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Sie ist die Frau, die er nie wollte - und seine größte Schwäche
Dante Russo kontrolliert sowohl sein Unternehmen als auch sein Privatleben mit äußerster Sorgfalt. Für die Liebe hat der milliardenschwere Geschäftsmann keine Zeit. Doch dann zwingt ihn eine dreiste Erpressung dazu, sich mit einer Frau zu verloben, die er kaum kennt: Vivian Lau, Erbin eines Juwelenimperiums und Tochter seines größten Rivalen. Aus Pflichtgefühl ihrer Familie gegenüber erklärt sich Vivian einverstanden, auch wenn der arrogante CEO ganz gewiss nicht der Mann ihrer Träume ist. Was beide nicht haben kommen sehen, ist die ungeheure Anziehungskraft zwischen ihnen. Aber wie kann ihre Beziehung eine Chance haben, wenn Dante Vivians Familie zerstören will?
»Was für eine fantastische Geschichte! Eine Arranged-Marriage-Romance voller Prickeln und Leidenschaft!« THE ESCAPIST BOOK BLOG
Band 1 der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Ana Huang
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Seitenzahl: 589
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Ana Huang bei LYX
Impressum
ANA HUANG
KING OF WRATH
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Nichts hasst der milliardenschwere CEO des Luxusgüterimperiums Russo Group mehr als Überraschungen. Dante Russo kontrolliert sowohl sein Unternehmen als auch sein Privatleben mit äußerster Sorgfalt. Liebe oder gar eine Ehefrau kommen in seinen Plänen nicht vor, machen sie alles nur komplizierter. Doch dann zwingt ihn eine dreiste Erpressung dazu, sich mit einer Frau zu verloben, die er kaum kennt. Denn durch einen unglücklichen Zufall ist es Francis Lau gelungen, kompromittierendes Fotomaterial von Dantes Bruder zu besorgen, das diesen das Leben kosten könnte. Durch eine Verbindung zu Dante hofft der Juwelenhändler, seinen gesellschaftlichen Stand zu verbessern. Zähneknirschend lässt sich Dante daher auf eine Verlobung mit Laus Tochter Vivian ein – mit dem Ziel, die Bilder zu finden und seinen Erpresser zu vernichten. Vivian, die nichts von den Machenschaften ihres Vaters ahnt und sich ihrer Familie verpflichtet fühlt, stimmt der Verbindung zu, auch wenn der arrogante CEO ganz bestimmt nicht der Mann ihrer Träume ist. Aber je besser sie Dante kennenlernt und er ihr die Seiten zeigt, die er vor der Welt verbirgt, umso stärker werden ihre Gefühle – und schon bald entsteht aus der erzwungenen Nähe echte Liebe. Doch wird Dante seine Rache opfern, um Vivian nicht zu verlieren?
Kämpft um die Menschen, die ihr liebt – auch um euch selbst
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
»Empire State of Mind« – Jay-Z feat. Alicia Keys
»Luxurious« – Gwen Stefani
»Red« – Taylor Swift
»Teeth« – 5 Seconds of Summer
»Partition« – Beyoncé
»Pretty Boy« – Cavale
»All Mine« – PLAZA
»Can’t Help Falling in Love« – Elvis Presley
»We Found Love« – Rihanna
»Counting Stars« – One Republic
»The Heart Wants What It Wants« – Selena Gomez
»Stay« – Rihanna
»Ich kann nicht glauben, dass er hier ist. Er erscheint sonst nie zu solchen Veranstaltungen – es sei denn, jemand aus seinem Freundeskreis ist der Gastgeber.«
»Hast du mitgekriegt, dass er Arno Reinhart von seinem Platz auf der Forbes-Liste der Milliardäre verdrängt hat? Der arme Arnie war einem Nervenzusammenbruch nahe, als er beim Dinner im Jean-Georges davon erfuhr.«
Das Getuschel setzte ein, als die jährliche Benefizgala des Frederick Wildlife Trust zugunsten vom Aussterben bedrohter Tiere bereits in vollem Gang war.
Dieses Mal stand offiziell der kleine, sandfarbene Gelbfuß-Regenpfeifer im Mittelpunkt der Spendenaktion, nichtsdestotrotz kreisten die Gespräche der zweihundert Gäste keineswegs um das Wohl des Vogels, während sie sich an Veuve Clicquot und Kaviar-Cannoli gütlich taten.
»Man erzählt sich, dass die Villa seiner Familie am Comer See gerade für einhundert Millionen Dollar renoviert wird. Das Anwesen ist jahrhundertealt, darum war es vermutlich an der Zeit …«
Das Geraune schwoll an, begleitet von verstohlenen Blicken und hier und da einem sehnsuchtsvollen Seufzer.
Ich drehte mich nicht um, um herauszufinden, wer die normalerweise stoisch unterkühlten Mitglieder der High Society von Manhattan derartig in Aufregung versetzte. Es war mir ziemlich egal. Meine ganze Aufmerksamkeit galt einer bestimmten Kaufhauserbin, die gerade auf turmhohen Stilettos zu dem Tisch mit den personalisierten Präsenttaschen stöckelte. Sie schaute sich hastig um, schnappte sich ein Exemplar und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden.
Sowie sie das Weite gesucht hatte, murmelte ich in mein Headset: »Shannon, Code Pink! Stell fest, wessen Goodie Bag sie hat mitgehen lassen, und sorge für Ersatz.«
An diesem Abend enthielt jede der Taschen Gastgeschenke im Wert von über achttausend Dollar, allerdings war es einfacher, den Verlust über das Veranstaltungsbudget auszugleichen, als die Denman-Erbin zur Rede zu stellen.
Meine Assistentin stöhnte genervt auf. »Tilly Denman? Schon wieder? Sie ist doch vermögend genug, um den ganzen Tisch leerzukaufen und hinterher immer noch millionenschwer zu sein.«
»Stimmt, nur geht es ihr nicht ums Geld, sondern um den Nervenkitzel. Jetzt flitz los, und besorg eine neue Goodie Bag. Als Ausgleich für den enormen Arbeitsaufwand, der damit verbunden ist, werde ich dich morgen mit einer Schachtel Cupcakes von der Magnolia Bakery entschädigen. Und finde um Himmels willen heraus, wo Penelope steckt. Sie sollte längst auf ihrem Posten am Präsenttisch sein.«
»Haha«, kommentierte Shannon meinen kleinen ironischen Seitenhieb. »Na schön. Ich kümmere mich um eine Ersatztasche und Penelope, aber dafür erwarte ich morgen eine Riesenschachtel Cupcakes.«
Ich schüttelte lachend den Kopf und beendete die Verbindung.
Während Shannon sich des Problems annahm, wanderte ich im Raum umher und hielt Ausschau nach weiteren Brandherden, egal, ob groß oder klein.
Zu Beginn meiner Karriere als Planerin von Luxusevents im Raum Manhattan fühlte es sich komisch an, nicht länger selber als Gast bei diesen Veranstaltungen dabei zu sein, doch im Lauf der Jahre hatte ich mich daran gewöhnt. Zumal mir mein Einkommen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von meinen Eltern ermöglichte.
Dieses Geld war nicht Teil meines Treuhandfonds oder Erbes, sondern redlich verdient.
Ich liebte die Herausforderung, prachtvolle Events aus dem Nichts zu gestalten, und reiche Leute liebten prachtvolle Dinge. Somit profitierten beide Seiten.
Ich prüfte gerade ein weiteres Mal die Soundeinstellungen für die Hauptrede, die später am Abend auf dem Programm stand, als Shannon auf mich zugelaufen kam. »Vivian! Du hast kein Wort davon gesagt, dass er hier sein würde!«
»Wer denn?«
»Dante Russo.«
Jeder Gedanke an Goodie Bags oder Soundchecks verflüchtigte sich schlagartig.
Ich starrte Shannon an und bemerkte ihre leuchtenden Augen, die geröteten Wangen.
»Dante Russo?« Aus unerfindlichen Gründen schlug mir das Herz bis zum Hals. »Aber er hat noch nicht mal auf die Einladung reagiert.«
»Tja, in seinem Fall gelten die Um-Antwort-wird-gebeten-Regeln wohl nicht.« Sie vibrierte förmlich vor Aufregung. »Nicht zu fassen, dass er gekommen ist. Die Leute werden wochenlang darüber reden.«
Auf einmal machte das Getuschel von vorhin Sinn.
Dante Russo, der rätselhafte CEO des Luxusgüterkonzerns Russo Group, ließ sich selten bei gesellschaftlichen Anlässen blicken, die nicht von ihm selbst, jemandem aus seinem engsten Freundeskreis oder einem wichtigen Geschäftspartner ausgerichtet wurden – nichts davon traf auf die Benefizgala des Frederick Wildlife Trust zu.
Darüber hinaus zählte er zu den reichsten und somit meistbeachteten Männern in New York.
Shannon hatte recht. Sein Auftauchen würde wochen-, wenn nicht sogar monatelang für Gesprächsstoff sorgen.
»Gut so«, erwiderte ich und versuchte, mein stürmisch klopfendes Herz im Zaum zu halten. »Vielleicht wird dadurch mehr Aufmerksamkeit auf den Gelbfuß-Regenpfeifer gelenkt.«
Sie verdrehte die Augen. »Ach, Vivian, niemand interessiert sich ernsthaft …« Sie verstummte und schaute sich um, ehe sie mit gesenkter Stimme weitersprach: »… für diese Vögel. Natürlich ist es traurig, dass sie vom Aussterben bedroht sind, aber machen wir uns nichts vor. All diese Menschen sind nur hier, um zu sehen und gesehen zu werden.«
Auch der Punkt ging an sie. Aber ganz gleich, aus welchem Grund die Leute gekommen waren, sie spendeten Geld für den guten Zweck, und solche Veranstaltungen hielten mein Geschäft am Laufen.
»Das eigentliche Thema dieses Abends ist, wie umwerfend Dante aussieht«, fuhr Shannon fort. »Ich kenne keinen Mann, dem ein Smoking besser steht als ihm.«
»Du bist in festen Händen, Shan.«
»Und wenn schon. Wir dürfen uns an der Schönheit anderer erfreuen.«
»Ich denke, du hast dich jetzt genug erfreut. Wir sind zum Arbeiten hier, nicht, um die Gäste anzuschmachten.« Ich schob sie sanft Richtung Dessertbüfett. »Könntest du bitte die Wiener Törtchen auffüllen? Sie werden allmählich knapp.«
»Spielverderberin«, murrte sie, bevor sie tat, worum ich sie gebeten hatte.
Ich versuchte, mich wieder auf den Soundcheck zu konzentrieren, konnte dabei aber nicht widerstehen, nach dem Überraschungsgast des Abends Ausschau zu halten. Mein Blick streifte den DJ und die 3-D-Darstellung des Gelbfuß-Regenpfeifers, bevor er schließlich bei der Menschenmenge nahe dem Eingang landete.
Die Leute standen so dicht beieinander, dass ich nicht über den äußeren Rand der Menge hinwegspähen konnte, trotzdem hätte ich mein gesamtes Bankkonto darauf verwettet, dass sie Dante Russo umringten.
Meine Ahnung bestätigte sich, als sich die Menge für einen Moment lichtete und den Blick auf dunkle Haare und breite Schultern freigab.
Mir rieselte ein warmer Schauer über den Rücken.
Dante und ich bewegten uns in denselben gesellschaftlichen Kreisen, hatten jedoch nie Bekanntschaft geschlossen. Nach allem, was ich über seinen Ruf wusste, wollte ich es auch lieber dabei belassen.
Trotzdem ging von ihm eine Anziehung aus, die ich durch den Raum hinweg spüren konnte.
Das beharrliche Summen meines Handys vertrieb das Kribbeln auf meiner Haut und lenkte meine Aufmerksamkeit weg von Dante und seinem Fanclub. Mein Magen rutschte mir in die Kniekehlen, als ich das Handy aus meiner Handtasche fischte und sah, wer mich zu erreichen versuchte.
Eigentlich sollte ich während der Arbeit keine privaten Telefonate führen, aber einen Anruf von Francis Lau drückte man nicht einfach weg.
Ich vergewisserte mich, dass nicht irgendein Notfall meine unmittelbare Aufmerksamkeit erforderte, und stahl mich auf die nächstgelegene Toilette.
»Hallo, Vater.« Nach fast zwanzig Jahren Übung ging mir die förmliche Begrüßung leicht von der Zunge.
Früher hatte ich ihn Dad genannt, doch seit sich Lau Jewels auf Erfolgskurs befand und wir aus unserer beengten Dreizimmerwohnung in eine Villa in Beacon Hill gezogen waren, hatte er darauf bestanden, dass ich ihn stattdessen mit Vater ansprach. Angeblich hörte sich das »gehobener« und mehr nach Oberschicht an.
»Wo bist du?«, grollte seine tiefe Stimme durch die Leitung. »Warum hallt das so bei dir?«
»Bei der Arbeit. Ich hab mich auf eine Toilette verzogen, um deinen Anruf anzunehmen.« Ich lehnte mich mit der Hüfte gegen den Waschtisch und fühlte mich bemüßigt hinzuzufügen: »Es ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung für den vom Aussterben bedrohten Gelbfuß-Regenpfeifer.«
Sein schwerer Seufzer brachte mich zum Lächeln. Mein Vater hatte nur wenig Verständnis für die obskuren Gründe, die die Leute als Rechtfertigung vorschoben, um Partys zu feiern. Was ihn nicht davon abhielt, auf solchen Events zu erscheinen. Einfach nur, weil es sich gehörte.
»Tag für Tag erfahre ich von einer weiteren gefährdeten Spezies«, brummte er. »Deine Mutter sitzt in einem Spendenausschuss für irgendeine Fischart. Als würden wir nicht jede Woche Meerestiere essen.«
Meine Mutter Cecelia, eine ehemalige Kosmetikerin, war heutzutage hauptberuflich eine Dame der Gesellschaft und Mitglied von Wohltätigkeitskomitees.
»Da du gerade bei der Arbeit bist, werde ich mich kurzfassen«, fuhr er fort. »Sei so gut, und komm am Freitag zum Abendessen. Wir haben wichtige Neuigkeiten.«
Es war keine Bitte, daran änderte auch die Formulierung nichts.
Mein Lächeln schwand. »Diesen Freitag?« Heute war Dienstag, und meine Eltern lebten in Boston.
Selbst nach ihren Maßstäben war das wenig Vorlauf.
»Ja.« Mehr sagte mein Vater dazu nicht. »Punkt sieben wird gegessen. Sei bitte pünktlich.«
Er legte auf.
Ich presste das Handy noch einen Herzschlag länger an mein Ohr, bevor ich es sinken ließ. Beinahe wäre es meiner feuchten Hand entglitten, doch es gelang mir, es unversehrt in meiner Tasche zu verstauen.
Witzig, wie ein einziger Satz mich in eine Spirale dunkler Vorahnung versetzte.
Wir haben wichtige Neuigkeiten.
Hatte es mit der Firma zu tun? War jemand krank oder dem Tode nahe? Planten meine Eltern, ihr Haus zu verkaufen und nach New York zu ziehen, wie sie es einmal angedroht hatten?
Meine Gedanken rasten durch ein Labyrinth aus tausend Fragen und Möglichkeiten.
Eine Antwort fand ich nicht, aber eines wusste ich mit Gewissheit: Kurzfristig zu den Laus einbestellt zu werden, verhieß nie etwas Gutes.
Das Wohnzimmer meiner Eltern sah aus wie eine Doppelseite im Architectural Digest. Plüschige Sofas gruppierten sich in rechten Winkeln um Tische mit Holzschnitzereien. Teegeschirre aus feinstem Porzellan konkurrierten mit kostbarem Nippes um die besten Plätze. Selbst die Luft roch kalt und unpersönlich wie aus einem teuren Raumdiffusor.
Manche Menschen hatten ein Zuhause – Francis und Cecelia Lau lebten in einem Ausstellungsraum.
»Deine Haut wirkt fahl.« Meine Mutter musterte mich mit skeptischer Miene. »Du gehst doch noch jeden Monat zur Kosmetik?«
Sie saß mir gegenüber, ihr eigener Teint schimmernd wie Perlmutt.
»Ja, Mutter.« Mir taten die Wangen weh von meinem betont höflichen Lächeln.
Ich hatte das Heim meiner Kindheit vor gerade mal zehn Minuten betreten und seitdem bereits Kritik für meine Frisur (zu unordentlich), meine Fingernägel (zu lang) und jetzt für meine Gesichtshaut geerntet.
Ein typischer Abend bei den Laus.
»Gut. Du musst auf dich achten, vergiss das nicht«, ermahnte sie mich. »Noch bist du nicht verheiratet.«
Ich unterdrückte einen Seufzer. Jetzt geht das wieder los.
Trotz meiner steilen Karriere in Manhattan, wo der Wettbewerb unter den Eventplanern mörderischer war als der Musterverkauf eines Designerlabels, waren meine Eltern vollkommen darauf fixiert, dass ich keinen festen Freund und somit keine Heiratsaussichten hatte.
Sie tolerierten meine Arbeit, weil es für Erbinnen nicht mehr zeitgemäß war, sich dem süßen Nichtstun hinzugeben, aber sie verzehrten sich nach einem Schwiegersohn, der ihnen dabei helfen konnte, im alten Geldadel Fuß zu fassen.
Wir waren reich, würden jedoch trotzdem nie zu diesem Kreis zählen. Jedenfalls nicht in dieser Generation.
»Ich bin immer noch jung«, argumentierte ich geduldig. »Mir bleibt jede Menge Zeit, um jemanden kennenzulernen.«
Ich war erst achtundzwanzig, aber meine Eltern taten so, als würde ich mich in eine schrumpelige Greisin verwandeln, sobald an meinem dreißigsten Geburtstag die Uhr Mitternacht schlug.
»Du bist fast dreißig«, gab sie zurück. »Du wirst nicht jünger und musst endlich anfangen, an die Familienplanung zu denken. Je länger du wartest, desto kleiner wird die Auswahl an geeigneten Heiratskandidaten.«
»Ich denke ja daran.« Vielmehr denke ich an das eine Jahr Freiheit, das mir noch bleibt, bis ich gezwungen sein werde, irgendeinen Banker mit einer Ziffer hinter dem Nachnamen zu ehelichen. »Und was das Jüngerwerden angeht – wofür gibt es Botox und Schönheitsoperationen?«
Wäre meine Schwester hier, sie hätte gelacht. Doch das war sie nicht, deshalb fand mein Witz wenig Beifall.
Der Mund meiner Mutter verzog sich zu einem Strich.
Zwischen den buschigen, grau melierten Brauen meines Vaters, der neben ihr saß, erschien eine strenge Falte.
Francis Lau – sechzig Jahre, agil und topfit – war optisch der Inbegriff eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Im Laufe dreier Jahrzehnte hatte er aus dem ehemals kleinen, familiengeführten Unternehmen Lau Jewels einen multinationalen Konzern gemacht, und ein stummer Blick von ihm genügte, um mich kleinlaut in die Sofakissen zurücksinken zu lassen.
»Jedes Mal, wenn wir das Thema Heirat anschneiden, machst du einen Witz darüber.« Seine Stimme troff vor Missbilligung. »Aber die Ehe ist kein Witz, Vivian. In unserer Familie ist das eine bedeutsame Angelegenheit. Sieh dir deine Schwester an. Dank ihr sind wir heute mit dem Königshaus von Eldorra verwandt.«
Ich biss mir so fest auf die Zunge, dass ich Blut schmeckte.
Meine Schwester hatte einen eldorrischen Grafen geheiratet, der ein Großcousin zweiten Grades der Königin war. Unsere »Verwandtschaft« mit der royalen Familie des kleinen europäischen Königreichs war ziemlich weit hergeholt, doch aus Sicht meines Vaters zählte einzig und allein der Adelstitel.
»Ich weiß, dass eine Ehe kein Witz ist.« Ich griff nach meiner Teetasse, um meine Hände zu beschäftigen. »Nur gibt es keinen Grund, mir geradejetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich verabrede mich mit Männern und erkunde meine Optionen. Es gibt reichlich Singles in New York. Ich muss nur dem richtigen begegnen.«
Das große Aber erwähnte ich dabei nicht – nämlich, dass das Angebot an alleinstehenden, heterosexuellen Männern, die keine unzuverlässigen Idioten mit verstörend exzentrischen Macken waren, sich wesentlich übersichtlicher gestaltete.
Der letzte Typ hatte versucht, mich zu einer Séance zu schleifen, um Kontakt mit seiner toten Mutter aufzunehmen, damit sie mich »kennenlernen und uns ihren Segen geben« könne. Es versteht sich von selbst, dass ich ihn nie wieder getroffen habe.
Doch das musste ich Francis und Cecelia nicht auf die Nase binden. Nach ihrem Kenntnisstand ging ich am laufenden Band mit attraktiven Sprösslingen reicher Eltern aus.
»Wir haben dir die letzten zwei Jahre und somit genug Zeit gegeben, einen passenden Partner zu finden.« Mein Vater ließ meine Ausflüchte an sich abprallen. »Du hattest seit deiner letzten … Beziehung nicht einen einzigen festen Freund. Es ist offensichtlich, dass du der Angelegenheit nicht dieselbe Brisanz beimisst wie wir, darum bin ich nun selbst aktiv geworden.«
Die Hand, in der ich meine Teetasse hielt, verharrte auf halbem Weg zum Mund. »Was meinst du damit?«
Ich hatte angenommen, die wichtige Neuigkeit, die er mir mitteilen wollte, beträfe meine Schwester oder die Firma. Aber was, wenn …
Mir gefror das Blut in den Adern.
Nein. Ausgeschlossen.
»Ich habe den perfekten Fang für dich gemacht. Das meine ich damit.« Mein Vater ließ die Bombe ohne Vorwarnung oder sichtbare Gefühlsregung platzen. »Dieses Arrangement hat mich etliche Mühen gekostet, aber inzwischen ist es beschlossene Sache.«
Ich habe den perfekten Fang für dich gemacht.
Die Bedeutung seiner Worte detonierte wie eine Granate in meiner Brust, und ich behielt nur mit Mühe äußerlich die Fassung.
Meine Tasse landete klappernd auf dem Unterteller, was mir einen tadelnden Blick von meiner Mutter eintrug. Nur war ich viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, als dass mich ihre Missbilligung gekümmert hätte.
In unserer Welt der Big Players und Machtstrategen waren arrangierte Ehen gang und gäbe, vorteilhafte Allianzen wichtiger als Liebesverbindungen. Meine Eltern hatten meine Schwester wegen seines Titels an einen Adligen verheiratet, und mir war immer klar gewesen, dass mich ein ähnliches Schicksal erwartete. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass es mich schon so bald treffen würde.
Ein bitterer Cocktail aus Schock, Furcht und Entsetzen rann mir die Kehle hinab.
Man erwartete von mir, einen Vertrag auf Lebenszeit einzugehen, dessen Zustandekommen meinen Vater »etliche Mühen gekostet« hatte.
Genau das, was jede Frau gern hört.
»Wir haben dir schon viel zu viel Zeit zugestanden, und diese Verbindung wird uns erheblichen Nutzen bringen«, fuhr er fort. »Bestimmt wirst du dem zustimmen, wenn du deinen Zukünftigen beim Abendessen kennenlernst.«
Der Cocktail verwandelte sich in Säure und verätzte meine Eingeweide.
»Beim Abendessen? Etwa heute?« Meine Stimme klang merkwürdig fremd und wie aus weiter Ferne, so als würde ich sie in einem Albtraum hören. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
Mit der Nachricht einer arrangierten Ehe überrumpelt zu werden, war schlimm genug. Meinen Verlobten in spe ohne jede Vorbereitung treffen zu müssen, schlug dem Fass den Boden aus.
Kein Wunder, dass Cecelia mir gegenüber noch kritischer war als sonst. Sie erwartete ihren zukünftigen Schwiegersohn zum Essen.
Mein Magen rebelliert, und es bestand die durchaus reelle Chance, dass ich mich in den nächsten Sekunden auf Mutters kostbaren Perserteppich übergeben würde.
Das alles passierte viel zu schnell. Erst die Bitte um mein Erscheinen, dann die Nachricht von meiner bevorstehenden Heirat und jetzt auch noch diese unerwartete Begegnung. Mir schwirrte der Kopf von dem Versuch, das Ganze auf die Reihe zu kriegen.
»Aufgrund terminlicher Komplikationen hat er erst heute zugesagt.« Mein Vater strich mit der Hand über sein Hemd. »Irgendwann musst du ihn kennenlernen. Es ist doch einerlei, ob heute, in einer Woche oder in einem Monat.«
Tatsächlichistdasnichteinerlei.EsisteinhimmelweiterUnterschied,obichmichmentalaufdiesesTreffenvorbereitenkann,oderobmanmirmeinenVerlobtenohnevorherigeAnkündigungpräsentiert.
Ich behielt meine Meinung für mich und unterdrückte meinen Zorn.
Widerworte zu geben, war im Lau’schen Haushalt strikt verboten. Sogar als Erwachsene hatte ich mich an die Regeln zu halten, bei Ungehorsam ließen Standpauken und Strafen nicht lange auf sich warten.
»Wir möchten die Sache so schnell wie möglich vorantreiben«, brachte meine Mutter sich ein. »Es braucht Zeit, um eine Hochzeit mit allem, was dazugehört, vorzubereiten, und dein Verlobter ist, nun ja, speziell, was die Details angeht.«
Witzig, dass sie ihn schon jetzt als meinen Verlobten bezeichnete, obwohl ich dem Mann noch nie begegnet war.
»Die Mode de Vie nannte ihn letztes Jahr einen der begehrtesten Junggesellen unter vierzig weltweit – wohlhabend, gut aussehend, einflussreich. Dein Vater hat sich wirklich selbst übertroffen.« Sie tätschelte mit strahlendem Gesicht seinen Arm.
So beschwingt hatte ich sie nicht mehr erlebt, seit sie vergangenes Jahr einen Sitz im Planungskomitee für die Boston Society Wine Auction ergattert hatte.
»Das klingt … toll.« Meine Lippen zitterten vor Anstrengung weiterzulächeln.
Wenigstens würde mein Zukünftiger vermutlich noch alle seine Zähne haben. Meinen Eltern war absolut zuzutrauen, dass sie mich an einen milliardenschweren, mit dem Tode ringenden Greis verkuppelten.
Geld und Status kamen an erster Stelle, alles andere war zweitrangig.
Ich atmete tief durch und beschwor meine Gedanken, nicht ausgerechnet diese Richtung einzuschlagen.
Reiß dich zusammen, Viv.
Egal, wie bestürzt ich über diesen Überfall war, ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, sondern musste erst einmal den Abend überstehen. Nein zu der Verbindung zu sagen, war keine Option, wenn ich nicht enterbt werden wollte.
Und ich konnte auch deshalb keine Szene machen, weil mein zukünftiger Ehemann – wieder drehte sich mir der Magen um – jeden Moment eintreffen würde.
Ich fuhr mit der Hand über meinen Schenkel. Mir war schwindlig, aber ich verbarg jede Gefühlsregung hinter meiner Maske, die ich zu Hause immer aufsetzte. Ruhig. Beherrscht. Schicklich.
»Nun denn.« Ich schluckte die aufsteigende Galle hinunter und schlug einen gleichmütigen Ton an. »Hat Mr Right auch einen Namen, oder ist er nur unter seinem Nettovermögen bekannt?«
Ich erinnerte mich nicht an sämtliche Junggesellen auf der Mode-de-Vie-Liste, aber die, deren Bilder in mir aufstiegen, flößten mir nicht viel Zuversicht ein. Sollte er …
»Für Fremde gilt Letzteres. Der Name ist ausgewählten Freunden und Familienmitgliedern vorbehalten.«
Der unerwartete Klang der tiefen Stimme hinter mir ließ mich erstarren. Sie war so nah, dass ich ihre Vibration in meinem Nacken spürte. Sinnlich und mit einem feinen italienischen Akzent, strich sie wie warmer Honig über meine Haut und brachte meine Nerven zum Knistern.
Ein heißer Schauer lief über meinen Körper.
»Ah, da sind Sie ja.« Mein Vater stand mit einem eigentümlich triumphalen Glitzern in den Augen auf, das mich misstrauisch machte. »Schön, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten.«
»Wie könnte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen, Ihre reizende Tochter kennenzulernen?«
Der Anflug von Spott, der in dem Wort reizend mitschwang, spülte wie ein kalter Guss jegliche Anziehung fort, die seine Stimme unerklärlicherweise im ersten Moment auf mich ausgeübt hatte.
Eiswasser löschte das Feuer in meinen Adern augenblicklich.
So viel zu Mr Right.
Was Menschen betraf, hatte ich gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören, und in diesem Moment war mir klar, dass der Besitzer dieser Stimme in etwa so begeistert über dieses Abendessen war wie ich.
»Bitte begrüße unseren Gast, Vivian.« Das Lächeln meiner Mutter war so breit, dass es ihr Gesicht zu spalten drohte.
Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie die Hand an die Wange gelegt und geseufzt hätte wie ein verliebtes Schulmädchen.
Ich verbannte das verstörende Bild aus meinem Kopf und reckte entschlossen das Kinn vor.
Dann stand ich auf.
Drehte mich um.
Und sämtliche Luft entwich aus meiner Lunge.
Dichtes schwarzes Haar. Olivfarbene Haut. Eine leicht schiefe Nase, die seinen rauen, maskulinen Charme jedoch eher unterstrich, als beeinträchtigte.
Mein Bräutigam in spe war die in einen Anzug gegossene Versuchung. Nicht schön im klassischen Sinn, aber ihn umgab eine derart machtvolle, fesselnde Aura, dass er jedes Sauerstoffmolekül im Raum in sich aufzusaugen schien wie ein schwarzes Loch einen neugeborenen Stern.
Es gab attraktive Männer, und es gab ihn.
Und anders als seine Stimme hatte sein Gesicht einen hohen Wiedererkennungswert.
Vor lauter Schreck rutschte mir das Herz in die Hose.
Unmöglich. Auf gar keinen Fall konnte er derjenige sein, der einer arrangierten Ehe mit mir zugestimmt hatte. Es musste sich um einen Scherz handeln.
»Vivian.« Ein leiser Tadel in der Stimme meiner Mutter.
Richtig. Abendessen. Verlobung. Erstes Treffen.
Ich schüttelte die Benommenheit ab und bemühte mich, ein verkrampft freundliches Lächeln aufzusetzen. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Vivian Lau.«
Ich streckte ihm die Hand hin.
Er zögerte kurz, ehe er sie ergriff. Kraftvoll schlossen sich seine warmen Finger um meine und sandten elektrische Schockwellen meinen Arm hinauf.
»Das dachte ich mir schon. So oft, wie Ihre Mutter Ihren Namen nennt«, sagte er in amüsiert gedehntem Tonfall, um die Worte als Witz zu verpacken, doch sein harter Blick verriet, dass es mitnichten einer war. »Dante Russo. Die Freude ist ganz meinerseits.«
Da war er wieder, dieser Spott – subtil, aber beißend.
Dante Russo.
CEO der Russo Group, Platzhirsch auf der Fortune-500-Liste und der Mann, der auf der Wohltätigkeitsgala vor drei Tagen für solchen Tumult gesorgt hatte. Er war nicht einfach irgendein heiratswürdiger Single, sondern der begehrteste Junggeselle überhaupt. Ein scheuer Milliardär, bei dem die Frauen scharenweise vergeblich zu landen versuchten.
Er war sechsunddreißig, bekanntermaßen mit seiner Arbeit verheiratet und hatte bis dato keinen Hinweis darauf geliefert, dass er sein Junggesellenleben aufzugeben gedachte.
Warum sollte also ausgerechnet er einer arrangierten Heirat zustimmen?
»Eigentlich würde ich mich unter meinem Nettovermögen vorstellen«, fügte er hinzu. »Aber in Anbetracht des Grundes für dieses Abendessen wäre es unhöflich, Sie als eine Fremde zu klassifizieren.«
Nicht ein Hauch von Wärme in seinem Lächeln.
Röte stieg mir in die Wangen, als er mir mit seinen Worten in Erinnerung rief, dass er meinen Scherz mitangehört hatte. Er war nicht bösartig gewesen, trotzdem gehörte es sich einfach nicht, über das Vermögen anderer zu reden, auch wenn alle es heimlich taten.
»Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen.« Meine kühle Antwort sollte meine Verlegenheit kaschieren. »Keine Sorge, Mr Russo. Hätte ich Interesse daran, Ihr Nettovermögen zu erfahren, würde ich im Internet recherchieren. Ich bin sicher, die Information findet sich dort – nebst Lobeshymnen auf Ihren legendären Charme.«
Ein Funkeln blitzte in seinen Augen auf, aber er schnappte nicht nach dem Köder.
Stattdessen hielt er meinen Blick noch einen unbehaglichen Moment gefangen, bevor er meine Hand losließ und mich mit ausdrucksloser Miene von oben bis unten musterte.
Die Berührung hatte ein warmes Kribbeln in meinen Fingern hinterlassen, doch wo immer sein Blick mich streifte, spürte ich nur Kälte, die Gleichgültigkeit eines Gottes im Angesicht einer Sterblichen.
Stocksteif ließ ich die Musterung über mich ergehen, wobei ich mir plötzlich meiner von Cecelia Lau gutgeheißenen Aufmachung – Tweedkostüm, Perlenohrringe, halbhohe Pumps – überdeutlich bewusst war. Ich hatte sogar auf meinen geliebten roten Lippenstift verzichtet und um ihretwillen einen neutralen Farbton aufgelegt.
Es war mein Standard-Outfit für Besuche bei meinen Eltern, und dem missbilligenden Zug um Dantes Mund nach zu urteilen, war er davon alles andere als beeindruckt.
Vor Ärger und Verunsicherung krampfte sich mein Magen zusammen, als er seinen unerbittlichen dunklen Blick wieder auf mein Gesicht richtete.
Wir hatten bisher nur ein paar wenige Worte gewechselt, trotzdem wusste ich zwei Dinge mit intuitiver Gewissheit:
Dante und ich würden uns verloben.
Und wir würden uns an die Gurgel gehen, noch ehe wir es bis zum Traualtar schafften.
»Die Hochzeit wird in einem halben Jahr stattfinden«, kündigte Francis an. »Das reicht, um eine ordentliche Feier zu planen, ohne zu viel Zeit zu verlieren. Trotzdem sollten wir die Verlobung unverzüglich öffentlich bekannt geben.«
Sein Lächeln ließ nichts von der hinterhältigen Schlange erahnen, die sich hinter seinem freundlichen Ton und Gesichtsausdruck verbarg.
Sie hatten mich kurz nach meiner Ankunft ins Esszimmer gebeten und das Thema sofort auf die Hochzeitsvorbereitungen gelenkt.
Tiefe Abneigung regte sich in mir. Natürlich wollte er die Welt so bald wie möglich wissen lassen, dass seine Tochter sich einen Russo geangelt hatte.
Männer wie Francis würden alles dafür tun, ihr gesellschaftliches Ansehen zu steigern. So hatte er tatsächlich die Dreistigkeit besessen, mich vor zwei Wochen in meinem Büro aufzusuchen, um mich zu erpressen, kurz nach dem Tod meines Großvaters.
Erneut wallte heiße Wut in mir auf. Wäre es nach mir gegangen, er hätte New York nicht mit heiler Haut verlassen. Bedauerlicherweise waren mir, bildlich gesprochen, die Hände gebunden, darum musste ich gute Miene zum bösen Spiel machen, bis ich einen Weg gefunden hatte, die Fesseln abzustreifen.
Jedenfalls größtenteils.
»Das sehe ich anders.« Ich legte die Finger um den Stiel meines Weinglases und stellte mir vor, es wäre Francis’ Hals in meinem Würgegriff. »Niemand wird glauben, dass ich aus heiterem Himmel so plötzlich heirate, es sei denn, etwas wäre faul«, widersprach ich in gelangweiltem Ton.
Wie zum Beispiel, dass ich deine Tochter geschwängert habe und sie infolgedessen ehelichen muss. Die versteckte Anspielung bewirkte, dass alle nervös auf ihren Stühlen herumrutschten, während ich keine Miene verzog.
Es lag mir nicht im Blut, mich in Zurückhaltung zu üben. Wenn ich jemanden nicht mochte, machte ich das normalerweise unmissverständlich klar. Aber außergewöhnliche Umstände erforderten nun mal außergewöhnliche Maßnahmen.
Francis presste die Lippen zusammen. »Was schlagen Sie also vor?«
»Zwölf Monate sind ein realistischer Zeitrahmen.«
Niemals wäre das Optimum, nur stand das leider nicht zur Debatte. Ein Jahr würde ausreichen. Kurz genug, damit Francis sich darauf einließe, und lange genug, um mir die Chance zu geben, das erpresserische Beweismaterial zu finden und zu vernichten. Hoffentlich.
»Auch mit der Bekanntmachung sollten wir noch warten«, ergänzte ich. »Wenigstens vier Wochen, um eine glaubhafte Geschichte aus dem Hut zu zaubern. Schließlich wurden Ihre Tochter und ich noch nie zusammen in der Öffentlichkeit gesehen.«
»Wir brauchen keinen ganzen Monat, um uns eine Geschichte auszudenken«, blaffte er.
Obwohl arrangierte Ehen in den höheren Kreisen weit verbreitet waren, unternahmen die beteiligten Parteien in der Regel große Anstrengungen, um das wahre Motiv für die Heirat zu verschleiern. Einzuräumen, dass man nur in eine andere Familie einheiratete, um den gesellschaftlichen Aufstieg voranzubringen, wurde als vulgär erachtet.
»Vierzehn Tage«, entschied er. »Wir geben die Verlobung an dem Wochenende bekannt, an dem Vivian bei Ihnen einzieht.«
Meine Kiefermuskeln spannten sich an. Ich merkte, wie Vivian neben mir erstarrte. Offenbar war sie nicht darauf vorbereitet, dass sie noch vor der Hochzeit zu mir ziehen sollte.
Das war eine von Francis’ Bedingungen, damit er den Mund hielt, und mir graute schon jetzt davor. Ich hasste es, wenn Menschen in meine Privatsphäre eindrangen.
»Ich bin sicher, Ihre Familie wäre ebenfalls froh über eine zeitnahe Bekanntgabe«, fuhr er mit subtiler Betonung auf dem Wort Familie fort. »Denken Sie nicht?«
Ich sah ihm ungerührt in die Augen, bis er seinen Körper leicht verlagerte und den Blick abwandte.
»Also vierzehn Tage.«
Wann wir die Verlobung verkündeten, spielte keine Rolle. Ich wollte ihm bloß die Planung so schwierig wie möglich machen.
Das Einzige, was zählte, war der Hochzeitstermin.
Ein Jahr.
Zwölf Monate, um die Fotos zu zerstören und die Verlobung aufzulösen. Es würde einen mächtigen Skandal geben, aber mein Ruf konnte das aushalten – der der Familie Lau hingegen nicht.
Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte ich.
Francis veränderte abermals seine Sitzhaltung und räusperte sich. »Ausgezeichnet. Wir werden gemeinsam ein Konzept erstellen und …«
»Ich erstelle es. Nächster Punkt.«
Ich beachtete seine finstere Miene nicht weiter und trank einen Schluck Merlot.
Das restliche Gespräch kreiste um todlangweilige Themen wie Gästelisten, Blumenarrangements und unzählige andere Dinge, die mir am Arsch vorbeigingen.
Rastlos und innerlich brodelnd vor Zorn blendete ich Francis und seine Frau aus.
Anstatt am Santeri-Vertrag zu arbeiten oder im Valhalla Club zu entspannen, vergeudete ich diesen Freitagabend damit, in diesem absurden Theaterstück mitzuspielen.
Vivian widmete sich schweigend ihrem Essen, sie schien mit ihren Gedanken weit fort zu sein.
Nach ein paar Minuten brach sie das unangenehme Schweigen und fragte: »Wie war Ihr Flug?«
»Gut.«
»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich die Zeit genommen haben herzukommen, obwohl wir uns ebenso gut in New York hätten treffen können. Man sagt, Sie seien ein vielbeschäftigter Mann.«
Ich schnitt ein Stück von meinem Kalbsschnitzel ab und schob es mir in den Mund.
Vivians sengender Blick brannte ein Loch in meine Wange, während ich bedächtig kaute.
»Und man sagt auch, je vermögender ein Mensch ist, desto weniger gesprächig.« Der trügerisch freundliche Ton ihrer Stimme entbehrte nicht einer gewissen Schärfe. »Sie sind der lebende Beweis.«
»Ich dachte, eine Dame aus gutem Haus, so wie Sie, würde sich hüten, in geselliger Runde über Geld zu sprechen.«
»Wobei ›gesellig‹ das Schlüsselwort ist.«
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über meine Lippen.
Unter normalen Umständen hätte ich Vivian vielleicht sogar gemocht.
Sie war bildhübsch und überraschend witzig, mit intelligenten braunen Augen und einem fein geschnittenen Gesicht, das man für kein Geld der Welt kaufen konnte. Aber die Perlen und das Chanel-Kostüm ließen sie aussehen wie eine Kopie ihrer Mutter und jede andere einzig auf ihren gesellschaftlichen Status bedachte erzkonservative Erbin.
Außerdem war sie Francis’ Tochter. Sie traf keine Schuld daran, dass dieser Dreckskerl ihr Erzeuger war, doch darauf pfiff ich. Nichts würde diesen Makel ausmerzen, da konnte sie so schön sein, wie sie wollte.
»Es ist nicht sehr gesellig, so mit einem Gast zu sprechen«, spöttelte ich im Flüsterton und griff nach dem Salzstreuer. Dabei streifte mein Arm den ihren, und sie verspannte sich merklich. »Was würden Ihre Eltern dazu sagen?«
Ich hatte gerade mal eine Stunde gebraucht, um Vivians Charakter einzuschätzen. Sie war perfektionistisch, überangepasst und hungerte nach elterlicher Bestätigung.
Langweilig, langweilig, langweilig.
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sie würden sagen, dass der Gast ebenso wie der Gastgeber höfliche Umgangsformen einzuhalten hat, wozu unter anderem die Beteiligung am Tischgespräch gehört.«
»Ach ja? Und verlangen diese Umgangsformen auch, dass Sie sich kleiden müssen, als wollten Sie mit den Frauen von Stepford konkurrieren?« Ich ließ den Blick über ihren Perlenschmuck und ihr Kostüm gleiten.
Es juckte mich nicht, wenn jemand wie Cecelia ein solches Outfit trug, aber Vivian sah darin aus wie ein Diamant in Sackleinen. Aus unerfindlichen Gründen machte mich das sauer.
»Nein, aber sie beinhalten gewiss auch nicht, durch unhöfliches Verhalten ein nettes Abendessen zu verderben«, entgegnete sie kühl. »Sie sollten sich, passend zu ihrem schicken Anzug, einen Satz Manieren kaufen, Mr Russo. Als CEO eines Luxusgüterunternehmens müssten Sie eigentlich besser als jeder andere wissen, wie schnell ein einziges hässliches Accessoire ein ganzes Outfit ruinieren kann.«
Wieder hoben sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln, immer noch schwach, aber wahrhaftiger.
Eigentlich ist sie doch nicht so langweilig.
Der Funken Heiterkeit erlosch im Nu, als Cecelia sich in unsere Unterhaltung mischte.
»Dante, ist es wahr, dass die Russos traditionell auf dem Familienanwesen am Comer See heiraten? Wie ich hörte, werden die Renovierungsarbeiten bis nächsten Sommer abgeschlossen sein. Also noch vor der Hochzeit.«
Mein Lächeln erstarb, mein gesamter Körper verspannte sich.
Ich wandte mich Cecelia zu, die mich erwartungsvoll ansah.
»Ja«, bestätigte ich knapp. »Seit dem achtzehnten Jahrhundert haben sämtliche Hochzeiten unserer Familie in der Villa Serafina stattgefunden.«
Ein Urahn von mir hatte die Villa erbaut und nach seiner Ehefrau benannt. Meine Familie stammte ursprünglich aus Sizilien, bevor sie später nach Venedig umsiedelte und es dort durch den Handel mit edlen Stoffen zu großem Reichtum brachte. Als die Blütezeit des Handels in Venedig schließlich endete, hatten die Russos ihre Investitionen so weit gestreut, dass ihnen ihr Vermögen erhalten blieb, welches sie dazu nutzten, Immobilien in ganz Europa zu kaufen.
Jetzt, Jahrhunderte später, lebte meine Verwandtschaft über den ganzen Globus verstreut – New York, Rom, Paris, in der Schweiz –, doch die Villa Serafina war bis heute der liebste Rückzugsort der Familie. Ich würde mich eher im Mittelmeer ertränken, als das Anwesen mit einer Scheinhochzeit zu besudeln.
Wieder kochte die Wut in mir hoch.
»Wie wundervoll!« Cecelia strahlte mich an. »Es macht mich ja so glücklich, dass Sie bald schon zur Familie gehören werden. Sie und Vivian geben das perfekte Paar ab. Sie spricht sechs Sprachen, müssen Sie wissen, außerdem spielt sie Klavier, Geige und …«
»Entschuldigung«, unterbrach ich sie mitten im Satz und schob derart energisch meinen Stuhl zurück, dass er mit einem befriedigend lauten Geräusch über den Boden scharrte. »Die Natur ruft.«
Mein schockierend grobes Benehmen zog entgeistertes Schweigen nach sich.
Ich wartete nicht, bis irgendwer seine Sprache wiederfand, sondern ließ den sichtlich erbosten Francis mit seiner fassungslosen Frau und seiner peinlich berührten Tochter im Esszimmer zurück.
Heißer Zorn brannte in mir, aber er kühlte sich mit jedem Schritt, den ich mich von diesen Leuten entfernte, ein wenig ab.
Wenn jemand meinen Ärger heraufbeschwor, folgte die Vergeltung normalerweise auf dem Fuße. Scheiß auf das Sprichwort, dass man Rache am besten kalt servierte. Meine Maxime war schon immer gewesen, schnell, hart und ohne Rücksicht auf Verluste zurückzuschlagen.
Die Welt bewegte sich in rasantem Tempo, also passte ich mich ihr an. Gab es ein Problem, löste ich es mit drastischen Mitteln, um sicherzustellen, dass in Zukunft kein weiteres auftauchte. Dann hakte ich die Sache ab.
Um einen Ausweg aus meiner derzeitigen Situation zu finden, war allerdings Geduld erforderlich. Eine Tugend, die mir fremd war und mich auf eine harte Probe stellte.
Der Widerhall meiner Schritte schwächte sich ab, als der Marmorboden von Teppich abgelöst wurde. Ich war schon in genug herrschaftlichen Häusern mit ähnlichen Grundrissen gewesen, um eine Ahnung zu haben, wo sich die Toilette befinden könnte. Doch ich ließ sie links liegen und steuerte stattdessen auf die massive Mahagonitür am Ende des Flurs zu.
Ich drehte den Knauf und fand mich in einem Arbeitszimmer wieder, das im Stil einer englischen Bibliothek eingerichtet war: Holzvertäfelungen, dick gepolsterte Ledergarnituren, waldgrüne Details.
Francis’ Allerheiligstes.
Immerhin dominierten hier im Gegensatz zum Rest des Hauses keine goldenen Akzente. Mir taten von den Geschmacksverirrungen schon die Augen weh.
Ich ließ die Tür offen und schlenderte gemächlich zum Schreibtisch. Francis konnte mich gern zur Rede stellen, falls er ein Problem damit hatte, dass ich in seinem Büro herumschnüffelte.
Natürlich war er nicht so dumm, die Fotos offen herumliegen zu lassen, zumal er ja gewusst hatte, dass ich heute herkommen würde. Und selbst wenn sie hier wären, würde er irgendwo noch weitere Kopien aufbewahren.
Ich ließ mich in seinen Chefsessel fallen, nahm eine kubanische Zigarre aus der Schachtel in der Schreibtischschublade und zündete sie an, während ich meinen Blick im Raum umherschweifen ließ. Ich schob meinen Ärger beiseite und ging mit logischem Kalkül an die Sache heran.
Es reizte mich, den Computer anzuschalten, aber das Hacken überließ ich Christian, der sich schon darangemacht hatte, nach digitalen Kopien der Fotos zu forschen.
Mein Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das Francis und seine Familie in den Hamptons zeigte. Meine Recherchen hatten ergeben, dass sie ein Ferienhaus in Bridgehampton besaßen, und ich würde meinen frisch erstandenen Renoir darauf verwetten, dass er mindestens einen Satz des belastenden Bildmaterials dort verwahrte.
Wo sonst …
»Was tun Sie hier?«
Der Qualm meiner Zigarre vernebelte meine Sicht auf Vivians Gesicht, aber die Missbilligung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Das war schnell gegangen. Ich hatte mir mindestens noch fünf weitere Minuten ausgerechnet, bevor ihre Eltern sie nötigen würden, mir zu folgen.
»Ich gönne mir eine Rauchpause«, erklärte ich und nahm genüsslich einen Zug.
Zigaretten rührte ich nicht an, doch von Zeit zu Zeit genehmigte ich mir eine Cohiba. Zumindest bewies Francis guten Geschmack, was Tabak betraf.
»Im Arbeitszimmer meines Vaters?«
»Sieht ganz so aus.« Grimmige Befriedigung durchströmte mich, als sich der Rauch verzog und dahinter Vivians empörte Miene zum Vorschein kam.
Endlich eine sichtbare Emotion.
Ich hatte schon befürchtet, für den Rest dieser lächerlichen Verlobungszeit an einen Roboter gekettet zu sein.
Sie durchquerte das Zimmer, pflückte die Zigarre aus meinen Fingern und versenkte sie, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, in dem halb vollen Wasserglas auf dem Schreibtisch.
»Vermutlich sind Sie es gewohnt, zu tun, was immer Ihnen beliebt, trotzdem ist es äußerst unhöflich, sich inmitten eines Abendessens einfach davonzustehlen und im Büro des Gastgebers zu rauchen.« Die Anspannung zeigte sich deutlich auf ihrem anmutigen Gesicht. »Bitte gesellen Sie sich wieder zu uns. Ihr Essen wird kalt.«
»Das ist mein Problem, nicht Ihres.« Ich lehnte mich zurück. »Warum verbringen Sie diese kleine Pause nicht zusammen mit mir? Ich verspreche, dass Sie mehr Spaß haben werden als bei den langatmigen Ausführungen Ihrer Mutter zum Thema Blumenschmuck.«
»In Anbetracht Ihres bisherigen Verhaltens wage ich, das zu bezweifeln«, fauchte sie.
Belustigt schaute ich zu, wie sie tief einatmete und die Luft ganz langsam und kontrolliert wieder ausstieß.
»Ich verstehe nicht, wieso Sie hier sind.« Ihre Stimme klang jetzt ruhiger. »Es ist nicht zu übersehen, dass Sie unglücklich über dieses Arrangement sind. Darüber hinaus brauchen Sie weder Geld noch den Kontakt zu meiner Familie. Und Sie können jede Frau haben, die Sie wollen.«
»Ist das so?«, fragte ich gedehnt. »Was ist, wenn ich Sie will?«
Vivian ballte die Fäuste. »Das ist gelogen.«
»Sie unterschätzen Ihre Reize.« Ich stand auf, ging um den Schreibtisch herum und stellte mich so nah vor sie, dass ich ihre pulsierende Halsschlagader betrachten konnte. Wie viel schneller würde ihr Herz erst pochen, wenn ich mit der Faust in ihr Haar greifen und ihren Kopf nach hinten biegen würde, um sie zu küssen, bis ihre Lippen geschwollen wären? Wenn ich die Hand unter ihren Rock schieben würde, bis sie mich anflehte, sie zu vögeln?
Hitze strömte in meine Lenden.
Ich war nicht wirklich daran interessiert, Sex mit ihr zu haben, doch sie wirkte so sittsam und spröde, dass sie regelrecht darum bettelte, verdorben zu werden.
Ohrenbetäubende Stille erfüllte den Raum, als ich die Hand hob und mit dem Daumen über ihre Unterlippe strich. Vivians Atem ging flach, aber sie zuckte nicht zurück.
Stattdessen starrte sie mich herausfordernd an, während ich in aller Ruhe die Kontur ihres Mundes nachfuhr. Er war weich und üppig und überraschend verführerisch, verglichen mit ihrem ansonsten so steifen, formellen Erscheinungsbild.
»Du bist eine sehr schöne Frau«, murmelte ich. »Vielleicht habe ich dich ja auf einer Veranstaltung gesehen und war so hingerissen, dass ich Francis um deine Hand gebeten habe.«
»Aus irgendeinem Grund bezweifle ich, dass das passiert ist.« Ihr Atem streifte meine Haut. »Was für einen Handel hast du mit meinem Vater geschlossen?«
Die Erinnerung daran ließ die unerwartete Sinnlichkeit dieses Moments schlagartig verpuffen.
Mein Daumen verharrte noch kurz auf ihren Lippen, bevor ich die Hand mit einer leisen Verwünschung sinken ließ. Ich spürte ein heißes Kribbeln auf der Haut bei dem Gedanken an ihren weichen Mund.
Ich hasste Francis, weil er mich erpresste, und ich verabscheute Vivian dafür, dass sie sich zu seinem Spielball machen ließ. Was zur Hölle war in mich gefahren, dass ich in seinem Arbeitszimmer meine Spielchen mit ihr trieb?
»Diese Frage solltest du besser deinem verehrten Vater stellen.« Ich bedachte sie mit einem bösen, humorlosen Lächeln, während ich meine Fassung wiederfand. »Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Es reicht, wenn ich sage, dass ich den Teufel tun würde, dich zu heiraten, wenn ich eine andere Wahl hätte. Aber Geschäft ist nun mal Geschäft …« Ich zuckte die Achseln. »Und du bist eben Teil der Abmachung.«
Vivian wusste nichts von Francis’ erpresserischen Machenschaften. Er hatte mich gewarnt, ihr davon zu erzählen – was ich so oder so nicht getan hätte. Je weniger Menschen darüber Bescheid wussten, desto besser.
Er hatte eine meiner wenigen Schwachstellen entdeckt, und es würde mir im Traum nicht einfallen, die Sache in die Welt hinauszuposaunen.
Vivians Augen funkelten zornig. »Du bist ein Arschloch.«
»Ja, das bin ich. Gewöhn dich lieber daran, mia cara, weil ich außerdem auch dein zukünftiger Ehemann bin. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest …« Ich rückte sorgsam mein Sakko zurecht. »Ich sollte an den Tisch zurückkehren. Wie du vorhin ganz richtig sagtest, wird mein Abendessen gerade kalt.«
Damit ließ ich sie stehen und genoss ihre sichtliche Verärgerung.
Eines nicht allzu fernen Tages würde ich die Verlobung auflösen und ihr somit ihren unausgesprochenen Wunsch erfüllen.
Bis dahin würde ich mitspielen und den rechten Augenblick abwarten. Denn Francis’ Ultimatum war unmissverständlich gewesen:
Heirate Vivian, oder dein Bruder stirbt.
Nach meiner Rückkehr an den Esstisch sparten Francis und Cecelia sich jeden Kommentar zu meiner langen Abwesenheit, und Vivian erwähnte unseren kleinen Plausch im Arbeitszimmer mit keinem Wort. Frustriert und gereizt flog ich zurück nach New York.
Ich hätte gute Lust gehabt, die Villa der Laus in Flammen aufgehen zu lassen.
Leider würde in dem Fall sofort die Polizei bei mir auf der Matte stehen. Abgesehen davon war Brandstiftung schlecht fürs Geschäft, und ich hatte bis dato nie einen Mord begangen. Aber bestimmte Menschen führten mich tagtäglich in Versuchung, diese rote Linie zu überschreiten, darunter einer, mit dem ich zufälligerweise blutsverwandt war.
»Was ist denn so dringend?« Luca fläzte sich gähnend in den Stuhl mir gegenüber. »Ich bin gerade aus dem Flieger gestiegen und muss mich erst mal aufs Ohr hauen.«
»Den Klatschzeitungen zufolge hast du seit einem Monat nicht geschlafen.«
Stattdessen war er von einer Party zur nächsten gejettet. Mykonos, Ibiza und zuletzt Monaco, wo er fünfzig Riesen am Pokertisch verzockt hatte.
»Ganz genau.« Wieder gähnte er. »Deshalb muss ich das jetzt nachholen.«
Ich musterte ihn mit angespannter Miene.
Luca war fünf Jahre jünger als ich, aber er benahm sich nicht wie ein einunddreißigjähriger Mann, sondern wie ein halbwüchsiger Junge.
Wäre er nicht mein Bruder, würde ich ihn ohne zu zögern aus meinem Leben verbannen, besonders in Anbetracht des beschissenen Schlamassels, in dem ich mich dank ihm befand.
»Bist du nicht neugierig, weshalb ich dich hergebeten habe?«
Er zuckte mit den Schultern, ohne sich des heftigen Sturms bewusst zu sein, der sich hinter meiner ruhigen Fassade zusammenbraute. »Du hast deinen kleinen Bruder vermisst?«
»Knapp daneben.« Ich nahm eine Aktenmappe aus der Schublade und legte sie zwischen uns auf den Schreibtisch. »Los, sieh hinein.«
Mit skeptischer Miene tat er, was ich ihm gesagt hatte. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, während er die Fotos erst langsam, dann mit aufsteigender Panik immer schneller durchsah.
Grimmige Befriedigung erfasste mich, als er schließlich hochschaute, sein Gesicht um einiges blasser als zuvor.
Wenigstens begriff er, was auf dem Spiel stand.
»Weißt du, wer die Frau auf diesen Bildern ist?«, fragte ich.
Sein Adamsapfel hüpfte, als Luca sichtlich schluckte.
»Maria Romano.« Ich tippte auf das oberste Foto. »Sie ist die Nichte des Mafiapaten Gabriele Romano. Siebenundzwanzig Jahre alt, verwitwet und der Augapfel ihres Onkels. Der Name dürfte dir bekannt sein, immerhin hast du sie, wie diese Fotos belegen, gevögelt, bevor du nach Europa aufgebrochen bist.«
Er schloss die Hand zur Faust. »Woher hast du …?«
»Das ist nicht die richtige Frage, Luca. Sondern, in was für einem Sarg du bestattet werden willst, weil ich nämlich deine verdammte Beerdigung werde planen müssen, falls Romano jemals davon Wind bekommt!«
Nachdem sich wochenlang Frust und Zorn in mir angestaut hatten, brach mein Zorn sich endlich Bahn. Luca fuhr zusammen, als ich meinen Stuhl zurückstieß und aufsprang. Mein ganzer Körper vibrierte vor Wut über seine Dummheit.
»Eine Mafiaprinzessin? Soll das ein verfluchter Witz sein?« Mit einer zornigen Handbewegung fegte ich die Aktenmappe vom Tisch und erwischte dabei außerdem einen gläsernen Briefbeschwerer, der mit lautem Klirren auf dem Boden zerschellte. Die Fotos verteilten sich flatternd auf den Scherben.
Mein Bruder blinzelte erschrocken.
»Du hast dir in deinem Leben schon eine ganze Menge Mist geleistet, aber diese Sache setzt dem Ganzen die Krone auf!«, herrschte ich ihn an. »Weißt du eigentlich, was Romano mit dir machen wird, wenn er es herausfindet? Er weidet dich aus wie ein Tier, und das auf möglichst langsame und schmerzhafte Weise. Kein Geld der Welt könnte dich davor bewahren. Anschließend wird er deine Leiche als Warnung von einer Brücke baumeln lassen – vorausgesetzt, es ist noch was von dir übrig, wenn er mit dir fertig ist!«
Der letzte Kerl, der ohne Romanos Erlaubnis ein weibliches Mitglied seiner Familie angerührt hatte, war mit abgeschnittenem Schwanz und weggepustetem Schädel in seinem Schlafzimmer aufgefunden worden.
Und er hatte nichts weiter verbrochen, als Romanos Cousine auf die Wange zu küssen. Den Gerüchten nach mochte Romano die Cousine noch nicht mal.
Wenn er Wind davon bekäme, dass mein Bruder mit seiner innig geliebten Nichte geschlafen hatte, würde Luca am Ende um seinen Tod betteln.
Sein Teint wies jetzt einen unnatürlichen Stich ins Grüne auf. »Du verstehst das …«
»Was zum Henker hast du dir bloß dabei gedacht? Wo seid ihr zwei euch überhaupt begegnet?«
Die Romanos waren berüchtigt dafür, sich von der Außenwelt abzuschotten. Gabriele hielt seine Angehörigen an der kurzen Leine, und sie wagten es nur selten, sich der Kontrolle der Familie zu entziehen.
»In einer Bar. Wir haben nicht lange miteinander gesprochen, waren uns aber auf Anhieb sympathisch und haben Nummern ausgetauscht.« Luca redete so schnell, als fürchtete er, ich könnte mich auf ihn stürzen, sobald er verstummte. »Seit sie Witwe ist, wird sie nicht mehr so streng überwacht, aber ich schwöre, dass ich erst erfahren habe, wer sie in Wirklichkeit ist, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Sie hat behauptet, ihr Vater sei im Bauwesen tätig.«
Mir pochte das Blut in den Schläfen. »Er ist im Bauwesen tätig.«
Außerdem zählten diverse Nachtclubs, Restaurants und andere Etablissements zu seinem schmutzigen Portfolio.
Wäre es nicht ausgerechnet Romano gewesen, hätte ich Geld oder einen für beide Seiten profitablen Deal angeboten, anstatt mich von Francis erpressen zu lassen.
Doch im Gegensatz zu einigen Leuten, die kurzsichtig genug waren, Geschäfte mit der Unterwelt zu machen, ließ ich mich nicht mit der Mafia ein. Wenn man da erst mal drinsteckte, gelangte man nur auf einem Weg wieder hinaus: in einem Sarg. Davon einmal abgesehen würde ich mir eher einen Strick nehmen, als mich in eine Lage zu bringen, wo ich jemand anderem gegenüber Rechenschaft ablegen musste.
Francis war scharf auf die Vorteile, die mein Nachname mit sich brachte. Romano dagegen würde es selbst dann noch auf jeden Dollar und Tropfen Blut von mir abgesehen haben, nachdem er meinem Bruder die Kehle aufgeschlitzt hatte.
»Ich weiß, die Sache sieht übel aus, aber du verstehst das nicht«, wandte Luca mit gequälter Miene ein. »Ich liebe sie.«
Eisige Ruhe überkam mich. »Du liebst sie.«
»Ja.« Sein Blick wurde verträumt. »Sie ist unglaublich. Wunderschön, klug …«
»Du liebst sie, und trotzdem hast du in den letzten Wochen jede verdammte Frau gefickt, die deinen Weg gekreuzt hat?«
»Das stimmt nicht.« Er wurde knallrot. »Ich habe nur so getan als ob, um meinen Ruf zu wahren. Ich musste für eine Weile verschwinden, weil ihre Cousine weggelaufen war und ihr Onkel die ganze Familie drangsaliert hat. Aber wir waren immer vorsichtig.«
Nie war ich so nahe dran gewesen, ein Mitglied meiner Sippe umzubringen.
»Offenbar nicht vorsichtig genug«, knurrte ich, worauf er ein weiteres Mal zusammenzuckte.
Ich atmete tief ein und wartete, bis mein unbändiger Zorn sich etwas gelegt hatte, dann setzte ich mich langsam und bedächtig wieder hin, um nicht über den Schreibtisch zu hechten und meinen einzigen Bruder zu erwürgen. »Möchtest du wissen, wie ich an diese Fotos gelangt bin, Luca?«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber schnell wieder und schüttelte den Kopf.
»Francis Lau ist vor zwei Wochen in mein Büro spaziert und hat sie auf meinen Tisch geknallt. Zufällig hatte er dich und Maria einige Zeit davor zusammen gesehen, als er in der Stadt war. Er hat euch beide erkannt und ließ euch observieren. Sobald er hatte, was er brauchte, kam er zu mir, um einen Handel zu schließen.« Ich verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Willst du die Konditionen dieses Deals erfahren?«
Er schüttelte erneut den Kopf.
»Ich heirate seine Tochter, dafür hält er die Beweise unter Verschluss. Falls ich nicht mitspiele, lässt er die Fotos Romano zukommen, und du bist ein toter Mann.«
Ich verfügte über ein erstklassiges privates Sicherheitsteam. Die Leute waren hervorragend ausgebildet, professionell und gleichzeitig moralisch flexibel genug, um Eindringlingen einen Denkzettel zu verpassen, der sich gewaschen hatte und potenzielle Nachahmer davor zurückschrecken ließ, sich mit mir anzulegen.
Allerdings gab es einen Unterschied zwischen Sicherheit und Bestrafung und einem Krieg mit der verdammten Mafia.
Lucas Augen wurden groß wie Untertassen.
»Scheiße.« Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Dante, ich …«
»Ich will kein Wort mehr hören. Also, du wirst Folgendes tun.« Ich nagelte ihn mit meinem Blick fest. »Du brichst auf der Stelle jeden Kontakt zu Maria ab. Es interessiert mich einen Dreck, ob sie deine Seelenverwandte ist und du nach ihr nie wieder die wahre Liebe finden wirst. Von diesem Augenblick an ist sie für dich gestorben. Du wirst sie weder sehen noch sprechen oder anderweitig mit ihr kommunizieren. Falls du dich nicht daran hältst, werde ich jedes einzelne deiner Bankkonten einfrieren und jede Person, die dir finanziell unter die Arme greift, auf die schwarze Liste setzen.«
Unser Großvater hatte um Lucas Verschwendungssucht gewusst und deshalb in seinem Testament mir die vollständige Kontrolle über das Vermögen der Firma und der Familie übertragen. Wer bei mir auf der schwarzen Liste landete, wurde in unseren sozialen Kreisen zum Ausgestoßenen, und nicht einmal Lucas unterbelichtete Freunde wären dumm genug, das zu riskieren.
»Des Weiteren werde ich deine monatliche Zuwendung um die Hälfte kürzen, bis du unter Beweis gestellt hast, dass du in der Lage bist, klügere Entscheidungen zu treffen.«
»Was?«, entfuhr es ihm. »Das kannst du nicht …«
»Unterbrich mich noch ein einziges Mal, und ich streiche sie dir ganz«, warnte ich ihn kalt. Er verstummte mit aufmüpfiger Miene. »Du wirst die andere Hälfte mittels eines Jobs in einem unserer Läden verdienen, wo man dich genauso behandeln wird wie jeden x-beliebigen Mitarbeiter. Keine Privilegien, kein Alkohol und kein Sex während der Arbeitszeit und auch keine zweistündigen Mittagspausen. Solltest du die Sache nicht ernst nehmen, bekommst du keinen müden Cent mehr. Ist das klar?«
Er schwieg eine ganze Weile, dann presste er die Lippen zusammen und nickte knapp.
»Gut. Und jetzt verschwinde aus meinem Büro.«
Müsste ich ihn noch einen Moment länger ansehen, würde ich vielleicht etwas tun, das ich hinterher bereuen würde.
Anscheinend spürte er die Gefahr, die ihm drohte, denn er stand auf und marschierte wortlos zur Tür.
»Ach, Luca?«, setzte ich hinzu, ehe er sie öffnen konnte. »Sollte ich herausfinden, dass du gegen meine Regeln verstoßen und Maria doch wieder kontaktiert hast, bringe ich dich eigenhändig um.«
Hart und präzise versetzte ich ihm einen Faustschlag in den Magen. Mein erster Treffer an diesem Abend.
Er stieß ein Grunzen aus, und das Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Jeder andere Gegner wäre um Luft ringend nach hinten getaumelt, doch Kai brauchte wie gewohnt nur ein paar Sekunden, um sich wieder zu berappeln.
»Du wirkst aufgebracht«, bemerkte er, als er mit einem linken Haken konterte. Ich wich ihm um Haaresbreite aus. »Miesen Tag gehabt?«
Trotz des Hiebs, den er gerade eingesteckt hatte, schwang leise Belustigung in seiner Frage mit.
»Könnte man so sagen.«
Schweißperlen traten auf meine Stirn und rannen meinen Rücken hinab, während ich meiner Frustration im Boxring ein Ventil verschaffte.
Ich war direkt nach der Arbeit zum ValhallaClub gefahren. Die meisten anderen Mitglieder kamen wegen des Wellnessbereichs, der Restaurants oder des exklusiven Herrenclubs her, was bedeutete, dass außer Kai und mir kaum jemand den Boxring nutzte.
»Soweit ich weiß, ist der Santeri-Deal in trockenen Tüchern. Das kann also nicht das Problem gewesen sein.« Trotz des harten Schlagabtauschs, den wir uns in der Auftaktrunde geliefert hatten, war Kai kaum außer Puste. »Vielleicht ist es gar nicht die Arbeit …«, mutmaßte er. »Sondern deine Verlobung mit einer gewissen Erbin eines Schmuckimperiums.«
Ich rammte ihm die Faust in die Rippen, was er abermals mit einem leisen Grunzen quittierte, während er gleichzeitig über den unwilligen Ausdruck in meinem Gesicht lachte.
»Du hättest wissen müssen, dass du eine derart große Sache nicht lange geheim halten kannst«, fuhr er fort. »Das ganze Büro tuschelt darüber.«
»Deine Mitarbeiter sollten sich auf ihren Job konzentrieren, anstatt die Gerüchteküche anzuheizen. Vielleicht hätte es dann noch nicht die Runde gemacht.«
Meine Verlobung hätte eigentlich erst Mitte September in der Onlineausgabe der Mode de Vie bekannt gegeben werden sollen, doch angesichts der Tatsache, dass dieses beliebte Magazin für Mode und Lifestyle das Aushängeschild des Young’schen Medienkonzerns war, überraschte es mich nicht, dass Kai bereits Bescheid wusste.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal den Tag erleben würde, an dem du in den Hafen der Ehe einläufst«, sagte er, ohne auf meinen Seitenhieb einzugehen. »Dazu noch mit keiner Geringeren als Vivian Lau. Wie hast du es geschafft, eure Beziehung so lange geheim zu halten?«
»Noch sind wir nicht verheiratet.« Ich wehrte einen weiteren Schlag ab. »Und ich habe sie nicht geheim gehalten. Unsere Verlobung ist Teil einer geschäftlichen Vereinbarung. Ich habe Vivian noch nicht einmal zum Essen ausgeführt, bevor wir den Deal besiegelt haben.«
Das Wort Verlobung hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
Der Gedanke, mich für den Rest meines Lebens an einen anderen Menschen zu ketten, war in etwa so verlockend wie die Vorstellung, mit Betonblöcken an den Füßen in den Ozean zu springen.
Ich zog die Arbeit einer festen Bindung vor, zumal die meisten Frauen es nicht schätzten, hinter Meetings und Vertragsverhandlungen zurückstehen zu müssen. Die Geschäftswelt war lukrativ, rational und in den meisten Fällen vorhersehbar. Für Beziehungen galt das nicht.
»Das leuchtet schon eher ein«, befand Kai. »War ja abzusehen, dass deine Karrieresucht irgendwann nicht mehr vor deinem Privatleben haltmachen würde.«
»Sehr witzig.«
Ich trieb ihm sein Lachen mit einem Aufwärtshaken gegen das Kinn aus, und er revanchierte sich mit einem Faustschlag, der mir die Luft aus der Lunge presste.
Unser Gespräch verstummte, und nur noch Ächzen und Flüche waren zu hören, während wir uns gegenseitig nach allen Regeln der Kunst vermöbelten.
Kai war die sanftmütigste Person, die ich kannte, aber er verfügte auch über einen ausgeprägten Kampfgeist. Wir hatten letztes Jahr mit dem Boxen angefangen, und er war zu meinem bevorzugten Sparringspartner geworden, bei dem ich Dampf ablassen konnte, weil auch er sich nicht zurückhielt.
Wozu sollte man einen Therapeuten konsultieren, wenn man stattdessen die Möglichkeit hatte, einem Freund jede Woche die Visage zu polieren?
Treffer, Deckung, Angriff, Treffer – Runde um Runde. Schließlich beendeten wir den Abend mit einem Unentschieden und jeder Menge blauer Flecken.
Aber ich hatte meine ungeheure Wut weitgehend überwunden, und als ich Kai nach dem Duschen in der Umkleide traf, war ich wieder klar genug im Kopf, um mich nicht von Neuem über meinen Bruder aufzuregen.
Nach unserer Unterhaltung am Nachmittag war ich kurz davor gewesen, jegliche Verbindung mit ihm zu kappen – zum Teufel mit meinen Versprechen und Bedingungen. Es würde Luca recht geschehen, nur fehlte mir momentan die Energie für seinen unvermeidlichen Temperamentsausbruch.
»Fühlst du dich jetzt besser?« Kai war bereits angezogen, als ich eintrat: Hemd, Sakko, schmale schwarze Drahtgestellbrille.
Nichts erinnerte mehr an den erbitterten Gegner, gegen den ich geboxt hatte. Nun sah er aus wie der Inbegriff von intelligenter Kultiviertheit.
»Geringfügig.« Ich zog mich ebenfalls an und rieb mit der Hand über meinen schmerzenden Kiefer. »Du kämpfst mit harten Bandagen.«
»Darum hast du mich doch angerufen. Du würdest es hassen, wenn ich dich mit Samthandschuhen anfasste.«
Ich schnaubte. »So wie du es hassen würdest zu verlieren.«
Wir verließen den Trainingsbereich und fuhren mit dem Aufzug in den ersten Stock. Der ValhallaClub war ein exklusiver Verein für Besserverdienende mit Dependancen auf der ganzen Welt. Der Hauptsitz in New York war die größte und prachtvollste der Einrichtungen, er erstreckte sich über vier Etagen und einen gesamten Straßenblock in Upper Manhattan.
»Ich habe Vivian ein paarmal getroffen«, ließ Kai nebenbei fallen, als sich die Fahrstuhltüren öffneten. »Sie ist bildhübsch, charmant und intelligent. Du hättest es wesentlich schlechter treffen können.«
Verärgerung regte sich in mir. »Vielleicht solltest du sie an meiner Stelle heiraten.«
Für mich hätte es auch keinen Unterschied gemacht, wäre Vivian ein Topmodel mit der Attitüde einer Heiligen gewesen, das in seiner Freizeit Hundewelpen aus brennenden Häusern rettete. Ich sah in ihr nur die Person, die ich ertragen musste, bis ich sämtliche Fotos vernichtet hätte.
Leider bestätigte Christians neuester Lagebericht, dass Francis das Beweismaterial sowohl in Papierform als auch digital archiviert hatte.
Die digitalen Belege zu zerstören, wäre für Christian ein Kinderspiel gewesen, aber was die Ausdrucke betraf, war die Sache um einiges komplizierter, weil wir nicht wussten, wie viele Kopien es gab. Solange wir nicht hundertprozentig sicher sein konnten, dass wir alle gefunden hatten, konnte ich mir keinen falschen Zug erlauben.
»Das würde ich, wenn ich könnte.« Die Gewitterwolken in Kais Augen verzogen sich so schnell, wie sie gekommen waren.
Als Erbe des Young-Vermögens war seine Zukunft sogar noch solider in Stein gemeißelt als meine.
»Ich meine ja nur, dass du dich ihr gegenüber nicht wie ein Arsch benehmen musst.« Kai grüßte ein Clubmitglied im Vorbeigehen mit einem Nicken, dann wartete er, bis wir wieder unter uns waren, bevor er hinzufügte: »Sie kann schließlich nichts dafür, dass sie einen Rüpel wie dich am Hals hat.«
Wenn du wüsstest.
»Du solltest dir weniger den Kopf über mein Privatleben als über dein eigenes zerbrechen.« Ich taxierte mit hochgezogenen Brauen seine Manschettenknöpfe. Die goldenen Löwen mit Augen aus Amethyst stammten aus der Schatzschatulle seiner Familie. »Leonora wird nicht ewig auf ein Enkelkind warten wollen.«