Kings of Cypress Pointe - Sweet Revenge - Rachel Jonas und Nikki Thorne - E-Book

Kings of Cypress Pointe - Sweet Revenge E-Book

Rachel Jonas und Nikki Thorne

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Beschreibung

West Golden - leicht zu hassen, unmöglich, ihm zu widerstehen

West Golden ist der Star des Footballteams und der unangefochtene König der Cypress Prep. Niemand an der elitären Schule stellt seine Entscheidungen infrage oder zweifelt seine Autorität an. Als er im Safe seines Vaters anrüchige Fotos von Blue Riley, der neuen Schülerin in seinem Jahrgang, findet, hat er nur ein Ziel: ihr das Leben zur Hölle machen. Womit er nicht gerechnet hat: Blue ist die Erste, die sich ihm nicht unterordnet, sondern ihm die Stirn bietet. West ist fasziniert von dem blonden Mädchen mit der rebellischen Ader und kann nicht verhindern, dass er verbotene Gefühle für die Außenseiterin entwickelt ...

»Ich liebe Bully Romance und die KINGS OF CYPRESS POINTE haben mich nicht enttäuscht.« SMEXYBOOKS

Auftakt der KINGS OF CYPRESS POINTE-Reihe von den Bestseller-Autorinnen Rachel Jonas und Nikki Thorne

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Seitenzahl: 477

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Playlist

Leser:innenhinweis

Prolog

1

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4

5

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Die Autorin

Die Romane von Rachel Jonas und Nikki Thorne bei LYX

Impressum

RACHEL JONAS / NIKKI THORNE

Kings of Cypress Pointe

SWEET REVENGE

Roman

Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer

ZU DIESEM BUCH

West Golden ist der Star des Footballteams und zusammen mit seinen beiden Brüdern der unangefochtene König der Cypress Prep. Niemand an der elitären Schule stellt die Entscheidungen der Golden Boys infrage oder zweifelt ihre Autorität an. Als West im Safe seines Vaters auf einem Handy ein anrüchiges Bild eines blonden Mädchens findet und vermutet, dass es dessen neue Geliebte ist, hat er nur ein Ziel: Seine Mutter vor der Schmach zu schützen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Denn bei der jungen Frau handelt es sich um seine neue Mitschülerin Blue Riley, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt und nur dank eines Stipendiums an der exklusiven Highschool ist. Ab sofort schikaniert West sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit und glaubt, dass er leichtes Spiel mit ihr hat und sie schnell vertreiben kann. Womit er nicht gerechnet hat: Sie ist die Erste, die sich ihm nicht unterordnet, sondern ihm die Stirn bietet. West ist fasziniert von dem blonden Mädchen mit der rebellischen Ader und ertappt sich schon bald dabei, dass er verbotene Gefühle für die Außenseiterin entwickelt …

PLAYLIST

Gambling Hearts – Harrison Brome

Shelter – Harrison Brome

Come Together – Gary Clark Jr.

Gold – Kiiara

It Was a Good Day – Ice Cube

There’s No Way – Lauv

Ruin – Shawn Mendes

Slow Dancing in the Dark – Joji

Fallingforyou – The 1975

Often – The Weeknd

She Wants – Metronomy

Crave You – Clairo

Time of the Season – The Zombies

Bad Things – Cults

I Found – Amber Run

Teeth – 5 Seconds of Summer

Novacane – Frank Ocean

We Can Make Love – SoMo

Losin Control – Russ

Who Needs Love – Trippie Redd

Body – Sinéad Harnett

Abandoned – Trippie Redd

Run – Joji

Candy Castle – Glass Candy

Yeah Right – Joji

I think I’m Okay – Machine Gun Kelly

Bad Things – Machine Gun Kelly

Tearing Me Up (Remix) – Bob Moses

Stuck in the Middle – Tai Verdes

Sweater Weather – The Neighbourhood

Liebe Leser:innen,

bitte beachtet, dass dieses Buch neben sexuellen Inhalten und derber Sprache Elemente enthält, die triggern können.

Dies betrifft: Drogenmissbrauch, Gewalt, Vernachlässigung, Mobbing.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

PROLOG

An meine Blue-Jay:

Du hast so friedlich ausgesehen, dass ich es nicht über mich gebracht habe, dich zu wecken. Ehrlich gesagt, war Schreiben die einzige Möglichkeit, das hier durchzustehen, ohne zu weinen. Ich wünschte, wir könnten alle so tough sein wie du … Weil ich weiß, wie sehr du es hasst, wenn ich mich in etwas hineinsteigere, fasse ich mich kurz.

Ich werde für eine Weile verschwinden, Süße. Du, Scarlett und Hunter seid meine Welt, also werde ich nicht lange fortbleiben. Zwei Wochen höchstens. Ihr werdet kaum Zeit haben, mich zu vermissen. Versprochen.

Bevor du überhaupt auf diesen Gedanken kommst: Das hier hat absolut nichts mit euch zu tun. Das zwischen mir und eurem Dad ist nun mal so, wie es ist.

Unser Problem.

Dünne Wände machen es schwer, Geheimnisse zu wahren, weshalb ihr bestimmt mitbekommen habt, dass die Streitereien zwischen uns schlimmer geworden sind. Ich glaube, um das in Ordnung zu bringen, was zwischen ihm und mir nicht stimmt, brauchen wir Abstand voneinander. Wir werden es nie hinkriegen, wenn wir immer nur im Streit miteinander reden. Hoffentlich hilft mir ein wenig Ruhe und Frieden, mir über alles klar zu werden. Vielleicht hört er ja auf zu trinken, während ich weg bin.

Es wird kein Tag vergehen, an dem ich nicht an euch drei denken werde. Hunter arbeitet an irgendwas, das vielleicht ein wenig Geld ins Haus bringt, weshalb er eine Weile schwer zu erreichen sein wird. Deshalb hoffe ich, dass du dich um Scar kümmerst, aber das machst du ja ohnehin schon. Du bist so toll mit ihr. Manchmal denke ich, du bist eine bessere Mutter, als ich es jemals war. Gott erschafft nicht oft große Schwestern wie dich, weshalb sie aus gutem Grund zu dir aufsieht.

Ich gehe, bevor dein Vater aufwacht und mir die Hölle heißmacht, wenn er meine gepackten Koffer sieht. Er hat sich gestern Abend in den Schlaf getrunken, was bedeutet, dass er ein Brummbär sein wird, wenn er aufsteht. Das Beste wird wohl sein, wenn ihr Mädchen ihm aus dem Weg geht.

Um einen kühlen Kopf zu bewahren, habe ich mein Handy ausgeschaltet. Hinterlasst einfach eine Nachricht, und ich rufe zurück, wenn ich kann.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zwanziger für Einkäufe, bis Hunter zurück ist. Kein Junk-Food, Blue! Ernsthaft! Du bekommst sonst die Quittung während der Basketballsaison.

Ich vermisse euch jetzt schon. Gib Scarlett einen Kuss von mir. Ich komme zurück, wenn sich die Wogen etwas geglättet haben.

Mom

1

BLUE

Juni, vier Monate später

Den Brief zu zerknüllen ist befreiend.

Das hätte ich schon an dem Morgen tun sollen, als ich das Blatt mit den Kaffeeflecken an meiner Tür entdeckt habe. Stattdessen habe ich es ordentlich zusammengefaltet und in mein Portemonnaie gesteckt wie ein kleines Heiligtum, das ich überallhin mitgenommen habe.

Ich habe mich stets nach den kleinen Schnipseln Liebe gesehnt, die sie hier und da in meinem Leben hinterlassen hat. Doch dann stolpere ich in den unpassendsten Augenblicken wieder darüber. Wie jetzt, während um mich herum eine wilde Party im Gange ist und ich auf die perfekte Gelegenheit verzichte, einfach jung und frei zu sein. Warum? Weil ich bei der Suche nach einem Kaugummi in meiner Clutch auf diese Nachricht gestoßen bin und plötzlich wie gelähmt bin, während ich über Moms verdrehte Version von Liebe nachdenke. Ich sollte irgendeinen hübschen Kerl anquatschen oder tanzen, als ginge morgen die Welt unter, aber nein.

»Gefunden! Mein Schlampenradar funktioniert noch«, lallt Jules.

Ein Lächeln ersetzt beängstigend schnell meinen Gesichtsausdruck.

»Du sagst immer so charmante Sachen«, nehme ich sie ebenfalls auf den Arm und streiche mit den Handflächen über die weißen Leinenshorts, die sie mir unbedingt borgen wollte. Sie waren Teil eines Gesamtpakets – schwarzes Tanktop, schwarze High Heels und silberne Ohrringe. Der einzige sichtbare Gegenstand, der tatsächlich mir gehört, ist meine Clutch.

Ausgelassener als sonst zieht Jules an dem blonden Fischgrätenzopf auf meiner Schulter. Sie hat ihn geflochten, während wir vor ein paar Stunden auf unsere Mitfahrgelegenheit gewartet haben. Ich hätte es selbst tun können, aber die blöde Gipsschiene an meinem Finger macht die einfachsten Dinge praktisch unmöglich.

Nur fürs Protokoll: Der Nachteil daran, jemandem ins Gesicht zu schlagen, ist der gebrochene Fingerknöchel, der damit einhergeht. Aber um ehrlich zu sein, das war es wirklich wert. Auch wenn es zu meinem Rauswurf am Ende des Jahres geführt hat und mich beinahe meine Chance an der Cypress Prep gekostet hätte.

Ich würde es nicht noch einmal tun, aber ich bereue es auch nicht.

Ich bemerke Jules’ glasigen Blick, der mir sagt, dass ich gescheitert bin. Ich wollte aufpassen, dass sie heute Abend nicht über die Stränge schlägt, aber der Brief war leider die perfekte Ablenkung.

»Hoppla! Wo kommst du denn her?«, sagt sie unter Schluckauf zu der Ziegelmauer, mit der sie zusammengestoßen ist.

Rasch strecke ich die Hand aus, um meine schwerfällige rothaarige Freundin zu stützen, die jetzt neben mir lehnt. Sie kann von Glück sagen, dass ich gute Reflexe habe.

»Hast du trotzdem Spaß?«, fragt sie zögerlich. »Ich weiß, dass du lieber auf dem Spielfeld oder sonst irgendwo bist, anstatt auf der North Side abzuhängen, aber ich glaube, heute Abend ist wichtig.«

»Das erzählst du mir schon die ganze Zeit«, murmle ich.

Sie verdreht die Augen. »Weil Jules es am besten weiß«, versichert sie mir sogleich.

Das alles – die Partyszene, die Klamotten, die Wimpern und das Make-up – ist ihr Ding, nicht meins. Vor allem in diesem Teil der Stadt.

Wie aufs Stichwort erklingen spitze Schreie. Ich blicke nach links zu einem Mädchentrio, das Arschbomben in den hell erleuchteten türkisfarbenen Pool macht.

North Cypress ist das Viertel der Wohlhabenden, der Elite. Leute von der South Side wie Jules und ich stechen wie zwei blutige Daumen heraus. Ich kann es fühlen. Hier auf dem Rasen des weitläufigen Grundstücks irgendeines privilegierten, reichen Kerls bin ich mir überaus bewusst, dass wir völlig fehl am Platz sind. Trotzdem habe ich mein Wort gehalten und bin gekommen.

Die Verlockung freier Drinks und ein Überangebot an gut aussehenden Typen haben eine Rolle dabei gespielt, dass Jules mich auch gegen meinen Willen hierherschleppen wollte, aber es ist mehr als das. Es ist ihre Art, mir dabei zu helfen, mich an diese Welt zu gewöhnen, bevor ich zu Beginn des nächsten Schuljahrs schutzlos in sie hineingestoßen werde.

Ab Anfang September werde ich von Montag bis Freitag ihrer Gnade ausgeliefert sein. Nur um am Ende des Tages wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, auf meine Seite der Stadt, wo jeder Abend auf die gleiche Weise endet. Dort werde ich in den Schlaf gewiegt von der einzigen Melodie, die South Cypress je gekannt hat: Polizeisirenen und bellende Hunde.

Home sweet home.

»Kennst du überhaupt jemanden hier?« Nachdem ich gefragt habe, folgt mein Blick einem Pärchen, das an uns vorbeigeht, ohne überhaupt Notiz von uns zu nehmen. Wahrscheinlich weil die beiden wie Tiere an den Kleidern des jeweils anderen zerren, bevor sie durch den Seiteneingang in das Gästehaus schlüpfen.

»Nein«, antwortet Jules. »Pandora hat erwähnt, dass es eine wilde Party wird und die Adresse hier in Bellvue Hills genannt, also habe ich beschlossen, mit dir herzukommen. Ich weiß nicht einmal, wem die Bude hier gehört.«

Ich liebe es, dass sie über mein Schicksal entscheidet, ohne mich vorher zu informieren.

»Pandora?«

Jules nickt. »Ein geheimnisumwittertes Mädchen, das sich auf ihren Social-Media-Accounts über die Angelegenheiten anderer auslässt.«

»Ist …« Bevor ich mehr über diese Pandora in Erfahrung bringen kann, werde ich abrupt unterbrochen.

»Es müssen mehrere Hundert Leute hier sein, meinst du nicht?« Jules’ Worte sind gedämpft, weil sie in einen Flaschenhals spricht.

Sie nimmt einen Schluck und stößt mit dem Kopf gegen mich, als ich die Schulter zucke. »Das könnte hinkommen.«

»Es hat eine Ewigkeit gedauert, dich zu finden. Ich hab schon gedacht, du versteckst dich vor mir.« Der Kommentar ist emotionsgeladen, weil sie betrunkener ist, als mir bewusst war.

»Vor dir niemals, Süße«, necke ich sie. »Ich stehe auf Partys immer neben vollgekotzten Mülltonnen. Das ist irgendwie mein Ding.«

Ein Rülpser wie von einem Kerl kommt ihr über die Lippen, doch sie bemerkt es kaum.

»Ich weiß, dass du sarkastisch bist«, sagt sie, »und falls ich mich morgen früh noch daran erinnere, werde ich bestimmt beleidigt sein. Also mach dich auf einen Anschiss gefasst.«

Selbst betrunken schafft sie es, mich zum Lachen zu bringen.

Der Klang meines Klingeltons erregt Jules’ Aufmerksamkeit, noch bevor ich ihn bemerke. Sie ist überraschend aufmerksam, wenn man ihren Zustand bedenkt. Oder einfach neugierig.

»Er schon wieder?«

»Ja.« Ich schaue kaum auf das Display, bevor ich Ablehnen drücke.

»Du weißt, dass du seine Anrufe nicht ewig ignorieren kannst, oder?«

Als ich erneut die Schultern zucke, hebe ich ihren Kopf dabei an. »Bislang funktioniert es bestens.«

»Schlüsselwort: bislang.« Angesichts ihrer Fahne, die mir bei der Bemerkung in die Nase steigt, drehe ich den Kopf weg, bevor sie fortfährt. »Er ist starrköpfig. Du weißt das besser als jede andere.«

Leider hat sie damit recht.

»Vielleicht solltest du zurückrufen. Vielleicht hat er was von Hunter gehört und …«

»Um die Wahrheit zu sagen, für mich ist es okay, wie es ist«, unterbreche ich sie. »Hunter hat getan, was er getan hat, und jetzt ist er dort, wo er hingehört. Ende der Geschichte.«

Ihr glasiger Blick ist die ganze Zeit auf mich gerichtet. Ich kann es fühlen.

»Na schön«, lenkt sie ein. »Lassen wir das.«

»Danke.«

Ihre wilden roten Locken wippen, als sie den Kopf hebt, um zu nicken, aber sie ist plötzlich auf meine Hand konzentriert. Besser gesagt auf das, was ich darin halte.

»Was ist das?«

Ich stecke den Brief nicht schnell genug weg, und jetzt hat sie ihn. Sie schafft es, ihn zu glätten, bevor ich ihn ihr wieder wegschnappen kann, aber dabei reißt die kleine Ecke ab, an der sie ihn festgehalten hat.

»Es ist nichts Wichtiges.«

Und das stimmt. Die Worte meiner Mutter sind nicht wichtig. Lügen sind das nie.

»Au weia! Sieht aber nicht so aus«, schnaubt Jules, die jetzt allerdings zu meinem Rücken spricht, weil ich auf das Lagerfeuer zugehe.

Leute tanzen um die Flammen herum und grölen den Text von Ice Cubes It Was a Good Day, und es sieht aus, als nähmen sie an irgendeinem New-Age-Paarungsritual teil. Der Gedanke ist vielleicht sogar ziemlich treffend.

Bevor ich mir selbst etwas anderes einreden kann, glätte ich den Brief und halte ihn in die Flammen, wo er Feuer fängt. Ich warte bis zum letzten Moment damit, ihn loszulassen, und verbrenne mir fast die Fingerspitzen. Doch irgendwie passt das. Das bin ich in Kurzform: nie ganz sicher, wann es eigentlich genug ist.

Ein Fluch der Familie.

Eine Sekunde bevor Jules in mein Blickfeld tritt, drückt mir jemand ein Bier in die Hand. Ich bin kurzzeitig fasziniert vom Feuer durch das braune Glas meiner Flasche, als ich sie zum Mund führe.

Als der letzte Fitzel Papier verglüht, spüre ich ein seltsames Ziehen in meinem Herzen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen besitze ich weder Schmuck noch Andenken von meiner Mutter. Das einzige Geschenk, das ich je von einem Elternteil bekommen habe, war eine Liste mit Lastern, die länger ist als mein Arm.

»Alles okay? Wir können verschwinden, wenn du willst.«

Jules legt ihre Hand auf meine Schulter, und mir entgeht nicht, dass sie fürsorglich sein will. Doch ich kenne sie wie meine Westentasche, und ihr Angebot kommt nicht von Herzen.

»Mir geht’s gut. Wir können noch eine Weile bleiben.«

Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, ist sie schon wieder unterwegs, um mit irgendeinem Unbekannten zu tanzen. Doch das geht in Ordnung. Da ist eine Ziegelmauer mit meinem Namen drauf neben einem Mülleimer voller Erbrochenem.

Ich blicke ein letztes Mal in Richtung der Flammen und weiß, was sie gerade aus meinem Leben gelöscht haben. Doch das schmerzhafte Gefühl lässt rasch nach, als meine Aufmerksamkeit von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, oberhalb der Flammen von drei identischen Augenpaaren angezogen wird, die auf mich gerichtet sind. Mit halb geschlossenen Lidern – dicht beisammen wie bei einer Meute marodierender Räuber – schlagen mich ihre grüblerischen Blicke in ihren Bann, und ich kann mich nicht abwenden. Ihre Gesichtszüge sind unglaublich ähnlich, weshalb ich zu dem Schluss komme, dass sie Brüder sein müssen.

Die schwarzhaarigen Gottheiten haben mich auf jeden Fall bemerkt, und jetzt scheinen sie sogar über mich zu reden. Zwei von ihnen beugen sich nach vorn, um mit dem Dritten in der Mitte zu sprechen – ein wunderschöner Haufen Sexyness.

Im Ernst jetzt? Ein wunderschöner Haufen Sexyness? Mehr fällt dir nicht dazu ein, Blue?

Mein Gehirn ist eindeutig überlastet – und lässt von Sekunde zu Sekunde mehr nach.

Sie sitzen auf Stühlen, die identisch sind mit den anderen, die über den Hof verteilt stehen – nur dass sie bei ihnen wie Throne wirken. Es ist ihre Präsenz, die den Unterschied macht und sie von allen anderen Jungs, die ich heute Abend gesehen habe, unterscheidet.

Sie sind groß und an den richtigen Stellen kräftig – an Schultern und Brust. Die Wirkung wird noch unterstrichen von ihren athletisch schlanken Oberkörpern. Ich bin schon einigen Leuten begegnet, die einen Raum beherrschen, aber niemandem, der auf die Entfernung so umwerfend war wie diese drei.

Wo haben sie sich den ganzen Abend versteckt?

Selbst als sich die beiden links und rechts von zwei nassen Mädels im Bikini ablenken lassen, die herbeigehüpft kommen und um ihre Aufmerksamkeit buhlen, bleibt der in der Mitte auf mich fokussiert. Flammen brennen in seinen Augen wie ein Höllenfeuer, und ich schwöre, diese Kreatur verströmt Sex wie Bäume Sauerstoff. Ich bin völlig hin und weg von ihm und könnte schwören, dass seine Seele durch das Feuer tritt und geradewegs auf mich zukommt, um schließlich die Wärme von einer Million Sonnen auf meine Haut zu atmen. Ich sehe nur noch ihn und bin unsicher, was ich davon halten soll. Einfach weil ich daran zweifle, ob er das verdient.

Denk nicht darüber nach, Dummkopf.

Schwarze Symbole schlängeln sich an seinem Arm hinauf – von der diamantbesetzten Uhr, die im Licht funkelt, bis unter den Ärmel des weißen T-Shirts, das an seinem kräftigen Bizeps anliegt. Er sitzt da wie ein Gott, der über sein Volk wacht, zeitlos, während sich die Welt um ihn herum bewegt. Es ist wirklich nicht schwer, sich vorzustellen, wie er diese Rolle spielt.

Der gleichmäßige Bass aus den großen Lautsprechern stoppt, und ein neuer Song beginnt – etwas Tiefgründiges und Atmosphärisches, das perfekt zum Ambiente passt. Plötzlich ist Jules zurück, kaum nüchterner als vorhin, bevor sie davongerannt ist, um zu tanzen. Ich merke, wie sie neben mir schwer atmet, und will ihr die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdient, aber ich kann nicht. Weil die fleischgewordene griechische Statue sich von ihrem Thron erhoben hat und, wenn ich nicht völlig verrückt bin … auf mich zukommt.

Heilige Scheiße!

Er ist so gigantisch groß, wie ich es erwartet habe, und ich bin fasziniert davon, wie sich die Menge für ihn teilt. Sein markantes Kinn und seine Wangenknochen würden jedem Model die Hoffnung rauben, jemals sein Level an Perfektion zu erreichen. Kein einziges äußeres Merkmal ist durchschnittlich oder auf irgendeiner Schönheitsskala messbar.

Die breiten Schultern bewegen sich unter seinem T-Shirt, während er provozierend langsam auf mich zugeht und mich in meinen High Heels praktisch dahinschmelzen lässt. Ich bewundere, wie sich der Stoff bis zur Taille an seinen Körper schmiegt und nur die Vorderseite des Shirts hinter dem Designer-Gürtel verschwindet, der in den Schlaufen seiner dunklen Jeans steckt.

Sein Blick ist auf mich gerichtet, und ich schlucke schwer, wobei ich mich erst wieder an Jules’ Anwesenheit erinnere, als sie spricht.

»Oh mein Gott … Hast du eine Ahnung, wer das ist?«

Ich drehe mich nicht um, weiß aber, dass Jules meinem Blick gefolgt sein muss. Als einzige Reaktion schüttle ich benommen den Kopf.

»King Midas höchstpersönlich.«

Sie sagt das, als wüsste ich, wer damit gemeint ist. Doch ich bin nicht klar genug im Kopf, um nachzuhaken.

»Das muss ihr Haus sein«, fügt sie hinzu. »Nun, eins davon. Der Hauptwohnsitz der Familie ist in der Innenstadt, das Penthouse in einem der Hotels von ihrem Dad oder so etwas. Ich glaube, die Jungs haben ein eigenes Stockwerk, aber das könnte auch nur ein Gerücht sein. Aber Scherz beiseite, ich würde meine eigene Großmutter verkaufen, um das zu sehen. Ach Quatsch, ich würde es für ein Mal Lecken tun«, fügt sie frech hinzu.

Wir schweigen beide einen Moment lang.

Dann kreischt sie auf einmal: »Kommt er etwa hierher?«

Sofort macht sie sich daran, ihr Haar zu richten. Es kränkt mich nicht, dass sie glaubt, sie wäre gemeint. Es hat nichts mit ihrer Eitelkeit oder damit zu tun, dass sie mich für eine Art hässliches Entlein hält. So ist einfach die Rollenverteilung in unserer Freundschaft. Ich bin der Tomboy und habe den Tag verflucht, an dem ich Brüste bekommen habe. Währenddessen hat Jules seit der fünften Klasse ihren BH ausgepolstert, weil sie nicht die Geduld hatte, darauf zu warten, dass Mutter Natur ihr einen echten Vorbau gab.

Flirts und Dates waren schon immer ihr Ding. Arbeit und Basketball meins. Es ist nur einem erschöpfenden Wochenende Training zu Beginn unseres Freshman-Jahres zu verdanken, dass ich weiß, wie man in diesen Schuhen läuft. Jules hätte es nicht ertragen können, wenn ich in Sneakers zum Abschlussball der Neunten aufgetaucht wäre.

Ich hingegen hätte darin kein Problem gesehen.

»Bitte lass mich heute Abend die Glückliche sein«, will sie sich wohl selbst leise zuflüstern, wiederholt es aber stattdessen dreimal wie einen Singsang.

Er ist ein gutes Stück näher gekommen, direkt auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Doch bevor er um das Feuer herumgehen kann …

Abgefangen.

Hardcore.

Abgefangen von einer Vollbusigen vom Typ Cheerleader mit braunen Haaren, die ihr bis zur Taille reichen. Ich sehe zu, wie sie ins Bild schwebt und mir die Sicht versperrt. Zuerst ist sie keine große Bedrohung, weil sie nur miteinander flüstern, aber Enttäuschung macht sich breit, als sie ihre zarten manikürten Finger über seinen Bauch gleiten lässt. Sie stoppen erst an der Vorderseite seiner Jeans, und ich spreche nicht von einer harmlosen Berührung. Diese Tussi hält sich echt nicht zurück – als wären sie allein.

In dem Moment wendet er seinen Blick von mir ab, und seine Augen wandern von meinen zu ihren. Sie flüstert noch etwas, und es entlockt ihm ein wissendes Lächeln. An diesem Punkt wird mir klar, dass es keine Chance gibt, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Kein Typ würde je eine sichere Sache gegen eine mögliche eintauschen.

Er sträubt sich nicht, als Besorg’s mir-Barbie ihn an der Hand nimmt und zum Haupthaus führt, wahrscheinlich in ein Schlafzimmer.

Mir wird bewusst, dass mein Blick noch immer in die Richtung geht, in die sie gerade verschwunden sind, und wahrscheinlich sehe ich wie ein hilfloser Welpe aus. Und genau so fühle ich mich auch: wie ein Welpe, der gerade von der Terrasse zurück in den kalten Schnee geschubst wurde.

»Puh«, seufzt Jules. »Wie ätzend ist das denn? Echt ernüchternd.«

Trotz der Enttäuschung, die wie ein Messer in meine Brust sticht, lache ich. »Die Geschichte meines Lebens.«

Sie dreht sich abrupt um, als sie meine Bemerkung zu kapieren scheint.

»Warte mal!«, sagt sie und zieht dramatisch die Silben in die Länge. »Du … die Eiskönigin persönlich … warst an ihm interessiert?«

Ein Seufzer kommt mir über die Lippen. »Freu dich nicht zu früh. Der Augenblick hat nicht gerade mit einem Knall geendet.«

»Vielleicht nicht, aber dieser Durchbruch verdient einen Moment der Aufmerksamkeit. Hat es überhaupt jemanden gegeben seit …«

»Nicht … sag nicht seinen Namen«, warne ich sie in scharfem Ton, woraufhin sie die Hände kapitulierend in die Luft wirft.

»Schon gut«, lenkt sie ein. »Na gut, so unterhaltsam es auch sein mag, ich glaube, ich habe genug von dieser kleinen Abendveranstaltung«, verkündet sie.

Ich bin überrascht, aber zu froh angesichts der Aussicht zu gehen, als dass ich ihren Sinneswandel hinterfragt hätte.

»Ich sollte sowieso nach Hause, um nach Scar zu schauen. Sie versucht immer, Shane reinzuschmuggeln, wenn ich mal nicht auf dem Posten bin.«

Jules, die sich an meinen Arm klammert, als wir den Rasen überqueren, lacht. »Entspann dich, BJ! Sie sind nur Freunde. Obwohl sie Brüder sind, ist Shane überhaupt nicht wie …«

»Nicht … sag nicht seinen Namen!«, unterbreche ich sie erneut. »Wenn du seinen Namen sagst, beschwörst du ihn herauf wie eine Art … ich weiß nicht … grässlich hartnäckigen Dämon.«

»Grässlich sexy Dämon«, murmelt sie, was mich dazu veranlasst, sie in die Rippen zu boxen.

Sie verdreht lächelnd die Augen. »Na schön, wie du meinst. Ich werde seinen Namen nicht sagen.«

Mein Herz entspannt sich ein wenig, während wir Arm in Arm durch das Gras stolpern. »Danke.«

Sie mustert mich, und als sie sich auf die Unterlippe beißt, weiß ich, was sie vorhat. Ich kann sie nicht mehr daran hindern.

»Ricky Ruiz!« Sie posaunt den Namen ins Universum hinaus, und es gibt kein Zurück mehr – auch nicht wenn sie sich eine Hand auf den Mund presst. Angesichts des dämlichen breiten Grinsens, das sie dahinter verbirgt, habe ich gute Lust, ihr eins auf die Nase zu geben.

»Siehst du?« Sie strahlt. »Ich hab ihn gesagt, und nichts ist passiert.«

Ich habe sie klar und deutlich verstanden, aber sie weiß, warum ich zu Ricky Distanz halte. Weil Regeln Ordnung herstellen: keine unerwünschten Besuche, keine gelegentlichen Anrufe.

Nicht dass er diese Grenzen in jüngster Zeit respektiert hätte.

Ein Welle von Erinnerungen kommt hoch. Erinnerungen daran, wie er sich vom besten Freund meines großen Bruders in … es spielt wirklich keine Rolle.

Schnee von gestern.

»Der Himmel ist nicht eingestürzt«, fährt Jules fort und versucht, ihren Punkt zu verdeutlichen. »Die Erde hat sich nicht aufgetan und uns verschluckt. Du hast dir völlig grundlos …«

Das Telefon klingelt, und ich bin einen Moment lang sprachlos und schockiert, dass meine Vorhersage zutrifft.

»Sieh nur, was du getan hast, Jules!«, schreie ich in den Himmel, unfähig, mir ein Lächeln zu verkneifen, als sie lauthals lacht.

»Warte mal, hast du ihn wirklich unter Der Fehler in deinen Kontakten gespeichert?« Sie hat es gesehen, bevor ich auf Ablehnen drücke.

Ich beschließe, ihn und sie zu ignorieren. Ihre rote Mähne wippt, als sie den Kopf schüttelt.

»Ganz schön grausam, meinst du nicht, BJ?«

»Genauso grausam, wie mich noch immer so zu nennen, nachdem ich dich bereits unzählige Male gebeten habe, es nicht zu tun.« Ich erwidere nichts auf ihren restlichen Kommentar.

»Ja, wir haben darüber gesprochen, aber nach über zehn Jahren Freundschaft habe ich mir, glaube ich, das Recht verdient, dich als schlechten Witz diskret ›Blowjob‹ zu nennen«, wendet sie ein. »Und jetzt versuch nicht länger, das Thema zu wechseln.«

Erwischt.

»Du weißt aus den Millionen Textnachrichten, die er geschickt hat, dass er nicht wegen euch beiden anruft, warum gehst du also nicht ran? Du könntest ihn vielleicht aus seinem Elend erlösen.«

Im Grunde hat Jules völlig recht, aber sie vergisst etwas. Ich habe kein Interesse daran, mit oder über Hunter zu sprechen. Er hat sich das selbst eingebrockt.

Und damit muss er jetzt klarkommen. Allein.

»Wie lange braucht das Uber noch?«, frage ich, anstatt das Gespräch fortzusetzen.

Jules will es noch nicht beenden, aber sie weiß, dass ich stur bin.

»Fünf Minuten?«

Sehr schön. Fünf mickrige Minuten lang kann ich eine Fortsetzung der Unterhaltung bestimmt verhindern.

Wir stehen schweigend am Straßenrand, was untypisch für uns ist. Ihr Blick brennt mir ein Loch in die Wange, weil sie frustriert darüber ist, dass ich dichtgemacht habe.

»Na schön, dann reden wir über etwas anderes«, lenkt sie ein und lässt meinen Arm los, um ihre Arme vor der Brust zu verschränken. »Sag mir, wie du den Abend fandest?«

Ich weiß nicht genau, worauf sie hinauswill, also zucke ich die Achseln. »Es war okay, denke ich. Ein Haufen verwöhnter Kids, die Gras geraucht und was getrunken haben. Im Grunde wie auf der South Side, nur mit größeren Häusern und mehr Geld.«

Sie verdreht die Augen, was bedeutet, dass das nicht die Antwort war, die sie hören wollte.

»Du denkst also, du kommst damit klar?« Mir entgeht die ehrliche Besorgnis in ihrem Tonfall nicht. »Die meisten von denen werden auf der Cypress Prep deine Klassenkameraden sein. Ich will irgendwie nur wissen, ob die Veränderung für dich okay ist.«

»CP ist Mittel zum Zweck«, erwidere ich mit einem Seufzen. »Es ist eine Chance, und davon bekomme ich nicht viele, also … Carpe diem und so weiter.«

Ich verstumme, als ich daran denke, wie viel Glück ich mit besagter Chance habe. Auch wenn ich gerade ungern an meinen Bruder denken mag, so habe ich das doch Hunter zu verdanken.

»Du bist immer so ausweichend«, wirft Jules mir vor, was nicht ganz falsch ist.

»Und du liebst mich so, wie ich bin.«

»Mmm … das geht mehr in die Richtung, dass ich dich so toleriere, wie du bist. Ein großer Unterschied, BJ.«

Als sich uns ein Paar Scheinwerfer nähern, stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Es ist der erste Schritt auf dem Weg, diesen Abend zu beenden. Ich habe lange genug so getan, als würde ich hierher passen, als wäre mein Leben dieses Jahr nicht auf den Kopf gestellt worden.

In vielerlei Hinsicht.

Ich will nur noch nach Hause, den restlichen Sommer und das letzte bisschen Normalität genießen, das ich für eine ganze Weile haben werde.

Da mir die Zeit davonläuft, genieße ich es lieber, solange ich kann.

2

WEST

Juli, einen Monat später

Sterling steckt den Kopf vom Flur ins Arbeitszimmer. Er steht Schmiere und hat gleichzeitig schreckliche Angst, was nicht wirklich hilfreich ist.

»Los, beeil dich!«, warnt er mich. »Dane hat gerade geschrieben. Sie kommen.«

Ich höre ihn, zeige ihm den Stinkefinger und suche weiter. Sie würden zwei Minuten im Parkhaus verbringen und anschließend eineinhalb Minuten brauchen, um mit dem Aufzug in den sechsundzwanzigsten Stock zu fahren. Wenn ich bis dahin nicht fertig bin, sind wir geliefert.

»Wo zum Teufel ist es?«, frage ich mich flüsternd und wünschte, Dane wäre geblieben, um mich zu unterstützen, aber ihn in der Lobby zu haben, ist wahrscheinlich besser, da wir jetzt eine geschätzte Ankunftszeit unserer Eltern haben. Trotzdem hätten wir das Ganze vielleicht besser geplant, wenn die gesamte »Diebstahlidee« nicht erst vor zehn Minuten entwickelt worden wäre.

Es hat mit dem Anruf zwischen meinem Vater und mir begonnen, der sich in ein Schreiduell verwandelt hat. Ein Nachbar im Bellvue Hills hat heute beschlossen, dass es ein guter Abend wäre, um zu petzen, dass wir seit Beginn des Sommers fast jedes Wochenende Partys gefeiert haben. Während er also mit Mom durch die Straßen von Cypress gebraust war, hat er meine Brüder und mich darüber informiert, dass der Zugang zu allen unseren Konten für uns bis zum Beginn des Schuljahrs gesperrt worden sei.

Er ist sauer, aber das hat nichts mit dem Haus zu tun. Er war seit beinahe einem Jahr nicht mehr dort. Es geht um Kontrolle. Der allmächtige Vin Golden hasst die Vorstellung, dass so etwas ohne seine Erlaubnis direkt vor seiner Nase stattfindet.

Anstatt also auf den Deal zu verzichten, den ich mit dem Besitzer eines 1970er Chevelle ausgehandelt habe, wird der gute alte Vin nun die Rechnung übernehmen.

Eine Flut von Benachrichtigungen geht auf meinem Telefon ein, und auf der anderen Seite der Schwelle beginnt Sterling, mich leise zu verfluchen. Die Geräuschkulisse strapaziert meine Nerven nur noch mehr. Er verliert die Nerven, was dazu führt, dass ich ebenfalls die Nerven zu verlieren beginne.

»Pandora schickt ihre Updates«, sagt Sterling, als er kurz reinschaut. »Einer ihrer Lakaien hat über Vin Bericht erstattet und gesagt, er habe ein paar rote Ampeln überfahren, um hierherzukommen.«

Also wird er doppelt so schnell hier sein, wenn er dermaßen sauer ist. Mein Zeitfenster, um zu entkommen, schließt sich schneller, als ich erwartet habe.

Ich gehe zur nächsten Schublade, noch immer in der Hoffnung, über eine ganz bestimmte Kreditkarte zu stolpern. Die schwarze ohne Limit. Diejenige, die mein Vater nur herausnimmt, wenn er wirklich am Arsch ist und seine letzte Rettung darin besteht, Mom etwas wahnsinnig Teures zu kaufen, damit die Tränen versiegen.

Das Traurige ist, dass es mindestens drei- bis viermal im Jahr passiert. Zuwendungen dafür, ein Arschloch zu sein.

Ich benutze sie nicht, um Diamanten zu kaufen oder irgendeinen exotischen Urlaub zu buchen. Meine Verschwendung hat einen LS6454 Motor unter der Haube.

»Schrott. Müll. Scheißdreck.«

Unzählige Stapel ungeöffneter Umschläge bremsen mich bei meiner Suche. Ich schiebe sie beiseite und finde noch immer nichts.

»Vergiss es. Ich muss noch mal zurückkommen, wenn sie im Bett sind.«

»Wird aber auch Zeit.« Kaum hat Sterling die Worte ausgesprochen, als ich höre, wie seine Schritte sich auf dem Marmorboden entfernen. Bestimmt wartet er schon beim Aufzug, um zu unserer eigenen Wohnung ein Stockwerk tiefer zu fahren.

»Seit wann bist du ein solcher Feigling?«, rufe ich aus, in dem Wissen, dass er wahrscheinlich zu weit weg ist, um mich zu hören.

Es ist eine Weile her, dass ich ihn so gereizt erlebt habe. Das gesamte Team verzichtet jedes Jahr von Juli bis zum Ende unserer Footballsaison darauf, Gras zu rauchen. Nur dass Sterling ein bisschen schwerer damit zurechtkommt als der Rest von uns. Während wir das Zeug genießen, braucht er es fast, um überhaupt zu funktionieren.

Der Typ ist völlig angespannt, und das Einzige, was dagegen hilft, ist, öfter Sex zu haben.

Zum Glück hat er keine Probleme, welchen zu kriegen.

Ich bin beinahe an der Tür und damit in Sicherheit, als ich abrupt stehen bleibe und die Sohlen meiner Sneakers auf den Fliesen quietschen. Jetzt weiterzusuchen ist das Dümmste, was ich tun kann, aber … ich habe eine Idee, wo die Karte sein könnte.

»Scheiße!«

Ich blicke zu der gegenüberliegenden Wand. Das grässliche goldgerahmte Ölgemälde, das über dem Kamin hängt, ist mehr als Kunst. Es verbirgt einen Safe. Mein Dad hat keine Ahnung, dass ich seit meinem zehnten Lebensjahr den Code kenne, aber es ist eins seiner vielen Geheimnisse, die ich über die Jahre für mich behalten habe.

Ich blicke zur rettenden Tür und dann wieder zu dem Gemälde.

»Scheiße!«, murmle ich erneut.

Ich eile in Lichtgeschwindigkeit durch den Raum und drehe das Gemälde an seinen verborgenen Scharnieren um. Ein Datenfeld mit grünen Leuchtziffern kommt darunter zum Vorschein. Ich tippe die sechs Ziffern ein, die in mein Gedächtnis eingebrannt sind. Die Tasten piepen jedes Mal, und Sterlings verdammte Angst befällt jetzt auch mich.

Ich drücke die letzte Ziffer und … gewonnen. Eine euphorische Sekunde fühle ich mich wie 007, bevor mir wieder einfällt, dass die Uhr tickt. Ich schaue in das kleine Fach und mache eine Bestandsaufnahme.

Ein silberner USB-Stick.

Eine von mehreren Pistolen, die er besitzt.

Eine Schachtel Munition.

Die Karte, wegen der ich gekommen bin und … ein Handy.

Ich habe fest vor, alles außer dem, was ich suche, zu ignorieren, aber ich lasse mich ablenken von dem dunklen Display, das ganz hinten im Safe liegt.

Es könnte eine vollkommen begründete, harmlose Erklärung dafür geben, warum mein Vater – ein angesehener Bauunternehmer hier in Cypress Pointe und Umgebung – das Handy hier aufbewahrt. Doch um das zu glauben, müsste ich so tun, als würde ich den Mann hinter der Maske nicht kennen.

Er ist kalt, manipulativ und ein absolut mieser Vater und Ehemann.

Die Versuchung ist groß. Ich habe das Telefon in der Hand, bevor ich es mir selbst ausreden kann. Ich blicke kurz über die Schulter und schalte es ein. Die fünfzehn oder zwanzig Sekunden, die es braucht, fühlen sich an wie Stunden. Als es endlich reagiert, ist die Versuchung groß, den Zugangscode einzugeben. Es hätte alles sein können, aber ich muss es nicht mehr als einmal versuchen. Es sind die gleichen sechs Ziffern wie beim Safe, die gleichen wie beim Passwort für den Aufzug, der Zugang zu ihrem und unserem Penthouse gewährt.

Das Geburtsdatum meiner Mutter.

Zweifellos eine Gewohnheit, die auf Schuldgefühlen beruht.

Es gibt nicht viele App-Icons, was bedeutet, dass er es nicht allzu oft benutzt. Ich scrolle durch einen ungenutzten E-Mail-Account, der mit dem Telefon verbunden ist. Nichts eingegangen, nichts rausgeschickt. Ich scrolle weiter. Logischerweise schnüffle ich als Nächstes in den Textnachrichten und der Anrufliste. Falls es jemals etwas darin gegeben hatte, war es jetzt verschwunden. Also gehe ich weiter zur Bildergalerie und bin schlagartig völlig verwirrt.

In einer anderen Wirklichkeit wäre ich erschrocken gewesen, Fotos von einem halb nackten Mädchen im Besitz meines Vaters zu finden, aber ich glaube längst nicht mehr, dass er unfehlbar ist. Er hat eine Schwäche für Frauen. Das ist kein Geheimnis. Aber etwas bringt mich doch aus der Fassung, als ich in das Bild hineinzoome und ihr Gesicht klar erkennen kann.

Denn ich kenne das Mädchen.

Nun ja, nicht offiziell, aber … ich habe ihr Gesicht nicht vergessen.

Ich habe sie zum ersten Mal vor etwas über einem Monat von Flammen eingerahmt beim Lagerfeuer gesehen. Sie stand einfach nur da, rehäugig, unschuldig. Scheiße, dass ein solches Foto wie dieses von ihr existiert, hätte ich nicht vermutet.

Sie liegt auf einem weißen Laken, und lächelt mit vollen Lippen in die Kamera für ein Selfie, die Brüste nackt und himmelwärts gerichtet. Am Lagerfeuer habe ich mich gefragt, wie sie wohl nackt auf meinem Bett aussehen würde. Wenn Parker mich nicht abgelenkt hätte mit ihrem Versprechen, mir den »besten Blowjob aller Zeiten« zu geben, hätte ich es vielleicht selbst herausgefunden.

PS: Parker hat gelogen. Das war eine schwache Vorstellung. Aber ich schweife ab.

Das Mädchen auf dem Bild ist nicht älter als meine Brüder und ich – achtzehn, vielleicht noch nicht ganz. Mit anderen Worten, sie ist viel zu jung für meinen Vater.

Ich lasse den Blick abwärtsgleiten, über die glatte, gebräunte Haut, bis zu ihrem Bauchnabel. Ich frage mich, ob sie wohl völlig nackt war, denn das Bild endete dort.

Als mir bewusst wird, dass ich das Mädchen begehre, schüttle ich den Kopf, um wieder klar denken zu können. Mein neues Ziel ist jetzt, einen Zusammenhang herzustellen und herauszufinden, was zu dieser Situation geführt hat. Doch die Umstände sind schwer einzuschätzen.

War er dort gewesen, als sie den Moment eingefangen hat?

War das die Reaktion auf eine spezielle Bitte von ihm gewesen?

Hatte sie es ihm einfach geschickt, um ihn daran zu erinnern, was er verpasste?

Mir dreht sich der Magen um, und ich schwöre, mein Blut wird zu Gift und versengt mich von innen, während es durch meine Adern fließt. Frauen wie diese sehen nur eins, wenn sie meinen Vater anschauen.

Sie sehen Geld.

Was sie übersehen, ist, dass es eine Frau an seiner Seite gibt. Eine Frau, die bereits alles durchgemacht hat – das Gute, das Schlechte und das Hässliche. Meine Mutter ist eine hoffnungslose Romantikerin, was seinen miesen Charakter betrifft. Die Betonung liegt auf hoffnungslos. Das Problem ist, er weiß, dass sie ihn nie verlassen wird. Also ändert er sich nicht.

Hier ist demnach eine neue Zerstreuung, die die wenige Zeit beansprucht, die er nicht im Büro verbringt. Noch ein Grund für ihn, tage- und nächtelang wegzubleiben. Noch ein geldgeiles Miststück, das von seinem Bankkonto profitieren will.

Perfekt.

Anstatt das Telefon mitzunehmen und zu hoffen, dass mein Vater es nicht merkt, hole ich mein eigenes raus und schieße ein Foto von dem Bild.

Wer auch immer sie sein mag, was auch immer sie dieser Familie wegzunehmen gedenkt, was die anderen Frauen vor ihr noch nicht gestohlen haben, sie wird sich noch umgucken.

Wenn ich sie finde – und ich werde sie finden –, schwöre ich, ihre ganze verdammte Welt in Trümmer zu legen.

Auge um Auge, Bitch.

3

BLUE

Ende August, sieben Wochen später

Mikes Tür wird nur noch Schrott sein, wenn ich mit ihm fertig bin. Er hat die uralte Regel, dass er vor Mittag nicht gestört werden will, aber zum Teufel damit und zum Teufel mit ihm. Zum Teufel mit der gelallten Standpauke, die ich mir anhören muss, sobald er wieder bei sich ist.

Wenn ich nur daran denke, kann ich bereits den Whiskey vom Vortag in seinem Atem riechen und die feuchte Wärme auf meiner Haut spüren, wenn er mir nahe kommt. Ein Zeichen dafür, dass er wirklich wütend ist.

Er ist immer wütend.

Doch auch wenn ich weiß, was kommt, ist alles, was zählt, der in meiner Faust zerknüllte Brief über die Stromabschaltung. Wenn ich nicht in der Kramschublade nach einem Stift gesucht hätte, um seine Unterschrift auf Papieren für Scarlett zu fälschen, hätte ich ihn niemals gefunden.

Ich schlage mit meiner Handfläche gegen seine Tür, und der Lärm erfüllt das Haus.

»Eine Woche, Mike! Dann wird der Strom abgestellt. Besten Dank für die Vorwarnung!«

Wem will ich etwas vormachen? Es ist sinnlos, und als ich auf den Boden gleite, fällt mir wieder ein, dass das Einzige, was dieser Mann außer Mom je geliebt hat – so zerrüttet ihre Beziehung auch ist –, sein Schnaps war. Und seit sie weg ist, scheint ihm alles andere noch gleichgültiger zu sein als zuvor.

Einschließlich uns, seinen Kindern. Der Vater des Jahres ist er bestimmt nicht.

Als ich ein Rumoren in seinem Schlafzimmer höre, lege ich ein Ohr an die Tür. Aber nachdem ein dumpfes Geräusch und ein Stöhnen erklingt, wird es wieder still. Die Wirklichkeit holt mich ein, und zweifellos ist es an mir, das zu regeln.

Wie immer.

Tränen der Wut treten mir in die Augen, die ich nur unterdrücke, weil mein Blick auf das verstörte, verstrubbelte Mädchen fällt, das sich wie Frankensteins Monster den Flur entlangschleppt. Ich fühle mich ein bisschen schuldig, weil ich sie mit meiner Tirade geweckt habe, und zwinge mich zu einem Lächeln. Es ist das Beste, was ich tun kann, um sie vor dem wahren Leben hier unter Mikes Dach abzuschirmen.

Mom sagte immer, Scarlett sei genauso mein Kind wie ihrs. Es ist wahr, auch wenn ich das Mädchen manchmal am liebsten aus seinen Flip-Flops schubsen würde. Klar, sie ist inzwischen so groß wie ich, trotzdem wird sie immer meine kleine Schwester sein.

Immer.

»Herrje! Was soll der Krach?« Sie lässt sich an der Wand hinabgleiten, bis sie neben mir sitzt und ihre Hüfte gegen meine presst.

Rasch stecke ich die Abschaltbenachrichtigung in die Tasche meiner Pyjamahose und lächle erneut, um zu verbergen, dass ich stinksauer bin.

»Mach dir keine Sorgen«, ist das Beste, was mir einfällt, ohne zu lügen. Obwohl es wahrscheinlich trotzdem eine Lüge ist. Wir alle müssen uns Sorgen darüber machen, im Dunkeln zu sitzen. Es ist allerdings nicht ihre Bürde.

Es ist meine.

Meine einzige Hoffnung, nicht ausgefragt zu werden, ist, das Thema zu wechseln, also tue ich das.

»Ich habe dein Formular unterschrieben. Für Montag müsste alles bereit sein.«

Einer ihrer Mundwinkel geht nach oben, als sie sich an meine Schulter lehnt. »Danke, Schwesterherz.«

Ich nicke, um ihr zu zeigen, dass ich das gern getan habe. »In ein paar Tagen bist du also offiziell Schülerin auf einer Highschool. Wie fühlt sich das an?« Als ich ihr Knie mit meinem anstoße, zuckt sie die Achseln.

»Okay. Es wäre aber schön, dich in der Nähe zu haben.«

Die Worte lösen Schuldgefühle bei mir aus, obwohl ich es nicht war, die heimlich mein Stipendium für die Cypress Prep beantragt hat. Hunter ist dafür verantwortlich. Offensichtlich hat er etwas in mir gesehen, das nach seiner Einschätzung unsere Eltern nie sehen würden. Den Antrag heimlich einzureichen, war seine Art, mir zu zeigen, dass ich mehr draufhabe, als mir bewusst war.

Und dann war er fort.

Seine Bemühungen haben mich auf eine Warteliste gebracht, und schließlich kam der Brief mit der Zulassung für das kommende Schuljahr, sodass ich zu Beginn meines Abschlussjahres dorthin wechseln werde. Ihr wisst schon, weil es allen Teenagern gefällt, als Senior in eine neue Schule verfrachtet zu werden, wo man keine Menschenseele kennt.

Was natürlich sarkastisch gemeint ist.

Ich fühlte mich verpflichtet, Ja zu sagen, als der Brief kam, aber diese Antwort hat einen hohen Preis. Es bedeutet, Scarlett in dem rauen Umfeld der South Cypress High allein zu lassen – in der schlimmsten aller fragwürdigen Schulen der Stadt.

Klar, Jules hat ein Auge auf sie, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass jemand anders die Aufgabe so gut erledigen kann wie ich.

Ich rede mir ein, dass sie schon klarkommt, weil sie und ich enorm widerstandsfähig sind, aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Doch im Augenblick können wir es uns nicht leisten, uns bei unseren Entscheidungen von Gefühlen leiten zu lassen. Ich muss das machen, für uns beide.

»Ich bin nicht diejenige, die nervös sein sollte, Preppy«, neckt sie mich. »Wie kommst du damit klar, unter Pandoras wachsamem Auge zu sein?«

Ich runzle die Stirn. »Wer ist diese Pandora? Jules hat sie mal erwähnt.«

Meine Unwissenheit nervt meine Schwester anscheinend, denn sie verdreht sichtbar die Augen.

»Du lebst echt hinterm Mond«, schnaubt sie. »Sie – oder er, keiner weiß das so genau – ist eine Social-Media-Influencerin. Sie postet, was immer sie oder einer ihrer Lakaien sieht oder mitbekommt. Ich meine, auf ihrer App und ihren Social-Media-Accounts. Wenn irgendwas an der CPA abgeht, das eine Nachricht wert ist, kannst du sicher sein, dass Pandora darüber Bescheid weiß undes öffentlich machen wird. Es ist meistens Zeug über Leute von der North Side, aber alle folgen ihr«, fügt sie hinzu. »Sei also vorgewarnt.«

Ich muss lachen. Scarlett meint es gut, aber sie ist immer ein wenig dramatisch.

»Na ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mein Jahr unsichtbar beginne und es wahrscheinlich auch so beende. Also kein Grund zur Sorge, ich könnte unseren guten Familiennamen besudeln«, necke ich sie in dem Wissen, dass unser Name in der Gegend einen Dreck bedeutet.

Wie aufs Stichwort lässt Mike auf der anderen Seite der Tür ordentlich einen fahren und unterstreicht damit den Gedanken, den ich gerade hatte.

Scarletts Mund steht offen, während sie versucht, nicht zu lachen. Doch dann verlieren wir beide im selben Moment die Beherrschung und platzen heraus. So sind wir eben, aus dem feinsten Holz geschnitzt. Absolute Oberklasse.

Mein Blick wandert zu der Wanduhr direkt über dem langen Tisch, auf dem sich der ganze Krempel stapelt, den wir während der letzten Woche aus Faulheit nicht weggeräumt haben.

»Verflixt!« Ich springe vom Boden auf. »Ich muss los. Die Einführungsveranstaltung für den Abschlussjahrgang findet gleich statt.«

»Du bist immer irgendwohin unterwegs«, sagt sie wie beiläufig, und trotzdem trifft es mich mitten ins Herz. Ich habe diesen Sommer viele Stunden im Diner gearbeitet in der Hoffnung, genug übrig zu haben, um uns ein paar neue Sachen für die Schule zu besorgen. Doch nachdem die Rechnungen bezahlt waren und jetzt noch die offene Stromrechnung, bin ich mir nicht mehr sicher, ob das der Fall sein wird.

»Ich weiß«, seufze ich. »Es hört irgendwie nie auf.«

»Dann tu dir selbst einen Gefallen«, ruft Scarlett.

Ich schlage meine Zimmertür zu und zwänge mich in ein paar Jeansshorts. »Und der wäre?«

»Ich schicke dir einen Link zu der Klatsch-App«, sagt sie vom Flur aus. »Wenn du vorhast, das Drama zu überleben, dann solltest du ihm einen Schritt voraus sein.«

Schon wieder diese Theatralik.

Ich binde mein Haar zu einem Pferdeschwanz und frage: »Wieso interessiert dich das überhaupt? Ich meine, du kennst diese Leute nicht einmal. Ist das nicht nur ein Haufen Blödsinn über die Leute von der North Side? Jede Menge Snobs, die damit angeben, dass sie gerade von ihrem letzten Europatrip zurück sind oder die Einladung zu einer Filmpremiere ausgeschlagen haben?«

Ich tue mein Bestes, um nicht verbittert und frustriert zu klingen, aber der rosa Brief, der gerade meinen Morgen ruiniert hat, erschwert es.

»Du willst doch gar nicht wirklich zu dieser Welt gehören«, sage ich zu ihr, doch als es auf dem Flur still bleibt, stecke ich nur die Vorderseite meines Tanktops in die Shorts und mache die Tür auf, um zu fragen. »Willst du etwa zu dieser Welt gehören, Scarlett?«

Sie zuckt mit den Achseln, gibt aber keine klare Antwort.

»Wollen wir das nicht alle? Dass uns die Welt zu Füßen liegt?«

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht das zu sagen, was mir in den Sinn kommt. Derlei Träume haben viele Mädchen dazu gebracht, dumme und leichtsinnige Dinge zu tun.

»Vorsicht, Kleine. Du hast Flausen im Kopf«, warne ich sie, bin mir aber nicht sicher, ob es bei ihr ankommt.

Sie streckt die Zunge heraus, und als ich im Flur an ihr vorbeigehe, zerzause ich ihr rosa gefärbtes Haar noch mehr. Am Küchentisch beuge ich mich hinunter, um nach Moms Sneakern zu greifen, die ich mir geliehen habe.

»Lade die App herunter«, wiederholt Scar. Ich verdrehe die Augen, als sie nicht hinschaut.

»Na schön, aber nur, wenn du das Geschirr spülst, während ich nicht da bin. Es steht schon seit drei Tagen rum, und das Haus riecht langsam schlimmer als deine Socken.«

Sie reagiert nicht auf meine Bitte, weil ihr Blick auf das hell leuchtende Display in ihrer Hand geheftet ist.

Ich hasse, was ich sogleich tun werde, stürme aber trotzdem auf sie zu.

Ein lautes »Hey!« schallt in meinen Ohren, und ich ernte genau den Blick, den ich erwartet habe, nachdem ich ihr das Handy weggeschnappt habe.

»Ich habe dich schon vor Tagen darum gebeten, Scar. Also behalte ich dein Telefon, bis du das erledigt hast«, verkünde ich.

Ihre Kinnlade klappt herunter. »Was zum …?«

»Falls es einen Notfall gibt, während ich weg bin, lässt dich Ms Levinson bestimmt von ihrem Festnetz aus telefonieren.«

»Aber wenn Shane mir eine Textnachricht schickt?«

Ich stelle mir ihren allzu hübschen besten Freund vor und zucke die Achseln. »Ich werde ihm antworten, um ihm mitzuteilen, dass du Hausarrest hast. Und falls er vorbeikommt, dürft ihr nur auf der Terrasse sitzen und reden. Vorausgesetzt das Geschirr ist gespült«, füge ich hinzu. »Aber es ist mir ernst damit, dass er nicht ins Haus darf, während ich weg bin. Verstanden?«

Ein trotziges Schnauben. »Im Ernst jetzt? Ich darf keine Freunde mehr mit reinnehmen?«

»Keine mit einem Schwanz«, sage ich leise zu mir selbst.

»Wir kennen die Ruiz schon unser ganzes Leben lang, Blue. Sei vernünftig.«

Sie hat keine Ahnung, dass die Erinnerung an Shanes Verwandtschaft mit Ricky ihr Argument zunichtemacht.

»Er hilft mir bei der Planung des Kuchenbasars«, fügt sie hinzu.

Ich steh auf dem Schlauch. »Kuchenbasar?«

Sie verdreht die Augen, was bedeutet, dass sie gleich etwas wiederholt, was wir bereits besprochen haben. Etwas, woran ich mich erinnern sollte.

»Ich verkaufe am nächsten Wochenende wieder Cookies und Brownies auf dem Straßenfest. Das Geld dafür deckt vielleicht einen Teil der Ausgaben für Einkäufe.«

Mein Herz bricht.

Sie ist vierzehn. Woher unsere nächste Mahlzeit kommt, sollte ihre geringste Sorge sein. Aber … leider ist es anders.

Die einzige Möglichkeit, nicht sentimental zu werden, ist, nicht nachzugeben. Also tue ich so, als würde ich die Tatsache ignorieren, dass sie so langsam die belastende Verantwortung für unsere Haushaltskosten spürt, wie ich es schon seit Jahren tue.

»Er kommt nicht näher als drei Meter an das Haus heran, Scar«, wiederhole ich. »Verstanden?«

Sie verdreht die Augen erneut. »Ja, du Ratte. Ich verstehe.«

»Gut.« Als ich ein breites Grinsen aufsetze, nur um sie zu ärgern, packt sie das nächstbeste Ding, das sie auf dem Flurboden finden kann – ein dünnes Notizheft –, und wirft es nach mir.

Sie verfehlt mich, und ich eile zur Hintertür, Tasche und Schlüssel in der Hand. Die Unterlagen, die ich heute Morgen brauche, sind bereits ausgefüllt und liegen auf dem Beifahrersitz.

»Bye, Kleine«, necke ich sie. »Das Geschirr!«

»Du bist eine Diktatorin!«, ruft sie.

»Mach so weiter, und das Telefon gehört bis Montag mir.«

»Okay, okay, okay! Sei nicht die ganze Zeit so ernst!«, lenkt sie ein in dem Wissen, dass das keine leere Drohung ist. »Lade einfach die App herunter. Bitte.«

Sie setzt diesen dämlichen Welpenblick auf, der bei einer großen Schwester nicht funktionieren sollte, aber wie gesagt, sie ist mehr mein Kind als alles andere.

»Na schön …« Ich gebe nach und seufze, als ich die Tür hinter mir schließe.

Sobald ich im Wagen sitze, suche ich die App und erfülle mein Versprechen. Ein rosa-schwarz getigertes Icon erscheint auf dem Display, und ich bin offiziell mit der Onlinewelt verbunden, an der ich nach Meinung meiner Schwester teilhaben sollte.

Aus Neugier hätte ich sie fast geöffnet, aber ich komme zur Vernunft und werfe das Handy stattdessen auf den Beifahrersitz. Scarlett wird mich nicht dazu bringen, ihr auf dieses unbekannte Terrain zu folgen und mich durch die digitalen Wäschekörbe der reichen Elite zu wühlen.

Ihre Schmutzwäsche geht mich nichts an.

Und damit widerstehe ich der Versuchung und lasse stattdessen den Motor an. Der Tag, an dem ich mehr tue, als diese App auf meinem Handy zu tolerieren, um meine Schwester zu besänftigen, wird der Tag sein, an dem die Hölle zufriert.

4

WEST

Der Sommer war für das Team im Grunde vor zwei Wochen vorbei, als täglich zwei Trainingseinheiten angesetzt wurden. Was bedeutet, dass wir den ganzen Tag in der Sonne sind, wenig Pausen haben und null Mitleid bekommen. Wenn wir nicht auf dem Feld stehen, sind wir im Kraftraum.

Weil die Mannschaft hauptsächlich aus Seniors besteht, hat man uns heute für die Einführung freigegeben. Doch dann geht die Plackerei morgen um acht Uhr früh weiter – ein Nachholtraining am Samstag.

Manchmal frage ich mich, warum ich mir das jedes Jahr antue, aber dann erinnere ich mich wieder an den Rausch, den ich nur beim Football empfinde.

Ich nutze die zehn Minuten, die wir haben, bevor die Veranstaltung losgeht, um die Wassertropfen abzuwischen, die nach dem Besuch in der Autowaschanlage von den Spiegeln abperlen. Wenn alles glattgeht, wird die Chevelle bald fahrbereit sein. Eventuell rechtzeitig zu Homecoming, wenn ich Glück habe. Ich blicke zwischendurch hoch, meist wenn ein kurzer Rock vorbeikommt. Die Mädchen, die einen tragen, winken, sobald sie meine Aufmerksamkeit haben, und ich weiß bereits, dass es ein gutes Jahr wird.

Dane posiert auf dem Beifahrersitz. Mit einem Fuß auf dem Asphalt lehnt er sich zurück, bis sein Gesicht für ein Selfie in der Sonne ist. Der eitle Affe glaubt, dass seine Followerinnen von seinen grünen Augen besessen sind. Und so, wie sie auf seine Posts abfahren, hat er wahrscheinlich recht.

»Wie ich höre, soll South Cypress High dieses Jahr ein Problem sein«, seufzt Sterling, der an meiner Motorhaube lehnt.

Ich blicke auf. »Warum?«

»Offenbar haben sie gerade einen Typen von Ohio transferiert, der ein Football-Phänomen zu sein scheint.«

»Welche Position?« Dane hält bei seinem Shooting inne.

»Quarterback«, antwortet Sterling.

»Spielerstatistik?« Ich bin neugierig, aber nicht beunruhigt.

»Er wirft einen 70-Yard-Pass. Hat außerdem ein gutes Auge und das Feld im Blick wie ein Profi.«

»Keine große Sache. Ich werfe auch siebzig«, kontere ich.

»Ja, aber … als Freshman hast du das noch nicht geschafft.«

Jetzt bin ich neugierig. Die beiden ahnen es wohl, denn ich habe aufgehört, am Wagen zu arbeiten.

»Wie ich höre, werden sie auch ein wenig übermütig«, fügt Sterling hinzu. »Das gesamte Team redet davon, wie sie den Distrikt und vielleicht sogar die Regionalmeisterschaft im Griff haben.«

Auf gar keinen Fall. Ich werde diese Saison nicht ohne die Meisterschaft auf dem Konto beenden, weil irgendein mieser kleiner Zehntklässler sie sich geschnappt hat.

Auch wenn der Titel das Ziel des gesamten Teams ist, brauche ich ihn aus anderen Gründen – als Sicherheitsnetz sozusagen. Als Argument für den Coach bei der NCU, mir den Platz zu geben, den ich verdiene, egal was ihm sonst über mich zu Ohren kommt.

Man könnte wohl sagen, dass ich nicht gerade ein Engel war.

»Soll ihn jemand für uns unter die Lupe nehmen?« Ich verberge meinen Frust, spüre jedoch die Anspannung in meinen Schultern.

»Noch nicht, aber wir sollten uns lieber früher als später darum kümmern. Ich frag mal Trip«, bietet Sterling an.

Ich nicke und werfe den schmutzigen Lappen in den Kofferraum und klappe ihn zu. Bevor ich noch etwas sagen kann, höre ich Dane, wie er ein lang gezogenes »Verdammt …« murmelt.

Sterling und ich folgen seinem Blick, bis wir erkennen, wen er anstarrt.

Er erhebt sich sogar von seinem Sitz und legt sein Handy beiseite, trotz der hungrigen Fans, die er hängen lässt.

Allein das grenzt an ein Wunder.

Ich bin mir nicht sicher, wer seine Aufmerksamkeit erregt hat, aber ich habe ganz bestimmt nicht erwartet, dass es Joss ist. Sie ist allerdings das einzige Mädchen, dass mit einem breiten Grinsen in vollem Tempo auf meinen Wagen zuläuft, die Arme bereits in unsere Richtung ausgestreckt, obwohl sie den Parkplatz erst zur Hälfte überquert hat.

Verständlich, dass Dane völlig fasziniert ist. Sie hat während des Sommers die beiden Hälften ihrer Familie besucht – zuerst auf Haiti, dann auf Kuba –, und das hat ihrem Körper auf jeden Fall gutgetan. Sie war schon vorher rattenscharf, aber »Verdammt …« war die passende Reaktion auf ihr jetziges Aussehen.

Ein kurzes, tailliertes Minikleid lässt ihre goldbraunen Beine frei. Das Sonnenlicht schimmert bei jedem Schritt, den sie macht, auf ihrer Haut und lässt die goldenen Strähnchen in den Zöpfen aufleuchten, die sie auf ihrem Kopf aufgetürmt hat.

Ich kann praktisch das Herz meines Bruders schlagen hören, was ziemlich erbärmlich ist. Nichts gegen Joss. Es ist nur erbärmlich, weil Dane in dieses Mädchen verliebt ist, seit wir ihr im Alter von zwölf zum ersten Mal begegnet sind, und der Typ nicht den Mut aufbringt, irgendetwas dahingehend zu unternehmen.

Es sind nur noch Sekunden, bis sie bei uns ist, und ich beuge mich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zu Dane hinüber. Ich kann es mir einfach nicht verkneifen, ihn zu ärgern, also mache ich auf Valley-Girl und sage: »Stell dir mal deine beste Freundin vor, die rattenscharf ist. Und dann stell dir mal vor, du darfst sie nicht … anfassen.«

Sterling lacht hinter seiner Faust, aber Dane findet das nicht witzig. Seine einzige Reaktion ist ein Ellbogenstoß in meine Rippen.

Joss ist jetzt direkt vor uns und prallt so fest mit Dane zusammen, dass ihm praktisch die Luft wegbleibt. Er knallt mit dem Rücken gegen die Seite meines Wagens und schlingt beide Arme um ihre Taille. Es ist nur eine Umarmung, schon klar, aber nicht so, wie man sie zwischen »besten Freunden« erwartet.

Sie machen sich beide mächtig was vor. Sie haben es nur noch nicht gemerkt. Irgendwann werden sie genug von dem Eiertanz haben, und einer wird den ersten Schritt wagen.

Ich setze auf Dane, aber Sterling ist davon überzeugt, dass es Joss sein wird.

Wir werden sehen, wie es ausgeht, doch vorerst unternehmen beide die größten Anstrengungen, um sich selbst und alle anderen davon zu überzeugen, dass sie nicht zusammengehören.

»Seit wann bist du zurück?«, fragt Dane. »Hatte nicht erwartet, dich vor Montagmorgen zu sehen.«

Er mustert sie von oben bis unten, als sie sich wieder voneinander gelöst haben. Entweder stört es sie nicht, oder sie ist es gewöhnt, von ihm mit Blicken verschlungen zu werden. Wahrscheinlich Letzteres.

»Wir sind früher zurückgekommen, damit ich die Einführung nicht verpasse. Außerdem wollte ich heute Abend zu Caseys Geburtstagsparty.«

Sobald sie den Namen erwähnt, sieht sie mich mit Bedauern im Blick an. Aber wenn sie erwartet, dass ich ausraste, liegt sie falsch. Es steckt so viel hinter dem, was wir inzwischen als das Casey-Problem bezeichnen, dass ich nicht die Energie dafür habe.