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Die 17-jährige Emily kann es nicht fassen: Eigentlich wollte sie nur feiern gehen, doch dann kommt alles ganz anders. Nach einem bewaffneten Überfall landet ihre Mutter im Krankenhaus, und die Familie ist in so großer Gefahr, dass sie sogar einen Bodyguard bekommen. Pascal sorgt bei Emily für ordentlich Pulsrasen, obwohl sein Machogehabe ziemlich nervtötend ist. Doch dann spitzt sich die Lage zu, und die Familie muss ins Zeugenschutzprogramm. Von der Großstadt geht's aufs Land - für Emily katastrophal. Sie will unbedingt zurück, aber im Zeugenschutz gelten harte Regeln. Und Emily lernt auf die harte Tour, dass der kleinste Fehler nicht nur ihr Leben in Gefahr bringt, sondern auch ihr Herz ...
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Seitenzahl: 393
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
1
2
3
4
Aus Emmys Tagebuch
5
Aus Emmys Tagebuch
6
Aus Emmys Tagebuch
7
Aus Emmys Tagebuch
Aus Emmys Tagebuch
Aus den Vernehmungsprotokollen
Weihnachten
Nachwort
Die 17-jährige Emily kann es nicht fassen: Eigentlich wollte sie nur feiern gehen, doch dann kommt alles ganz anders. Nach einem bewaffneten Überfall landet ihre Mutter im Krankenhaus, und die Familie ist in so großer Gefahr, dass sie sogar einen Bodyguard bekommen. Pascal sorgt bei Emily für ordentlich Pulsrasen, obwohl sein Machogehabe ziemlich nervtötend ist. Doch dann spitzt sich die Lage zu, und die Familie muss ins Zeugenschutzprogramm. Von der Großstadt geht‘s aufs Land – für Emily katastrophal. Sie will unbedingt zurück, aber im Zeugenschutz gelten harte Regeln. Und Emily lernt auf die harte Tour, dass der kleinste Fehler nicht nur ihr Leben in Gefahr bringt, sondern auch ihr Herz …
Weitere Titel der Autorin:
Zeitenzauber – Die magische Gondel
Zeitenzauber – Die goldene Brücke
Zeitenzauber – Das verborgene Tor
Leg dich nicht mit Mutti an
Der Montagsmann/Hände weg oder wir heiraten
Wenn Frauen Männer buchen
Ich bin alt und brauche das Geld
Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Richterin und Rechtsanwältin ihre Brötchen, bevor sie die Juristerei endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.«
Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.
EVA VÖLLER
Kiss & Crime
ZEUGENKUSSPROGRAMM
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 2015 Eva Völler
Copyright Deutsche Originalausgabe © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Anna Hahn
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer
Einband-/Umschlagmotiv: © art_of_sun / shutterstock; Syda Productions / shutterstock; Mari Dein / shutterstock; Karlygash / shutterstock; Supa Chan / shutterstock; symona / shutterstock; Klavdiya Krinichnaya / shutterstock; nereia / shutterstock
unter Verwendung von © goldnetz/shutterstock; © alex74/shutterstock; © WeAre/shutterstock
E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7517-3328-1
one-verlag.de
luebbe.de
Für Anne
Der Tag, an dem mir der gut aussehende Typ mit der Lederjacke zum zweiten Mal über den Weg lief, war ziemlich verregnet und langweilig, und meine Stimmung war nicht gerade die beste. Ich spielte mal wieder den Chauffeur für Jonas, den Freund meiner Mutter, dem irgendwie vor einer Weile der Führerschein abhandengekommen war und der heute einen Termin bei einer Anwaltskanzlei hatte. Er saß auf der Rückbank und erklärte mir den Weg. Dabei sparte er nicht mit Anweisungen und Tipps.
»Du gibst beim Anfahren zu wenig Gas«, meinte er. »Und überhaupt könntest du mal ein bisschen schneller fahren, sonst kommen wir nie an.«
»Hier ist Tempo fünfzig.«
»Ja, aber die fahren hier alle mindestens sechzig, dann kannst du das auch machen. Als Fahrer muss man sich dem fließenden Verkehr anpassen.«
Neben mir erhob Omi ihre Stimme und übertönte damit das Genörgel von Jonas. »Lady Belinda konnte kaum atmen vor Erregung«, sprach sie in ihr Diktiergerät. »Lord Goswins eindringlicher Blick schien ihr tiefstes Inneres zu berühren. In ihrem Nacken stellten sich winzige Härchen auf. Zitternd erwartete sie seinen Kuss.«
»Stopp!«, rief Jonas von hinten. »Da vorn ist die Kanzlei. Du kannst mich hier rauslassen.« Es klang zutiefst entnervt. Er hatte nicht viel für Lady Belinda und Lord Goswin übrig. Und für Omi und ihre Liebesromane sowieso nicht. »Ihr könnt mich in einer Stunde wieder abholen.«
Ich bremste und ließ ihn aussteigen. Omi achtete gar nicht darauf, sie diktierte beschwingt weiter.
Ich fuhr wieder an, aber langsam, weil ich gerade im Außenspiegel besagten Typen hatte auftauchen sehen. Kein Zweifel, es war derselbe, der mir schon letzte Woche aufgefallen war, als ich Jonas zu seinem Stammfriseur gekutscht hatte.
Der Typ mit der Lederjacke blieb in der Nähe des Kanzleigebäudes stehen, während Jonas hineinging. Dann sah er auf die Uhr, bevor er sich mit dem Rücken gegen die Hauswand lehnte, die Hände in den Hosentaschen und einen unergründlichen Ausdruck im Gesicht. Er war ungefähr Anfang zwanzig, groß und dunkelhaarig. Und er sah wirklich ziemlich gut aus, was auch der Grund dafür war, dass ich mich so genau an ihn erinnerte. Davon abgesehen wirkte er irgendwie … verdächtig. Denn sonst wäre er wohl kaum schon wieder an einem Ort aufgekreuzt, wo ich gerade Jonas abgeladen hatte.
Irgendwas musste Jonas mit ihm zu tun haben. Aber gesprochen hatte er nicht darüber. Hatte er was zu verbergen? Meiner Meinung nach war das durchaus möglich, aber auf meine Meinung wurde ja kein Wert gelegt. Jedenfalls nicht von meiner Mutter, denn als ihr derzeitiger Lover und Lebensgefährte war Jonas aus ihrer Sicht über jeden Zweifel erhaben. Als Beispiel für den Spruch Liebe macht blind hätte meine Mutter sich perfekt geeignet. Was das anging, erfüllte sie alle Klischees. Und zwar ständig. Oder besser gesagt: immer wieder. Sie verknallte sich in völlig ungeeignete Typen, ließ sie bei uns einziehen, schwebte ein paar Monate im siebten Himmel und fiel anschließend in ein tiefes, rabenschwarzes Loch.
So war es bisher immer gewesen, zumindest bei den drei Männern vor Jonas, die in den vergangenen fünf Jahren bei uns gewohnt hatten. Ich hätte es meiner Mutter immer schon im Voraus sagen können – wenn sie mich gefragt hätte. Aber sie fragte mich ja nicht. Und wenn ich es ihr ungefragt sagte, was auch schon vorgekommen war, wollte sie es nicht hören.
Derzeit war also Jonas die Liebe ihres Lebens. Sie behauptete, dass sie verrückt nach ihm war. Ich bemühte mich sehr, ihn durch ihre Augen zu sehen, doch selbst unter der Prämisse, dass ich Typen mit Friseursträhnchen, gebleachten Zähnen und Sonnenbankbräune toll gefunden hätte, kriegte ich es nicht hin, ihn zu mögen. Ich hoffte nur, dass meine Mutter bald begriff, wie wenig der Rest der Familie ihn leiden konnte.
Dieser Rest bestand zwar, jedenfalls im engeren Sinne, nur aus zwei Personen, nämlich Omi und mir. Aber wir beide waren uns, was Jonas betraf, ziemlich einig, nur dass Omi ihre Meinung meist für sich behielt, weil sie zu höflich war. Oder zu geistesabwesend, wie gerade in diesem Moment: Sie steckte mental tief in ihrem neuesten Roman, was leicht daran zu erkennen war, dass sie schon seit zwanzig Minuten in ihr Diktiergerät sprach.
»Seine heißen Lippen glitten über ihre Schulter und suchten einen empfindsamen Punkt unter ihrem rechten Ohr«, diktierte Omi mit geschlossenen Augen. »Seine Hände umfassten ihre zarte Taille und zogen sie an seinen muskulösen Leib.«
Ich bremste abrupt. Nicht, weil ich über Omis Text erschrocken gewesen wäre (da konnte mich nichts mehr erschüttern), sondern weil ich sonst auf den Wagen vor mir aufgefahren wäre, der gerade vor einer roten Ampel hielt. Im Außenspiegel sah ich, dass der dunkelhaarige Typ in dasselbe Gebäude ging, in dem eben Jonas verschwunden war. Letzte Woche war er ihm auch in den Friseursalon gefolgt.
»Die kennen sich«, sagte ich. »Definitiv.«
»Was?«, sagte Omi zerstreut. Dann fuhr sie fort: »Sein glühender Kuss ließ Belindas Widerstand schmelzen. Seufzend ergab sie sich in ihr Schicksal. Sie erduldete Lord Goswins Zärtlichkeiten nicht nur, sondern erwiderte sie mit derselben hingebungsvollen Inbrunst.«
»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Millionenstadt wie Berlin zwei Typen zuerst zum selben Friseur und eine Woche später zum selben Anwalt gehen?«, fragte ich.
»Hm?«, machte Omi. Sie blickte versunken ins Leere, ehe sie weitersprach: »Belindas Herz klopfte rasend schnell. Nichts hatte sie auf diesen wilden Überschwang ihrer Gefühle vorbereitet. Nicht die gelehrsame Lektüre aus ihrer Mädchenzeit, nicht die Unterweisung durch ihre Gouvernante, nicht die Gespräche mit ihren Freundinnen an Ms Pripples Institut für junge Damen.« Omi hielt inne, um den Rest der Romanszene zu überdenken. Meine Frage hatte sie nicht wirklich wahrgenommen. Sie saß mit entrückter Miene auf dem Beifahrersitz. Wenn ich richtig mitgezählt hatte, befanden wir uns gerade im vierten Kapitel, was bedeutete, dass es zwischen Lady Belinda und Lord Goswin heute noch richtig zur Sache gehen würde. Im vierten Kapitel war das unausweichlich, hatte Omi mir mal erklärt. Nach mehreren hundert heißen Liebesromanen, die sie im Laufe der Jahre schon verfasst und für viel Geld an Verlage verkauft hatte, musste sie es ja wissen. Meist schaffte sie mindestens einen oder sogar zwei pro Monat. Jedes Mal, wenn wir zusammen mit dem Wagen unterwegs waren, sie auf dem Beifahrersitz und ich am Steuer, kam wieder ein Kapitel dazu.
Dieses Arrangement war für uns beide ungeheuer praktisch. Für mich, weil ich erst siebzehn war und deshalb nur in Begleitung fahren durfte. Und für Omi, weil sie sich gerne stundenlang durch die Gegend chauffieren ließ, egal wohin, denn während der Fahrt entfaltete ihre schriftstellerische Kreativität sich viel besser als zu Hause. Ich hatte außerdem den Eindruck, dass sie es mochte, in Jonas’ Beisein zu diktieren, denn sie schaute dann hin und wieder prüfend in den Rückspiegel, um zu sehen, wie er auf ihre Texte reagierte. Je entnervter er mit den Augen rollte, desto zufriedener wirkte sie. Omi hatte definitiv eine kleine boshafte Ader, und dafür liebte ich sie noch mehr, als ich es sowieso schon tat.
Wahrscheinlich hätte Jonas lieber heute als morgen darauf verzichtet, sich von mir (mitsamt Omi und ihrem Diktiergerät) herumkutschieren zu lassen, aber nachdem er wegen dieser dummen Sache seinen Führerschein verloren hatte, blieb ihm nichts anderes übrig. Mama war arbeiten und konnte ihn tagsüber nicht fahren, und Taxifahren konnte er sich derzeit nicht leisten, denn er hatte nicht nur keinen Führerschein, sondern auch keinen richtigen Job. Angeblich hatte er eine Firma, die irgendwas mit Import-Export von Computersoftware machte, aber so richtig gut lief die anscheinend nicht, denn er pumpte Mama öfter mal an.
Was genau diese dumme Sache gewesen war, hatte ich noch nicht rausgekriegt, aber ich tippte auf notorische Geschwindigkeitsübertretung. Wie auch immer, jedenfalls hatte er vor zwei Monaten seinen getunten BMW an den Händler zurückgegeben, um sich die teuren Leasinggebühren zu sparen.
Seitdem durften Omi und ich ihn durch die Gegend fahren. Er hätte auch öffentliche Verkehrsmittel nutzen können, doch offenbar ließ er lieber Omis Liebesszenen über sich ergehen, statt die Straßenbahn zu nehmen.
»Ich habe gerade wieder diesen Typen gesehen«, erklärte ich ihr. »Er war schon letzte Woche da, als wir Jonas zum Friseur gebracht haben.«
»Was für ein Typ?«, wollte Omi wissen, einen Moment von ihrem Roman abgelenkt.
»Du hast ihn nicht gesehen, weil du gerade die Augen zuhattest.«
Omi diktierte gelegentlich mit geschlossenen Augen. Besonders bei Szenen, in denen es so richtig zur Sache ging.
»Das war noch in Herrin der Leidenschaft«, fuhr ich fort. »An der Stelle, als der Pferdeknecht sich an Lady Florinda ranmachen wollte und Lord Reginald sie retten musste. Im Heu«, fügte ich erläuternd hinzu.
»Hm«, machte Omi, jetzt wieder zerstreut. »Wirklich? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass da auch ein Friseur eine Rolle spielte.«
»Ich mich auch nicht«, sagte ich. Stirnrunzelnd blickte ich zu dem Schild der Anwaltskanzlei hinüber. Es standen ziemlich viele Namen darauf, unter der fetten Überschrift Patentanwälte. Was wollte Jonas bei einem Patentanwalt? Ich hatte irgendwie angenommen, es ginge bei seinem Anwaltstermin um diese dumme Sache. Aber Patentanwälte befassten sich – nach allem, was ich wusste – doch eher mit Erfindungen als mit Führerscheinproblemen, oder?
Hinter mir hupte es. Hastig legte ich den ersten Gang ein und gab Gas. Ich zerbrach mir unablässig den Kopf über den dunkelhaarigen Typen, während ich weiterfuhr. Was hatte er mit Jonas zu schaffen?
*
Dieselbe Frage stellte ich mir tags darauf wieder. Ich hatte Nachmittagsunterricht, eine Doppelstunde Kunst, und Omi wollte währenddessen zur Fußpflege, da ging sie immer hin, wenn ich Kunst hatte. Wir trafen uns nach dem Unterricht beim Wagen und fuhren dann raus nach Lichterfelde, wo Jonas bei einem Kumpel abgeholt werden wollte. Er wartete an der vereinbarten Stelle, was eine angenehme Abwechslung war, weil Omi und ich sonst meistens auf ihn warten mussten.
Jonas machte einen äußerst unzufriedenen Eindruck, als er zu uns in den Wagen stieg. Anscheinend war der Besuch bei seinem Kumpel, wer immer das war, nicht sonderlich spaßig gewesen.
»Du kannst ruhig losfahren«, sagte er. »Ich bin schon angeschnallt.«
»Gleich.« Wie elektrisiert sah ich soeben im Außenspiegel den Typ mit der Lederjacke auftauchen. Etwa dreißig Meter hinter uns setzte er sich gerade ans Steuer eines dunkelblauen Passats. Ich wartete darauf, dass er losfuhr, doch der Wagen blieb stehen.
»Nun fahr schon«, sagte Jonas ungeduldig von der Rückbank.
Ich ordnete mich in den fließenden Verkehr ein, und der Passat hinter uns fuhr ebenfalls los. An der nächsten roten Ampel blieb ich stehen und blinkte links. Der Typ im Passat blinkte ebenfalls links. Die Ampel wurde grün, aber statt nach links bog ich rechts ab, und der Passat folgte uns.
»Der Typ hinter uns verfolgt uns definitiv«, sagte ich zu Omi, doch die war eingeschlafen. Meist hielt sie nachmittags zwischen vier und fünf ein Nickerchen, und wenn wir da gerade unterwegs waren, schlief sie eben im Auto. Eigentlich war das für eine Begleitperson unzulässig, aber weil sie auch beim Diktieren häufig die Augen zuhatte, spielte es im Grunde keine Rolle.
»Genau genommen verfolgt er dich«, sagte ich zu Jonas.
»Wer?«
»Der Typ in dem Wagen hinter uns.«
Jonas blickte über die Schulter nach hinten. »Welcher Wagen?«
Ich sah in den Rückspiegel. Der Passat war weg. Er hatte entweder angehalten oder war abgebogen.
»Das war so ein Typ mit ’ner Lederjacke«, erklärte ich. »Der war auch schon da, als du letzte Woche beim Friseur warst. Und gestern bei der Kanzlei hab ich ihn auch gesehen. Und gerade eben schon wieder. Der muss dir doch aufgefallen sein!«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Jonas zerstreut. Er blätterte in irgendwelchen Unterlagen und wirkte dabei noch unzufriedener als vorher. »Viele Typen tragen Lederjacke. Kann man leicht mal verwechseln, wenn man nicht so genau hinschaut.«
»Ich habe aber genau hingeschaut.«
Jonas blickte von den Unterlagen auf. »Du solltest dich lieber auf den Verkehr konzentrieren.« Er zog die Brauen zusammen. »Pennt Gerti etwa? Muss sie als Begleitperson nicht auf dich aufpassen?«
Omi öffnete die Augen. »Ich bin hellwach. Und ich habe meinen Führerschein seit über fünfzig Jahren.« Sie lächelte freundlich. »Ohne einen einzigen Punkt in Flensburg.«
Das brachte Jonas dazu, bis auf Weiteres den Mund zu halten.
Zu Hause parkte ich den Wagen wie immer vor dem Carport – darin ging es nicht, weil dort lauter Zeug herumstand, kistenweise Hausrat von Jonas aus seiner früheren Wohnung – und holte anschließend die Post aus dem Briefkasten, während Omi und Jonas an mir vorbei ins Haus gingen. Drinnen hörte ich Luckys fröhliches Kläffen und gleich darauf Jonas’ Reaktion darauf. Wie üblich ließ er dabei deutlich weniger Wiedersehensfreude erkennen als Lucky. Es klang wie nicht auf die Schuhe sabbern, hätte aber auch nicht an den Schuhen knabbern heißen können. Lucky tat beides mit unermüdlicher Hingabe, in der Regel gleichzeitig. Für einen verspielten jungen Hund war das völlig normal, aber weil er aus irgendwelchen Gründen ausschließlich Jonas’ Schuhe vollsabberte und zerkaute, kam das nicht besonders gut an.
Unerklärlicherweise liebte unser Hund Jonas. Er freute sich immer wie verrückt, wenn er nach Hause kam, und sobald er irgendwo Schuhe von ihm stehen sah, ließ er dafür alles andere sofort liegen.
Ich war schon halb im Haus, da warf ich noch einmal über die Schulter einen Blick zurück – und erstarrte. Ein Stück entfernt parkte ein dunkelblauer Passat. Keine Ahnung, was mir durch den Kopf ging, als ich mit der Post in der Hand durch den Vorgarten auf die Straße und dann zu dem Wagen marschierte. Ich hatte einfach nur das Gefühl, ich müsste das jetzt regeln. Oder genauer: rausfinden, was hier los war. Das Fenster auf der Fahrerseite war offen. Als ich näher kam, glitt es nach oben. Durch die getönte Scheibe war der Fahrer nur noch als verschwommener Umriss zu erkennen, doch ich war davon überzeugt, dass es der Typ mit der Lederjacke war.
Ich klopfte gegen die Scheibe, die daraufhin ein winziges Stück herunterglitt.
»Ja?«, fragte eine männliche Stimme durch den Spalt.
Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken, was mir nicht oft passiert. Jedenfalls normalerweise nicht einfach bloß beim Klang einer Stimme. Aber diese hier war irgendwie … besonders. Tief und samtig, aber trotzdem ein bisschen rau. Ich brauchte ein paar Augenblicke, um mich zu fassen und mir eine Antwort auf seine Frage zu überlegen. Leider fiel mir nur eine ziemlich dämliche Gegenfrage ein.
»Sind Sie vorhin hinter uns hergefahren?«
»Nein«, sagte die Stimme. Einfach so.
»Äh … echt nicht?«, fragte ich zweifelnd. »Ich hab doch noch gar nicht gesagt, hinter welchem Auto.« Ach du Schande. Das war ja noch dämlicher.
Die Scheibe glitt wieder nach oben, und bevor ich noch was anderes tun konnte, als mit offenem Mund dazustehen, fuhr der Wagen los und verschwand um die nächste Ecke.
*
»Ist doch ganz klar, was dieser Typ mit Jonas zu tun hat«, sagte Yasemin, als ich ihr am Abend davon erzählte. »Die beiden haben was laufen.«
Es lag auf der Hand, was sie damit meinte, aber ich schüttelte sofort den Kopf. »Jonas ist eindeutig hetero. Aber so was von. Du müsstest mal sehen, was er mit meiner Mutter macht, wenn die beiden glauben, es guckt gerade keiner.« Ich erschauderte und versuchte, nicht dran zu denken.
»Bist du sicher?«, fragte Yasemin.
»Ganz sicher.«
»Hm. Dann finde ich das wirklich strange.«
»Ich auch.«
»Warum fragst du Jonas nicht einfach, wieso er heimlich diesen Lederjackentypen trifft?«
»Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sie sich treffen. Es war eher so, als würde der Typ Jonas beschatten.«
»Oh, wirklich?« Yasemin runzelte nachdenklich die Stirn. »Hm, wenn das so ist, ist der Lederjackentyp vielleicht ein Privatdetektiv.«
»Weshalb sollte ein Privatdetektiv hinter Jonas her sein?«
»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Erstens: Jonas hat irgendwo eine Ehefrau, die rausfinden will, wo er sich rumtreibt. Oder er hat Schulden bei einem Kredithai, und dem hat er vorgelogen, dass er kein Geld für die Rückzahlung hat. Und der Kredithai hat jetzt einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt, damit der checkt, ob das stimmt.«
»Ich glaube nicht, dass Jonas eine Frau hat, die ihm nachspionieren lässt. Die würde höchstens pausenlos jubeln, weil er weg ist. Aber dass er kein Geld hat, stimmt auf jeden Fall. Gestern Abend hat er sogar Omi gefragt, ob sie ihm mal eben einen Fünfziger borgen kann.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie hat ihm fünfzig Euro gegeben. So ist sie halt. Zu Geld hat sie kein besonderes Verhältnis.«
»Und was hat deine Mom dazu gesagt?«
»Die war nicht da.« Leider, fügte ich in Gedanken hinzu. Wenn Mama es mitgekriegt hätte, wäre ihr vielleicht schneller klar geworden, dass sie den falschen Typen liebte. Seufzend klappte ich meinen Laptop zu und erhob mich von meinem Bett. Höchste Zeit, ein Outfit für heute Abend rauszusuchen. Ich hatte noch keine Ahnung, was ich anziehen sollte. Yasemin hatte sich wieder ziemlich aufgerüscht. Wie immer war sie zu mir gekommen, bevor sie sich zurechtmachte, denn sie nahm Rücksicht auf ihren traditionsbewussten türkischen Opa, der bei ihnen mit in der Wohnung lebte und ihr am liebsten Hausarrest verpasst hätte, wenn sie sich in seiner Sichtweite in eine Partyqueen verwandelte.
Im Augenblick saß sie vor meiner Schminkkommode und malte sich Smokey Eyes. Wir wollten zusammen auf eine Geburtstagsparty. Joelle aus unserer Stufe feierte ihren Achtzehnten. Yasemin und ich kannten sie nicht besonders gut, aber sie hatte die halbe Schule eingeladen, weil ihre Eltern alles bezahlten. Sie wohnte in einer Villa in Zehlendorf und wollte es richtig krachen lassen, für uns alle also die letzte Möglichkeit, vor dem Abi noch mal auf andere Gedanken zu kommen und etwas Spaß zu haben – am kommenden Montag ging es mit den Klausuren los.
Ich durchforstete meinen Kleiderschrank und konnte mich nicht entscheiden. Egal, was ich anzog – im Vergleich mit Yasemin würde ich sowieso mehr oder weniger unsichtbar wirken. Sie war groß und langbeinig wie ein Supermodel, und mit ihren Rehaugen und der schwarzen Lockenmähne hätte sie gut auf einen Catwalk gepasst.
Es machte mir nichts aus, neben Yasemin zu verblassen, denn sie gehörte zu den Menschen, die ich am meisten liebte. Es erfüllte mich sogar irgendwie mit Stolz, dass vielen Typen beim Anblick meiner besten Freundin die Kinnlade runterfiel. Sie war wirklich bildhübsch, während ich … na ja, mich hatte außer meiner Omi noch niemand schön gefunden. Auf mich passte als Beschreibung eher das, was vielen Menschen beim Anblick von kleineren Personen eben einfällt: niedlich. Oder gerne auch mal: knuffig.
Ich entschied mich schließlich für einen kurzen Hosenrock, darin sahen meine Beine ein bisschen länger aus. Und dazu Schuhe mit Plateausohlen, damit ich Yasemin wenigstens bis zum Kinn reichte. Die Haare trug ich offen, die waren schön lang. Zwar nicht dunkel und wild gelockt wie bei Yasemin, sondern glatt und blond, aber zu dem messingfarbenen Oberteil und dem Hosenrock in Crashoptik sah es nett aus. Und mit etwas goldbraunem Lidschatten und reichlich Mascara noch netter. Eigentlich sogar ganz hübsch.
Es klopfte an der Tür, und meine Mutter steckte den Kopf herein. »Seid ihr so weit?« Sie bedachte Yasemin mit einem langen, bewundernden Blick. »Wow. Du siehst wieder traumhaft aus.«
»Danke, Frau Jensen. Das ist bloß das neue Kleid.«
»Du würdest auch in einem Sack toll aussehen«, widersprach Mama.
»Sie sehen aber heute auch wieder super aus. Sie haben einfach eine unglaublich tolle Figur.«
»Findest du? Kommt wahrscheinlich von all dem Pilates.« Mama warf sich in meinem Kommodenspiegel einen erfreuten Blick zu und drehte sich von einer Seite zur anderen. Sie wollte auch noch ausgehen. Ihre Jeans sahen aus wie auf den Körper gemalt, und das gemusterte Seidentop ließ ziemlich tief blicken. Davon abgesehen hatte Yasemin völlig recht. Meine Mutter sah super aus, und sie hatte eine tolle Figur, obwohl sie schon achtundvierzig war. Außerdem war sie groß, fast so hochgewachsen wie Yasemin, und hätte ich nicht das honigblonde Haar und die lavendelblauen Augen von ihr geerbt, würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, dass ich ihre Tochter war. Von der Größe her kam ich leider mehr nach Omi, die genauso klein war wie ich.
»Sie haben aber schon toll ausgesehen, bevor Sie mit dem Pilates angefangen haben«, meinte Yasemin.
Ich verdrehte die Augen. »Wenn ihr mit dem gegenseitigen Geschleime fertig seid, können wir dann los?!«
Meine Mutter schien zu merken, dass ihr eigenes Kind vielleicht auch ein kleines Kompliment verdient hatte. »Oh. Du siehst aber auch wieder süß aus, Schätzchen. Ein richtig niedliches Püppchen.«
Ich sparte mir eine Erwiderung, denn sie erwartete sowieso keine, weil sie schon auf dem Weg nach unten war. Sie und Jonas würden uns zu Joelle bringen und dann selbst feiern gehen. Wahrscheinlich mal wieder auf eine Party, auf der Mama so jung wie möglich aussehen wollte. Dass sie acht Jahre älter war als Jonas, weckte bei ihr offenbar den Ehrgeiz, die Zeit ein wenig zurückzudrehen. Dabei hatte sie es überhaupt nicht nötig, denn wenn man die beiden zusammen sah, fiel der Altersunterschied kein bisschen auf.
Unten in der Diele sprang Lucky fröhlich wedelnd um Jonas herum, der schon ungeduldig auf die Uhr schaute. Als wir die Treppe runterkamen, musterte er Yasemin mit Kennerblick.
»Du könntest echt Model werden, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Ja«, antwortete ich an ihrer Stelle, doch Jonas hörte gar nicht hin, sondern betrachtete als Nächstes bewundernd meine Mutter. Diesmal mit diesem speziellen Glitzern in den Augen, dem unweigerlich das übliche Gesülze folgte.
»Du siehst wieder megaheiß aus, Babe! Du bist ein richtiges Hammer-Hottie.«
Ich hatte etwas in der Art erwartet, zuckte aber trotzdem zusammen, denn ich hasste es, wenn er in meinem Beisein solche Dinge zu ihr sagte. Ich meine – hallo?! Sie war kein Hottie, sondern meine Mutter! Wieso konnte er sie nicht wie jeder normale Mensch Sylvia nennen? Aber noch schlimmer fand ich es, wenn er – so wie in diesem Moment – anfing, mit ihr rumzuknutschen. In solchen Augenblicken hätte ich ihm gern einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Eiskaltes Wasser.
»Wir können dann los«, sagte ich laut.
Lucky merkte, dass wir im Begriff waren, ohne ihn aufzubrechen, und fing an, herzzerreißend zu fiepen. Ich liebte meinen kleinen Hund abgöttisch, nur konnte man ihn leider schlecht allein lassen. Er winselte sofort los, wenn ihm klar wurde, dass er nicht mitkommen durfte. Zum Glück war meist irgendwer von uns daheim, sodass sich das Problem nicht allzu oft stellte.
»Gerti, wir wollen los, du musst dich um den Hund kümmern!«, rief Mama. Omi kam aus ihrem Arbeitszimmer, das Diktiergerät in der Hand. Ihrem abwesenden Blick nach zu urteilen, befand sie sich gerade in einer sehr kreativen Phase.
»Komm, mein Kleiner, du kannst mir Gesellschaft leisten«, sagte sie zerstreut, während sie Lucky ein Leckerli gab, über das er sich sofort begeistert hermachte.
»Du musst noch mit ihm raus«, sagte Mama.
»Kein Problem«, erwiderte Omi. »Bloß noch diese Szene.« Dann sprach sie in ihr Diktiergerät: »Sein stoppelbärtiges Gesicht zerkratzte ihre zarte Haut und brachte sie zum Glühen. Belinda wurde beinahe zerdrückt in Goswins bärenhafter Umarmung, sie spürte jeden Zoll seines harten und muskulösen Körpers. Die Lust durchfuhr sie wie eine heiße Stichflamme.«
»Wow«, sagte Yasemin fasziniert. »Das klingt echt spannend.«
»Kennst du einen, kennst du alle«, warf Jonas ein.
»Das stimmt nicht«, widersprach Yasemin. »Ich finde die Storys alle toll.« Sie war ein großer Fan von Omis Romanen und las jeden, der neu herauskam. Ihre Mutter und ihre Schwester und ihre Tante ebenfalls. Sie konnten gar nicht genug davon bekommen. Nur Yasemins Opa durfte davon nichts mitkriegen.
Mama zog sich vor dem Dielenspiegel die Lippen nach und streifte ihre Jacke über, ein knapp sitzendes cremeweißes Etwas, das ihre Figur noch besser zur Geltung brachte. Jonas stellte sich dicht hinter sie, umschlang sie mit beiden Armen und küsste sie auf den Nacken. Sie lehnte sich an ihn und sah dabei aus wie die Hauptfigur aus einem von Omis Romanen. Im vierten Kapitel.
Ich bemühte mich, nicht hinzusehen und ging schon mal raus zum Wagen. Während ich das Steuer übernahm, setzte Mama sich vorschriftsmäßig als Begleitperson neben mich, weshalb Yasemin es notgedrungen hinten neben Jonas aushalten musste. Der fing sofort an, sie mit allen möglichen Fragen zu bombardieren. Was sie nach dem Abi so machen wollte, was schönes Mädchen auf Türkisch hieß, ob es ihr nicht manchmal komisch vorkäme, eine Freundin zu haben, die neben ihr wie ein Zwerg aussah. Vor mir sprang eine Ampel auf Rot um, und ich bremste heftiger, als es nötig gewesen wäre.
Mama wurde in den Gurt gedrückt. »Ups«, machte sie. »Das war ein bisschen zu doll, was?«
Ich musste dringend etwas von meinem Ärger loswerden.
»Der Typ hat uns heute Nachmittag übrigens doch verfolgt«, sagte ich patzig über die Schulter zu Jonas. »Er hat in unserer Straße geparkt, und als ich zu ihm hin bin, um zu fragen, was er will, ist er abgehauen.«
»Was für ein Typ?«, wollte Mama wissen.
»Das wüsste ich auch gern«, antwortete ich. »Aber Jonas hat ja angeblich keine Ahnung, wer er ist.«
Mama drehte sich zu Jonas um. »Wen meint Emmy denn?«
»Das weiß der Himmel, ehrlich.« Jonas’ Handy klingelte, und er hob es ans Ohr und schmatzte meiner Mutter einen Luftkuss zu. »Sorry, Babe, das könnte wichtig sein.«
Die Ampel wurde grün, und ich fuhr weiter.
»Ich brauche die Software wirklich dringend«, sagte Jonas leise zu dem Anrufer. »Sonst könnte ich echten Ärger kriegen. Aber du erst recht.« Es klang beschwörend und gleichzeitig aufgebracht. Dann redete Mama dazwischen, sodass ich nicht mehr hörte, was er als Nächstes sagte.
»Was schenkt ihr Joelle denn zum Geburtstag?«, fragte sie.
»Einen iTunes-Gutschein«, sagte Yasemin.
»Cool«, meinte Mama, obwohl sie höchstwahrscheinlich keine Ahnung hatte, was iTunes war. Sie hörte Musik nur im Radio und auf dem CD-Player und las Bücher ausschließlich auf Papier. Das Internet benutzte sie vorwiegend, um neue Typen kennenzulernen (Jonas hatte sie ebenfalls in einer Singlebörse ausfindig gemacht) und um sich Schuhe zu bestellen. Leider hatte sie sich kurz nach Jonas’ Einzug vor ein paar Monaten auch auf Facebook angemeldet, damit er sie nicht für rückständig hielt. Nachdem sie alle meine Statusmeldungen der letzten zwei Jahre mit ihren Likes und Kommentaren versehen und sich mit all meinen Freunden befreundet hatte, war ich schon fast so weit, sie zu sperren.
Vor der Protzvilla in Zehlendorf stiegen Yasemin und ich aus, und Mama und Jonas fuhren weiter zu ihrem eigenen Samstagabend-Event.
»Tut mir leid, dass du ihn die ganze Zeit ertragen musstest«, sagte ich zu Yasemin.
»So schlimm war es nun auch wieder nicht. Ich finde ihn nicht annähernd so ätzend, wie du es immer darstellst.«
»Echt jetzt? Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Wieso? Deine Mom hat ihn immerhin bei euch einziehen lassen. Ich meine, irgendwas muss doch an ihm dran sein, oder? Und damit meine ich jetzt nicht bloß dieses Belinda-und-Goswin-Ding.«
Ging es noch peinlicher? Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten und Na-na-na-naaa-na gerufen oder so was in der Art. Doch davon hielten mich drei Mädchen ab, die aus einem Auto stiegen und auf uns zugestöckelt kamen. Mit einer war ich zusammen im Sport-GK und begrüßte sie kurz, als sie mit den anderen an uns vorbei zum Eingang der Villa ging.
»Lass uns auch reingehen«, sagte ich zu Yasemin, doch sie blieb stehen und sah aus der luftigen Höhe ihrer eins achtzig ernst auf mich herab.
»Es hat keinen Zweck, wenn du das die ganze Zeit in dich reinfrisst, Emmy. Das geht jetzt schon seit Monaten so, seit Jonas bei euch eingezogen ist. Im Grunde ist er doch gar nicht so verkehrt. Eigentlich ist er sogar ganz nett, wenn man ein bisschen auf ihn eingeht. Du solltest ihm vielleicht einfach mal eine Chance geben. Schon allein deshalb, weil deine Mutter ihn liebt. Schau, deine Omi kommt doch auch mit ihm klar. Und sogar Lucky mag ihn.«
»Der ist noch ein Baby und weiß es nicht besser. Aber ich schon. Meine Mutter hat bereits genug von diesen Luftnummern an Land gezogen.«
»Und was willst du machen, wenn er länger bleibt? Vielleicht heiratet deine Mom ihn ja sogar. Was dann?«
»Nach dem Abi bin ich sowieso weg«, sagte ich genervt, denn ich hatte keine Lust, weiter über Jonas zu reden. »Dann braucht das ganze Thema mich zum Glück nicht mehr zu interessieren. Es interessiert mich jetzt schon nicht mehr. Es ist mir einfach bloß total egal.«
»Wirklich?« Yasemin zog ihre wunderschön geschwungenen schwarzen Brauen hoch. »Willst du denn gar nicht mehr rausfinden, warum der Typ mit der Lederjacke ihn verfolgt hat?«
Ich zuckte mit den Achseln, als wäre mir auch das ganz egal. Doch in Wahrheit wollte ich es unbedingt herausfinden. Dazu war ich wild entschlossen, seit ich durch den Spalt des Wagenfensters seine Stimme gehört hatte.
Und in dem Moment, als ich mit Yasemin zusammen rüber zu der Angebervilla von Joelles Eltern ging, wusste ich auf einmal ganz genau, dass ich ihn bald wiedersehen würde.
*
Die Party wurde wider Erwarten doch ziemlich nett, obwohl die ganze Umgebung ein bisschen zu edel war und zu viele teuer gestylte Jungs und Mädchen dort herumstanden, die nicht auf unserer Schule waren, sondern aus einem etwas vornehmeren Bekanntenkreis von Joelle stammten. Vielleicht aus ihrem Reitklub. Oder aus dem Golfklub. Aber zum Glück waren genug Leute aus der Schule da, mit denen wir uns gut verstanden, sodass schnell eine lustige Stimmung aufkam. Wir bedienten uns an dem von leckeren Delikatessen überquellenden Büfett und tranken echten Champagner, von dem überall Flaschen in Eiskühlern herumstanden.
Auf der überdachten Terrasse legte ein DJ die neuesten Songs aus den Charts auf, und es dauerte nicht lange, bis die Leute anfingen zu tanzen. Mindestens drei Typen versuchten Yasemin anzugraben, doch sie wimmelte alle ab. Sie war fest mit Jannik zusammen. Er hatte letztes Jahr Abi gemacht und studierte in Freiburg. Die beiden sahen sich sooft es ging, und es war schon seit Längerem geplant, dass sie nach der Schule zu ihm zog und sich dort ebenfalls an der Uni einschrieb.
Ein Typ versuchte es auch bei mir. Er hatte eindeutig zu viel getrunken und spuckte beim Sprechen.
»Du siehst super aus«, sagte er. »Ich finde dich toll. Wollen wir tanzen?«
Ich wischte mir das Gesicht ab. »Lieber nicht.«
Das betrachtete er einfach als Zustimmung. Er fing an, neben mir im Takt der Musik loszuhopsen und stieß dabei aufmunternd mit seiner Hüfte gegen meine. Schließlich kam ein Junge, mit dem ich zusammen Sport-GK hatte, und erlöste mich von dem Spucktyp. Wir tanzten eine Weile, dann holten wir uns was zu trinken. Ich war inzwischen von Champagner zu Saft übergegangen, denn ich vertrug nicht besonders viel Alkohol. Schon von einem Glas bekam ich rote Bäckchen, und beim zweiten kicherte ich deutlich mehr als normal. Beim dritten wurde ich so müde, dass ich nur noch ins Bett wollte. Von daher waren zwei Gläser genau die richtige Menge für eine Party. Es sei denn, es war eh zum Einschlafen langweilig. Joelles Party war zum Glück eine von der Sorte, wo man es recht lange aushalten konnte. Es war eine laute und lustige Geburtstagsfeier, bei der alle auf ihre Kosten kamen, sogar der Spucktyp. Er schleppte ein selig grinsendes Mädchen mit Pferdezähnen ab und verschwand mit ihr ins Obergeschoss, vermutlich, um sie dort in einem der Schlafzimmer näher kennenzulernen. Einige andere Paare waren auch schon auf Tuchfühlung gegangen. Die Musik wurde langsamer und leiser, und in den Ecken wurde geknutscht, womit für Yasemin und mich der Zeitpunkt gekommen war, uns zu verabschieden. Wir riefen uns ein Taxi. Mama hatte mir extra Geld dafür gegeben, weil sie nicht wusste, wann sie und Jonas heimkommen würden.
Der Taxifahrer setzte zuerst Yasemin ab und dann ein paar Straßen weiter mich. Ich bezahlte und stieg aus. Während das Taxi wegfuhr, ging ich über den bekiesten Weg durch den Vorgarten zum Haus und wollte gerade die Tür aufschließen, als ich schräg hinter mir ein Poltern hörte.
Ich drehte mich um, den Schlüssel in der Hand. Im schwachen Licht des Bewegungsmelders, der über der Haustür angebracht war, sondierte ich die Lage. Das Poltern war aus dem Carport gekommen. Zwischen den Balken waren im Halbdunkel undeutlich die Kistenstapel zu sehen. Und dann der Schatten einer Gestalt, die gleich darauf wieder verschwunden war.
Da trieb sich jemand in unserem Carport herum!
Ich schluckte. Mein Herz fing schlagartig an zu rasen. Die Entscheidung, was ich als Nächstes tun sollte, fiel mir nicht weiter schwer, denn an sich bin ich ziemlich ängstlich. Es war schon der Gipfel der Tapferkeit gewesen, dass ich am Nachmittag zu dem Passat marschiert war, um Lederjacke zu fragen, wieso er uns verfolgt hatte, und das war mitten am Tag gewesen, in Sicht- und Rufweite von allen möglichen Leuten aus der Nachbarschaft. Also tat ich beim Anblick der schattenhaften Gestalt das Naheliegende: Ich schloss die Haustür auf, stürzte in die Diele, machte die Tür wieder zu und wählte mit dem Handy den Notruf.
Es dauerte unfassbar lange, bis jemand dranging. Wäre zufällig gerade ein Serienkiller über mich hergefallen, hätte er genug Zeit gehabt, mich in aller Ruhe zu erledigen.
»Draußen vor unserem Haus ist jemand«, flüsterte ich.
»Wo?«, kam es zurück.
»Draußen vor dem Haus«, wiederholte ich. »In unserem Carport.«
»Nein, ich meinte, von wo aus rufen Sie an?«, fragte der Beamte am anderen Ende. »Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift.«
Ich nannte ihm flüsternd beides. »Ich glaube, es ist ein Einbrecher.«
»Sie meinen, es ist jemand in Ihren Carport eingebrochen?«, fragte der Beamte. »Ist es ein offener oder ein geschlossener Carport, also eher eine Garage?«
»Er ist offen«, sagte ich.
Ich sah förmlich, wie er sich auf der Wache zu seinen Kollegen umdrehte und an die Stirn tippte.
»Aber es stehen sehr viele Kisten da drin«, fuhr ich rasch fort. »Umzugskisten mit Hausrat und so.«
»Im Carport?«, vergewisserte sich der Beamte.
»Ja doch«, gab ich mit wachsender Ungeduld zurück. »Da will bestimmt jemand was stehlen.« Mittlerweile war ich mutiger geworden und ging im ganzen Erdgeschoss herum, um überall das Licht anzuknipsen. Damit würde sich der Dieb wahrscheinlich am schnellsten vertreiben lassen. Gleichzeitig vergewisserte ich mich, dass alle Fenster zu waren. »Ich bin allein zu Hause. Nur mit meiner alten Omi und unserem Hund. Einem sehr kleinen Hund«, fügte ich vorsorglich hinzu. Blöd, dass wir keine Rollläden hatten, bloß Jalousetten, und die waren noch nicht mal runtergelassen. Das wollte ich gerade nachholen, mit einer Hand natürlich, weil ich mit der anderen immer noch das Handy am Ohr hielt, als unversehens der schwarze Umriss einer Gestalt vor dem Fenster auftauchte.
Ich schrie auf.
»Was ist?«, fragte der Beamte alarmiert. Nun war er anscheinend doch beunruhigt.
»Der Typ ist auf unserer Terrasse«, stieß ich hervor, während ich panisch vom Fenster zurückwich, aus dem Wohnzimmer rannte und die Tür hinter mir zuknallte. Zitternd stand ich in der Diele und hatte keinen Plan, was ich als Nächstes tun sollte.
»Bleiben Sie dran«, sagte der Beamte. »Legen Sie nicht auf. Eine Streife ist schon unterwegs.«
»Ja«, sagte ich. Ich kriegte es kaum heraus, meine Kehle war wie zugeschnürt. »Was soll ich jetzt machen?«
»Verhalten Sie sich ruhig. Wo sind Sie gerade?«
»In der Diele.«
»Hören Sie irgendwas?«
Ich lauschte. Draußen wurde eine Wagentür zugeschlagen, und dann ertönte die Stimme meiner Mutter, dicht vor der Haustür. Sie lachte. Jonas lachte ebenfalls und sagte irgendwas zu ihr. Ein Schlüssel wurde von außen ins Schloss geschoben, ich hörte, wie er gedreht wurde.
»Meine Mutter kommt gerade nach Hause«, sagte ich erleichtert zu dem Beamten, während die Tür aufging und Mama im Rahmen erschien. Jonas war neben ihr, er sah sie lächelnd von der Seite an und wirkte gelöst und glücklich.
Dann sah ich hinter den beiden jemanden auftauchen. Ein schattenhafter Umriss, der sich, als das Licht aus der Diele auf ihn fiel, als dunkel gekleideter Mann entpuppte. Er trug Reeboks und eine Baseballkappe, sodass man nur den unteren Teil seines Gesichts sehen konnte. Und in seiner Hand hatte er eine Pistole, mit der er auf Jonas zielte.
Mir war vor Entsetzen das Herz stehen geblieben, denn ich fühlte, wie es stolpernd wieder zu schlagen begann und in meiner Brust hämmerte wie eine kaputte Schlagbohrmaschine.
Mama und Jonas fuhren zu dem Fremden herum.
»Oh mein Gott!«, rief Mama.
»Was zum Teufel soll das?«, stieß Jonas hervor.
»Was ist los?«, quäkte der Beamte in mein Ohr. »Können Sie die Situation in wenigen Worten schildern?«
Ich traute mich nicht, auch nur ein einziges Wort zu sagen, denn ich hatte Angst, dass der Typ uns kurzerhand alle umbrachte, wenn er merkte, dass ich die Polizei in der Leitung hatte.
»Du weißt, was wir wollen«, sagte Baseballkappe zu Jonas. »Gib es uns, und wir sind wieder weg.«
»Warten Sie. Ich hab Geld.« Mama fing an, in ihrer Handtasche zu wühlen.
Hatte der Typ eben uns und wir gesagt? Das war Plural. Plural bedeutete, dass … Der Gedanke zerfaserte und wurde durch die Realität ersetzt. Ich hatte das Gefühl, einen riesigen, steinharten Brocken in der Kehle stecken zu haben, als auf einmal ein zweiter Mann auftauchte, ebenfalls mit einer Pistole in der Hand. Er war etwas jünger und größer als Baseballkappe und besser angezogen. Schwarzer Anzug, schmale Krawatte. Er schien um die dreißig zu sein und sah auf eine leicht windige Art gut aus, wie ein smarter Banker oder Makler.
»Ich zähl bis drei«, sagte er mit erkennbar osteuropäischem Akzent. »Eins. Zwei.«
»Ich kann dir nichts geben, was ich nicht habe!«, rief Jonas. Es klang verzweifelt.
»Drei.«
Mama streckte dem Fremden ihr Portemonnaie hin. »Hier, nehmen Sie das. Da sind fast hundert Euro drin.«
Der Mann schlug es ihr aus der Hand, hob die Pistole und schoss auf sie. Es klang seltsam gedämpft, nur ein kurzes dumpfes Plopp war zu hören. Vielleicht ist es gar keine richtige Pistole, dachte ich in einer verrückten Aufwallung von Hoffnung.
Doch Mama taumelte rücklings gegen die Tür, und ich sah den Blutfleck, der sich an ihrer Seite ausbreitete. Von irgendwoher kam ein schrilles Kreischen. Im nächsten Augenblick begriff ich, dass es von mir stammte. Ich schrie.
»Gott im Himmel!«, brüllte Jonas. »Wie kannst du … Du kannst doch nicht …«
»Ich kann noch mehr«, sagte der Anzugtyp. »Eins. Zwei.«
»Nicht!«, schrie Jonas.
»Drei.« Der Anzugtyp legte mit der Pistole auf Jonas an und schoss ihm ins Bein. Jonas schrie auf und fasste sich an den Oberschenkel, blieb aber stehen.
Der Mann mit der Baseballkappe war ein Stück zurückgewichen und sah sich nervös um.
Ich hatte aufgehört zu schreien und stand wie erstarrt mitten in der Diele. Das Handy war mir aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen, aber immer noch in Betrieb. Aus dem Lautsprecher hörte ich die aufgeregte Stimme des Beamten, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Mama sackte mit dem Rücken an der Tür zu Boden, die Hand in die Seite gekrampft, Blut unter ihren Fingern. Ihre cremeweiße Jacke sah aus wie in rote Farbe getaucht.
»Emily!«, sagte Jonas mit erstickter Stimme. »Lauf weg!«
»Ah, Emily heißt du. Schöner Name für ein schönes kleines Mädchen.« Der Typ im Anzug starrte mir direkt ins Gesicht. Seine Augen waren wie zwei schwarze Löcher, sein Mund ein schmaler Strich. Er hob abermals die Hand mit der Pistole, und diesmal zeigte sie in meine Richtung. »Eins.«
»Nein«, bettelte Jonas stöhnend. »Nein, bitte nicht!«
An seinem rechten Bein strömte das Blut herab. Unter seinem Fuß hatte sich bereits eine rote Pfütze gebildet.
»Zwei.«
Mama bewegte sich wimmernd. Kraftlos versuchte sie, nach dem Typen zu treten.
»Alles in Ordnung, Sylvia?«, kam es von oben. Omi war aufgewacht, und auch Lucky hatte angefangen zu bellen. »Was ist das für ein Krach da unten?«
Dann war aus der Ferne das Geräusch einer Polizeisirene zu hören.
»Die Bullen kommen«, sagte der Mann mit der Baseballkappe drängend. »Lass uns abhauen!«
Der Anzugtyp zielte immer noch auf mich, dann spitzte er die Lippen und machte Pchch!, während er gleichzeitig pantomimisch so tat, als würde er auf mich schießen.
»Heute ist dein Glückstag, kleine Emily«, sagte er.
Damit drehte er sich um und verschwand.
*
Ich saß im Gang des Krankenhauses und wartete auf Neuigkeiten aus dem OP, immer noch zitternd und verheult und ständig kurz davor, Yasemin zu schreiben, weil ich noch nie im Leben so fertig gewesen war und mich dringend bei jemandem ausweinen musste. Ich verkniff es mir nur deshalb, weil es halb vier nachts war und Yasemin darauf bestehen würde, sofort herzukommen, was unweigerlich ihre komplette Familie in Aufruhr versetzen würde, vor allem ihren Opa.
Außerdem war der Akku fast leer, und den kläglichen Rest musste ich für Omi aufsparen, die genau wie ich außer sich vor Angst und Sorge war und in der letzten Stunde schon dreimal angerufen hatte. Sie hatte mit ins Krankenhaus fahren wollen, als der Rettungswagen Mama und Jonas abholte, doch Lucky hatte wie verrückt geheult, wir hätten ihn unmöglich allein lassen können. Außerdem wimmelte es im ganzen Haus nur so von Kripo, weshalb einer von uns als Ansprechpartner vor Ort sein musste. Wahrscheinlich wäre eher ich dafür zuständig gewesen, zumal ich ja auch Tatzeugin war, aber ich hatte darauf bestanden, im Notarztwagen mitzufahren, weil ich bei Mama sein wollte. Ich war einfach mit eingestiegen. Irgendwer von der Polizei hatte mir hinterhergerufen, dass man unbedingt meine Aussage bräuchte, aber das hatte mich in dem Augenblick nicht interessiert.
Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, schwang die breite Glastür auf, die zu den Operationssälen führte, und ein grün gekleideter Arzt trat heraus. Ich sprang auf, als er näher kam und sich dabei mit einer erschöpften Bewegung den Mundschutz vom Gesicht zog. Genau wie in diesen grässlichen, dramatischen Szenen in Krankenhausfilmen, wenn der Arzt zu den Angehörigen kommt, die schon seit Stunden in irgendwelchen Wartezonen hocken und auf das Allerschlimmste gefasst sind. Nur dass in den Filmfluren immer Kaffee- und Donutautomaten stehen, während es hier auf diesem Gang nichts gab außer nackten Stuhlreihen und kotzgrün gestrichenen Wänden. Ich hielt die Luft an, als der Arzt vor mir stehen blieb.
»Sind Sie die Tochter von Sylvia Jensen?«, fragte er.
Ich nickte nur, denn ich kriegte kein Wort heraus.
»Ihrer Mutter geht es den Umständen entsprechend gut. Die OP verlief ohne Komplikationen.«
Ich kam mir vor wie ein Ballon, aus dem jemand langsam die Luft rausließ. »Heißt das, sie kommt durch?«, fragte ich piepsig.
»Sicher.« Der Arzt wirkte erstaunt, als hätte etwas anderes nie zur Debatte gestanden. »Es war ein glatter Durchschuss, und es wurden keine inneren Organe oder größeren Gefäße verletzt.« Jetzt zeigte sich ein Lächeln auf seinem ernsten Gesicht. »Ihre Mutter hatte eine Menge Glück.«
Ich wäre dem Typen gern um den Hals gefallen, aber ich konnte nichts weiter tun, als mich heulend zurück auf den Stuhl sinken zu lassen.
»Alles okay?«, fragte der Arzt.
Ich nickte nur und kramte mein Handy aus der Tasche, um Omi anzurufen, doch dann kam mir in den Sinn, dass ich mich vielleicht auch mal nach Jonas erkundigen sollte. Er hatte bei uns im Hausflur eine Menge Blut verloren, sehr viel mehr als Mama. Die Streifenbeamten, die nur Sekunden nach dem Abzug der Verbrecher eingetroffen waren, hatten was von arterieller Blutung gerufen und ihm als Erstes einen Druckverband angelegt. Welche zusätzlichen Notmaßnahmen die wenig später hinzugekommenen Sanitäter auf der Fahrt zum Krankenhaus ergriffen hatten, konnte ich nur ahnen, denn ich hatte vorn neben dem Fahrer der Ambulanz gesessen. Beim Aussteigen hatte ich nur Augen für Mama gehabt und nicht mehr auf Jonas geachtet.
»Wie geht es Herrn Plessberg?«, fragte ich, mit einem Hauch von schlechtem Gewissen, weil ich ihn die ganze Zeit über so vollständig vergessen hatte. »Der Mann, dem ins Bein geschossen wurde«, fügte ich hinzu.
Der Arzt wiegte den Kopf und sah wieder sehr ernst aus. »Er ist noch im OP. Über seinen Zustand kann ich zurzeit nichts sagen.«
Ich schluckte erschrocken. Das klang nicht gut.
»Wann kann ich zu meiner Mutter?«
»Sie ist noch im Aufwachraum. Sobald sie auf die Station verlegt wird, sagen wir Ihnen Bescheid.« Er musterte mich mitleidig. »Sie sehen total erledigt aus. Vielleicht gehen Sie erst mal nach Hause und legen sich ein bisschen hin.«
»Nein, ich warte hier.«
Während der Arzt zurück zu den OP-Sälen ging, putzte ich mir die Nase, wischte mir die Tränen ab und rief Omi an.
»Mama geht es gut, sie wird wieder gesund«, sagte ich. Dann konnte ich ihr gerade noch mitteilen, dass mein Akku leer war, ehe er auch schon endgültig den Geist aufgab und das Handy sich abschaltete. Vielleicht konnte ich irgendwo hier im Krankenhaus ein Ladekabel auftreiben. Schließlich nahmen Nachtschwestern und Bereitschaftsärzte auch Handys mit zur Arbeit.
Auf der Suche nach Krankenhauspersonal mit Handyequipment marschierte ich durch einsame, weitläufige Gänge. Mir war kalt. Ich fror schon seit einer Weile und hätte eine Menge für einen Pulli oder eine lange Hose gegeben. Hier im Krankenhaus kam es mir vor wie in einem Kühlschrank. Wir hatten April, und ich war für eine Party in einem warmen Haus angezogen, nicht für eine Nachtwache in einer Klinik.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, nicht mal, in welchem Stockwerk. Vorhin, als man Mama zum OP gerollt hatte, war ich immer nur hinterhergerannt, ohne nach rechts oder links zu schauen, bis einer der Sanitäter mir befohlen hatte, stehen zu bleiben und zu warten, ehe er mir die Tür vor der Nase zufallen ließ.
Ich bog um die Ecke und ging in die Richtung, wo ich die Aufzüge vermutete und sie schließlich auch fand. Mit einem Pling öffnete sich eine der Lifttüren. Es kamen ein paar Leute heraus, ein grauhaariger Mann um die fünfzig, eine rothaarige junge Frau. Und jemand, bei dessen Anblick mir die Luft wegblieb.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Er starrte zurück, während er mit den beiden anderen auf mich zukam.