Kit Armstrong – Metamorphosen eines Wunderkinds - Inge Kloepfer - E-Book

Kit Armstrong – Metamorphosen eines Wunderkinds E-Book

Kloepfer Inge

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Beschreibung

»Die größte musikalische Begabung, der ich je begegnet bin.​«  Alfred Brendel​ Mit neun Monaten beginnt er zu sprechen, wenig später zu rechnen. Mit vier entdeckt er das Komponieren, mit fünf betreibt er Mathematik auf Highschool-Niveau, gibt drei Jahre später sein Konzertdebüt. Heute ist er ein international gefeierter Pianist, Organist und KI-Wissenschaftler mit eigenem Forschungsteam. Wer ist dieses einstige Wunderkind? Wie sieht er die Welt heute? Und: Welche Verantwortung trägt jemand wie er mit derart sagenhaften Fähigkeiten für die Gesellschaft? Inge Kloepfer zeichnet das intime Porträt eines Jahrhunderttalents auf dem Weg zu sich selbst. Eine Reise in die Gedankenwelt eines Genies Ein »Wunderkind« wollte Kit Armstrong nie sein. Diese Bezeichnung lehnt er kategorisch ab. Trotzdem muss er mit einer Vielzahl von Superlativen leben, die ihn seit frühester Kindheit begleiten und sich wie Sedimente um ihn herum abgelagert haben. Die Erwartungen an ihn waren übermenschlich und sind es noch. Daran kann man auch scheitern.Denn Wunderkind ist man irgendwann nicht mehr. Und dann? Dann gilt es, weiter zu wachsen, sich zu verändern, vielleicht sogar, sich immer wieder neu zu erfinden. Verblüffende Einblicke in die Einsichten eines absoluten Ausnahmetalents.

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

1. Kapitel

In Memory of Hydrogen

Über Herkunft

2. Kapitel

Launen der Natur

Über Lebensaufgaben

3. Kapitel

Eine Frage der Prägung

Über Menschen

4. Kapitel

Lehrjahre

Interlude I

Eine Kirche im Nirgendwo

5. Kapitel

Die Raffinesse des Kontrapunkts

Über Faulheit

6. Kapitel

Herr im Universum

Über Kritik

7. Kapitel

Das Geheimnis des Empfindens

Über das Essen

8. Kapitel

Der Eigensinn des William Byrd

Interlude I

Konzert mit Hindernissen

Der Plan:

Zwei Tage vor dem Konzert:

Einen Tag vor dem Konzert:

Am Tag des Konzerts:

Nach dem Konzert:

9. Kapitel

Ein Ich in Noten

Über Erfolg

10. Kapitel

Mozarts Gehirn – Expedition 1

Über Wissen

11. Kapitel

Zurück in die Zukunft – Expedition 2

Über Wirklichkeit

Epilog

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1. Kapitel

In Memory of Hydrogen

May Armstrong war nie das, was man sich gemeinhin als »normale« Mutter vorstellt. Schon als sie ihren neugeborenen Sohn nach der Entbindung nach Hause trug, hatte sie keine Chance mehr, es zu werden. Der Winzling sollte sie binnen kurzer Zeit derart mit Beschlag belegen, dass sie alle beruflichen Pläne verwarf.

Es begann damit, dass sie ihn ständig auf dem Arm tragen musste, wenn er schlief. Er war derart sensibel, dass sie sich nicht traute, ihn einfach ins Bettchen zu legen. Schon bald sollte er sie mit seinem nimmermüden Geist noch viel umfassender fordern. Sie ließ sich darauf ein. Über Jahre stellte sie ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Bei so einem Kind wie Kit ging es kaum anders.

Dem Einfluss seiner Herkunft kann sich kaum jemand entziehen, sie hinterlässt tiefe Spuren. Nicht nur in der DNA, sondern auch auf den Pfaden der Charakterbildung. Der Mensch verfügt über 30 000 Gene, die nicht nur seine physiognomischen Merkmale determinieren, sondern auch über Stärken und Schwächen bestimmen, über Musikalität etwa und Abstraktionsvermögen und auch über Persönlichkeitsstrukturen, für die die Gene nach aktuellem Forschungsstand zu immerhin 60 Prozent den Ausschlag geben.

Für die Ausbildung von Charakter und Intelligenz ist schon deshalb nicht erst das Umfeld nach der Geburt entscheidend. Wer also etwas über Kit Armstrongs so ungewöhnliche Wachstumserfahrung wissen und ein wenig verstehen will, wer er ist, braucht ein paar Informationen über seine Mutter.

Jou Meei-Sook, wie May Armstrong mit chinesischem Namen heißt – wobei Meei-Sook ihr Vorname ist –, wuchs in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf Taiwan auf. Die Insel, 180 Kilometer vor dem chinesischen Festland im pazifischen Ozean gelegen, wurde im Westen damals vielfach noch »Formosa« genannt und von der kommunistischen Regierung der Volksrepublik China als abtrünnige Provinz mit Argusaugen beobachtet.

1949, sechs Jahre bevor May Armstrong das Licht der Welt erblickte, war der chinesische General Chiang Kai-shek nach seiner Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg und der Machtübernahme Mao Zedongs mit fast zwei Millionen Anhängern, darunter seine Streitkräfte und Teile der gesellschaftlichen Elite, auf die Insel geflohen. Dort führte er unter Beibehaltung des Kriegsrechts die Republik China fort, für deren Überleben er auf dem Festland vergeblich gekämpft hatte. Vier Jahrzehnte herrschte in Taiwan sein autoritäres System, erst gegen Ende der Achtzigerjahre leitete der Sohn des Generals erfolgreich die Demokratisierung ein.

Mays Kindheit und Jugend fielen in die Zeit weit vor der Demokratisierung und dem enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Insel, der später auch als »Taiwan-Wunder« bezeichnet werden sollte. Ihr Vater war Lehrer, ihre Mutter Hausfrau, und die Familie betrieb noch ein Ladengeschäft. Ein Job reichte damals nicht, um eine achtköpfige Familie zu ernähren.

May zog es ins Ausland, im besten Fall natürlich an eine amerikanische Hochschule, so wie viele ihrer Altersgenossen. Dafür strengten sie sich an, lernten schon in der Schule unermüdlich und versuchten, an die besten Universitäten Taiwans zu gelangen, um von dort den Absprung in das Sehnsuchtsland Amerika zu schaffen.

May Armstrong studierte an der National Tsing Hua University, einer der angesehensten Hochschulen der Inselrepublik, deren Schwerpunkte bis heute die naturwissenschaftlichen und techniknahen Studiengänge sind. Sie hatte sich auf Chemie festgelegt und ihre undergraduate studies dort auch beendet. Ihre Kommilitonen erinnern sich an eine ausnehmend witzige Studentin, die das Lernen in ihrem Studentenalltag offensichtlich nicht allzu ernst nahm, gleichwohl aber in ihrem Jahrgang zu den Besten gehörte und ein Stipendium für ein Studium in den Vereinigten Staaten ergatterte. Im Alter von 22 Jahren packte sie ihre Sachen und zog tatsächlich nach New York.

Wäre alles ihren ursprünglichen Plänen entsprechend verlaufen, hätte sie sich wohl weiter auf die Naturwissenschaften konzentriert und wäre im Fach Chemie auch ihren Master angegangen. Doch es kam anders. Sie begann zu arbeiten, weil sie Geld brauchte, und merkte sehr schnell, dass nicht die jungen Naturwissenschaftler die besten Einstiegsgehälter erzielten, sondern jene, die sich für Management-Studiengänge entschieden hatten.

Vom Master in Chemie war bald nicht mehr die Rede, sie wechselte die Fächer und schrieb sich an der New York University für ein Bachelor-Programm in Operations Research und Statistik ein, an das sie danach noch einen MBA anschloss. Bis spät in die Nacht schuftete sie für das Studium, tagsüber dagegen für eine Fonds- und Vermögensberatungsgesellschaft, für die sie auf mathematischer Grundlage Anlageentscheidungen vorbereitete und analysierte.

Die Mathematik war ihre Leidenschaft und trug sie an der Wall Street noch höher hinauf bis in die Büroetagen von Goldman Sachs. Wieder ging es darum, mathematische Methoden und Modelle für die Geldanlage zu entwickeln und die Investmententscheidungen dann auf dieser analytischen Basis zu treffen. Sie blieb dort viele Jahre.

Dass sie 1982 als Taiwanesin und noch dazu als Frau bei einem der schwergewichtigsten Institute der männerdominierten Wall Street überhaupt einen Anstellungsvertrag bekommen hatte, war für damalige Verhältnisse mehr als erstaunlich. Sie verdiente sehr gut und blieb sparsam. »Ich war eine sehr ehrgeizige Karrierefrau«, erinnert sie sich. Damals zumindest. Ein paar Jahre später wurde ihr bewusst, dass die überwiegende Zahl der Frauen, die es in beachtliche Positionen an der Wall Street geschafft hatten, kinderlos blieben. Sie beobachtete ihre Kolleginnen, wie sie morgens durch die Drehtüren in die Wall-Street-Türme hinein- und abends, wenn es längst dunkel war, wieder hinausrannten, sah sich selbst darin und beschloss, dass sie die Finanzwelt verlassen und ein Kind haben würde, bevor es zu spät wäre.

Nie zuvor hatte sie nach eigenen Worten daran gedacht, eine Familie zu gründen, Mutter zu werden, und schon gar nicht daran, was das eigentlich bedeutete. Im Alter von 35 Jahren änderte sich das. Sie nahm sich vor, ihrem Leben eine radikale Wende zu geben. Die Zeit schien reif. Mehr noch: Ihr Kind sollte fernab von New York in Kalifornien zur Welt kommen. Denn dort, südlich von Los Angeles, lebten Teile ihrer Familie, vor allem ihre Schwester.

Natürlich verließ sie die Wall Street nicht ohne weitere Ambitionen. Sie hatte ausreichend Geld gespart, wollte sich noch einmal an einer Universität bewerben, um an ihrer Promotion weiterzuarbeiten, die sie früher in New York bereits angefangen, aber nicht weiterverfolgt hatte. Organisch stellte sie sich das alles vor – ein Kind und die Doktorarbeit. Beides sollte sich wunderbar vereinbaren lassen. Mit diesem Gedanken kehrte sie in Kalifornien zurück an die Hochschule – nicht lange allerdings: »Denn dann kam Kit.«

Einen biologischen Vater gibt es natürlich, aber einen, der im traditionellen Familienverständnis präsent war, gab es nie. Hier hüllt sich May Armstrong eisern in Schweigen, warum auch immer. Als ich sie danach fragte, sagte sie nur, er habe in ihrem Familienleben nie eine Rolle gespielt. Da waren nur sie und Kit und die Großeltern aus Taiwan, die häufig für ein paar Monate zu ihren Kindern nach Amerika flogen.

Anders, als sie selbst es erfahren hatte in einer sehr traditionellen Familienstruktur mit Vater, Mutter und fünf Geschwistern, startete sie allein mit ihrem Sohn in einen neuen Lebensabschnitt und er mit ihr. Nur ging ihr ursprünglicher Plan nicht auf. Nach drei Monaten gab May Armstrong ihr Promotionsvorhaben erneut auf. Sie hatte entschieden, dass Kind und Universität doch nicht zusammenpassten oder, besser gesagt, dass sich ihr Sohn Kit und ihre akademischen Ambitionen nicht vereinbaren ließen.

Schon als Baby war er ungemein fordernd. Nach einigen Monaten beschloss sie also, sich fortan nur noch um ihn zu kümmern. Viel Ahnung hatte sie in Erziehungsdingen nicht, hatte sich dafür auch nie interessiert. Sie las ein paar Erziehungsbücher, vor allem aber weiterhin das Wall Street Journal und den Economist. Da es in ihrem Haus in Anaheim südlich von Los Angeles im Orange County sehr still war, las sie permanent laut. Sie sprach mit ihrem Sohn wie mit einem Erwachsenen, denn sie wusste nicht, wie man mit einem drei Monate alten Baby kommuniziert, und ließ ihn daran teilhaben, wie sie über das Gelesene reflektierte.

Die meiste Zeit trug sie ihn auf dem Arm, weil er sofort zu protestieren begann, wenn sie sich abwandte. Überhaupt, sie redete unaufhörlich auf ihn ein, kommentierte all ihre Handlungen, drückte auf die Knöpfe der Mikrowelle in ihrer Küche und sagte ihm die Zahlen vor, die auf dem Display erschienen. Seine Augen und Ohren muss der kleine Kit schon im Alter von ein paar Monaten weit geöffnet haben. Er nahm all das begierig auf und sollte schon bald sein Umfeld zum ersten Mal verblüffen. Das jedenfalls ist die Version seiner Mutter.

Wenn man Kit Armstrong nach seiner frühen Kindheit fragt, kann er viele Dinge nicht genau datieren und sich auch nicht an das erinnern, was seine Mutter aus sehr frühen Tagen erzählt. »Ich weiß nicht, wann ich anfing zu sprechen oder zu rechnen. Wenn ich dir die Frage stellen würde, was du mit einem oder zwei Jahren gemacht hast, weißt du das auch nur aus Erzählungen. Die Erinnerungen werden einem ja immer durch Erzählungen und Fotos implantiert«, sagt er.

Vor allem für seine frühe Kindheit bekommt er die Dinge nicht richtig sortiert, wohl auch, weil die Frage, wann er was konnte und tat, für ihn keine Rolle spielt. Ebenso wenig dachte May Armstrong darüber nach, in welchem Alter ihr aufgeweckter Sohn bereits was beherrschte. Da sie von Kindern keine Ahnung hatte, fiel ihr auch nicht auf, wie ungewöhnlich früh er zu sprechen begann. Sie dachte, es sei »normal«.

Als Kit Armstrong 15 Monate alt war, wunderte sie sich tatsächlich das erste Mal. Wenn auch nur ein wenig. Wie so häufig saß sie mit ihrem Sohn auf dem Teppich und spielte. Diesmal zählten sie Äpfel und Orangen. Sprechen konnte er da längst. Plötzlich wurde sie sich dessen gewahr, dass ihr Sohn nicht mehr zählte, sondern die Früchte gleich im Kopf addierte und wenig später subtrahierte. Auf den Gedanken, dass dies in diesem Alter absolut ungewöhnlich war, kam sie jedoch nicht.

Ihr Vater war es, der das bemerkte. Als Pädagoge wusste er in etwa, welche Rechenoperationen in welchem Alter zu erwarten waren. Er begann seinen fünfzehnmonatigen Enkel zu testen und stellte alsbald staunend fest, dass dieser die Grundregeln der einfachen Arithmetik bereits beherrschte.

Vielleicht ist das der Moment, an dem man mit der Aneinanderreihung von Reiferekorden des kleinen Kit Armstrong beginnen könnte. Hier also wäre eine Auswahl dafür: Er war keine zwei Jahre alt, da beherrschte er die vier Grundrechenarten bereits perfekt, und das nicht nur für die Zahlen von eins bis hundert. Es muss um dieselbe Zeit gewesen sein, dass er seine Mutter darum bat, ihm das Lesen der Uhr beizubringen.

Sie erklärte es ihm ganz einfach: Steht der große Zeiger auf eins, bedeute das fünf Minuten, steht er auf zwei, seien es zehn, er solle die Zahlen auf dem Ziffernblatt einfach mit fünf multiplizieren, dann komme er auf die entsprechende Anzahl der Minuten. Sie erklärte ihm auch, wie die Stunden vorrückten. Kit Armstrong also las fortan die Uhr – mit erheblichen Folgen für seine Mutter. Wenn sie nach Mitternacht müde wurde und sich schlafen legen wollte, fehlten ihr gegen ihren immer wachen Sohn die Argumente. Denn er ließ sich in Sachen Uhrzeit nicht mehr täuschen. »Es ist noch nicht halb zwei«, sagte er dann. Und sie hielt durch.

Er war keine drei Jahre alt, da konnte er lesen. Seiner Mutter fiel das auf dem Weg zu einer Mutter-Kind-Gruppe an einer Bushaltestelle auf, an der sie mit dem Auto kurz hielt, weil die Ampel auf Rot geschaltet hatte. Plötzlich geriet ihr Sohn in helle Aufregung, zeigte auf ein Verkehrsschild am Straßenrand und rief: »Fahr weiter, da steht No standing any time!« In Deutschland entspräche das dem absoluten Halteverbot. Überrascht stellte sie fest, dass der kleine Kit die Worte nicht nur erlas, sondern auch deren Inhalt verstand.

Mit fünf Jahren hatte er bereits den gesamten Mathematik-Stoff der Highschool gelernt, mithilfe seiner Mutter, die ihm immer wieder Fragen beantwortete, aber auch über das Education Program for Gifted Youth, das die Universität Stanford für Kinder wie ihn eingerichtet hatte. An Spielzeug zeigte ihr Sohn indes wenig Interesse, von seiner Eisenbahn einmal abgesehen. Der junge Armstrong war ungemein wissbegierig und las, was ihm in die Finger kam. Oder besser, was ihm seine Mutter vorlegte. Sie schaffte unzählige Bücher heran, schließlich auch noch eine Enzyklopädie, mit der er sich beschäftigen konnte. Sie sprach mit ihm über Chemie und die anderen Naturwissenschaften und immer wieder über das, was sie am liebsten mochte: Mathematik. Die Beschäftigung ihres Sohnes war ein Fulltime-Job geworden.

Wie stillt man die Wissbegierde eines so außergewöhnlichen Kindes, die sich selbst potenziert, weil der Geist immerzu weiterlernt?

In Kit Armstrongs Fall führte das zu einer sehr außergewöhnlichen Schulkonstellation, die wiederum erklärt, warum seine Mutter kaum noch Zeit für etwas anderes hatte. Er ging zunächst ein paar Stunden täglich in den Kindergarten und danach in die Grundschule, wo er eigens einen privaten Tutor für den Stoff der sechsten Klasse bekam. Die Konstruktion hielt allerdings gerade mal ein Jahr.

Mit sechs Jahren besuchte er die Grundschule nur noch für wenige Stunden, danach fuhr ihn seine Mutter zur Junior Highschool. Mit acht Jahren ging er nach einem halben Vormittag in der Grundschule aufs Gymnasium und blieb dort bis 15 Uhr. Danach besuchte er die Orange County School of the Arts bis 17 Uhr. Im Anschluss daran hatte seine Mutter noch Privatstunden in Klavier, Ballett oder Malerei organisiert – je nachdem, wonach ihm gerade der Sinn stand.

Als er neun Jahre alt war, hatte er den Highschool-Stoff in den naturwissenschaftlichen Fächern durchgearbeitet und ging nicht mehr hin. Der Versuch mit einem Modul in englischer Literatur misslang gründlich und wurde nicht weiterverfolgt. Einen offiziellen Schulabschluss hat Armstrong deshalb bis heute nicht. Seine Mutter brachte ihn an die California State University für Naturwissenschaften, machte sich aber gleichzeitig auf die Suche nach einem für ihn noch passenderen College.

Kompliziert war das alles auch deshalb, weil sich ihr Sohn eben nicht nur für Naturwissenschaften, sondern zunehmend auch für Musik begeisterte. Im Alter von fünf Jahren entdeckte er in seiner Enzyklopädie ein paar Seiten über das Notensystem und die Grundregeln der Harmonielehre. Er begann anhand der Regeln, die er so in Erfahrung gebracht hatte, Melodien zu schreiben. Und er entdeckte seine Freude daran, Partituren zu lesen, vor allem von Mozart-Symphonien, an denen er sich regelrecht berauschte. Allerdings ohne ganz genau zu wissen, wie sie klingen. Es waren offenbar die Strukturen der einzelnen Stimmen, die ihn in ihren Bann zogen.

Aber so ganz genau erinnert er sich auch daran nicht mehr. Was ihn damals beschäftigte, kann man in Notenbüchern aus seiner Kindheit nachlesen, in die er seine Ideen notierte und die seine Mutter aufgehoben hat. Das, was er an Noten schrieb – eine seiner ersten kleinen Notierungen stammt aus dem April 1997 –, wurde binnen kürzester Zeit immer komplexer. Schon im Alter von fünf Jahren hatte er offenbar die Fähigkeit, in den Partituren Muster und Strukturen zu erkennen, um daraus selbst wieder neue Muster und Strukturen zu bauen, in denen Melodien zu finden waren.

In dieser Zeit hat er einmal den Anfang einer Mozart-Symphonie zu Papier gebracht. Es war die Es-Dur-Symphonie KV 16, die Mozart mit acht oder neun Jahren komponiert hatte. Die Familie Mozart hielt sich damals in London auf, in einem Haus in Chelsea, das man gemietet hatte, damit sich der Vater von einer schweren Angina erholen konnte, die ihn auf der ersten großen Auslandsreise mit seinen Kindern erwischt hatte. Die Kinder durften das Klavier nicht berühren, der Vater brauchte Ruhe, Mozart langweilte sich und schrieb seine angeblich erste Symphonie. Genau diese Symphonie hatte es Kit Armstrong angetan.

»Was mich damals an der Musik berührt hat, weiß ich nicht mehr«, sagt er rückblickend. »Heute weiß ich natürlich, warum mich eine Partitur bewegt. Nur weiß ich heute auch, wie das klingt. Ich bin mir nicht sicher, ob, und wenn ja, bis zu welchem Grad ich es damals wusste. Irgendwie aber müssen mich die Noten erreicht und in mir eine Vorstellung geweckt haben, sonst hätte ich die Mozart-Partituren nicht mit so heißer Leidenschaft verfolgt.«

Schon bald besorgte May ein Klavier und einen Kompositionslehrer an der Hochschule. Da hatte ihr Sohn seine ersten Klavierstücke schon geschrieben – ohne sie zu hören. Zweimal hatte ihn seine Mutter zuvor in eine Musikschule gefahren, in der nach der Suzuki-Methode unterrichtet wurde. Dort aber schickten sie ihn weg. Das sei nichts für ihn.

Er bekam privat Klavierstunden, erst einmal bei dem Lehrer der Kinder seiner Tante, einem Schüler des amerikanisch-israelischen Pianisten Menahem Pressler. Das meiste allerdings brachte sich der Junge selbst bei. Jede freie Minute spielte er fortan Klavier, nach Schule und Universität bis spät in die Nacht hinein. Er spielte und komponierte und spielte, bis sich die Haut von den Fingern schälte. May Armstrong setzte sich neben ihn und löffelte ihm das Essen in den Mund. Dafür fand er keine Zeit. Er musste und wollte den Klang vermessen. Unaufhörlich.

Und sein Gehirn lernte weiter. Natürlich konnte er sich mit seinen Altersgenossen nicht über Komposition unterhalten. Aber er konnte es bereits im Vorschulalter mit seinem Kompositionslehrer an der Universität. Mit sieben Jahren komponierte er seine erste Symphonie. Von September 1999 bis Februar 2000 schrieb er daran. Sie wurde wenig später vom Kammerorchester der Orange County School of the Arts uraufgeführt.

Wie lebt so ein Kind, das ja nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Bedürfnisse hat? Seine besten Freunde jedenfalls waren ein paar Hühner. Über etliche Jahre. May Armstrong hielt sie im Garten, hatte sie weniger als Spielgefährten für ihren Sohn angeschafft als vielmehr aufgrund ihrer eigenen Passion für die Natur. Dort hatte sie auch Aprikosen- und Pfirsichbäume gepflanzt und züchtete Gemüsesorten, die prächtig gediehen.

Die Hühner hießen Hydrogen, Carbon, Nitrogen und Oxygen – nach den chemischen Elementen. Helium, einen Hahn, gab es auch. Er fiel allerdings einem Raubtier zum Opfer, was Kit dazu veranlasste, einen musikalischen Nachruf auf den Gockel zu komponieren. May schaffte das Federvieh in der Zeit an, als sie ihrem Sohn von der Chemie erzählte. Der spielte mit den Hühnern und fütterte sie jeden Morgen nach dem Frühstück. Kam er durch die Hintertür in den Garten, liefen sie hinter ihm her. Und er komponierte für sie – widmete ihnen eine seiner ersten Sonaten, die er »Chicken-Sonata« nannte. Einen Satz der Sonate überschrieb er mit »Chicken-Parade«.

May Armstrong und ihr Sohn waren schon bald unentwegt auf Reisen. Einen offiziellen Schulabschluss hatte er zwar nicht, aber was bedeutete das schon für einen wie ihn? Sie lebten eine Zeit lang in Utah, wo er auf die Universität ging, dann zogen sie für eine Weile nach London – einem bestimmten Klavierlehrer hinterher, den Kit in Israel kennengelernt hatte –, danach wieder zurück in die Vereinigten Staaten. May wollte in der Nähe ihrer Familie sein. Außerdem war sie das Pendeln leid, musste alle drei Monate von London aus in die USA zurück, weil sie keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für Großbritannien hatte.

2003 ließen sie sich in Philadelphia nieder, wo sich Kit Armstrong am Curtis Institute of Music beworben hatte und bei Eleanor Sokoloff in die Lehre ging, jener legendären Klavierpädagogin, die in ihren achtzig Jahren Unterrichtserfahrung viele Stars hervorgebracht hat. Dass sie jemals einen von ihnen in die Nähe von Mozart gerückt hätte, ist nicht bekannt, wäre da nicht der seinerzeit bereits elfjährige Junge aus dem Orange County gewesen.

Gleichzeitig studierte Kit Armstrong Chemie und Mathematik an der University of Pennsylvania, einer der besten Universitäten des Landes. Seine Mutter war sicher, er würde Mathematiker werden. Mathematik oder Musik – das war damals noch nicht die Frage. Im Alter von elf Jahren, als der Gelderwerb noch kein Thema war, ging immer noch beides. Die Frage war eher, wie lange das noch so bleiben würde.

Wunderkinder sind eine seltsame Spezies. Und man weiß nie so genau, was ihnen im Nachhinein alles angedichtet wird oder was sie sich selbst andichten, damit das Erstaunliche noch bestaunenswerter wird. Bei Beethoven hatte der Vater das Alter des klavierspielenden Jungen um zwei Jahre geringer angegeben, wodurch sich das Wunder ein wenig in die Länge ziehen ließ.

Wie gesagt, mag Kit Armstrong den Begriff »Wunderkind« nicht, mit dem sich unnatürliche Erwartungen verbinden. Er ist da eher zurückhaltend, dichtet sich selbst überhaupt nichts an; im Gegenteil, er spielt die Dinge gern herunter, nicht nur, weil er längst weiß, dass auch Wunderkinder irgendwann diesem seltsamen Zustand entwachsen.

Nun existieren zum Glück eine ganze Reihe Ringhefte, in die er als kleiner Junge seine Notentexte geschrieben hat und die bestens dokumentieren, was er wann gedacht und was ihn bewegt hat. Außerdem hat er gegen Ende seiner Schulzeit im Alter von neun Jahren einen längeren Text über sein Leben und sich selbst verfasst. Seine Mutter ließ den Text später zu einem kleinen roten Büchlein binden – als Erinnerung für ihn.

Dieser längere Text ist ein erstes kleines Resümee seiner Wachstumserfahrungen, eine Mischung von dem, was ihn in den ersten neun Jahren seines Lebens beschäftigte und was er ist: ein in kognitiver Hinsicht außergewöhnliches Kind, das wusste er im Alter von neun Jahren längst. Das Büchlein ist allerdings auch so etwas wie eine erste, wenn auch bei Weitem nicht vollständige Bestandsaufnahme seines Wissens von damals und darüber hinaus ein Alltagsbericht, in dem seine Hühner eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Sie waren seine engsten Freunde, seine Weggefährten. Gleichaltrige Freunde hatte er nicht, weil er sich, wie er aus heutiger Sicht rückblickend erklärt, damals immer nur für Inhalte, nicht aber für Menschen interessierte.

»Ich habe spezielle geistige Fähigkeiten«, resümiert der kleine Armstrong auf einer der letzten Seiten. Von den 6,2 Milliarden Gehirnen, die 2001 die Erde bevölkern und aller Einzigartigkeit und Komplexität eines jeden individuellen Organs zum Trotz nach Gauß’scher Normalverteilung überwiegend Mittelmaß produzieren, befindet sich Armstrong am ganz rechten Rand, dort, wo die Linie ausläuft.

»Wenn man ein normales Kind hat, ist man froh, wenn es im richtigen Alter die Highschool mit ganz guten Noten beendet«, sagt May Armstrong. »Ich habe den Luxus gehabt, dass ich mir darüber nie Sorgen machen musste. Für mich war eher das Problem, etwas zu finden, was ihn auch interessierte.«

Das Lernen stand immer im Vordergrund, weil es nun mal das war, was ihren Sohn glücklich machte. »Wenn es nicht mehr interessant genug war an einer Universität oder mit einem Lehrer, dann sind wir weitergezogen.« Es ist diese »ungewöhnliche Wachstumserfahrung«, als die Armstrong sein Leben im Kindes- und Jugendalter bezeichnet, die ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist. »Es war das große Glück meiner Kindheit, so wie ich sie erlebt habe, dass ich immer dort sein konnte, wo ich etwas lernen konnte. Das ist natürlich das Verdienst meiner Mutter.«

Dabei betont May Armstrong stets, dass es ihr weniger um die Leistung ihres Sohns ging als um dessen Zufriedenheit und Wohlbefinden. Das nimmt man ihr ab. Eine »Tiger Mom« war sie sicher nicht. Eher eine Perfektionistin, die als Mutter alles richtig machen und für ihren Sohn auch die perfekte Mutter sein wollte, sich auf Anraten einer Freundin sogar mal mit der Waldorf-Pädagogik auseinandersetzte. Eine wie auch immer geartete Karriere ihres Sohns hat sie dabei augenscheinlich nicht im Kopf gehabt. Schon gar nicht in der Musik; wenn überhaupt, dann in den Naturwissenschaften, was natürlich mit ihrer eigenen Affinität zur Chemie zusammenhängt.

Wenig strategisch ist sie die Ausbildung ihres Sohns angegangen und hat ihn auch nicht in eine Richtung gedrängt. Natürlich hätte er viel früher, viel häufiger auftreten können. Man hätte ihn ganz anders vermarkten, ihn vielleicht sogar dazu bringen können, sich auf das eine oder andere ganz zu konzentrieren, auf die Musik oder die Mathematik. Aber genau das verfolgte sie augenscheinlich nicht und hat schon gar nicht auf eine Entscheidung gedrängt. Mit neun Jahren an der Universität wollte sie für ihn vor allem eines: Er sollte Spaß haben und glücklich sein.

Als Kit Armstrong zwölf Jahre alt war, kehrte er Amerika den Rücken und zog nach London. Natürlich mit seiner Mutter. An der Royal Academy of Music studierte er Klavier und Komposition. Ein Jahr später, von 2005 an, am Imperial College dazu Mathematik. Das war eine Zeit, in der seine Mutter versuchte, beruflich wieder Fuß zu fassen. Um sich den Wiedereinstieg zu erleichtern, schrieb sie sich am King’s College für das Fach Policy Analysis ein und machte dort einen Master.

Derweil brillierte ihr Sohn in Musik und absolvierte seinen Bachelor an einer der besten Musikhochschulen der Welt mit Auszeichnung. Das Mathematikstudium lief parallel. »Ich habe auch gute Noten geschrieben, war allerdings nicht so exzellent, wie man sein muss, um in der Mathematik wirklich etwas zu leisten«, sagt Armstrong. Das wiederum lag nicht nur an der begrenzten Zeit – er gab bereits viele Konzerte. Es mag auch daran gelegen haben, dass ihm die Konzerttätigkeit viel weniger abverlangte als die Mathematik.

Im Jahr 2008 übersiedelte er mit seiner Mutter nach Paris, wo er an der Sorbonne in das Masterprogramm in Mathematik einstieg, um dort schließlich noch seinen Abschluss zu absolvieren. Und dann? Was macht einer, der in einem Alter, in dem andere das Ende ihrer Schulzeit noch nicht erreicht haben, bereits als Pianist und Komponist sowie als Mathematiker unterwegs ist? Was also wird aus so jemandem?

Kit Armstrong hat sich zunächst auf die Seite der Musik geschlagen. Schon in London hatte er sich mehr mit Musik als mit Mathematik beschäftigt. Am Imperial College erledigte er seine Aufgaben mit guten Noten, aber die Musik gab ihm mehr. »London war eine Zeit, in der ich inmitten einer erweiterten Beschäftigung mit der Musik steckte«, erzählt er. Sie hatte den Vorrang, nicht die Mathematik.