Kirche in der Glaubenskrise - Michael Böhnke - E-Book

Kirche in der Glaubenskrise E-Book

Michael Böhnke

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Beschreibung

Um die innere Einheit der Kirche ist es schlecht bestellt, um Wege aus der Gottes-, Glaubens- und Kirchenkrise wird gestritten. Die Sprachlosigkeit zwischen den theologischen Fächern nimmt zu. Böhnke entfaltet in Anlehnung an Paul VI. die These, dass allein die Treue Gottes zu seinem Volk die Kirche zu einen und das Kirchenrecht zu begründen vermag. Er entwickelt eine pneumatologische Ekkklesiologie und eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts.

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Michael Böhnke

Kirche in der Glaubenskrise

Eine pneumatologische Skizze zur Ekklesiologie und zugleich eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

ISBN (E-Book): 978-3-451-80036-8

ISBN (Buch): 978-3-451-33268-5

Inhalt

Dank

Prolog

I. Zur Lage

Lumen gentium und das Kirchenrecht

Lumen gentium und die Pneumatologie

Das Fehlen des Geistes und das Fehlen des Rechts

II. Zu den Aufgaben

Das bestimmende Paradigma

Ein päpstlicher Impuls

Herabrufung des Geistes

III. Zur Möglichkeit ihrer Bewältigung

IV. Zur Komplexität der Wirklichkeit Kirche

Lumen gentium 8

Hermeneutische Vorbemerkung

Geschichtlich konkrete Wirklichkeit

Gesellschaftliches Gefüge

Kommerzium – der wunderbare Tausch

Gewissheit als Gegenwärtigung

Gegenwärtigung als Ökonomie des Geistes

Personalität des Geistes

Die pneumatologische Wahrheit der Kirche

Selbstüberschreitung im Symbol

Konkretion

V. Zur Epiklese als Form des gläubigen Handelns: Wort und Sakrament

Verkündigung

Liturgie

Die liturgische Gestalt des Weihesakramentes

Erste Zwischenbemerkung

Die liturgische Gestalt von Taufe und Firmung

Zweite Zwischenbemerkung

Die liturgische Gestalt der Eucharistie

Die liturgische Gestalt der Feier der Versöhnung und der Ehe

Das Hochgebet als forma sacramenti

Soteriologie und sakramentaler Vollzug

VI. Die Treue Gottes als theologischer Grund der Epiklese

VII. Zur Epiklese als Form des gläubigen Handelns: Diakonie und Hierarchie

Diakonie

Hierarchie

VIII. Zur Epiklese als Form kirchlicher Strukturen

Zugehörigkeit zum Volk Gottes

Das Verhältnis von Ortskirche und Gesamtkirche

Die Ausstattung der Kirche mit hierarchischen Organen

Die Leitung der Kirche

IX. Zur Kirche als Subjekt der Epiklese

Sensus fidei und participatio actuosa fidelium

Ordo und sensus fidelium

Offen für die Zukunft, für die Welt, für Reformen

Die Wesenseigenschaften der Kirche

X. Zur Begründung des Kirchenrechts

Zum Stand der Diskussion

Theologische Aspekte

Anthropologische Implikationen

XI. Zur Theologie des Kirchenrechts

XII. Skizzen zur pneumatologischen Reformulierungder Ekklesiologie

Das Verständnis kirchlicher Dogmen

Das Verständnis des kirchlichen Amtes

Das Verständnis der kirchlichen Vollmacht

XIII. Zu ökumenischen Perspektiven

XIV. Rückblick

XV. Zum Ertrag

Epilog

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

„Und nun möchte ich den Segen erteilen, aber zuvor bitte ich euch um einen Gefallen. Ehe der Bischof das Volk segnet, bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen für seinen Bischof bittet. In Stille wollen wir euer Gebet für mich halten.“

Jorge Mario Bergoglioan die auf dem Petersplatz versammelten Menschennach seiner Wahl zum Bischof von Rom am 13. März 2013

Dank

Dieses Buch präsentiert die Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsvorhabens. Seine Entstehung ist im letzten Jahr durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem nennenswerten Beitrag gefördert worden. Die zur Verfügung gestellten Mittel haben es mir erlaubt, an dem Projekt ein Jahr ohne Unterbrechung arbeiten zu können. Dafür sei der DFG herzlich gedankt. Ebenso herzlich danken möchte ich in diesem Zusammenhang Frau PD Dr. Julia Knop, die während der Zeit meiner Freistellung die Professur für Systematische Theologie am Seminar für Katholische Theologie der Bergischen Universität Wuppertal so hervorragend vertreten hat. Ihr verdanke ich zudem zahlreiche Anregungen.

In mehreren Kolloquien und Gesprächen sind die hier vorgelegten Ergebnisse gereift. Mein Dank gilt allen, die sich daran beteiligt haben, vor allem den Mitgliedern des Wuppertaler Kolloqiums, in dessen Sitzungen das Projekt von Anfang bis Ende diskutiert worden ist, dann aber auch den Münsteraner Studierenden im Lizentiatsstudiengang Kanonisches Recht.

Darüber hinaus danke ich namentlich den Münsteraner Professoren em. Dr. Dr. h.c. Thomas Pröpper und Dr. Klaus Lüdicke, mit denen ich das Konzept in einer frühen Phase besprechen konnte. Ihre wertvollen Hinweise sind ebenso in das vorliegende ‚Produkt‘ eingeflossen wie diejenigen meines Freundes Prof. Dr. Thomas Schüller, mit dem ich seit nunmehr über zwanzig Jahren in einem die Grenzen zwischen Theologie und Kanonistik überschreitenden Dialog stehe. Er hat mich aus diesem Dialog heraus quasi aufgefordert, meine ohnehin geplante pneumatologische Reformulierung der Ekklesiologie mit einer theologischen Grundlegung des Kirchenrechts zu verbinden.

Für die formale Gestaltung des Textes, für die am Standort Wuppertal oft mit Mühen und Fahrten in die Bibliotheken nach Bochum und Köln verbundene Literaturbeschaffung, für die Überprüfung der Zitate und für zahlreiche Korrekturen wie auch stilistische Verbesserungen gilt mein Dank meinen Wuppertaler Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, namentlich Michaela G. Grochulski, Arno Hadasch M.A. und meinem ehemaligen Mitarbeiter Oliver Humberg M.A.

Wohlwollend gefördert worden ist das Buchprojekt durch den Herderverlag. Genannt seien die Verlagslektoren Dr. Peter Suchla und Stephan Weber. Auch ihnen sei herzlich gedankt.

Wuppertal, im Juli 2013

Michael Böhnke

Prolog

Als am 4. Februar 2011 unter dem Titel „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“1 ein von insgesamt 311 Professorinnen und Professoren der katholischen Theologie aus dem deutschsprachigen Raum unterzeichnetes Memorandum über die Krise in der katholischen Kirche erschienen ist, hat Walter Kasper mit einer scharfen Replik reagiert.2 Im Urteil des Kardinals mangelt es dem Memorandum an theologischem Tiefgang. „Glauben denn die Unterzeichner im Ernst, dass die Kirchenfragen die existenziellen Fragen der Menschen heute sind? Oder ist es nicht eher umgekehrt, dass nämlich die Kirchenkrise eine Folge der Gotteskrise ist?“ fragt Kasper rhetorisch und unterstellt damit zugleich einen Kausalnexus. Die Gotteskrise bedingt für Kasper die Kirchenkrise. Die brennenden kirchlichen Fragen, konkret der Priestermangel, die Situation derjenigen, die geschieden sind und wieder geheiratet haben, die Rolle der Frauen, der Zölibat, die Auflösung und Zusammenlegung von Pfarrgemeinden sowie die Aufarbeitung der „schrecklichen und beschämenden Missbrauchsfälle“3 lassen sich ohne Arbeit an der Gotteskrise nach Kasper nicht lösen.

Nun ist die Gotteskrise – der Begriff stammt von Johann Baptist Metz4 – seit Jahren offenkundig und nicht von der Hand zu weisen. Mit dem neuzeitlichen ‚Ende der Metaphysik‘ ist die philosophische Gewissheit, dass ein Gott sei, verschwunden.5 „Die verlorene Nützlichkeit der Religion“6 trat in der funktionalen Perspektive der Moderne hinzu. Wissenschaftlich sei die Hypothese Gott verzichtbar, wird gesagt. Im Alltag sei er nicht vonnöten, im alltäglichen Bewusstsein abwesend. Manchmal erinnere man sich an ihn. Oft werde er nicht einmal mehr vermisst. Postmetaphysisch lasse sich nur noch sagen, was er nicht sei. Für viele existiere er nur noch als Frage. Angesichts des Leidens in der Welt, so hat Stendhal (1783–1842) in einem berühmt gewordenen Diktum formuliert, sei die einzige Entschuldigung für ihn, dass er nicht existiere.7 All das hat das Memorandum nicht thematisiert. In all dem zeigt sich, dass die Gotteskrise die Kirchenkrise bei weitem überragt. In all dem greift das Memorandum zu kurz.

In Bezug auf Kaspers These, die Gotteskrise als Ursache aller weiteren Kirchenkrisen zu verstehen, sind jedoch Zweifel anzumelden. Ist diese auch für das jahrelange Verschweigen und das Vertuschen der Missbrauchsfälle verantwortlich oder hat nicht gerade dieses Verhalten die Gotteskrise verschärft? Ist die Gotteskrise auch für den Machtmissbrauch und die Kommunikationsdefizite in der Kirche verantwortlich oder haben nicht gerade diese die Gotteskrise verschärft? Ist sie auch für das Ausbleiben von Reformen verantwortlich oder hat nicht gerade dieses die Gotteskrise verschärft? So wird man zumindest fragen müssen, wenn man nicht von vornherein alle Forderungen nach innerkirchlichen Strukturreformen als Kurieren an Symptomen abtun will. Man kann und darf nicht von der Gotteskrise reden, um Versäumnisse oder Einseitigkeiten in der Erneuerung der konkreten Gestalt der Kirche zu relativieren.

Kasper hingegen hat recht, wenn er meint, dass sich die Kirchenkrise nicht ohne die Gotteskrise bearbeiten lasse. Was er übersieht: die kirchliche Bedingtheit der Gotteskrise. Die Gotteskrise lässt sich nicht ohne die Kirchenkrise bearbeiten, auch wenn es für die Kirchenkrise durchaus gesellschaftliche Gründe gibt. So hat die Kirche nach dem Ende der Metaphysik den öffentlich bisweilen aggressiv vorgetragenen Gottesfrust vieler Zeitgenossen allein zu ertragen und die Gotteslast allein zu tragen. Sie ist der permanenten publizistischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Gotteskritik ausgesetzt. Dazu muss die Kirche sich verhalten. Das darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass sich für die Gotteskrise auch innerkirchliche Gründe namhaft machen lassen.

Es mag sein, dass die Gotteskrise der Neuzeit, Moderne und Postmoderne die gegenwärtige Kirchenkrise erst ermöglicht hat. Zweifelsfrei jedoch hat die gegenwärtige Kirchenkrise die Gotteskrise verschärft. Der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, hat bei der Vorstellung der Auswertung der Telefon-Hotline zum Missbrauch in der Kirche festgestellt: „Täter hätten [sich; MB] gezielt die moralische Autorität des Priesteramtes zunutze gemacht, die psychische Wirkung von Riten wie Beichte oder Gebet benutzt, um Macht über Kinder zu gewinnen – bis dahin, dass Minderjährigen vorgetäuscht wurde[n], die Übergriffe seien Ausdruck ‚liebender Verbundenheit in Christus oder Auserwählung vor Gott‘“8, und Thomas Söding hat den Zusammenhang von Kirchenkrise und Gotteskrise nach dem Missbrauchsskandal auf den Begriff gebracht: „Was es aufzuarbeiten gilt, ist eine menschliche Katastrophe: missbrauchte Macht, verratenes Vertrauen, ausgenutzte Schwäche. Was es aufzuarbeiten gilt, ist aber auch eine religiöse Katastrophe. Es geht um praktische Blasphemie: Gottes Heiligkeit wird angetastet; sein Wille wird pervertiert, seine Barmherzigkeit wird in den Dreck gezogen.“9

Wie kann, so lautet die entscheidende Frage, die Kirche ‚Zeichen und Werkzeug‘ des Heils für diejenigen sein, die unter Berufung auf den Namen Gottes und der Kirche von kirchlichen Amtsträgern missbraucht und gedemütigt worden sind? Wie kann die Kirche angesichts des Missbrauchsskandals ihren Anspruch aufrecht erhalten, dass der Gott, der nichts und niemanden verloren gehen lässt, dieses Heil durch ihr Handeln und ihre Amtsträger ‚wirkt‘? Wie kann sie den Anspruch aufrecht erhalten, dass sie auch denen „das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (GS 45), die im Vertrauen auf diese Botschaft durch Amtsträger gedemütigt und verletzt worden sind?

Eine Ekklesiologie, die nach dem Jahr 2010, nach der Aufdeckung der Skandale verfasst wird, muss diese Fragen beantworten – und sie kann das nicht mit einem einfachen Verweis auf die Heiligkeit und Reinheit der Kirche sowie die Ex-opere-operato-Lehre des Heils tun – oder sie ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Bis heute sind diese Fragen, die das ganze Ausmaß der Krise anzeigen, weil sie auf der Heilsbedeutsamkeit der Kirche insistieren, jedoch weder gestellt noch beantwortet worden. Die öffentliche Debatte begnügt sich mit Diskussionen über die moralische Integrität und Glaubwürdigkeit der Kirche und der Forderung nach einem angemessenen den Täter-Opfer Ausgleich.10 Ekklesiologisch ist das zu wenig.

Über den Missbrauch des Gottesnamens im Namen der Kirche hinaus gehören gleichwohl noch weitere innerkirchliche Gründe von Kirchenkrise und Gotteskrise auf die Agenda. Wie verhält und bestimmt sich die Kirche in einer Zeit, in der es nicht mehr selbstverständlich ist, Gott anzuerkennen und zu achten, weil der Grund des Glaubens, Gott, nicht mehr selbstverständlich und gewiss ist?11 Weiß sie sich als Suchende mit den Suchenden auf dem Weg,12 oder versteht sie sich als vor den Zeitläuften Zuflucht bietende feste Burg? Oder hat sie ihre Rolle in der modernen Welt, in der Welt etsi Deus non daretur gar noch nicht gefunden und stolpert ob ihrer Unentschlossenheit immer tiefer in die Krise?

Eine eindeutige Antwort scheint es auf diese Fragen nicht zu geben. Es gibt Indikatoren für eine innerkirchliche Suchbewegung, aber auch für eine gewisse Ratlosigkeit. Es gibt Indikatoren für einen neuen Fundamentalismus, aber auch für eine gewisse Gleichgültigkeit. Dass es für all dies gleichzeitig Indikatoren gibt, kann zudem als Indikator für eine Verschärfung der Krise angesehen werden. Bestehende innerkirchliche Konflikte lassen sich nicht verschweigen. Sie müssen freimütig und sie müssten auch ungeachtet des Missbrauchsskandals zur Sprache kommen.

Denn eines ist offensichtlich: Die Kirche ist von zahlreichen Spannungen durchzogen – Spannungen, die von innen kommen, Spannungen, unter denen sie leidet, Spannungen, an denen sie zerbrechen könnte. Wohin man auch blickt, die derzeitige Situation der Kirche wird durch Differenzen und Konflikte geprägt: zwischen Basis und Hierarchie, zwischen Konservativ und Liberal, zwischen Dialog und Gehorsam, zwischen Wahrheit und Freiheit, zwischen Praxis und Lehre, zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Zentralismus und Pluralität etc. All diese Spannungsfelder dürften sich gebildet haben, weil es keine unbezweifelbare und allgemein anerkannte Ordnung für den Gottesglauben mehr gibt.

Der Versuch, die bestehenden Differenzen auf einen Begriff zu bringen, ist wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Dennoch scheint mir ein Konfliktfeld strukturell zu dominieren: die ungelöste Spannung zwischen Geist und Recht. Sie durchzieht die Kirche, prägt all ihre Dimensionen: innen und außen, oben und unten, sichtbar und unsichtbar. Die innere, unsichtbare und durch die Gotteskrise noch geschwächte Macht13 des Heiligen Geistes steht gegen die äußere, sichtbare und selbstbewusste Übermacht kirchlicher Strukturen und des göttlichen Rechts.

Wer nach innerkirchlichen Gründen der Glaubens- und der Kirchenkrise fragt, wird an der Spannung zwischen den ungleichen Geschwistern Geist und Recht nicht vorbei kommen. Beispiele muss man nicht lange suchen. Zwei mögen genügen. Beide sind hoch relevant.

Erstes Beispiel: Gegen den Geist eines neuen Aufbruchs, der auf die Verwirklichung des Christlichen als lebendige, aber unverfügbare Beziehung Gottes zu den Menschen in der Zeit setzt, verweisen die in Kategorien der unzerstörbaren Ordnung denkenden traditionsorientierten Christen auf das göttliche Recht: Nur was in der Vergangenheit gegolten habe, könne auch gegenwärtig Geltung beanspruchen. Die geltende kirchliche Ordnung könne durch einen neuen Aufbruch nicht außer Kraft gesetzt werden. Zwischen diesen beiden Positionen wird um den Kurs der Kirche gerungen. Ausgetragen wird der globale Disput unter anderem als heftiger Streit um das Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils.14 Ist das Konzil als pfingstliches Ereignis, als geistbewegter ‚Anfang eines neuen Anfangs‘ (K. Rahner) zu verstehen, oder müssen seine Texte im ‚Lichte der Tradition‘ (M. Lefèbvre) interpretiert werden?

Das zweite Beispiel ist mit Blick auf die aktuelle Lage der Kirche in Deutschland gewählt. Einige Bischöfe führen ihre Bistümer dialogisch, wollen Menschen einbeziehen, auf diese Weise den Glauben und die Identifikation mit der Kirche fördern, wollen integrieren und sehen dies als notwendig zu gehenden Weg zu einer von innen her erneuerten kirchlichen Einheit an. Sie setzen sich für eine dialogische Kirche ein. Andere führen Aufsicht; auch über den Dialog! Sie bringen sich ihrem episkopalen Selbstverständnis gemäß – episkopos heißt Aufseher – nicht selbst in den Dialog ein. Sie lassen sich berichten, entscheiden souverän, laden ein oder aus, formulieren Grenzen, verlangen Gefolgschaft, erwarten Gehorsam. Sie setzen weniger auf Integration als auf die kleine Herde, den heiligen Rest. Ihr Weg zur kirchlichen Einheit lautet Profilierung durch Abgrenzung und Geschlossenheit. Da bleibt kein Raum für Innovation, für Einsicht und Dialog. Da unterliegt der Geist dem Ordnung schaffenden und einzuhaltenden Recht.

Ob solcher Zerrissenheit suchen Gläubige, die sich mit der Kirche identifizieren und ohne kirchenpolitische Parteinahme als Christen kirchlich engagieren wollen, ihre Nischen. Die mangelnde innere Einheit der Kirche hinterlässt verunsicherte und ängstliche Zeugen. Ihr Rückzug ins Private und ihr Schweigen in der Öffentlichkeit sind Anzeichen für eine lautlose, gleichsam wirkmächtige Distanzierung. Der Missbrauchsskandal dürfte seinen Teil zur Verunsicherung der Wohlmeinenden beigetragen und den Prozess des Rückzugs beschleunigt haben. Er hat dazu geführt, dass selbst Katholikinnen und Katholiken, die sich hochgradig in der Öffentlichkeit für den Glauben der Kirche einsetzen, Zweifel gekommen sind. Kann man sich für eine Glaubensgemeinschaft, in der so etwas möglich ist, noch öffentlich engagieren?

Die missionarische Strahlkraft des Evangeliums erlischt mit dem Rückzug verunsicherter Glaubenszeugen ins Private. Eine Botschaft, für die niemand mehr öffentlich eintritt, verflüchtigt sich. Traditionsabbruch droht. Die Kirche im Glaubenssinn gerät in die Krise: Kirche in der Glaubenskrise! Selbsternannte Propheten haben in dieser Situation Hochkonjunktur und leichtes Spiel. Ihre polarisierend zur Schau gestellte Rechtgläubigkeit trägt jedoch kaum zum Abbau der Spannungen bei.

Gemessen an den Gottesdienstbesucherzahlen verharrt die Mehrzahl der in Deutschland und Westeuropa lebenden Christen bereits seit längerem in Gleichgültigkeit. Sie haben sich aus der Glaubensgemeinschaft lautlos zurückgezogen und tragen so zur Glaubens- und Vertrauenskrise bei. Dass sie ihr ‚Eintrittsbillet‘ in die Kirche, ihren ‚Taufschein‘, nicht zurückgeben, zeigt allerdings auch: Die Gleichgültigkeit der ‚Taufscheinchristen‘ an sich ist noch keine Krise für die Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sie erlaubt es der Institution Kirche vielmehr unter Verweis auf die Statistik, von hohen Mitgliederzahlen zu sprechen und dementsprechend gesellschaftspolitisch weiterhin Gehör einzufordern, ohne sich um das privatisierte Glaubensleben vieler ihrer Mitglieder kümmern zu müssen. Auch darin zeigt sich die Differenz von Geist und Recht, dass die Kirche im Rechtssinn in gewisser Weise unabhängig vom Glaubenssinn der Gläubigen existieren kann.

Zur Krise für die Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts kommt es oft erst, wenn Gleichgültigkeit nicht mehr verantwortet werden kann, wenn innerkirchliche Konflikte oder Skandale zu eigener Positionierung und Entscheidung zwingen.15

Kirchenaustrittszahlen weisen signifikante Spitzen auf, die sich nur durch innerkirchliche Konflikte erklären lassen: dem Fall Küng, dem Fall Drewermann, dem Fall Lefèbvre und nicht zuletzt dem Skandal sexueller Gewalt, verübt an Minderjährigen. 2010 sind in Deutschland 181.193 Menschen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten16. Das sind mehr als doppelt so viele wie fünf Jahre zuvor. Und laut dpa ist auch im Fall „der Abweisung einer vergewaltigten Frau an zwei katholischen Kliniken […] die Zahl der Kirchenaustritte in Köln ungewöhnlich stark gestiegen“.17

Die Kirchensteuer ist offenbar nicht der einzige Grund, der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts den Rücken zu kehren. Zumindest statistisch kann man auf Korrelationen zu innerkirchlichen Spannungen und Konflikten verweisen. Wenn die Kirche mit ihrem amtlichen Handeln, ihren Sanktionen oder auch mit ihrer Nachsicht gegenüber Tätern aus ihren eigenen Reihen, im eigenen Urteil gegen den Geist des Evangeliums und der Humanität verstoßen hat, scheint vielen der weitere Verbleib in ihr und das stillschweigende Mittragen der Institution untragbar. Skandale, Spannungen und Konflikte provozieren Austritte. Austritte können deshalb ebenso wie der Rückzug ins Private als Indikatoren einer innerkirchlich bedingten Glaubenskrise angesehen werden.

Auf die Spannung zwischen Geist und Recht kam Papst Benedikt XVI. bei seinem letzten Deutschlandbesuch zu sprechen. Er versteht diese ekklesiale Spannung jedoch nicht als Ursache, vielmehr deutet er sie als Ausdruck der Glaubenskrise. Gleichwohl fordert er eine Stärkung des Geistes. Am 24. September 2011 sagte er in Freiburg: „In Deutschland ist die Kirche bestens organisiert. Aber steht hinter den Strukturen auch die entsprechende geistige Kraft – Kraft des Glaubens an den lebendigen Gott? Ich denke, ehrlicherweise müssen wir doch sagen, daß es bei uns einen Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist gibt. Ich füge hinzu: Die eigentliche Krise der Kirche in der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens. Wenn wir nicht zu einer wirklichen Erneuerung des Glaubens finden, wird alle strukturelle Reform wirkungslos bleiben.“18

Papst Benedikt fordert eine kirchliche Praxis der geistlichen Erneuerung, weil für ihn der Glaube den Strukturen der Kirche vorausgeht und diese bedingen sollte. Er steht innerkirchlichen Strukturreformen skeptisch gegenüber, weil sie ihm nicht tief genug gehen und möglicherweise auch deshalb, weil er nicht damit rechnet, dass durch sie der „Überhang der Strukturen gegenüber dem Geist“19 abgebaut werden könne. Gegen die mutmaßliche Übermacht institutioneller und rechtlicher Strukturen setzt er auf eine tiefgehende und die Kirche von ihrem Grund her reformierende geistliche Erneuerung.20 Bis diese jedoch ‚greift‘, dürfte der Überhang der Strukturen bestehen bleiben. Ja mehr noch: Man wird in dem gleichen Maß, in dem die Strukturen ihre Selbstverständlichkeit verlieren, mit ihrer zunehmenden Selbstimmunisierung durch spirituelle Überhöhung rechnen müssen. Aufklärung ist also vonnöten. Denn das Spannungsverhältnis von Geist und Recht, welches dieser Alternative als Tiefengrammatik zugrunde liegt, wird von Papst Benedikt XVI. zwar angedeutet, aber es scheint von ihm in seiner ekklesiologischen Dimension kaum zureichend bedacht worden zu sein.

Die Kirche ist für Benedikt XVI. Ausdruck des Glaubens. Deshalb ist die Kirchenkrise, von ihm verstanden als Disproportion zwischen Strukturen und Geist, Ausdruck der Glaubenskrise. Werde die Glaubenskrise überwunden, dann könne auch die Kirchenkrise überwunden werden. Die Glaubenskrise lasse sich aber nicht durch Strukturreformen überwinden. Gefragt sei ein Prozess der geistlichen Erneuerung. Sein Gelingen, so die idealistische Annahme, würde auch die Kirchenkrise beheben. Ob es der Idealismus dieser Annahme war, der neben dem fortschreitenden Alter die Kräfte des Papstes letztlich überfordert hat, so dass er das Jahr des Glaubens angesichts der Krisen, die den Vatikan erschüttert haben, nicht zuende führen konnte, sei dahin gestellt.

Fakt ist: In der glaubenstheologischen Perspektive von Papst Benedikt XVI. kann die Kirchenkrise als mögliche Ursache der Glaubenskrise nicht in den Blick kommen. Sie erscheint immer nur als deren Folge. Jedoch ist die Kirche nicht nur Ausdruck des Glaubens. Sie ist immer auch Subjekt des Handelns. Als solche trägt sie für die Glaubenskrise wie für die Kirchenkrise gleichermaßen eine Verantwortung, aus der sie nicht entlassen werden kann. Deswegen bedarf die glaubenstheologische Perspektive des Papstes einer ekklesiologischen Ergänzung, in der die Konsequenzen der Kirchenkrise für den Glauben der Kirche bedacht werden. Sie setzt an bei den innerkirchlichen Spannungen und Konflikten, paradigmatisch bei der Spannung zwischen Geist und Recht.

In diesem Konfliktfeld wirken zwei unterschiedliche Weisen der Inanspruchnahme der Autorität Gottes durch die Kirche: der Berufung auf den Geist Gottes steht die Berufung auf das göttliche Recht, das ius divinum, gegenüber. Und darum geht es im letzten: um die Frage, in welcher Weise die Kirche sich Gottes gewiss sein kann beziehungsweise, in welcher Form sie seine Autorität für sich in Anspruch nehmen kann.

So handelt dieses Buch von der Macht des Heiligen Geistes und der Übermacht des göttlichen Rechts. Es handelt von der katholischen Kirche zu Beginn des 21. Jahrhunderts, einer Kirche in der Glaubenskrise. Diese Kirche ist uneins darüber, in welcher Form sie die Autorität Gottes in Zeiten der Gotteskrise für sich und für ihr Handeln in Anspruch nehmen kann und trägt eben dadurch selbst zur Verschärfung der Gotteskrise bei.

Der Konflikt zwischen Geist und Recht belastet die Kirche nicht erst seit gestern. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich ein theoretisches und praktisches Auseinanderbrechen der Kirche im geistlichen Sinn, das heißt im Glaubens-21 und Heilssinn22, und der Kirche im Rechtssinn beobachten, welches auch durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht gestoppt werden konnte. Das von Romano Guardini in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf den Begriff gebrachte „Erwachen der Kirche in den Seelen“23 setzte wirkungsgeschichtlich einen Kontrapunkt24 zum seinerzeit vorherrschenden institutionellen, hierarchischen und juridischen Kirchenverständnis und generierte die Frage nach dem Ort der personalen Verwirklichung des Christlichen in einer objektiv vorgegebenen Heils- und Rechtsordnung. Sie blieb weitgehend unbeantwortet.25 Der Auszug der mündig gewordenen Seelen aus der Kirche war und ist die Konsequenz. Erst die strukturelle Anerkennung des „Erwachens der Kirche in den Seelen“ könnte die Notwendigkeit des innerkirchlichen Dialogs wie auch den oft geforderten Verzicht auf Zwang in Glaubenssachen einsichtig machen und damit der Macht des Geistes zum Recht verhelfen. Das Thema, welches 1946 erstmals von Joseph Klein in seiner Bonner Antrittsvorlesung über Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts bearbeitet worden ist,26 erscheint, auch wenn es dafür beinahe schon zu spät sein könnte, noch heute relevant, um den Zwiespalt zwischen einer Kirche, die durch ihr Recht und in ihren Strukturen die Freiheit des Glaubensaktes anerkennt, die personale Verwirklichung des Christlichen wertschätzt und schützt, und einer Kirche, die bei der Durchsetzung der objektiven Wahrheit auf die Mittel des Rechts setzt, nicht aber dem subjektiven Glaubensvollzug Rechtsschutz gewährt, nicht weiter zu vertiefen.

Das Papsttum selbst steckt in einer Zwickmühle. Die Zustimmung der Mehrheit der Gläubigen erhält der Inhaber des Papstamtes nämlich vor allem dann, wenn er das kirchliche System einer objektiv vorgegebenen Heils-, Glaubens- und Rechtsordnung, dessen Garant und Gefangener er zugleich ist, geschichtlich und dialogisch durchbricht, Kritik vor allem dann, wenn er auf dessen objektiver Gültigkeit und Unveränderbarkeit mit sanktionsbewährter Gehorsamsforderung besteht. Freilich gibt es innerkirchlich zunehmend Gruppen, die den Papst eben darauf festlegen wollen. Sie polemisieren gegen innerkirchlichen Dialog und Religionsfreiheit. Sie locken mit Bekundungen unbedingten und vorauseilenden Gehorsams und legen ihn auf die Rolle des absoluten Monarchen, der qua Amt immer Recht hat, fest.27 Sie diffamieren die Forderung nach rechtlich gesicherter Berücksichtigung personaler Verwirklichung des Christlichen wie des Glaubensaktes. Im Zweifelsfall unterliegt der, der den Geist ‚hat‘, sich ihm verbunden weiß, dem, der das Recht hat. Diesen kräfteraubenden Konflikt dürfte Papst Benedikt XVI. am eigenen Leib gespürt haben.

Angesichts dieses Konflikts gilt es, theoretisch und praktisch die Einheit der Kirche im Glaubens-, Heils- und Rechtssinn neu zu erweisen. Die Frage, die zu beantworten sein wird, lautet, wie diese Einheit, die Thomas von Aquin mit Bezug auf den Römerbrief28 durch die These: „[…] lex nova est ipsa gratia Spiritus sancti, quae datur Christi fidelibus“29 noch behaupten konnte, innerkirchlich heute denkbar ist und im Handeln der Kirche heute ‚geht‘.

Das unbearbeitete Spannungsverhältnis von Geist und Recht wird zu diesem Zweck das zentrale Thema der folgenden – pneumatologisch akzentuierten – Skizzen zur Ekklesiologie sein, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zugleich grundlegend für ein der Zeit angemessenes theologisches Verständnis der Kirche und des Kirchenrechts sein wollen.

Die Bearbeitung der angezeigten Problemstellung verlangt, den fächerzentrierten Ansatz theologischer Forschung zugunsten einer Denkformorientierung der Theologie aufzugeben. Ekklesiologie kann nicht als Teildisziplin im Binnenraum der Fundamentaltheologie oder Dogmatik verstanden werden, in der über das zeitlose Wesen der Kirche idealistisch nachgedacht werden sollte. Dies würde der Geschichtlichkeit der Kirche und auch ihrer rechtlichen Gestalt, die alle mir bekannten gegenwärtigen Ekklesiologien mehr oder weniger ausblenden, kaum gerecht.30 Ohne einen konkreten Bezug auf die Sozialwissenschaften31, aber auch ohne einen konkreten Bezug auf die Disziplinen, die sich mit den kirchlichen Vollzügen und Strukturen befassen, vor allem die Pastoraltheologie, die Kirchenrechts- und Liturgiewissenschaft, kann es keine Ekklesiologie geben, die den Anspruch hat, der kirchlichen Wirklichkeit gerecht werden zu wollen, sie zu begreifen. Ekklesiologische Reflexionen müssen insofern immer zunächst von der sozialen Handlungsgestalt des Glaubens, der Bekenntnis- und Feiergestalt der Liturgien sowie von den die Sozialgestalt des Glaubens normierenden Bestimmungen des Kirchenrechts ausgehen und den in ihnen zum Ausdruck kommenden Sinn erheben.32

Das pastorale Handeln, die liturgische Feier und das kirchliche Recht implizieren theologische, soteriologische, anthropologische und ekklesiologische Annahmen, die es von der Praxis her zu erhellen gilt.

Was die Sache nicht einfacher macht, ist die Vermutung, dass Pastoral, Liturgie und Recht von einem je unterschiedlichen Gottes-, Heils-, Menschen- und Rechtsverständnis ausgehen könnten. Jedoch werden nur durch eine differenzierte Hermeneutik der in der kirchlichen Praxis und in den sie begreifenden Disziplinen implizierten Gottes-, Heils- und Kirchenlehren die Gräben sichtbar, welche die Einheit der Kirche zunehmend von innen gefährden und ihre missionarische Strahlkraft trüben. Diese Gräben müssen freigelegt werden.

Die das bestehende System stützende idealistische Annahme, dass die Römische Kurie, welche die kirchlichen Vollzüge in Pastoral, Liturgie und Recht maßgeblich steuert und sich in ihrem Handeln auf das oberste kirchliche Lehr- und Leitungsamt beruft, mit einer Stimme spricht, überspielt das Problem. Sie wird als naiv zu entlarven sein. Diese Annahme verdeckt, dass die Entwicklungen in der Pastoral, der Liturgie und im Kirchenrecht derzeit gegensätzlich verlaufen.

Dank der Übermacht der Strukturen ermöglicht die Unterstellung der Einheit es ‚den Stärkeren‘, beispielsweise der Schule der korrekten Kanonistik33, vom Kirchenbegriff des Kirchenrechts als dem allein verbindlichen auszugehen.34 Sie begünstigt aus gleichem Grund das Wiederaufblühen eines rubrizistischen Liturgieverständnisses, dem das Beten der Gläubigen nicht als integrierender Bestandteil der Liturgie gilt.35 Sie schafft ein Klima, in dem die vermeintliche Unverbindlichkeit der Pastoral gegen die Verbindlichkeit des Dogmas und des Rechts ausgespielt werden kann. In all dem zeigt sich die Übermacht von Strukturen gegenüber der Macht des Geistes. Richard Potz diagnostiziert schon 1978 zutreffend eine „Hilflosigkeit der zeitgenössischen Ekklesiologie gegenüber rechtlichen Strukturen“.36

Die Unterstellung der Einheit mündet, wenn sie unaufgeklärt und unbearbeitet bleibt, in einer Geschichte des Scheiterns ‚der Schwächeren‘, zum Beispiel der ökumenisch Engagierten. So droht der Geist der Ökumene an der Übermacht rechtlich gesicherter Strukturen und Glaubensprofile zu zerbrechen. Theologisch sind fast alle trennenden Differenzen zwischen den Konfessionen aufgearbeitet, lehramtlich und rechtlich wird eine dem theologischen Fortschritt entsprechende ökumenische Praxis kaum oder nur zögernd ermöglicht.

Ihre Ohnmacht haben die ökumenischen Pioniere des zwanzigsten Jahrhunderts, und dazu zähle ich auch den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, mehr als einmal schmerzlich erfahren müssen. Die epochale ‚Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘ wurde noch nicht einmal im Amtsblatt des Apostolischen Stuhls veröffentlicht. Sie blieb innerhalb der römisch-katholischen Kirche folgenlos.

Im Recht der römisch-katholischen Kirche sind die ökumenischen Fortschritte seit 1983 nicht rezipiert worden. Die Bestimmungen des kirchlichen Gesetzbuches gelten, auch wenn sie diese Fortschritte nicht rezipiert haben, allein schon aus formalem Grund weiter. Das begründet ihre Übermacht. Daran ändert auch die Neuausgabe des Ökumenischen Direktoriums wenig.

Die in ökumenischem Geist geführten Diskussionen um die Reform der Ausübung des Papstamtes, zu denen Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Ut unum sint37 aufgerufen hat, scheitern weniger an mangelndem Fortschritt als vielmehr am lehramtlichen Superioritäts- und rechtlich gesicherten Immunitätsanspruch des Felsens Petri.

Was der Geist den Ökumenikern und auch dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen sagt, unterliegt den geltenden rechtlichen Bestimmungen sowie dem lehramtlich und rechtlich bindenden Urteil der in der kurialen Hierarchie höher angesiedelten Glaubenskongregation, die jenen mehr als einmal durch ihre Verlautbarungen in größte Verlegenheit gebracht haben dürfte. Prominentes Beispiel ist das Schreiben Dominus Jesus.38

Die Diskussion um die ökumenisch grundlegende Communio-Gestalt der Kirche zwischen den Kardinälen Kasper und Ratzinger hat beispielhaft gezeigt, wie solche Konflikte nicht hinter verschlossenen Türen beraten und durch autoritative Entscheidungen beendet, sondern öffentlich, auf hohem theologischem Niveau und auf Augenhöhe ausgetragen werden könnten.39 Wenigstens das sollte die Regel sein. Freilich endete auch diese hochgelehrte Diskussion um das rechte Verständnis von Einheit und Vielfalt – eine zentrale Frage des Kirchenverständnisses – ohne einen Konsens. Dieser wäre aber für die innere Einheit der Kirche, die auch in dieser Frage nur noch durch die Übermacht zentralisierter Strukturen zusammengehalten wird, von nicht geringer Bedeutung gewesen.

Die anstehende Aufgabe lautet also, durch eine pneumatologische Reformulierung der Ekklesiologie (genetivus subiectivus et obiectivus) mögliche Verbindungslinien zwischen den auseinanderdriftenden Verständnissen der Kirche im Glaubens-, Heilssinn einerseits und der Kirche im Rechtssinn andererseits neu zu eröffnen. So könnte vielleicht einer fächerzentrierten Entpneumatisierung des Kirchenrechts ebenso wie einer antijuridischen Akzentuierung des Geistes in Liturgie, Pastoral und Ökumene – beides gefährdet, wenn es zugleich und mit unbedingtem Geltungsanspruch auftritt, die innere Einheit der Kirche – zumindest theoretisch wirksam begegnet werden, und zwar dadurch, dass Kirche in all ihren unterschiedlichen Vollzügen und Strukturen von einem sie tragenden theologischen Grund her verstanden wird.

Die zu konsultierende pastoraltheologische, liturgiewissenschaftliche, ökumenische und kanonistische Fachliteratur ist unüberschaubar. Die Aufgabe, sie zu sichten, ist für eine einzelne Person, die zudem Vertreter nur einer theologischen Teildisziplin sein kann, unmöglich. Deshalb kann diese Studie nicht mehr als den Status einer Skizze beanspruchen.

Unter einer Skizze verstehe ich dabei eine nicht ausformulierte Idee. In wenigen Strichen gewinnt die Idee in der Skizze Gestalt. In Bezug auf die Gestaltwerdung eines Projekts stellt die Skizze den ersten Schritt dar. Der Charme einer Skizze besteht darin, dass sie weiter durchdacht, dabei modifiziert oder auch verworfen werden kann. Sie betrifft etwas, das einmal sein könnte. Sie stellt eine diskutierbare Vorlage dar. Sie fordert zur Zukunftsgestaltung auf, ermöglicht und ermuntert zum Dialog. Eine Skizze ist noch kein Konzept, vielmehr eine Anregung, von der man sich bei der Konzepterstellung leiten lassen könnte. In der Freiheit von Alternativlosem ist sie die Alternative, die etwas über das Wesen der Zukunft als Gestaltungsraum sagt.

Die hier vorgetragenen Skizzen zur Ekklesiologie richten sich nicht in erster Linie an die Gebildeten unter den Verächtern des christlichen Glaubens. Sie wenden sich vor allem an die Glaubenden unter den Gebildeten, gleich ob sie sich selbst als Anhänger, Kritiker oder Verächter der Kirche verstehen. Sie wenden sich an die Vertreter der angesprochenen theologischen Teildisziplinen und fordern diese zum innertheologischen Dialog über die von ihnen jeweils vorausgesetzten Prinzipien der Ekklesiologie auf.

Nicht das Verhältnis von Glaube, verstanden als fides catholica, und intellektuellem Gesellschaftsdiskurs ist ihr Thema, vielmehr die nunmehr schon lang andauernde und den Glauben nicht weniger Christen belastende innere Zerrissenheit der Kirche, die auch durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht befriedet werden konnte.40 Dessen historisches Versagen scheint mir kaum zutreffend dadurch beschrieben werden zu können, dass man den Konzilsvätern unterstellt, zwei miteinander nicht kompatible Ekklesiologien41 durch einen kontradiktorischen Kompromiss42 zusammengeführt zu haben. Diese theologisch populär gewordene These geht fraglos davon aus, dass die grundlegenden ekklesiologischen Fragen durch das Konzil tatsächlich aufgegriffen und geklärt worden seien. Nicht alle halten diese Annahme – wie gleich zu zeigen sein wird – für zutreffend.

I.Zur Lage

1970 erschien das Buch des großen französischen Konzilstheologen Louis Bouyer ‚L’Eglise de Dieu‘. Es enthält eine auf den ersten Blick verblüffend scharfsinnige Diagnose zur ekklesiologisch grundlegenden Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche. Fünf Jahre nach Abschluss des Konzils schreibt Bouyer: „Man ist überaus erstaunt, zwei durchgängige Lücken in der Lehre von Lumen Gentium zu entdecken, die man auch mit anderen Konzilstexten nicht füllen kann. Diese beiden Lücken mögen antithetisch erscheinen. Aber ihr gleichzeitiges Auftreten ist deswegen um so frappierender. Die Kirchenkonstitution kennt praktisch kein Kirchenrecht. Aber, wie seltsam, abgesehen von einem eher frommen als lehrhaften schönen Abschnitt, kennt sie auch kaum mehr den Heiligen Geist!“1

Lumen gentium und das Kirchenrecht

Die Feststellung, dass Lumen gentium praktisch kein Kirchenrecht kenne, ist zutreffend, aber nicht erstaunlich. Zwar hatte Papst Johannes XXIII. mit der Ankündigung des Konzils die Forderung nach einer Aktualisierung, einem Aggiornamento, des Kirchenrechts, konkret des Kirchlichen Gesetzbuches von 1917, verbunden2, doch wurde schnell klar, dass es sich um zwei unterschiedliche und sinnvollerweise nacheinander abzuarbeitende Projekte handeln sollte. Die Revision des kirchlichen Gesetzbuches wurde bekanntlich auf Beschluss der 1963 zu diesem Zweck eingesetzten Kardinalskommission erst nach der Beendigung des Konzils in Angriff genommen3 und 1983 für die lateinische Kirche beziehungsweise 1990 für die katholischen Ostkirchen mit der Herausgabe eines jeweils neuen Gesetzbuches abgeschlossen.

Erweitert und präzisiert man jedoch Bouyers Diagnose, derzufolge Lumen gentium nicht nur kein Kirchenrecht kenne, sondern auch keine Prinzipien für dessen Aggiornamento und darüber hinaus auch keine theologische Grundlegung der rechtlichen Verfasstheit der Kirche beinhalte, welche die Legitimität eines eigenen Rechts in der Kirche ja allererst zu erweisen und seine Grenzen zu reflektieren hätte4, dann tut sich in dem und durch das Konzilsdokument in der Tat eine schmerzliche und bis heute kaum gefüllte Lücke auf.

Noch am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils hat das Rechtsdenken die Ekklesiologie dominiert, ein Rechtsdenken, welches einseitig an einem sozialphilosophischen Verständnis der Kirche als vollkommener Gesellschaft (societas perfecta) sowie deren Rechtsgestalt interessiert war. Diesem Denken zufolge „war die Kirche nicht nur einfach gesellschaftlich verfaßt, sondern auf eine solche souveräne Weise, daß ihr eine freie, von jeder innergeschichtlichen und innerweltlichen Instanz unabhängige rechtschaffende und rechtsetzende Macht zu eigen war.“5 Diese „Eigenrechtsmacht“ (J. Listl) der Kirche wurde durch ihren gesellschaftlichen Charakter begründet, denn dort, wo eine Gesellschaft existiert, gibt es aufgrund eines allgemein anerkannten Grundsatzes auch Recht: ‚ubi societas, ibi et ius‘.

Mit dem Verständnis der Kirche als vollkommene Gesellschaft wird deren Sichtbarkeit betont. Dass die Kirche eine sichtbare Größe sei, gehört seit alters her zum katholischen Selbstverständnis. Doch wurde dieses Selbstverständnis im Zeitalter der Reformation erschüttert. Gegen die These der Reformatoren, die wahre Kirche sei eine „societas spiritus sancti in cordibus“ (Apol. VII, 5), hat deshalb der Jesuit Robert Bellarmin (1542–1621) auf die Betonung der Sichtbarkeit besonderen Wert gelegt. Seine Ansicht über die Kirche wurde in der katholischen Ekklesiologie zur herrschenden Meinung. Bellarmins wirkmächtig gewordene Formulierung lautet: „Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die genauso sichtbar und mit den Händen greifbar ist wie die Gemeinschaft des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig“. Die Sichtbarkeit der Kirche besteht nach Bellarmin darin, dass sie bestimmt wird als „Gemeinschaft (coetus) von Menschen, die durch das Bekenntnis desselben christlichen Glaubens und den Empfang derselben Sakramente verbunden sind, unter der Leitung ihrer rechtmäßigen Oberhirten und des alleinigen Stellvertreters Christi auf Erden, des römischen Papstes“.6 Das juridische Kirchenverständnis hat also eine kontroverstheologisch bestimmte Wurzel.

Doch hat Bellarmin neben der These von der Sichtbarkeit der Kirche implizit noch eine zweite Voraussetzung für das Verständnis der Kirche als societas perfecta bereitgestellt, indem er sich zur Bestimmung der Kirche am Modell der res publica und des Staates orientierte: „Kirche ist […] wie […] das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig“. Damit wurde das Staatsverständnis, wie es die Staatstheorie jener Zeit entwickelt hat, für das Verständnis der Kirche leitend. Es basiert auf der aristotelischen Theorie der Polis. Das Kirchenmodell der societas perfecta wird der aristotelischen Staatstheorie entlehnt und findet darin seine zweite Wurzel.

Aristoteles „geht am Anfang der ‚Politik‘ von der zweifachen Voraussetzung aus, daß a) die πόλις eine κοινωνία und daß sie b) unter der Vielzahl der jeweils durch Zwecke entstehenden und bewegten κοινωνίαι diejenige sei, deren Zweck die Zwecke aller anderen überragt und in sich befaßt: κοινωνία πολιτική.“7

Er begründet den Zusammenschluss von Menschen durch die Sozialnatur des Menschen. Der Mensch sei von Natur her ein Gemeinwesen, da er nicht für sich alleine leben könne. Grundlegend ist das Prinzip des Organischen: „Der Staat [ist] der Natur nach früher […] als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil. Hebt man das ganze menschliche Kompositum auf, so kann es keinen Fuß oder keine Hand mehr geben.“8 Diese organische Vorstellung des Gemeinwesens findet sich in der paulinischen Leib-Christi-Metapher wieder. Aristotelisch ist der Staat eine natürliche Vereinigung von Menschen zur Verfolgung des Zwecks des guten Lebens, sei es geistlich, sei es weltlich, als Zweck der Zwecke.

Neuzeitlich wird diese Lehre im Naturrecht des Rationalismus dahingehend modifiziert, dass der Staat als eine auf freiem Willen beruhende vertragliche Vereinigung der Menschen darstellt.

Nach der Lehre des Ius Publicum Ecclesiasticum – das ist jene im 19. Jahrhundert aufkommende kanonistische Disziplin, durch die das Verständnis der Kirche als societas perfecta maßgeblich entwickelt worden ist – gründet die Kirche jedoch nicht in einer auf freiem Willen beruhenden vertraglichen Vereinigung der Menschen. Als theologischer Grund für die Existenz der Kirche wird vielmehr „ein nominalistisch verstandener Willensakt Christi“9 angegeben. „Da Christus es so wollte, ist die Kirche eine rechtlich vollkommene Gesellschaft.“10

Die katholische Ekklesiologie des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behält die aristotelisch organische Vorstellung des Gemeinwesens, die bereits von Thomas von Aquin übernommen worden war, bei und begründet die Kirche rechtlich durch einen göttlichen Stiftungsakt. Dies bleibt für die ekklesiologische Grundkonzeption leitend.

Der Sache nach wurden die eben referierten Gedanken bereits im 18. Jahrhundert durch Würzburger Theologen und Kanonisten vorgetragen, um die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat zu betonen.11 Und darin hat das Verständnis der Kirche als societas perfecta seine dritte Wurzel. In Würzburg haben sich mehrere Theologen und Kanonisten, die im Nachhinein mit dem Begriff ‚Würzburger Schule‘ belegt worden sind, mit der naturrechtlichrationalistischen Kollegialtheorie Samuel Freiherrn von Pufendorfs (1632–1694) auseinandergesetzt. Pufendorf hatte in seiner 1687 in Bremen erschienenen Schrift „De habitu religionis christianae ad vitam civilem“ im aufklärerischen Geist eine Kollegialtheorie der Kirche vorgetragen. Ihrzufolge konstituiert sich die Kirche aufgrund eines freien Zusammenschlusses der Gläubigen, die zur Feier des Gottesdienstes zusammenkommen. Es ist eine Kirche der Gleichen. Sie ist territorial gebunden. Sie bildet keinen Herrschaftsverband und untersteht der Herrschaft des Staates. Die universale Kirche ist unsichtbar. Die lokale Kirche untersteht den jeweiligen Landesfürsten.

Dem haben die Würzburger Theologen und Kanonisten widersprochen, weil sie sich eine territoriale Begrenzung der sichtbaren Kirche ebenso wenig vorstellen konnten wie ihre Unterordnung unter weltliches Regiment. Auf die Argumente der ‚Würzburger Schule‘ hatte dann die im 19. Jahrhundert entstandene ‚Römische Schule‘ bei der Entwicklung der Disziplin des Ius Publicum Ecclesiasticum zurück greifen können. Nach der vor allem durch die Römische Schule geformten Lehre des Ius Publicum Ecclesiasticum ist die Kirche „eine ‚vollkommene Gesellschaft‘, sofern sie ihrem Wesen nach vollständig u. unabhängig ist u. über sämtl. Mittel verfügt, um ihr Ziel zu erreichen (v.a. Jurisdiktion u. Regierung)“.12 Eine solche Kirche genügt sich selbst. Sie ist auf die Welt und auf Weltliches nicht angewiesen. Sie stellt einen Gegenentwurf zur Welt dar.

Systematisch begründet hat die Anwendung der Lehre von der societas perfecta auf die Kirche vor allem Luigi Taparelli d’Azegoli. Er gilt als einer der führenden Vertreter der ‚Römischen Schule‘.13Taparelli entwickelt seine Lehre von der Kirche „in strenger Parallelität zur societas perfecta des Staates“.14 Für ihn beruht in aristotelisch-thomanischer Tradition die Vereinigung auf der Sozialanlage und Sozialverpflichtung der Menschen, und nicht auf ihrem freien Zusammenschluss. Die Vollkommenheit einer Gesellschaft bestimmt Taparelli materialiter durch die Vollkommenheit des Zwecks und formaliter dadurch, dass sie „alle zu ihrer Zweckerreichung erforderlichen Mittel in sich selbst besitzt und deshalb ihrem Wesen (Natur) nach nicht mehr auf ein höheres Ganzes hingeordnet, sondern selbständig und unabhängig ist. Aus dem Wesen der Gesellschaft ergibt sich mit Notwendigkeit auch das Erfordernis einer Verbandsgewalt (Autorität), das heißt das Recht, die Glieder der Gesellschaft zu bestimmten Leistungen oder Unterlassungen in bezug auf die gemeinsame Zweckerreichung zu verpflichten. Die Verbandsgewalt, die einer vollkommenen Gesellschaft (societas perfecta) zukommt, wird als Souveränität, Jurisdiktion oder Jurisdiktionsgewalt bezeichnet. Sie aktualisiert sich in den drei bekannten Funktionen der Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehenden Gewalt. Als wesentliches Merkmal enthält die Verbandsgewalt der ‚vollkommenen Gesellschaft‘ die Unabhängigkeit von jeder anderen Gewalt. Die ‚vollkommene Gesellschaft‘ kann daher nicht Teil eines anderen, übergeordneten gesellschaftlichen Verbandes sein.“15

Die Kirche ist also eine nicht durch den Willen des Menschen, sondern durch Gottes Willen begründete notwendige Gesellschaft zur Bewahrung des Glaubens und Befolgung der Sittenlehre zum ewigen Heil. Sie ist ihrer Herrschaftsstruktur nach eine monarchische Gesellschaft. Die Kirche kann keine Demokratie sein wegen deren gesellschaftsbildenden Grundes, nämlich des freien Willens der Bürger. Dies widerspräche der Tatsache, dass sie sich einer göttlichen Autorität verdankt. Sie ist folglich auch in ihrem Bestand von der Zustimmung der Gläubigen unabhängig. Nach Taparelli ist die Kirche ein „geistlich-hierarchischer Herrschaftsverband“16, ein perfektes geistliches Staatswesen. Sie ist wesenhaft eine societas inaequalium, eine Gesellschaft der Ungleichen, auch wenn Taparelli diesen Begriff nicht verwendet hat.

Jedoch begründete in der herrschenden Meinung das Verständnis der Kirche als societas perfecta und societas inaequalium nicht nur die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Christologisch begründet, wurde es in der Ekklesiologie auch zur inneren Bestimmung des hierarchischen Wesens der Kirche verwendet. So wurden und werden noch heute die Unterschiede zwischen Klerikern und Laien herausgestellt und Bemühungen um die Demokratisierung der Kirche mit dem Argument zurückgewiesen, dass es sich bei der Kirche um eine Gesellschaft handele, die nicht auf dem freien und gleichen Willen der Gläubigen beruhen könne.

Weniger kritisch befragt worden ist, aber weitaus kritischer zu beurteilen wäre die der Societas-perfecta-Lehre implizite Annahme, dass die Kirche ihren Zweck – das geltende kirchliche Gesetzbuch, der CIC von 1983, gibt das „Heil der Seelen“ in Kanon 1752 als höchsten Zweck des kirchlichen Rechts an – mit rechtlichen Mitteln erreichen könne.

Wenn Wilhelm Bertrams in seiner theologischen Grundlegung des Kirchenrechts 1946 die Kirche als Fortsetzung der Inkarnation und die äußeren, rechtlich bestimmten Handlungen der Kirche als Mittel bezeichnet, „um direkt die seinsmässige, übernatürliche Gnade hervorzubringen, wie in den Sakramenten, die ja die Gnade nicht nur versinnbilden, sondern auch ex opere operato hervorbringen“,17 dann geht er auf der Basis der Societasperfecta-Lehre von der Richtigkeit dieser Annahme aus. Kirchliche Lehre und sakramentaler Gottesdienst werden damit als juridisch bestimmbare Heilshandlungen und das Kirchenregiment als unmittelbar heilswirksam angesehen. Eine Unterscheidung zwischen Kirche und Reich Gottes wird dadurch unterlaufen; ein geschichtliches Verständnis der Kirche unmöglich, ihr geschichtliches Versagen undenkbar.18

Wenn Joseph Klein im selben Jahr darauf hinweist, dass das bonum commune, welches teleologisch den Gesetzesbegriff bei Aristoteles und Thomas19 orientiert, in Staat und Kirche grundsätzlich verschieden seien und der letzte Zweck der Kirche den „vorausgesetzten Gesetzesbegriff sprenge“, weil „das Verhältnis des Menschen zum Corpus Christi […] nicht in die rationale Kategorie des Rechtsverhältnisses von Persönlichkeit und Gemeinschaft eingefangen werden“20 könne, es vielmehr personal und auf Hoffnung hin verwirklicht zu werden verlange, dann weist er damit die Grenzen eines solchen Verständnisses auf. „Der rechtlich bestimmte Gesetzesbegriff vermag nur einen relativ kleinen Ausschnitt des genuin Ethischen und Religiösen zu fassen. Im Bereich der Realisierung des Christlichen wirkt er destruktiv, wenn er seinen Geltungsanspruch zu weit vorträgt“,21 eben weil er im Hinblick auf das eschatologische Ziel der Kirche nicht zweckmäßig erscheint.

Wen wundert es, dass Klein angesichts solcher Thesen, durch die das Verständnis der Kirche als societas perfecta grundsätzlich in Frage gestellt wurde, im Sanctum Officium auf Ablehnung stieß. Immerhin war dort ein Mann namens Ottaviani dafür verantwortlich, dass die 1947 erschienene Schrift Kleins 1950 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt und ihm die wissenschaftliche Lehre in einer Theologischen Fakultät untersagt wurde. Es war jener Kardinal Ottaviani, dessen Hauptwerk, das unmittelbar vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil in vierter Auflage erschien, der Darstellung der Kirche als societas perfecta galt und dem daran gelegen war, die herrschende Meinung zu verteidigen.22

Viele Konzilsväter dürften der mit diesem Verständnis der Kirche verbundenen und antireformatorisch wie apologetisch gleichermaßen motivierten Betonung des Institutionellen, Hierarchischen und Juridischen in der Beschreibung des alleinigen Wesens der Kirche, das deren Geschichte seit dem ausgehenden Mittelalter und bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil nachhaltig dominiert hat, schlicht überdrüssig gewesen sein. Als Beleg dafür wird häufig eine Aussage von Bischof Emile J. de Smedt von Brügge zitiert. Er wetterte in der 31. Generalkongregation des Zweiten Vatikanischen Konzils am 1. Dezember 1962 gegen das Schema ‚De Ecclesia‘, es sei klerikalistisch, triumphalistisch und juridisch.23 Von einem solchen Kirchenverständnis haben sich die meisten Konzilsväter distanziert. Sie haben das unter Mitwirkung Ottavianis in der Theologischen Kommission entstandene Schema als grundlegend überarbeitungsbedürftig angesehen.24 Das Verständnis der Kirche als vornehmlich sichtbare Größe sowie die darauf aufbauende Deutung der Institution als societas perfecta, die das Selbstbestimmungsrecht und die Unabhängigkeit der Kirche sichern sollte, griffen in ihren Augen für eine Bestimmung des Wesens der Kirche zu kurz.25

Ekklesiologisch bestimmend für Lumen gentium wurden im Gegenzug eine theologisch-heilsgeschichtliche Sichtweise der Kirche und die in Anlehnung an die wiederentdeckte Theologie der Kirchenväter und in Anknüpfung an die Enzyklika Mystici Corporis von Papst Pius XII. erfolgte Wiedererinnerung an die Kirche als Mysterium.26 Der Löwener Theologe Gerard Philips hatte in einem unter dem Patronat von Kardinal Suenens gefertigten Entwurf, der ab Ende Februar 1963 als neue Beratungsgrundlage fungierte, den Mysteriencharakter der Kirche herausgestellt.27 So kennzeichnet die Dogmatische Konstitution über die Kirche eine gewisse Distanz zur Societas-perfecta-Lehre. Gegen deren Triumphalismus wird die Kirche als „Zeichen und Werkzeug“ bezeichnet. Sie unterscheidet sich selbst von ihrem christologischen Grund, dem sie im Geist verbunden ist, ist Mittel zur Darstellung des Heilshandelns Gottes an der Menschheit und trägt ihren Zweck nicht in sich selbst. Gegen den Klerikalismus wird die Gleichheit der Würde aller, die durch die Taufe den Geist Christi empfangen haben, herausgestellt. Mit der Metapher „Volk Gottes“ wird zudem die Kirche als Ganze bezeichnet. Gegen den Juridismus wird betont, dass die Kirche eine komplexe Wirklichkeit, bestehend aus unsichtbarem und sichtbarem Element, sei.

Eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts geriet darüber ebenso wie die Formulierung des unter der Vorgabe des Aggiornamento (auch) rechtlich bestimmbaren und neu zu bestimmenden Charakters der Kirche weitgehend28 in Vergessenheit. Norbert Lüdecke konstatiert aus historischer Distanz eine „idealistische Unterschätzung der Bedeutung des Rechts für Reformen“ und klagt über eine „ungute Vernachlässigung rechtlicher Fragen“29 durch das Konzil.

Es ist bezeichnend: In Lumen gentium wie auch den übrigen Konzilsdokumenten finden sich keinerlei Kriterien für die Überarbeitung des kirchlichen Gesetzbuches von 1917, die etwa den Aussagen vergleichbar wären, die in der Konzilskonstitution Sacrosanctum Concilium zur Reform der Liturgie enthalten sind.30

Offenbar war dies Papst Johannes Paul II. bei der Erstellung des Codex Iuris Canonici jedoch nicht bewusst. Wie sollte man sonst seine euphemistische Formulierung beim Angelusgebet vom 30. Januar 1983 deuten? Er führte fünf Tage nach der Promulgation des Codex Iuris Canonici aus: „Die Reform des Kirchenrechts sollte den vom Konzil vorgezeichneten Richtlinien folgen.“31 Welchen Richtlinien, fragt man verwundert, wenn es doch keine gab?32

„Der neuen Theologie“, so die Diagnose des evangelischen Kirchenrechtswissenschaftlers Hans Dombois, „entsprach keine neue Kanonistik“.33 Ein vergleichbares Fazit zieht Hervé Legrand: „Das II. Vaticanum hat kaum auf die kirchenrechtliche Dimension der Reformen geachtet, die es durchführen wollte.“34

Rückblickend wird man das Ausblenden des Kirchenrechts und seiner zeitgemäßen Grundlegung durch die Konzilsväter als problematisch beurteilen müssen: „Nicht das ist der Fehler, daß in der Kirche das Recht zu sehr überwiegt, sondern daß das Recht nicht auf der Höhe moderner Rechtskultur ist. Es ist wohl ein verhängnisvoller Fehler vieler Konzilsväter des Zweiten Vatikanums, zu wenig nüchtern rechtlich gedacht zu haben. Damit wird das Recht am Ende der Ekklesiologie des Ersten Vatikanums überlassen“, so die ernüchternde Bilanz des Konzils- und Kirchenhistorikers Klaus Schatz im Jahr 1991 über die Konsequenzen der entstandenen Leerstelle35, der damit indirekt eine These von Werner Böckenförde bestätigt hat.36 Dieser hatte geurteilt: „Der Geist des Codex Iuris Canonici von 1983 ist der Geist des Codex Iuris Canonici von 1917 […]“.37Fragt man nach der Ekklesiologie des Codex von 1983, so wird man ihn mit Remigiusz Sobanski als den zwiespältigen Versuch charakterisieren können, „im Gerüst einer societas das Recht einer communio unterzubringen“38.

Lücken sind gefährlich.39 Sie lassen sich, je nach Interessenlage, unterschiedlich füllen. So hat der Kanonist Norbert Lüdecke, in der gleichen kanonistischen Schule wie Böckenförde stehend, die durch das Konzil gelassene Lücke noch mehr als sein Mentor für die Fortschreibung des juridischen Kirchenverständnisses instrumentalisiert. Mit einiger Chuzpe hat er die Behauptung aufgestellt, der Codex Iuris Canonici von 1983 sei als die authentische Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils anzusehen. Er stelle die „Krönung des Konzils“ dar.40 Der Codex sei das „letzte Konzilsdokument“. Durch ihn werde die Lehre des Konzils vervollständigt. Gleichzeitig stellt Lüdecke jedoch exemplarisch fest: „In den zentralen Bereichen des Verständnisses der Offenbarung und des kirchlichen Lehramtes transformiert der Codex in differenzierter Weise jene Lehren des II. Vatikanums, die das I. Vatikanum bestätigt haben“41 und zieht damit die gleiche Bilanz wie Schatz, allerdings mit dem Unterschied, dass er diese Entwicklung als durch päpstliche Aussagen und päpstliches Handeln legitimiert ansieht. Ebenso wie Böckenförde geht Lüdecke davon aus, dass „in der Rechtsgestalt der Kirche das Kirchenverständnis des Gesetzgebers zu erkennen“42 sei. Für den Skatfreund Lüdecke ‚sticht‘ der Codex das Konzil. „Der CIC steht auf dem Boden des II. Vatikanischen Konzils unabhängig von seiner Übereinstimmung mit dessen Lehren. Der Papst ist an die Lehren des II. Vatikanums nicht gebunden. Er legt sie verbindlich aus.“43 Formal ist all dies kanonistisch korrekt. Ekklesiologisch ist dieser der Alleinherrschaft des Papstes huldigende Rechtspositivismus, durch den nicht nur der Geist, sondern auch die verabschiedeten Texte des Konzils ausgehebelt werden können, einseitig, verkürzend und deshalb inakzeptabel.

Die durch das Konzil gelassene Lücke hinsichtlich einer Grundlegung des Kirchenrechts zeitigt also gravierende Konsequenzen. Auf die sich daraus ergebenden Desiderate für ein inzwischen auch theologisch notwendig gewordenes Aggiornamento des kirchlichen Rechts haben Bernd Jochen Hilberath und Guido Bausenhart 2006 hingewiesen, ohne jedoch auf die Frage der Legitimierung des Rechts in der Kirche eingegangen zu sein.44

Lumen gentium und die Pneumatologie

Die Feststellung zum Heiligen Geist, die Bouyer im eingangs erwähnten Zitat trifft, verwundert schon eher. Haben nicht vor allem orthodoxe Theologen die These von der Geistvergessenheit in der westlichen Ekklesiologie vor dem Zweite Vatikanum vertreten45, und haben nicht Theologen der westlichen Hemisphäre nachkonziliar darauf hingewiesen, dass durch das Zweite Vatikanische Konzil dieses Defizit behoben worden sei?

Begründen konnten sie ihre Position vor allem mit Hinweisen auf Lumen gentium 4 und 7, 14 und 48. Lumen gentium 4 thematisiert die konstitutive Bedeutung des Heiligen Geistes für das Mysterium der Kirche im Rahmen ihrer trinitarischen Grundlegung und Lumen gentium 7 im Rahmen ihrer christologischen Gründung, Lumen gentium 14 benennt das „Haben des Geistes“ als Kriterium der Zugehörigkeit zur Kirche, Lumen gentium 48 schließlich charakterisiert die Kirche als Ganze in eschatologischem Kontext mit der Formulierung „Christus hat, von der Erde erhöht, alle an sich gezogen (vgl. Joh 12,32 griech.). Auferstanden von den Toten (vgl. Röm 6,6), hat er seinen lebendigmachenden Geist den Jüngern mitgeteilt und durch ihn seinen Leib, die Kirche, zum allumfassenden Heilssakrament gemacht“ (LG 48), als „Sakrament des Geistes“ (W. Kasper). Von Geistvergessenheit bräuchte deshalb in Bezug auf Lumen gentium eigentlich keine Rede zu sein.46

Doch Bouyer beklagt, dass in Lumen gentium vom Heiligen Geist nur in „einem eher frommen als lehrhaften schönen Abschnitt“ die Rede sei, mit anderen Worten, der Heilige Geist nicht als konstitutiv für die Strukturen der Kirche und ihre institutionelle Gestalt angesehen werde.

Diesem Urteil könnte und müsste man vielleicht vom Wortlaut des verabschiedeten Konzilstextes her widersprechen. So haben es vor allem Yves Congar, Libero Gerosa und Heribert Mühlen getan. Yves Congar hat die These von der Geistvergessenheit der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils umfassend zu entschärfen versucht.47 Libero Gerosa hat Bouyer ebenso entschieden widersprochen. Er legt unter Bezugnahme auf die Charismenlehre in Lumen gentium 12,2 dar, dass das Konzil „in voller Übereinstimmung mit der Lehre des Neuen Testaments den gemeinsamen Ursprung der charismatischen und der hierarchischen Gaben“48 bekräftigt habe, dass Charismen gemäß Apostolicam Actuositatem als Quelle von Rechten und Pflichten anzusehen seien und sie dazu gegeben werden, die Gemeinschaft der Gläubigen aufzubauen.

Auch ich möchte Widerspruch anmelden. Ich meine, das von Bouyer benannte Defizit im weiteren Verlauf der Arbeit durch eine konsequent pneumatologische Interpretation von Lumen gentium 8 beheben zu zu können. Eine solch pneumatologische Interpretation von Lumen gentium 8 hat bisher nur Heribert Mühlen, und zwar bereits unmittelbar im Anschluss an das Konzil, vorgelegt.49 Sie hat sich allerdings nicht durchsetzen können. Mühlen hat vielleicht zu emphatisch davon gesprochen, dass in den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils die Ekklesiologie in eine „pneumatologische Phase“ eingetreten sei.50 Wirkungsgeschichtlich trifft diese Aussage nicht zu. Die gängige Interpretation von Lumen gentium 8 marginalisiert den pneumatologischen Aspekt und scheint damit, ebenso wie so manche nachkonziliare Entwicklung, Bouyer recht zu geben.

Die Enzyklika Papst Leo XIII. Divinum illud vom 9. Mai 1897 gilt als das erste lehramtliche Dokument,51 in welcher der Heilige Geist in seiner Bedeutung für die Kirche nach jahrhundertelangem Schweigen wieder erwähnt worden ist. Er ist also keineswegs völlig vergessen worden. Freilich findet er seinen Platz (nur) als Assistenz in einer hierarchisch verfassten Kirche, die, sofern sie theologisch reflektiert, christozentrisch begründet wird. Theologisch wird diese Kirche als Institution – als von Christus durch einen Rechtsakt eingesetzte menschliche Gesellschaft oder als Fortsetzung der Inkarnation – verstanden. Zwar beseele der Geist diese hierarchisch verfasste Kirche, gleichwohl gilt er für sie nicht als konstitutiv. In diesem Sinn zitiert Pius XII. die Enzyklika Divinum illud seines Amtsvorgängers Leo XIII: „Es genüge der eine Satz: Christus ist das Haupt der Kirche, der Heilige Geist ihre Seele“.52 Die Formulierung geht auf Augustinus zurück, der allerdings formuliert hatte, dass der Heilige Geist gleichsam die Seele der Kirche sei (Augustinus, serm. 267,4). Gegen genau diese Art der Christozentrik in der Ekklesiologie, die Haupt und Seele und nicht Leib und Seele einander gegenüberstellt, richtete sich die These von der Geistvergessenheit der orthodoxen Theologen, prominent vorgetragen durch den Konzilsbeobachter Nikos Nissiotis.

Als Beispiel für diese Art der Geistvergessenheit kann die Lehre über die Einheit als Wesenseigenschaft der Kirche angeführt werden. In der lehramtlichen Ekklesiologie der römisch-katholischen Kirche gilt das Papstamt als deren sichtbares Prinzip.53 Die Kirche und ihre Einheit werden durch das Erste Vatikanische Konzil von ihrem Oberhaupt her definiert.54 Für eine Ekklesiologie jedoch, deren Gegenstand die Kirche als Mysterium ist, kann Medard Kehl formulieren: „Diese Einheit hat ihren Grund […] weder im Willen des Volkes Gottes, noch im Willen des Papstes; beide sind nicht die ‚Souveräne‘ […] der Kirche […]. Die Einheit der Kirche gründet vielmehr restlos in der Liebe Jesu Christi, die im Hl. Geist der ganzen Kirche zugeeignet wird“.55

Die durch das Verständnis der Kirche als Mysterium vorgenommene Veränderung der Perspektive tritt in diesem Beispiel deutlich hervor. Die Kirche wird nicht länger als nur sichtbare Größe verstanden, deren Einheit in einem sichtbaren Prinzip gründet und die dann noch durch den Heiligen Geist beseelt werden müsste. Vielmehr orientiert sich das Verständnis ihrer Einheit daran, dass sie das in der trinitarischen Liebe geeinte Volk Gottes ist.

Durch das und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil werden nun aber beide Aussagen oft undifferenziert und deshalb mit konkurrierendem Geltungsanspruch vorgetragen.56 So bezeichnet Lumen gentium 4 „die ganze Kirche als ‚das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk‘“. Hingegen heißt es in Lumen gentium 18, dass Christus „den heiligen Petrus an die Spitze der übrigen Apostel gestellt und in ihm ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft eingesetzt“ hat. Aufgrund dieses später noch zu diskutierenden Befundes müsste man in Bezug auf Lumen gentium zutreffend wohl eher von einer parataktischen Erweiterung der Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils als von einer Veränderung der Perspektive sprechen.57

Die Aufgabe des Konzils hätte der These von Medard Kehl zufolge in der Klärung und Sicherung der Prinzipialität des Heiligen Geistes auch für die institutionelle Gestalt der Kirche bestehen müssen.58

Dies gilt freilich nicht nur in Bezug auf das theologische, innere Einheitsprinzip der Kirche, sondern auch etwa in Bezug auf die Frage der Zugehörigkeit zu einer Kirche, die sich als Gemeinschaft der Gläubigen versteht und für deren Konstitution diese Frage deshalb von eminenter Bedeutung ist. Bedenkt man, dass das Kriterium von Lumen gentium 1459 „Spiritum Christi habentes“ (Röm 8,9) keinen Eingang in das Gesetzbuch der lateinischen Kirche, den CIC von 198360, gefunden hat und dieses sich zur Beschreibung der Kirchenzugehörigkeit wieder an den unter der Voraussetzung der Sichtbarkeit der Kirche formulierten Bellarminschen Kriterien orientiert – wenn auch unter anderen Vorzeichen61 –, scheinen auch an dieser Stelle aufgrund der nachkonziliaren Entwicklung berechtigte Zweifel an einer nachhaltigen Herausstellung der konstitutiven Bedeutung des Heiligen Geistes für die Kirche angebracht.

Dieses Urteil scheint trotz der wiederholten lehramtlichen Bezugnahme auf den Geist in nachkonziliarer Zeit, vor allem durch die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. vertretbar. Man muss nämlich nüchtern feststellen, dass die Bezugnahme auf den Geist im CIC von 1983 nicht rezipiert worden ist, ja sogar bewusst vermieden worden zu sein scheint. Der Begriff ‚Charisma‘ kommt im Codex ebenso wenig vor, wie auf das ‚Spiritum Christi habere‘ und den ‚sensus fidei‘ Bezug genommen wird. Dem Wirken des Geistes wird keine Rechtsrelevanz zuerkannt. Dies gilt auch für die pneumatologische Dimension von Wort und Sakrament.62

Nach Medard Kehl bleibt die Pneumatologie ekklesiologisch harmlos, „wenn sie sich nicht auch strukturell auswirkt“.63 Einen möglichen Grund für diesen Mangel benennt Bernd Jochen Hilberath. Er urteilt, dass es in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils „zu einer vielfältigen Thematisierung der pneumatischen Dimension der Kirche“ gekommen sei, „wenn auch von einer durchgehenden Systematik nicht die Rede sein kann“.64 Und eben das dürfte Bouyer mit seiner Formulierung gemeint haben.

Walter Kasper hat bereits 197665 – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zwei wesentliche Gründe für die Geistvergessenheit in Theologie und Kirche der westlichen Welt benannt: erstens „die schon früh einsetzende Auseinandersetzung mit dem Schwärmertum“ (16), die dazu führte, dass „die charismatische Dimension der Kirche […] weithin verdeckt [wurde; MB] durch die übermächtigen hierarchischen Strukturen“ (17) und kompensiert wurde im Verständnis des Heiligen Geistes „als […] Seele der hierarchisch verfaßten Kirche“ (17) und zweitens die von Augustinus ausgehende Entwicklung der Trinitätslehre in der Westkirche, die den Heiligen Geist geschichtlich funktionslos werden ließ. Sie bildete ihre Charakteristika vor allem im Ausgang vom „einen göttlichen Wesen [aus; MB], das […] in sich dreifaltig begriffen wurde“ (18), sowie durch das Axiom, „daß alles Wirken Gottes nach außen allen drei göttlichen Personen gemeinsam zugesprochen und ihre besondere heilsgeschichtliche Funktion außer acht gelassen wurde“ (18). Der Verlust der heilsgeschichtlichen Perspektive findet nach Kasper ihren Ausdruck darin, dass die „ursprüngliche heilsgeschichtliche Doxologie ‚Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geist‘ […] durch die mehr dogmatische ‚Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist‘“ (18) ersetzt worden sei und endet damit, dass die Lehre vom Heiligen Geist „praktisch in die allgemeine Trinitätslehre aufgesogen“ (19) wurde und „damit ohne Funktion für das christliche Bewußtsein“ (19) war. Die filioquistische Ausformulierung der Trinitätslehre66 im Westen dürfte diese Entwicklung, wenn auch nicht alleine bewirkt, so doch zumindest maßgeblich befördert und begünstigt haben.

Wie dem auch sei: „Beide Gründe führten dazu, daß die Kirche einseitig christologisch als Institution (Stiftung) und Repräsentation Jesu Christi verstanden wurde.“ (19) Umgekehrt kam es, so Kasper, aus beiden Gründen zum Auszug des Geistes aus der Kirche, „zu einer folgenschweren Säkularisierung des Geistes“ (19).

Zu ergänzen ist die Diagnose Kaspers durch den doppelten Hinweis auf die ‚Geringschätzung‘ des Geistes im sakramentalen Geschehen sowie in der Erlösungslehre.

Mit Ambrosius von Mailand, dies sei hier nur als gewichtiges Beispiel für den ersten Fall angeführt, jenem Ambrosius, über den das an Willensmacht und Dienstpflicht orientierte römische Rechtsdenken in die Kirche Einzug hielt, setzt sich im Westen die These durch, dass es die Worte und der Befehl Christi seien, welche die Wandlung von Brot und Wein bewirken.67 Diese These von der konstitutiven Bedeutung der vollmächtig gesprochenen Einsetzungsworte hat die Eucharistielehre in der westlichen Kirche bis in die jüngste Zeit hinein geprägt. „Der Canon Romanus, das in der Zeit zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert entstandene Eucharistiegebet der römischen Liturgie, hat zwar auch eine anamnetisch-epikletische Grundstruktur, wurde aber redaktionell so bearbeitet, dass die verschiedenen Gebetsvollzüge symmetrisch um die Einsetzungsworte gruppiert sind“.68 Anamnese und Epiklese bilden den Rahmen für das konsekratorische Handeln. Die Konsekration selbst wird nicht als Werk des Heiligen Geistes verstanden. Die Einsetzungsworte werden vom Priester in persona Christi gesprochen. Ihm kommt die potestas consecrandi zu.69