schon den Mund, um ihr mitzuteilen, dass ich lieber in Bleichmittel baden würde, als sie auch nur in die Nähe meines Penis zu lassen, aber das Schlagen einer Autotür hielt mich davon ab.
Ein Cop, so groß wie ein Kleiderschrank, war mit gezückter Waffe ausgestiegen. »Keine Bewegung! Lassen Sie die Waffe fallen.«
Ich stöhnte und hätte ihm beinahe einen Vogel gezeigt.
Verdammter Mist.
Ich hätte rechtzeitig verschwinden sollen.
Jetzt würde ich auf jeden Fall den Rest des Spiels verpassen.
Fünfundvierzig Minuten und Dutzende von Fragen später ließen uns die Cops schließlich gehen.
Mütze war in Gewahrsam genommen worden, und Jules und ich schlenderten schweigend zur Metrostation an der nächsten Straße. Die meisten Leute wären komplett durch den Wind, nachdem sie Opfer eines Raubüberfalls geworden waren, aber sie verhielt sich, als hätte sie gerade ihre Einkäufe erledigt.
Ich war weniger gelassen. Nicht nur, dass ich eine Stunde damit vergeudet hatte, mich von der Polizei vernehmen zu lassen, sondern auch, weil ich das restliche Spiel verpasst hatte.
»Sag mir, wieso immer du involviert bist, wenn es Schwierigkeiten gibt«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als die Metro in Sicht kam.
»Ist nicht meine Schuld, dass du entschieden hast, diese Straße entlangzugehen, und du entschieden hast, für ein heiteres Intermezzo haltzumachen, anstatt deiner Wege zu gehen«, konterte Jules. »Ich hatte es im Griff.«
Ich schnaubte, während meine Schuhe einen wütenden Rhythmus auf den Stufen stampften. Ich hätte den Aufzug nehmen können, aber ich musste meine Verärgerung loswerden. Jules musste ebenso empfunden haben, denn sie war direkt neben mir und ging mir auf den Sack.
»Heiteres Intermezzo? Wer redet denn so? Und heiter war daran gar nichts, wirklich nicht.« An den Drehkreuzen zog ich meine Brieftasche heraus. »Wie schade, dass die Polizei nicht dich festgenommen hat. Du bist eine Bedrohung für die Gesellschaft.«
»Sagt wer? Sagst du?« Sie sah mich verächtlich an.
»Ja.« Ich schenkte ihr ein kaltes Lächeln. »Sage ich und jede andere Person, die das Pech hatte, dir zu begegnen.«
Es war schrecklich, so etwas zu sagen, aber um ehrlich zu sein, war ich nach einer langen Schicht im Krankenhaus und wegen meiner allgemeinen existenziellen Krise nicht besonders nachsichtig gestimmt.
»Gott. Du. Bist.« Jules knallte ihre Metrokarte mit unnötiger Kraft auf das Lesegerät. »Das. Letzte.«
Ich ging hinter ihr durch das Drehkreuz. »Nein, das ist Selbsterhaltung. Es gehört zum gesunden Menschenverstand, Dieben zu geben, wonach sie verlangen.« Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verwirrte und erzürnte mich ihr Verhalten. »Was, wenn du ihm nicht die Pistole hättest wegnehmen können? Was, wenn er eine zweite Waffe gehabt hätte, von der du nichts wusstest? Du hättest verdammt noch mal sterben können!«
Jules errötete. »Hör auf, mich anzuschreien. Du bist nicht mein Vater.«
»Ich schreie nicht.«
Wir blieben unter der Anzeigetafel stehen, die den nächsten Zug in acht Minuten ankündigte. Die Station war leer bis auf ein Paar, das auf einer der Bänke knutschte, und einem Anzugträger am anderen Ende des Bahnsteigs, und es war still genug, um das Rauschen meines Bluts in den Ohren zu hören.
Wir starrten einander wütend an, wobei wir beide schwer atmeten. Ich hätte sie am liebsten dafür geschüttelt, dass sie so dumm gewesen war, ihr Leben wegen eines idiotischen Telefons und eines Portemonnaies in Gefahr zu bringen.
Nur weil ich sie nicht mochte, bedeutete das nicht, dass ich sie tot sehen wollte.
Jedenfalls nicht die ganze Zeit.
Ich erwartete eine weitere abfällige Bemerkung, aber Jules wandte sich ab und schwieg.
Es passte überhaupt nicht zu ihrem Charakter und war verdammt nervtötend. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich bei ihr einmal das letzte Wort gehabt hatte.
Ich stieß die Luft durch die Nase aus und zwang mich, mich zu beruhigen und über die Situation nachzudenken.
Egal was ich von ihr hielt, Jules war Avas Freundin, und sie hatte gerade einen Raubüberfall hinter sich. Wenn sie kein Roboter war, konnte sie nicht so ungerührt sein, wie sie erschien.
Ich musterte sie aus den Augenwinkeln und sah ihren angespannten Kiefer und den geraden Rücken, als hätte sie einen Stock verschluckt. Ihre Miene war ausdruckslos – zu ausdruckslos.
Mein Zorn kühlte sich ab, und ich strich mir übers Kinn. Ich war zwiegespalten. Jules und ich taten normalerweise nichts füreinander. Wir sagten nicht einmal »Gesundheit«, wenn der andere niesen musste. Aber …
Verdammt.
»Alles okay?«, fragte ich barsch. Ich konnte mich nicht nicht um jemanden kümmern, der beinahe gestorben wäre, egal wer es war. Es verstieß gegen alles, woran ich als Arzt und menschliches Wesen glaubte.
»Es geht mir gut.« Jules strich sich das Haar hinters Ohr, die Stimme nüchtern, doch ich bemerkte ein leichtes Zittern ihrer Hand.
Adrenalinschübe waren etwas Seltsames. Sie machten einen stärker, konzentrierter. Sie gaben einem das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Doch sobald sie aufhörten und man wieder zurück auf die Erde stürzte, musste man mit den Nachwirkungen zurechtkommen – die zitternden Hände, die schwachen Beine, die Sorge, dass man für kurze Zeit alles angehalten hatte, nur damit es als gigantische Welle zurückkam.
Ich würde meinen letzten Dollar darauf verwetten, dass Jules gerade von ihrem Adrenalinschub herunterkam.
»Bist du verletzt?«
»Nein. Ich habe ihm die Pistole abgenommen, bevor er irgendwas tun konnte.« Jules starrte mit einer solchen Intensität geradeaus, dass es mich nicht überrascht hätte, hätte sie ein Loch in die Stationswand gebrannt.
»Ich wusste gar nicht, dass du einem Sondereinsatzkommando angehörst.« Ich versuchte, die Atmosphäre aufzulockern, obwohl ich wahnsinnig neugierig war, was eigentlich passiert war. Wir hatten bei der Polizei getrennt ausgesagt, weshalb ich nicht mitbekommen hatte, wie sie Mütze entwaffnet hatte.
»Man braucht kein Sondereinsatzkommando, um jemandem eine Waffe abzunehmen.« Sie kräuselte die Nase. Endlich. Ein Zeichen von Normalität. »Ich habe schon vor Längerem Selbstverteidigung gelernt. Dazu gehörte auch die Konfrontation mit einem Straßenräuber.«
Sieh an. Ich hatte sie nicht für jemanden gehalten, der Selbstverteidigung lernte.
Der Zug fuhr in die Station ein, bevor ich etwas erwidern konnte. Es gab keine freien Plätze, weil die Haltestelle davor ein stark frequentierter Knotenpunkt war, also standen wir Schulter an Schulter neben der Tür, bis wir Hazelburg erreichten, wo sich der Thayer-Campus befand.
Jules und ich waren Nachbarn gewesen, als sie und Ava in ihrem Abschlussjahr zusammenwohnten, aber danach war Ava in die Stadt gezogen, und ich hatte mir etwas Neues gesucht. In meiner alten Wohnung gab es zu viele unerwünschte Erinnerungen.
Doch Hazelburg war eine Kleinstadt, und meine und Jules’ Wohnungen lagen nur zwanzig Minuten voneinander entfernt.
Wir fielen unbewusst in Gleichschritt, nachdem wir die Station verlassen hatten.
»Erzähl Ava nicht, was passiert ist«, sagte Jules, als wir die Ecke erreichten, von wo aus wir getrennt weitergingen – sie nach links und ich nach rechts. »Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
»Okay.« Sie hatte recht. Ava würde sich auf jeden Fall Sorgen machen, und es war sinnlos, sie wegen etwas in Aufregung zu versetzen, das schon vorbei war. »Geht es dir wirklich gut?«
Beinahe hätte ich angeboten, Jules nach Hause zu begleiten, aber das war vielleicht zu viel. Wir hatten die Grenzen unseres zivilen Umgangs miteinander erreicht, wie die nächsten Worte aus ihrem Mund bewiesen.
»Ja.« Sie rieb mit Daumen und Zeigefinger über einen ihrer Mantelärmel und wirkte zerstreut. »Komm nicht zu spät zu Avas Party am Samstag. Pünktlichkeit gehört zwar nicht zu den wenigen Stärken, die du hast, aber es ist wichtig, dass du rechtzeitig da bist.«
Mein Mitgefühl löste sich in einem Anfall von Verärgerung auf. »Ich werde da sein«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Hab keine Sorge.«
Ich ging, bevor sie etwas erwidern konnte, ohne mich zu verabschieden. Jules musste es natürlich ruinieren. Jedes. Verdammte. Einzelne. Mal.
Vielleicht war ihre Kratzbürstigkeit eine Verteidigungsstrategie, aber das war nicht meine Angelegenheit. Ich war nicht dazu da, um in sie hineinzuschauen, als befänden wir uns in einem dieser Liebesromane, die Ava so mochte.
Wenn Jules so garstig sein wollte, hatte ich jedes Recht, mich vor ihr zu schützen, indem ich ihre Gesellschaft mied.
Der Wind fuhr mir ins Gesicht und zerrte an den Bäumen, was die Stille in den Straßen nur noch unterstrich. Hazelburg war eine der sichersten Städte in den USA, aber wie Jules’ Hand gezittert hatte, während wir auf die Metro warteten. Ihre angespannten Schultern. Ihre Blässe.
Mein forscher Gang wurde zu einem Schlendern.
Du interpretierst zu viel in eine einzelne Bewegung hinein. Geh nach Hause, Mann.
Was würde passieren, wenn es dunkel war und sie allein? Die Chance, dass ihr etwas zustieß, war gering, selbst wenn sie Probleme wie ein Magnet anzog.
Ich schloss die Augen und konnte nicht glauben, dass ich überhaupt in Erwägung zog, was ich sogleich tun würde.
»Herrgott noch mal«, stieß ich hervor, bevor ich kehrtmachte und wieder in Jules’ Richtung ging. Ich spannte den Kiefer an und wurde mit jedem Schritt wütender.
Wütend auf mein Gewissen, das sich zum schlechtesten Zeitpunkt rührte. Wütend auf Jules, weil sie existierte, auf Ava, weil sie mit ihr befreundet war, und auf den Wohnheimleiter, weil er sie im selben Zimmer untergebracht und ihre Freundschaft über all die Jahre unvermeidlich gemacht hatte.
Das Schicksal spielte mir gern Streiche, und der schlimmste war gewesen, einen gewissen Rotschopf in mein Leben zu lassen.
Ich brauchte nicht lange, bis ich Jules eingeholt hatte. Ich blieb weit genug hinter ihr, damit sie mich nicht bemerkte, war aber nah genug, um sie zu sehen. Die leuchtende Farbe ihrer Haare und die ihres Mantels machten es sogar in der Dunkelheit leicht.
Ich kam mir vor wie ein Privatdetektiv, aber wenn sie bemerken würde, dass ich ihr folgte, hätten wir den nächsten Streit, und ich war zu müde für den Scheiß.
Zum Glück kamen wir bei ihr in weniger als zehn Minuten an, und ich entspannte mich, als ich Licht hinter den Vorhängen sah. Stella, eine andere Collegefreundin von Ava und Jules, war anscheinend schon zu Hause.
Jules trat vor die Haustür, griff in ihre Tasche … und hielt inne.
Ich versteckte mich hinter einem Baum auf dem gegenüberliegenden Gehsteig, falls sie sich umdrehen sollte, was sie nicht tat. Sie stand einfach eine volle Minute lang wie erstarrt da.
Was zum Henker tat sie da?
Ich wollte gerade die Straße überqueren für den Fall, dass sie unter Schock stand, als sie sich schließlich bewegte. Sie nahm die Schlüssel aus ihrer Tasche, schloss die Tür auf und verschwand im Inneren.
Ich stieß einen langen Seufzer aus. Er bildete eine kleine weiße Atemwolke in der winterlichen Luft, und ich wartete eine weitere Minute, den Blick auf die Stelle gerichtet, wo Jules zuvor gestanden hatte, bevor ich mich umdrehte und nach Hause ging.
»Wie war dein Date?« Stella sah von ihrem Telefon auf, als ich das Wohnzimmer betrat.
»Er ist nicht gekommen.« Ich knöpfte meinen Mantel auf und hängte ihn an den Messingständer neben der Eingangstür. Ich brauchte zwei Versuche, weil meine Hand so zitterte.
Das ist die Kälte. Nicht der Raubüberfall oder der kurze Moment der Lähmung draußen vor der Haustür, als ich …
Stopp. Nicht darüber nachdenken.
Stella bekam große Augen. »Ist nicht wahr. Was für ein Arschloch.«
Ich setzte ein Lächeln auf. Stella fluchte selten, und es amüsierte mich jedes Mal, wenn ihr ein Schimpfwort herausrutschte.
»Schon okay. Es ist, als hätte ich eine Kugel abgewehrt. Ich meine, hast du sein Datingfoto gesehen? Das mit dem komischen Fisch? Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« Ich streifte die Handschuhe ab und zog die Schuhe aus, wobei ich Blickkontakt mit meiner Freundin vermied, während ich genug Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen versuchte.
Es hatte nicht lange gedauert, den Straßenräuber zu entwaffnen, aber das Gefühl, hilflos zu sein, wenn auch nur für einen Moment, brachte Erinnerungen zurück, die besser begraben blieben.
Etwas bohrte sich in meinen Rücken. Säuerlicher Atem in meinem Nacken. Hände auf …
»Jules.«
Ich erschrak und warf beinahe den Garderobenständer um.
Ich hatte im Nachgang zu dem versuchten Raub die Ruhe bewahrt, aber jetzt, wo ich zu Hause und in Sicherheit war, begann mein Körper das Geschehene zu verarbeiten.
Es war nicht schön.
Mein Herz klopfte wie eine Trommel in meiner Brust, und mir war kotzübel. Stellas Gegenwart war das Einzige, was mich auf den Beinen hielt.
Sie runzelte die Stirn. »Geht’s dir gut? Du starrst seit fünf Minuten Löcher in die Luft. Ich habe dich zweimal gerufen.«
»Ja, alles okay.« Ich setzte ein breites Lächeln auf. »Ich war nur mit den Gedanken woanders. Habe überlegt, wie ich es Todd heimzahlen kann.«
Ich würde keinen Funken Energie mehr an das Arschloch verschwenden, aber das konnte Stella ja nicht wissen.
Sie legte den Kopf schräg und kniff ihre grünen Katzenaugen zusammen. Als Modebloggerin und Influencerin klebte sie neunzig Prozent der Zeit am Telefon, aber sie war aufmerksamer, als die meisten Leute ihr zutrauten.
»Du würdest keine Energie mehr auf den Kerl verschwenden«, sagte sie.
Okay, das war aufmerksam und unheimlich. Vielleicht verliehen ihr diese ekelhaften Weizengras-Smoothies, die sie so liebte, Superkräfte wie Gedankenlesen.
»Ehrlich, es geht mir gut.« Ich erhöhte die Wattzahl meines Lächelns. Ich hatte keine Skrupel, meine Freunde um Rat zu bitten, aber nur dann, wenn sie etwas tun konnten. Andernfalls bestand kein Anlass, sie zu beunruhigen. »Ich will mir einfach nur einen Film anschauen, Eis essen und Todd, den Trottel, vergessen.«
Ein leichtes Misstrauen lag noch immer in Stellas Blick, aber zum Glück ließ sie die Sache auf sich beruhen. »Wir haben noch einen Becher gesalzenes Karamelleis«, sagte sie. Sollen wir »Natürlich blond schauen, während wir ihn leeren?«
»Gern.« Ich konnte nie genug davon bekommen, einer perfekt frisierten Elle Woods dabei zuzuschauen, wie sie zu Höchstform auflief. »Ich geh nur erst unter die Dusche. Und du erledigst deinen Kram.«
»Ich sehe meine Nachrichten auf Twitter durch.« Sie seufzte. »Die schaffe ich niemals alle.«
»Du musst sie ja nicht alle beantworten.«
Stella hatte Hunderttausende von Followern, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie viele Nachrichten täglich in ihrer Inbox landeten.
»Ich würde aber gern. Außer es sind Spinner.« Sie scheuchte mich mit einer Handbewegung weg. »Los, geh duschen. Ich warte auf dich.«
Während sich Stella erneut ihrem Telefon zuwandte, betrat ich unser gemeinsames Badezimmer und stellte die Dusche an, wobei mein Lächeln erlosch.
Ich wartete, bis heißer Dampf die Luft erfüllte, bevor ich mich in die Badewanne stellte, die Stirn an die feuchten Fliesen legte und das prasselnde Wasser meine unerwünschten Erinnerungen wegspülte.
Mein letztes Highschooljahr. Alastair und Max und Adeline …
Stopp.
»Reiß dich zusammen, Jules«, flüsterte ich erbittert.
Ich war kein in Ohio festsitzendes junges, hilfloses Mädchen mehr.
Ich war in einem ganz anderen Staat und kurz davor, alles zu erreichen, wovon ich stets geträumt hatte.
Geld. Freiheit. Sicherheit.
Und ich wollte verdammt sein, wenn ich zuließe, dass mir das jemand wegnahm.
Als Avas Überraschungsparty stieg, hatte ich den Raubüberfall in den hintersten Winkel meines Gehirns verbannt. Ablenkung war der Schlüssel, um Erinnerungen zu unterdrücken, und zum Glück hatte ich genug Ablenkung, um die nächsten fünf Jahre beschäftigt zu sein.
»Ich kann nicht glauben, dass ihr das alles gemacht habt.« Ava drehte sich langsam im Kreis und betrachtete mit großen Augen das Restaurant, das in einen wahren Festsaal verwandelt worden war. Und mit Festsaal meinte ich eine zwei Meter hohe Eisskulptur, diverse kleine Büfetts, einen Live-DJ, einen Schokoladenbrunnen und eine Tanzfläche, alles dank ihrem Freund, der reicher als Gott war. »Das wäre überhaupt nicht nötig gewesen.«
»Nein, aber wir wollten es.« Ich schenkte ihr ein schelmisches Lächeln. »Außerdem war es eine gute Ausrede für einen Schokoladenbrunnen. Ich wollte schon immer mal einen in echt sehen.« Ich umarmte sie und atmete ihr vertrautes Parfüm ein. Der Geruch stimmte mich ganz nostalgisch.
Ava war die erste Person gewesen, die ich an der Thayer kennengelernt hatte. Wir verstanden uns auf Anhieb, und ich würde nie vergessen, wie sie zu mir hielt, als Josh von ihr verlangte, unsere Freundschaft zu beenden. Sie und Josh standen sich sehr nahe, also bedeutete die Tatsache, dass sie für mich Partei ergriff, mehr, als ihr je bewusst sein würde.
Wir trafen uns weiter nach dem Abschluss, aber nicht so oft, wie ich es mir gewünscht hätte. Ein Teil von mir wünschte sich, wir könnten dahin zurückkehren, wo Ava, Stella, Bridget und ich die ganze Nacht aufgeblieben waren, haufenweise Käseflips gefuttert und die Mädchen im Zimmer nebenan dabei belauscht hatten, wie sie sich gegenseitig anschrien, weil eine von ihnen mit dem Freund der anderen rumgemacht hatte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Liebes.« Ich lächelte, weil ich trotz der Melancholie, die mich befallen hatte, keine Spielverderberin sein wollte. «Überraschung gelungen?«
»Und wie.« Ava wandte sich zu ihrem Freund um und schlug ihm auf den Arm, auch wenn ihre Augen vor Entzücken funkelten. »Du hast gesagt, wir würden Mittagessen gehen!«
»Das tun wir doch.« Der Anflug eines Lächelns erschien auf Alex Volkovs Lippen. Ava war wahrscheinlich der einzige Mensch, der ihm so viel Emotion entlocken konnte – ja, das war sarkastisch –, und auch der einzige, der ihn schlagen durfte, wenn auch im Spaß, ohne ein Körperteil zu verlieren. »Irgendwie.«
Ich stöhnte. »War das ein Witz?« Ich blickte zu Ava und Stella und übersah absichtlich Josh, der auf der anderen Seite von Ava stand. »Alex hat einen Witz gemacht. Schnell, jemand muss Datum und Zeit festhalten.«
»Sehr lustig«, stellte er nüchtern fest.
Er verströmte CEO-Flair, auch wenn er ein Button-down-Hemd und Jeans trug, was für Alex das Höchstmaß an legerer Kleidung bedeutete. Seine Augen glänzten wie jadefarbene Eisstücke in einem Gesicht, das von Michelangelo höchstpersönlich hätte gemeißelt sein können, und sein Ausdruck war kalt genug, um einem Frostbrand zu verursachen.
Wie auch immer. Er konnte so grimmig dreinschauen, wie er wollte, als Avas Freundin war ich immun gegen seine Empörung, und er wusste das.
»Du hast mich auch schon mal mit einer Geburtstagsparty überrascht«, sagte er zu Ava, wobei seine Stimme ein klitzekleines bisschen sanfter wurde. »Ich fand, es war höchste Zeit, mich zu revanchieren.«
Ich konnte sehen, wie Ava dahinschmolz.
»Ich glaube, ich kriege Zahnschmerzen von so viel Süßholzraspeln«, sagte Stella, als Alex etwas in Avas Ohr flüsterte, das sie erröten ließ.
»Wir brauchen dringend einen Zahnarzttermin«, stimmte ich zu.
Trotz unserer Witzeleien grinsten wir wie Honigkuchenpferde. Alex und Ava hatten eine Menge durchgemacht, und es war schön, sie so glücklich zu sehen, obwohl das Wort in Bezug auf Alex relativ war.
Währenddessen drückte sich Josh am Dessertbüfett herum, und seine Miene war dunkler als sein schwarzes Hemd.
Er war mit Alex bis zu ihrem Zerwürfnis eng befreundet gewesen, was noch mal eine Geschichte für sich war. Sie gingen inzwischen wieder zivilisiert miteinander um, aber es gab einen riesigen Unterschied zwischen zivilisiert und befreundet.
»Mach ein anderes Gesicht, Spielverderber«, sagte ich. »Du bist ein Stimmungstöter.«
»Wenn dich mein Gesicht so sehr stört, dann schau nicht hin«, knurrte er. »Außer du kannst nicht anders, was verständlich wäre.«
Ich blickte ihn finster an. Ich hatte die Party mithilfe von Stella und Alex geplant, und auch wenn ich versucht war, Josh von der Gästeliste zu streichen, war er doch Avas Bruder. Für mich war seine Anwesenheit so erwünscht wie Kolibakterien auf ungekochtem Hühnchen.
Bevor ich auf seinen selbstgefälligen Kommentar antworten konnte, durchschnitt ein aufgeregter Schrei die Luft, gefolgt von einem lauten Klappern, und zwei Dutzend Köpfe drehten sich zur Tür.
Ich folgte ihren weit aufgerissenen Augen zu dem Paar, das gerade hereinkam, flankiert von zwei Ungetümen von Bodyguards in Anzügen.
Mein Gesicht hellte sich auf. »Bridget!«
Sie grinste und winkte. »Überraschung!«
»Oh mein Gott!« Ich eilte im gleichen Moment wie Ava und Stella zu ihr hinüber, und wir endeten alle lachend in einer chaotischen Umarmung, bei der wir zu Boden gegangen wären, wenn nicht Rhys, Bridgets Verlobter, und Bodyguard Booth uns festgehalten hätten. »Ich dachte, du schaffst es nicht!«
»Mein Sekretär hat eine Veranstaltung in der Botschaft gefunden, die zufällig dieses Wochenende meine Anwesenheit erfordert.« Bridgets blaue Augen glänzten schelmisch. »Das Treffen mit dem Botschafter hat lange gedauert, sonst wäre ich schon früher hier gewesen.« Sie umarmte Ava, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätzchen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist.« Ava drückte sie. »Du bist bestimmt sehr beschäftigt …«
Bridget von Ascheberg hatte vielleicht die Thayer University zusammen mit uns besucht, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon, denn sie war eine echte Königin.
Sie war Prinzessin gewesen, als wir sie kennengelernt hatten, aber nachdem ihr älterer Bruder verzichtet hatte, rückte Bridget als Thronfolgerin von Eldorra, einem kleinen europäischen Königreich, nach. Ihr Großvater, der frühere König Edvard, hatte kürzlich aus gesundheitlichen Gründen abgedankt, und Bridget war vor zwei Monaten zur Königin gekrönt worden.
»Ich wollte das hier auf keinen Fall verpassen. Außerdem kann ich so endlich mal eine Pause machen.« Bridget strich sich eine goldene Strähne aus dem Gesicht. Mit ihren blauen Augen, den klassischen Zügen und der kühlen Eleganz hatte sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit Grace Kelly. »Das Parlament macht Probleme. Schon wieder.«
»Ich habe sie gerade noch rechtzeitig aus dem Palast herausgebracht, sonst hätte sie einen Schlaganfall bekommen«, fügte Rhys hinzu, und sein spöttischer Tonfall stand im Widerspruch zu der Zuneigung in seinen Augen, als er Bridget anblickte.
Mit seinen tätowierten, muskulösen Einsachtundneunzig war Rhys Larsen einer der gefährlich bestaussehenden Männer, denen ich je begegnet war, doch unter seiner rauen Oberfläche hatte er ein Herz aus Gold. Er war Bridgets Bodyguard gewesen, bis sie sich verliebt hatten, und jetzt war er der zukünftige Prinzgemahl, da in Eldorra der Titel Königsgemahl nicht existierte. Sie mussten eine Menge Hindernisse überwinden, um zusammenzubleiben, wenn man bedachte, dass sie adlig war und er nicht, aber sie waren inzwischen eines der beliebtesten Paare in der Welt.
Das laute Klicken einer Kamera unterbrach unsere Versammlung, und plötzlich wurde mir bewusst, dass wir ja nicht allein waren. Die restlichen Gäste starrten Bridget und Rhys mit offenen Mündern an.
Dass auf einer Geburtstagsparty ohne Vorwarnung eine Königin hereinschneite, war ein kleiner Schock.
Niemand trat zu uns, bis auf Josh, der Bridget mit einer Umarmung begrüßte und Rhys mit einem Händedruck, wie ihn richtige Kerle mochten. Booth und Rhys sahen wahrscheinlich einschüchternd genug aus, um die Leute fernzuhalten.
Bridget hakte sich bei Ava unter und trat zum nächsten Tisch. »Also, erzähl, was habe ich verpasst?«
In der nächsten halben Stunde brachten wir uns gegenseitig auf den aktuellen Stand, während Josh an die Bar ging und Alex und Rhys schweigend auf der anderen Seite des Tisches saßen. Sie sagten zwischendurch etwas zueinander, betrachteten aber ansonsten mit verknallten Mienen Ava und Bridget. Nun, so verknallt wie der kalte Alex und der schroffe Rhys eben dreinschauen konnten.
Ich ignorierte den Stich, den mir ihre nicht zu übersehende Liebe für meine Freundinnen versetzte, und konzentrierte mich wieder auf das Gespräch.
Ich hatte die Liebe vor langer Zeit aufgegeben. Es brachte nichts, sich danach zu sehnen.
»Jules und ich suchen nach einer neuen Wohnung, weil unser Mietvertrag demnächst ausläuft«, sagte Stella. Wir wohnten noch immer in Hazelburg, weil ich auf die Thayer Law ging, aber unser Vertrag endete im April, und ich machte Ende Mai meinen Abschluss. Danach würden wir beide in der Stadt arbeiten, weshalb es sinnvoll wäre, nach Washington zu ziehen. »Bisher hatten wir aber noch kein Glück.«
Alles, was wir gefunden hatten, war entweder zu weit von unseren Büros entfernt oder zu teuer oder zu heruntergekommen. Ich war mir ziemlich sicher, dass eine der Wohnungen, die wir uns angesehen hatten, eine Drogenhöhle gewesen war.
Man musste Wohnungssuche in der Stadt lieben.
»Wo wollt ihr denn hinziehen?«, fragte Rhys.
»Idealerweise ins Stadtzentrum, irgendwo in der Nähe der Red Line«, sagte ich. Mit der Red Line kam ich direkt zur Thayer, und je weniger Metrofahrten ich erdulden musste, desto besser.
Er dachte nach. »Ich kenne jemanden, dem ein Wohnhaus im Stadtzentrum gehört. Vielleicht kann er behilflich sein. Ich weiß nicht, ob er was frei hat, aber ich werde ihn fragen.«
Stellas Brauen schnellten nach oben. »Ihm gehört das ganze Gebäude?«
Rhys zuckte mit den Achseln. Seine Schultern waren so breit, dass die Bewegung an ein Bergbeben erinnerte. »Er ist im Immobiliengeschäft.«
»Das wäre toll.« Ich blickte Alex vielsagend an. »Wenigstens kann uns irgendjemand im Immobiliengeschäft helfen.«
Alex war CEO der Archer Group, des größten Immobilienentwicklers des Landes.
Es war ein Scherz, dass er uns helfen sollte, aber er ließ das nicht so stehen. »Meine Häuser sind voll, außer ihr wollt in einem Einkaufszentrum oder einem Bürogebäude hausen.«
»Hmm.« Ich tippte mit dem Finger an mein Kinn. »Das Einkaufszentrum hat Potenzial. Ich liebe Klamotten.«
»Ich auch«, stimmte Stella zu.
Alex war nicht amüsiert.
»Wo wir von Immobilienentwicklung sprechen …«, sagte Ava, als Josh mit einem Drink in der Hand wiederauftauchte. Er ließ sich neben Alex auf den leeren Platz sinken und bemühte sich darum, seinen ehemals besten Freund nicht anzuschauen. »Einer von Alex’ Geschäftspartnern hat ein neues Skiresort in Vermont, und wir haben Tickets für das Grand Opening gekauft, um ihn zu unterstützen. Vier Tickets, um genau zu sein, also können wir noch zwei Leute mitbringen. Bridget und Rhys, ich weiß, dass ihr nicht hier sein werdet, und Stella, du hast gesagt, du hättest ein großes Event in New York am letzten Märzwochenende …«
Stella wurde wegen ihres Blogs stets zu tollen Modeevents eingeladen, und wenn sie es nicht schaffte, und Bridget und Rhys auch nicht, dann blieben …
Oh nein.
»Josh, Jules, was meint ihr? Wir können zusammen hinfahren.« Ava strahlte. »Es wird bestimmt total spaßig!«
Ein Wochenendausflug mit Josh? Eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung wäre bestimmt spaßiger, aber Ava sah so begeistert aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, Nein zu sagen, schon gar nicht an ihrem Geburtstag.
»Juhu.« Ich versuchte so viel Begeisterung zu zeigen wie möglich. »Ich kann es gar nicht erwarten.«
»Ich käme ja gerne mit, aber …« Josh zog eine Grimasse und scheiterte kläglich bei dem Versuch, Bedauern zu zeigen. »Ich arbeite an dem Wochenende.«
Gott sei Dank. Ich kam damit klar, das fünfte Rad am Wagen zu sein, wenn es nur bedeutete, ich müsste nicht …
»Wie schade.« Ava zuckte nicht mit der Wimper angesichts der Antwort ihres Bruders. »Das Resort hat einen Triple Black Diamond.«
Josh hielt mit dem Glas auf halbem Weg zu seinem Mund inne. »Du verarschst mich doch.«
Mir sank der Magen in die Kniekehlen. Josh war ein berüchtigter Adrenalinjunkie, und es gab wenig, was die Adrenalinproduktion mehr ankurbelte als die gefährlichsten Skiabfahrten der Welt. Es war, als wedelte man einem Kokain-Junkie mit erstklassigem Pulver vor der Nase herum.
»Nein.« Ava nippte an ihrem Drink, während Stella auf ihr Telefon starrte und ein Grinsen nur mit Mühe unterdrücken konnte und Rhys und Bridget amüsierte Blicke tauschten. Alex war der Einzige, der keine sichtbare Reaktion zeigte. »Ich weiß, dass du schon immer mal eine solche Abfahrt machen wolltest, aber wenn du arbeiten musst …«
»Ich denke, ich kann die Schicht tauschen«, sagte Josh nach einer langen Pause.