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Auf der Suche nach ihrer Mutter, die über Nacht spurlos verschwand, begibt sich die kleine Kitt auf eine ungewisse Reise in die Nacht. Verloren in einer kalten Außenwelt, die nur auf den ersten Blick der unseren gleicht, sich vielmehr aus ihrem Unterbewusstsein speist oder vielleicht auch Lichtjahre entfernt liegt, entfaltet sich eine dunkle Geistergeschichte für Erwachsene, deren naive Kindlichkeit wie ein Fels in sündiger Brandung steht.
In einer Welt, in der sich Heldentum zumeist über Gewalt definiert, entwickelt sich die Flimmerkatze von Buch zu Buch zu einem Gegenentwurf, dem Versuch, eine andere Art von Heldenfigur zu etablieren, eine nicht materielle Konstante in unbekanntem Terrain, eine beste Freundin für die dunkelsten Stunden.
Kittylectric und die Gaukler ist Ouvertüre für den rabenschwarz-neonfarbenen Kosmos der Kinderwald Gruppe (!) – Ein Opus über die schier grenzenlose Welt zweidimensionaler Filme und solcher, die nie gedreht wurden, flimmernder Fernsehkästen, die einst mehr Lebenszeit verschlangen und einen größeren Einfluss auf das Unterbewusstsein ausübten, als sich der
betroffene Konsument heute eingestehen möchte. Ein mehrteiliger Fiebertraum über die Blütezeit der Videotheken, mit all ihren Abgründen und konservierten Geistern, fiktiven wie realen, lebenden wie toten.
Oliver Rennicke studierte Schauspiel sowie Film- und Fernsehregie, arbeitete als Funker, Disponent, Redakteur und freier Journalist, liebt die Abgeschiedenheit des Waldes und die Gesellschaft seiner Katzen.
Kittylectric und die Gaukler ist sein erster Roman.
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Oliver Rennicke
KITT(Y)LECTRIC und die Gaukler
© 2023 Europa Buch | Berlin
www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220135146
Erstausgabe: März 2023
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Stampato presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI) Kinderwald Gruppe 1
Kittylectric 1
»Schnell! Beil Dich!«, schrie ein aufgebrachtes, kleines Mädchen mit rosa Schleife im pechschwarzen Haar ihren laut dröhnenden Fernseher an. Sie saß allein auf dem Bett in ihrem dunklen, winzig kleinen Kinderzimmer. Lediglich das Geflacker und Geflimmer, das von dem quadratischen Kasten ausströmte, drang wie ein Fremdkörper in ihre heile Kinderwelt ein. Es ließ sie in einem ungesund grellen Licht erstrahlen, das schmerzhaft in ihren Augen brannte.
Der Film, der sie so sehr in Aufruhr versetzte, begann mitten im Geschehen. Es gab weder einen einleitenden Anfang noch sollte der Film, wie es für das Medium üblich war, nach ein paar Stunden in einem ausklingenden Ende münden. Anders als bei allen anderen Filmen, die sie in ihren jungen Jahren mit Begeisterung verschlungen hatte, wurde in diesem Film keine Handlung erzählt. Dieser Umstand sollte seiner polarisierenden Wirkung jedoch keinen Abbruch tun, ganz im Gegenteil: Für das kleine Mädchen hatten sich die Grenzen zwischen Bildschirm und Realität komplett aufgelöst. Ein paralleler Blickwinkel, wie ein Spiegel in eine andere Welt, tat sich vor dem Kind auf. Die Kamera wurde zu ihrem dritten Auge.
So raste sie über die breite Straße einer Großstadt hinweg. Häuserschluchten huschten schwindelerregend an ihr vorbei. Alles spiegelte sich seitenverkehrt auf den Pupillen des gebannten Kindes. Ein befremdlicher, überaus beunruhigender Anblick, der den Anschein erweckte, als tauche die Kamerafahrt über ihre Netzhaut tief in ihr Innerstes ein, als stoße der Film ein Tor zu ihrer kindlichen Seele auf.
»Beil Dich!«, rief das kleine Mädchen, nun noch aufgebrachter, in das stroboskopartig aufflackernde Kinderzimmer.
Ihre Worte richteten sich an Mangrowjong, einen über drei Meter großen Schattenmann mit langen, spitz emporragenden Ohren, die an die ägyptische Gottheit Anubis erinnerten. Er war ihr heimlicher Beschützer, der sie in vielen furchteinflößenden Nächten vor den Monstern unter ihrem Bett oder in ihrem Kleiderschrank bewahrt hatte. Seine unheimliche Gestalt sollte die Bösen stets das Fürchten lehren, auch wenn ihn niemand außer dem kleinen Mädchen je zu Gesicht bekam.
Vor ihrem seitenverkehrten Kameraauge schwebte Mangrowjongs schwarze, konturlose Silhouettengestalt, in rasantem Tempo, über die Straßenschluchten von
›StadtX‹, jener unerreichbaren Metropole aus dem Unterbewusstsein,hinweg. Etwa in Ampelhöhe ließen beide das Stadtgetümmel unter sich vorüberziehen.
»Oder es dauert wieder einhundertsiebenundzwanzig Jahre bis sie erneut ein Treffen einberufen!«, fügte das kleine Mädchen, gehörig unter Strom stehend, hinzu und kaute dabei nervös auf ihren Fingernägeln herum.
Unablässig suchend geisterte der schwebende Schattenmann voraus, von Gasse zu Gasse, von Kreuzung zu Kreuzung. In den Worten des Mädchens lag eine große, innere Unruhe, die dafür Sorge trug, dass sich das Tempo ihres Gleitfluges stetig erhöhte. Mangrowjong wurde zu einer scharfen Pfeilspitze, an deren glatter Oberfläche sich das Mädchen nur mit Mühe festzuhalten vermochte. Wie vor einen imaginären Karren gespannt, ließ sich der schwebende Schatten von dem kleinen Mädchen lenken. Wo auch immer er herkam, was auch immer er in dem Kind sah, er hätte alles für sie getan.
Eben noch auf dem Bett in ihrem sicheren Kinderzimmer, fand sich das Mädchen sogartig im Geschehen des Films wieder. Für jeden Erwachsenen, der von außen den Raum betrat, mochte sie, wie ein ganz gewöhnliches Kind aussehen, das begeistert auf den Fernseher starrte, doch im Inneren schwebte sie selber durch die Gassen der geheimnisvollen ›StadtX‹.
In ›StadtX‹ fand sich das kleine Mädchen in einer Welt wieder, die sie nie zuvor physisch betreten hatte. Nach allem, was sie aus Filmen aufgeschnappt hatte, assoziierte sie mit den Bildern eine osteuropäische Metropole, einen Hauch Kiew, einen Hauch Moskau, zu gleichen Teilen sowohl St. Petersburg wie auch Prag. Viele altgotische Bauwerke voll melancholischer Schwere, Bauwerke, die im Laufe der Zeit viel miterlebt hatten und ihre ganz eigenen Geschichten erzählen würden, wären es nicht bloß die Geister der Vergangenheit, die davon Zeugnis ablegen konnten. Ein trüber, nasskalter Dämmertag hing einen bedrückend grauen Schleier über die alten Mauern. Unwirklich lange Gassen umgeben von lückenlos hohen Altbauten, Abzweige an Abzweige, Kreuzungen, die wieder zu neuen Kreuzungen führten und in verschachtelten Gassen und großflächigen Plätzen für Militärparaden mündeten. Dürrastige Bäume, an denen kein einziges Blatt zu finden war, zeugten vom weit vorangeschrittenen Herbst. Wie verknöcherte Skeletthände ragten sie einsam zwischen den Mauerwerken empor.
An einer breiten Hauptkreuzung angelangt, brach Mangrowjong seinen Flug abrupt ab. Ein prunkvoll verziertes Opernhaus stach majestätisch vor dem ungleichen Gespann empor. Das monumentale Bauwerk bildete einen eigenen Mikrokosmos, eine Welt in der Welt, die das kleine Mädchen und ihren schwebenden Begleiter dazu einluden, sich selbst von innen ein Bild zu machen. Die wärmenden Augen des Mädchens wurden größer. Ein Feuer der Begeisterung flammte darin auf, im Kontrast zu ihrem Begleiter, der überhaupt keine Augen besaß.
Ebenso verschwenderisch in Größe wie auch im Prunk gestalteten sich erwartungsgemäß die Innenräume des Opernhauses, wobei weniger von Räumen als vielmehr von weiten Fluren, die in unwirklich dimensionierten Hallen mündeten, die Rede sein musste.
Das kleine, dunkelhaarige Mädchen und ihr imaginärer Schattenfreund durchstreiften einen menschenleeren, historisch überladenen Seitenflügel mit Museumscharakter. Trüb blasses Tageslicht fiel durch die schweren Gardinen ein. Ein blaugrauer Lichtschleier färbte das antike Mobiliar und verlieh ihm eine bedrückende, durch und durch unheimliche Note.
In jenen Räumlichkeiten sollte ein geheimes Treffen von historischer Tragweite abgehalten werden. In verborgener Tradition luden die sogenannten ›Gaukler‹ zur feierlichen Zeremonie. Dabei handelte es sich um eine winzige Gruppierung, die vor den Augen der breiten Öffentlichkeit, von je her, ungesehen oder zumindest unerkannt umhergewandelt war. Die wenigen Individuen, die mit diesen Entitäten, über die Jahrhunderte verstreut, in Berührung kamen, beschrieben sie in ihren Überlieferungen recht vage, teils sonderbar und unergründlich, teils unterhaltsam und komisch, doch stets als extrem gefährlich. Als wiederkehrendes Motiv war von einem fortwährend umherziehenden Zirkusvolk die Rede. Man musste jedoch schon sehr genau hinsehen und im Vorfeld wissen, nach welchen literarischen Querverweisen man zu suchen hatte, um eine Verbindung zwischen den Epochen aufbauen zu können.
Ein stämmiger, übertrieben geschminkter Clown traf auf eine alte, bärtige Dame, die gemeinhin bloß ›Die Hexe‹, selten auch ›die Ladie‹, genannt wurde, sehr selten. Ihr zusammengefallenes Gesicht war von so vielen Flecken und Falten übersät, dass es mitunter an das Gesicht einer Schildkröte oder an einen Mondkrater erinnerte. Ihre Augen blieben stets im Schatten verborgen. In gekrümmter Körperhaltung und in ein vor Dreck stehendes Lumpentuch gehüllt, erinnerte sie an das Bild klassischer Hexenerscheinungen, das über die Jahrhunderte in unzähligen Märchenbüchern und Filmen geprägt wurde.
Möglicherweise fanden all die klischeebehafteten Fabel- und Märchengestalten gerade in diesen Gauklern ihren Ursprung, berücksichtigte man alleine die Jahrhunderte währenden, ganze Menschenleben verschlingenden Zeiträume zwischen ihren Geheimtreffen.
Zu den beiden unwirklichen, einem Fiebertraum entsprungenen Erscheinungen gesellte sich der sogenannte ›Manege-Führer‹, auch schlicht ›Der Magier‹ genannt, ein nobler Mann mittleren Alters, von schlanker Statur und unnahbarer Aura. In einen vornehmen, wenn auch leicht ramponierten Frack gekleidet, gab er stets den kultiviert gebildeten Gentleman von Welt, doch die Abgründigkeit hinter seinen gelben Schlangenaugen ließ sich schwerlich überspielen. Zur Begrüßung zog er seinen hohen Zylinder und verwies, mit dem knochig langen Zeigefinger auf den Lippen, auf absolutes Stillschweigen, solange man sich noch an der Oberfläche befand. Sein Stab und sein Spitzbärtchen bekräftigten zudem den Anschein, dass es sich beim Manege-Führer um einen klassischen Zirkusmagier handeln musste, wenn seine Zaubertricks auch auf den ersten Blick meist gar nicht als solche zu erkennen waren.
Sie alle stellten Figuren dar, die, auf den ersten Blick, gewisse vertraute Assoziationen weckten. Dennoch haftete diesen Gestalten ein fremdartiger Beigeschmack an.
In ihrer unmittelbaren Nähe umgab sie ein schauerliches Gefühl des Unbehagens, welches sich am ehesten mit der Assoziation an Geisterwesen aus dem Reich der Toten vergleichen ließ.
Bei dem, was der schwebende Schattenmann und das kleine Mädchen, aus dem Verborgenen heraus, belauscht hatten, schien es sich bei diesem Geheimtreffen um irgendeinen uralten Zigeunerfluch zu handeln.
Der Zirkusmagier öffnete eine geheime Schranktür, hinter der sich eine steile Wendeltreppe verbarg, die schier endlos in ein bodenloses Loch hinabführte. Ohne ein Wort zu verlieren, führte er die anderen Gaukler in den Abgrund.
Am Ende der Treppe angelangt, fanden die Besucher einen grässlich verdreckten Kellerflur aus uralten Backsteinen vor. Die gewölbte Decke war beklemmend niedrig und voller Spinnweben, die vor milchig verschwommen Kellerlichtern zu schauerlichen Schattenspielen aufgeplustert wurden.
Die drei mysteriösen Gestalten wandelten schweigend durch das gruftartige Gewölbe. Die beiden Eindringlinge folgten ihnen heimlich, in größerem Abstand.
Plötzlich wurde dem kleinen Mädchen schwarz vor Augen. Ein seltsames Phänomen spielte sich vor ihren Augen ab: Wie die Bewegungen eines zu langsam ablaufenden Stummfilmes, so verfremdete sich in den Kellergewölben auch zunehmend die Realität der Gaukler. Ihr menschliches Umherschreiten wurde durch abgehackte Bewegungen permanent unterbrochen. Nach und nach erweckte es in dem kleinen Mädchen den Anschein, als wollten die Gaukler lediglich für Menschen gehalten werden und wären, ebenso wie der geheime Kellergang, in Wahrheit einem verborgenen Zwischenreich entsprungen, einem Reich, das sich aus den schwarzweißen, ausgeleierten Bildern uralter Horrorfilme speiste.
Dem Mädchen und ihrem Schattenfreund, die den Gauklern mit zunehmend geringerem Abstand folgten, eröffnete sich eine Welt, die tief unter der Oberfläche schlummerte und den Blicken der meisten Menschen stets verborgen blieb. Ein Schlupfloch in die Zwischenwände der Realität.
Vom Gewölbe aus gelangten die drei Abgesandten der Gaukler, die recht wenig mit tatsächlichen Gauklern gemein hatten, in einen kleinen, menschenleeren Theatersaal.
»Ein Theater unter dem Theater«, bemerkte das kleine Mädchen erstaunt, als sie die Gaukler eingeholt hatte.
Dasselbe unwirklich schwere Gaslicht warf seine Schatten über die leeren Sitzreihen. Geisterhaft aufblitzend nahmen die Hexe und der Clown in der ersten Reihe Platz, während der Magier, ebenso gespenstisch aufblitzend, die kleine Bühne des Kellertheaters betrat. In einem Moment noch die Stufen hinaufsteigend, stand er, nur ein Aufblinzeln später, bereits in der Mitte der Bühne, als wäre ein Stück aus einem Film herausgeschnitten worden.
Der Magier kündigte mit seinem Zauberstab die Präsentation einer Gestalt an, die sich, allem Anschein nach, hinter den roten Vorhängen versteckt hielt. Mit ausladenden Gesten mimte er den großen Entertainer und stellte unmissverständlich unter Beweis, dass vereinnahmende Unterhaltungskunst zu seinem festen Repertoire gehörte.
Das kleine Mädchen, das sich mit ihrem spitzohrigen Begleiter hinter der letzten Sitzreihe versteckt hielt, stand bereits nach wenigen Worten unter dem Bann des Magiers. Sie wartete gespannt auf die Auflösung seiner großen Überraschung, auf dass, was sich hinter dem Bühnenvorhang verbarg.
Vorsichtig trat schließlich eine zarte Schattensilhouette aus dem Schutz der Dunkelheit hervor und gesellte sich, ebenso zögerlich, zu dem Magier auf die Bühne. Es handelt sich um einen schlanken, überaus graziösen Frauenkörper, daran bestand bereits in ihrem Silhouettenspiel nicht der geringste Zweifel. Sie trug einen hautengen Ganzkörperanzug in schwarzen und weißen Streifen, wie bei einem Zebra. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich jedoch weniger um einen Anzug, als vielmehr um eine, auf der Haut aufgetragene Ganzkörperbemalung oder ›Die vielleicht außergewöhnlichste Haut der Welt‹, wie das kleine Mädchen fasziniert feststellte. Die schwarzen und weißen Streifen zogen sich von ihren Füßen, über ihre langen Beine, den schmalen Bauch bis hin zu ihrem Gesicht. Erst ihr pechschwarzes Haar, eine wild zerwühlte Bob Frisur, vermochte diesen Streifen ein Ende zu setzen. Ebenso wie ihr Haar, trugen auch die pechschwarzen Farbringe um ihre Augen dazu bei, ihr Antlitz ungemein zu verfinstern. Mit ihrem fein abgestimmten Pony bildeten sie einen Einklang und verliehen ihr einen bedrohlich intensiven Blick. Es war der Blick eines Raubtieres kurz vorm Packen der Beute und gleichzeitig die gepeinigte Seele eines Kriegsopfers, das Zweitausend-Yard-Starren eines Mörders im Körper einer unwirklich katzenhaften Traumerscheinung. Tatsächlich deuteten ihre dunkelroten, blutverwischten Lippen daraufhin, dass sie zuvor Beute gerissen haben musste. Und doch lag eine tiefe Seelenwärme in diesen Augen, eine Aufrichtigkeit, die all diese vermeintlichen Eindrücke, die ihr von außen auferlegt wurden, mit einem Wimpernschlag beiseiteschob.
Abgesehen von der Farbe ihrer Körperbemalung und einem darüberliegenden, bläulich verwaschenen Schimmern, schien die geheimnisvolle Schönheit keine menschlichen Kleidungsstücke zu tragen. Um ihre Handgelenke befanden sich dünne, schwarze Bändchen, an denen seltsame Metallgeräte, etwa in der Größe eines Mobiltelefons, befestigt waren, sowohl am linken wie auch am rechten Handrücken. Weitere Bändchen schnürten sich zwischen ihren Fingern hindurch und führten auf den Innenseiten ihrer Handflächen wieder zusammen. Dort besaß sie augenscheinlich die Möglichkeit, diese kleinen Kästchen, aus denen immer wieder vereinzelte Funken herausschossen, per Knopfdruck zu aktivieren.
»Einst eine Katze, die in einer Todesfalle ertrank, komme ich nun mit den Funken aus dem Fernseher. Nennt mich Kittylectric!«, gurrte eine bedrohliche Stimme durch das Theater. Ohne dass die Katzenfrau ihre blutigen Lippen bewegte, schien es offensichtlich, dass die körperlose Stimme im Raum zu ihr gehören musste.
»Nun, ich hoffe du hast alle Türen fest verschlossen, Kittylectric?«, fragte der undurchschaubare Magier mit einem leicht verschmitzten Grinsen im Gesicht. »Türen niemals auch nur einen Spalt geöffnet stehen lassen!«
Die mysteriöse Katzenfrau wandte ihren geschärften Blick zu einem der Seitenaufgänge. Hinter den Bühnenvorhängen knarrte eine angelehnte Tür, die nur sie, aus ihrem Blickwinkel heraus, erfassen konnte.
»Wenn du noch länger auf diesen Spalt starrst«, fuhr der Magier fort, »dann siehst du ihn, den Beobachter, das
Auge dahinter.«
Beinahe zeitgleich zum gesprochenen Wort des Magiers realisierte die Katzenfrau, mit ihren ebenso bildschönen wie gestochen scharfen Augen, dass tatsächlich eine Gestalt hinter der Tür hockte. Ein rotes, blutunterlaufenes Wolfsauge lugte verstohlen hinter dem schmal geöffneten Spalt hervor, ein Auge, das sich erst bei genauerer Betrachtung, sichtbar von der Dunkelheit abhob.
»Ihr müsst wissen, Dämonen hängen wie Kletten an mir«, erklärte die vom Körper getrennte Saalstimme der Katzenfrau, die sich selber Kittylectric nannte. Sie wandte sich an jeden einzelnen der Gaukler, die wiederum ihr Verhalten genauestens musterten und studierten. Unter ihrem Bann schienen sie die gefährliche Katzenfrau gegen ihren Willen gefangen zu halten.
»Du solltest HERRN BLUTREGEN nicht unterschätzen! Mein Kindchen, welche Art von Dämonen meinst du eigentlich?«, fragte die alte Hexe mit ihrer belegt krächzenden Stimme. Eine harmlose, großmütterliche Güte lag trügerisch in ihrem Gehabe.
»Die Dämonen aus den Filmen, der Musik, jeglicher Kunst, die mich früher süchtig machte, mich mit ihrer Magie faszinierte und mich daran hinderte mein Leben aktiv zu leben, so wie es meiner damaligen Natur entsprach«, erklärte die Stimme der Katzenfrau. »Mein Alltag war so stumpfsinnig und leer, aber machen wir uns doch nichts vor, diese Abhängigkeit von künstlichen Welten ist unnatürlich und irrational. Sie gaukelt einem Magie vor, die sich als Luftschloss verflüchtigt, wenn man wirklich nach ihr greift.«
»Sieh dich doch an!«, unterbrach der Magier. »An dir ist doch alles ganz und gar unnatürlich. Du bist auch nur das Produkt deiner eigenen Süchte.«
»Ja, das wird mir jetzt schmerzlich bewusst«, stimmte die Katzenfrau zu, wobei sich ihre Stimme erstmals lippensynchron mit ihrem Körper verband. »Doch wofür sonst lohnt es sich zu leben? Ich habe es versucht. Das Leben hatte seine Chance und es hat mich immer wieder abgelehnt.«
Der Magier wandte sich der Hexe und dem Zirkusclown zu. Er flüsterte ihnen etwas zu, dann wurde er laut, ging zur Katzenfrau und erklärte, einem Oberlehrer gleich, sein Testobjekt. »Über Elektrizität, hier vornehmlich über das Medium des Fernsehens, kommuniziert nun die Unnatürliche mit der Menschenwelt. Sie könnte mit ihrer Elektrizität, ihrem inneren Licht, jeder Macht den Garaus machen, könnte jeden einfach zu Tode erschrecken oder aber Kindern Trost spenden, Erwachsene in die Fantasiewelt ihrer kindlichen Träume zurückführen. Aus ihr könnte die große Retterin der Seelen werden. Ihre bloße Umarmung, nein, davon soll sie lieber noch nichts wissen.«
Wie aufs Stichwort hob sich der Bühnenvorhang und ein Kinderchor aus vier Jungen und vier Mädchen kam dahinter zum Vorschein. Die Kinder waren einheitlich in weiße Schalfanzüge und Schlafhemden gekleidet und wurden von einem tiefblauen Scheinwerferlicht angestrahlt. Ein rundlicher Knabe, der sich von der Statur her deutlich vom Rest des Chores abhob, gab den Ton vor. Das ganze Bühnengeschehen glich mehr und mehr einem Theaterstück.
Während Kittylectric, wie eine Bildstörung auf dem Fernseher, zunehmend unscharf und halbdurchsichtig zu flimmern und zu rauschen begann, stimmte der Kinderchor, unter Leitung des pummeligen Knaben, sein Lied oder vielmehr seinen melodischen Kinderreim an: »Wenn im Fernsehen das Bild ausfällt, du’s nur noch schneien siehst, dann nimm dich in Acht. Sieh nicht zu lange hin, denn sonst blickt Sie über den Fernseher zurück. Bist du rein im Herzen, wird sie dich in Verzückung versetzen. Bist du aber nicht rein im Herzen, dann, ja dann wird sie dich sehr, sehr schmerzen.«
Kittylectric blickte zu dem kleinen Mädchen und Mangrowjong, die sich hinter den Stühlen der letzten Reihe versteckt hielten. Ihre geschärften Raubtieraugen starrten in die verängstigten Augen des Kindes, ein gegenseitiger Blick in den Spiegel, dem beide nicht lange standhalten konnten.
In bedrohlicher Lauerhaltung wandte sich die Flimmerkatze erneut den Gauklern zu. »Ihr präsentiert mich wie ein Schauobjekt. All der feierliche Zirkus hier, doch in Wahrheit habt ihr keine Ahnung, welchen Dämon ihr heraufbeschworen habt«, sagte Kittylectric kühl und bedrohlich.
Mit einem zischenden Funken verschwand sie und ließ dabei sämtliche Scheinwerfer zerspringen, sodass der Theatersaal in vollkommene Dunkelheit gehüllt wurde.
»Der Mensch ist bloß ein Behältnis. Darin könnte sich alles verbergen vom schleimigsten, ekelerregendsten Abschaum bis hin zu purer Magie, Traumgeschöpfe von überirdischer Schönheit«, hauchte Kittylectrics bedrohliche Raubtierstimme in den nasskalt beißenden Wind des Spätherbstes. Ein unsichtbarer Peitschenhieb blies das Laub von einer verknöcherten, bereits zu großen Teilen kahlgefegten Eiche.
Hinter dem nackten Astwerk erstreckte sich ein Wohnblock, der charakteristisch die ärmlichen Regionen Osteuropas widerspiegelte. Von Aussehen und Größe her einem durchschnittlichen europäischen Neubaublock entsprechend, bloß heruntergekommener und mit einem morschen, Einsturz gefährdeten Dachgeschoss. Schwere, vergilbte Gardinen aus längst vergangenen Tagen filterten das ohnehin viel zu trübe Tageslicht, das spärlich in die zahllosen Zimmer einfiel. Ringsum den breitflächigen Betonklotz erstreckte sich ein Meer bräunlich grauen Herbstlaubes, das sich symbiotisch in das trostlose Gesamtbild einfügte.
Laut brummend rollte ein Panzer über die mit Laub und Schlaglochpfützen übersäte Straße. Wie die sprichwörtliche Axt im Walde durchbrach die Maschine die trügerische Stille. Im Land herrschten kriegerische Auseinandersetzungen, die eine ständige Militärpräsenz auf die Tagesordnung riefen.
Genau wie Mangrowjong, schwebte nun auch die Katzenfrau, als ein geisterhafter Schatten, durch die Lüfte, federleicht, wenn nicht gar gewichtlos. Im Gleitflug sauste sie über den Panzer hinweg und näherte sich, in hohem Tempo, dem Wohnblock.
Wieder legte sich ihre ruhige Raubtierstimme auf den eisigen Herbstwind: »Eine Familie in einer der vielen kleinen Wohnungen. Eine Geschichte von vielen kleinen Geschichten, die niemand erzählt, die nie jemand, außerhalb dieser Familie, je zu hören bekommen wird.«
Mühelos drang ihr geisterhafter Körper durch das Mauerwerk, von Stock zu Stock, von Wohnung zu Wohnung, bis sie schließlich in einem der unzähligen kleinen Domizile zum Stehen kam. Wieder raunte ihre körperlose Stimme durch den Raum, während unter ihr eine Frau mittleren Alters gerade damit beschäftigt war, Speisen in einer viel zu beengten Küche zuzubereiten.
»Eine Mutter lebt alleine mit ihren beiden Kindern. Der Vater hat diese Familie für seine neue Familie verlassen. Er hat Kinder mit einer anderen Frau, die er mehr liebt, sowohl die andere Frau als auch die anderen Kinder. Denn diesmal sind es endlich Wunschkinder, wahrhaftige Wunschkinder.«
Hektisch sprang die Mutter in der schmalen Küche herum. Die Überarbeitung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie öffnete ein hoch gelegenes Schrankfach in der unmittelbaren Nähe des für sie unsichtbaren Eindringlings. Hastig tastete sie nach einem wackligen Tellerstapel und als wären ihre Finger plötzlich taub geworden, griff sie in die Luft und ließ die Teller fallen. Mit einem lauten Knall zersprang das Geschirr auf dem Küchenboden.
Verzweifelt sackte die Mutter in sich zusammen, um die Scherben aufzusammeln, während sie von ihrer stillen, an der Zimmerdecke schwebenden Besucherin dabei beobachtet wurde.
»Ich kenne diese Frau«, bemerkte Kittylectric verblüfft. »Die Mutter dieser Familie muss alleine für alles aufkommen. Sie geht täglich zehn Stunden arbeiten, um die Miete zu zahlen und ihren beiden Kindern einen gewissen Lebensstandard bieten zu können. Wochenenden und Feiertage existieren für sie überhaupt nicht. Sie übt sogar noch einen zweiten Job aus und muss auch hin und wieder nachts arbeiten. Zumindest war das früher so! Ja, ich kenne diese Frau, meine Mutter!«
Gern hätte sie sich der Frau genähert, sie tröstend in den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles gut werden würde, doch so angestrengt sie auch die Arme nach ihr ausstreckte, zog es sie doch immer wieder von ihr fort. Als versuchte sie mit Schwimmreifen auf den Grund des Pools zu tauchen. Auch ihre Mutter entfernte sich zunehmend von ihr. Sie schien so sehr an ihre nüchterne Realität gebunden, dass sie die Präsenz der geisterhaften Tochter gar nicht wahrnehmen konnte.
Mit der Erkenntnis, hier nicht mehr als einen schwachen Luftzug darzustellen, ließ Kittylectric die verzweifelte Frau allein in der Küche zurück. Sie kehrte ihrer Mutter den Rücken zu und schwebte durch eine weitere Wand in einen Nebenraum, in ein ebenso schmales, wie spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. Dort saßen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, auf dem Sofa. Völlig vertieft starrten die beiden auf einen veralteten Fernsehapparat. Eine schwarzbraun gescheckte Katze schlief eingerollt in der gegenüberliegenden Ecke des Sofas.
Das Bild flimmerte und rauschte, dennoch tat dies der hypnotischen Wirkung, die es auf die beiden Kinder ausübte, keinen Abbruch. Einzig die Katze blieb vom Geschehen gänzlich unbeeindruckt. Schnurrend rollte sie sich auf den Rücken und streckte alle Glieder von sich.
»Das ist ihre Tochter!«, hauchte die schwebende Flimmerkatze ebenso leise wie bedeutungsschwanger in den Raum, als würde sie es für sich selbst verinnerlichen, während sie das Mädchen genauestens unter die Lupe nahm. »Ihre Tochter, Kitt, das war ihr Name! Hier muss sie etwa vierzehn Jahre alt gewesen sein. Ich erinnere mich. Neben der Schule kümmerte sie sich tagsüber in erster Linie um ihren kleinen Bruder.«
Nun wandte sich der geisterhafte Eindringling dem kleinen Jungen zu, der noch ein paar Jahre jünger und einen ganzen Kopf kleiner als seine Schwester war. »Jim! Ja, Jim war sein Name!«
Als sich Kittylectric der kleinen Katze näherte, fuhr sie erschrocken zurück. Urplötzlich war der Stubentiger aus seinem Schlaf erwacht und blickte nun mit großen, angsterfüllten Augen in ihre Richtung. Offensichtlich wurde ihre Anwesenheit von dem Tier bemerkt. Selbst ihr geisterhaft durchlässiges Antlitz spiegelte sich auf den Pupillen der Katze wider.
Auch das jugendliche Mädchen mit der rosa Schleife im Haar bemerkte, dass ihre Katze zunehmend unruhiger wurde. »Was ist denn los, meine Süße?«, fragte sie verunsichert.
Als Kittylectric die Stimme des Mädchens vernahm, löste dies eine regelrechte Lawine an Erinnerungen aus, die nach und nach auf sie einströmten. »Die einzige Zuflucht für sie und ihren kleinen Bruder war damals diese flimmernde, schillernde Fernsehwelt«, bemerkte Kittylectric. »Sie hatte in ihrem kurzen Leben bereits so viele Filme gesehen, einige so oft, dass sie sie komplett mitsprechen konnte. Selbst bei Filmen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, gelang ihr das von Zeit zu Zeit, als würde sie auf irgendeine verdrehte Art mit dem Fernseher kommunizieren.« Kittylectric hielt einen Moment inne. Nachdenklich fügte sie hinzu: »Oder er mit ihr.«
Bei den beiden Geschwistern ging Kittylectric nun zunehmend auf Distanz und versuchte ihren Blicken auszuweichen. Anders als bei der Mutter, fürchtete sie, von den Kinderaugen eventuell doch gesehen zu werden.
Schließlich ließ sie auch das Wohnzimmer hinter sich und schwebte weiter, über einen engen Flur bis in ein Kinderzimmer. Der Weg vom Wohnzimmer zum Kinderzimmer dauerte in ihren Augen lediglich ein paar Sekunden, doch in der Zwischenzeit waren Jahre verstrichen. Jedoch in die entgegengesetzte Richtung, denn offensichtlich gelang es Kittylectric nicht nur durch Wände, sondern auch durch die Zeit, zu schweben.
Das Mädchen Kitt, das eben noch mit ihrem Bruder im nachmittäglichen Fernsehprogramm zu versinken schien, saß nun in anderen Kleidern und deutlich jünger auf ihrem Bett. Sie war allein, einzig die schwarzbraune Katze leistete ihr Gesellschaft. Wieder wachte sie schnurrend in ihrer unmittelbaren Nähe über sie.
»Du und dein imaginärer Freund, ihr seid zu tief unter die Oberfläche vorgedrungen«, seufzte Kittylectric, ohne auf Gehör zu hoffen. »Du hast einen Ort gesehen, der dich nicht mehr loslassen wird, nie wieder!«
Das Mädchen hatte indes die Außenwelt um sich herum komplett ausgeblendet und tauchte in ihre Gedanken ab. Mit verstellter Stimme schien sie einen Dialog mit sich selbst zu führen.
Die Katzenfrau lehnte ihren Rücken gegen die obere Ecke des Türrahmens und stemmte ihre langen Beine zur gegenüberliegenden Seite, viel zu lässig und entspannt, als dass sie tatsächlich Halt benötigte.
»Oh Kitt, versunken in deinen eigenen Traumwelten«, bemerkte das Gespenst mit einem schwelgenden Lächeln auf den Lippen. »Spinnst du dir gerade wieder deine eigenen Filme zusammen? Später wirst du versuchen einiges davon in Drehbuchform niederzuschreiben. Du hattest damals wirklich eine blühende Fantasie und jede Menge Talent. All die Bücher, die du nie schreiben wirst… Oh Kitt, wenn du wüsstest, welche Reise dir noch bevor steht!«
»Hier war ich doch schon mal, genau an der Stelle«, wunderte sich Kitt, als sie sich mit ihrem kleinen Bruder einer orange leuchtenden Straßenlaterne näherte. In der Dämmerung eines finsteren Wintermorgens befanden sich die beiden Geschwister auf ihrem allmorgendlichen Weg zur Schule. Schnellen Schrittes eilten sie voran, als Kitt abrupt stehenblieb. Ein eisiger Wind pfiff gespenstisch, die Straßenlaterne summte und in dem jungen Mädchen breitete sich das seltsame Gefühl aus, dies alles schon einmal erlebt zu haben.
»Was ist? Komm schon, wir sind eh schon viel zu spät dran!«, drängelte ihr kleiner Bruder Jim, während er fest an Kitts Hand zog.
»Weißt du, ich hab gewusst, dass du das sagen würdest und ich weiß auch, was du als Nächstes sagen wirst«, meinte Kitt. Von außen heraus hörte sie ihrer eigenen Stimme beim Erzählen zu. Wie bei einer Tonbandaufzeichnung schienen sich ihre Worte zu verselbstständigen.
»Ach ja, das wollen wir doch mal sehen! Äh, Kirschkuchen!«, rief der kleine Jim spontan und musste grinsen. »Damit hast du nicht gerechnet, dass ich jetzt Kirschkuchen sage, oder?«
Kitt schwieg. Nach einem angespannten Moment peinlichen Schweigens antwortete sie: »Doch, leider schon!« Wieder schienen ihre Worte einer Tonbandaufzeichnung entsprungen zu sein, wobei sie ihre eigene Stimme so dermaßen dumpf wahrnahm, als hielte sie sich beim Sprechen die Ohren zu.
Das Summen der Straßenlaterne und das Pfeifen des Windes wurden unterdessen zunehmend lauter. Die Spannung, die in der Luft lag, spitzte sich gespenstisch zu.
»Ich fürchte, ich weiß, was gleich passiert!« »Als ob!«, entgegnete Jim ungläubig.
Kurz darauf verschlug es ihm abrupt die Sprache und er erschrak fürchterlich. Mit einem beißend lauten Zischen flackerte die Straßenlaterne in der Dämmerung auf und wieder ab, rhythmisch, als übermittelte sie eine Art Morsekode – zweimal hintereinander helles Aufleuchten, dann Dunkelheit, gefolgt von drei kurzen, schnellen Auf- und Abblenden, dann sieben Sekunden Dunkelheit, dann ein langes, schummriges Aufleuchten bei halber Intensität, ein kurzes Abblenden und der Spuk war vorüber.
Erschreckend, doch bei weitem kein Einzelfall. Dasselbe Phänomen hatte Kitt in ihrer Vergangenheit schon öfters erlebt, meist in Verbindung mit ihrem Fernsehapparat. Ein Déjà-vu, gefolgt von exakt demselben pulsierenden Rhythmus, bei dem die Bildröhre mehrfach auf und abblendete, als würde ihr Déjà-vu damit zu einem Abschluss gebracht werden. Es löste in Kitt stets großes Unbehagen aus, eine unergründliche Furcht, als würde sie irgendjemand oder irgendetwas beobachten und ihre Déjà-vus auf diese Weise kennzeichnen, protokollieren, ganz egal, wo sie sich gerade befand. Nirgends war sie davor gefeit. Ihr Handy flackerte von Zeit zu Zeit in diesem Rhythmus, die Küchenbeleuchtung in ihrer Wohnung, ja selbst in der Schulkantine war ihr dieses seltsame Phänomen bereits begegnet. Dem mehrfachen Aufflackern, wenn sie sich einem Ort näherte oder ein elektronisches Gerät einschalte hatte sie zunächst keine große Bedeutung beigemessen. Es musste sie schon wesentlich länger begleiten, als es ihr tatsächlich bewusst war. Erst mit der Zeit fiel ihr auf, dass es immer in Verbindung mit einem Déjà-vu geschah und dass es sich stets um denselben, wiederkehrenden Rhythmus handelte.
Langsam erwachte Kitt aus ihren abschweifenden Gedankenbildern, während ihr Bruder ihren Namen rief und sie wieder ins Hier und Jetzt zurückholte.
»Komm schon, wir müssen weiter!«, schrie Jim ungeduldig. Vor ihnen lag noch immer ein weiter Weg zur Schule, in dieser überaus kalten, ungemütlichen Winterdämmerung.
Überraschend, wie aus dem Nichts, traten Soldaten aus der Dunkelheit ins Licht der Straßenlaterne. Sie marschierten im Gleichschritt, schwerbewaffnet, mit Maschinengewehren im Arm, dicht gefolgt von einem militärischen Versorgungslaster, der im Schritttempo zu ihnen aufschloss. Mechanisch und ohne auch nur die geringste Notiz von den Kindern zu nehmen, marschierten die Soldaten an ihnen vorbei. In der Dämmerung hätte dieser unwirkliche Aufmarsch ein durchaus faszinierendes Spektakel abgeben können, wäre die ständige Militärpräsenz für die Kinder nicht mittlerweile fester Bestandteil ihres Alltags.
Kitt wandte ihren Blick von der summenden Straßenlaterne zu den marschierenden Soldaten. Reihe um Reihe dieselben schwarzen Helme und geschulterten Gewehre, dieselben Schritt- und Armbewegungen. Die Synchronität war erstaunlich. Doch etwas stimmte an dem Bild nicht. Kitt spürte eine dunkle Präsenz, die sich im Schlepptau der Soldaten verbarg, wohingegen sie die schwerbewaffneten Truppen gänzlich kalt ließen.
Schließlich gelang es ihr, den Ursprung der unerklärlichen Bedrohung auszumachen. Hinter der letzten Reihe stachen ihr die schwarzen Silhouetten von drei abseits stehenden, nicht mitmarschierenden Gestalten ins Auge. Aus der Ferne, in den Schutz der Dunkelheit gehüllt, schienen sie die Kinder zu beobachten, zumindest glaubte Kitt ihre Blicke auf ihrer Haut zu spüren. Ihre schwarzen Umrisse hoben sich deutlich von der Einheitskleidung der Armee ab. Bei genauerer Betrachtung entsprachen sie dem Magier mit seinem hohen Zylinder, der gekrümmten alten Hexengestalt und dem bulligen Zirkusclown.
»Komm schon!«, forderte Kitt ihren Bruder mit Nachdruck auf, ohne dass sie ihre Augen auch nur für eine Sekunde von dem unheimlichen Silhouettentrio abwandte. Nun war sie es, die das Tempo vorgab. Ihr kleiner Bruder hatte indes große Mühe mit ihr Schritt zu halten.
»Warte! Warte doch!«, rief Jim seiner Schwester nach.
Der Abstand zu ihren vermeintlichen Verfolgern vergrößerte sich. Dennoch ließ Kitt das Bild der unheimlichen Silhouetten nicht mehr los. Es bekräftigte sie in ihrer irrationalen Sorge, dass ihr jemand ständig über die Schulter blickte.
Vor ihrem geistigen Auge schritten die Gestalten unwirklich, wie in Zeitlupe, durch die Dämmerung. Kitt versuchte ihre Gesichter zu erkennen. Diese blieben jedoch stets im Dunkel verborgen. Wieder lag ein befremdliches Summen in der Luft, welches unaufhörlich in ihrem Kopf weiter dröhnte. Ein Gefühl, als würden sich ihre Ohren, im Inneren, langsam mit besonders dickflüssigem Blut füllen.
»Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«, hauchte die Flimmerkatze dem schlafenden Mädchen warnend ins Ohr. »Du hättest diesen Film nie sehen dürfen. Dieser Ort wird dich jetzt nicht mehr loslassen, nie wieder.« Es war stockdunkel im Kinderzimmer und Kitt befand sich in einem dösenden Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachzustand, einem Zustand, in dem es nur allzu leicht erschien, die geisterhaften Stimmen im Raum ihren Träumen zuzuordnen.
Als sie an diesem kalten Wintermorgen in ihrem Bett erwachte, spürte sie, dass etwas Unheilvolles geschehen war. Sie hob ihren Kopf und blickte in das schnurrende Antlitz ihrer kleinen Beschützerin. Die Katze schlief auf ihren Beinen und starrte sie mit großen Augen an.
»Erinnere mich das nächste Mal daran, dass ich vor dem Schlafengehen keinen Nietzsche mehr lese!«, sagte das Mädchen scherzhaft zu ihrer Katze, obwohl sie gar nicht wusste, was sie da redete, wer ihr diese Worte in den Mund gelegt hatte. Noch leicht benommen versuchte sie, diese verwirrende Nacht zu rekonstruieren. Gedanke folgte auf Gedanke und schließlich kehrte die Erinnerung zurück.
Mitten in der Nacht, um genau null Uhr achtundvierzig, war sie tatsächlich aus einem schweren Alptraum erwacht. Der vermeintliche Traum fühlte sich so erschreckend real an, als ob sie alles wahrhaftig miterlebt hätte, als sie über einen weiten Feldweg nach Hause geeilt kam und sich plötzlich der Himmel über ihr blutrot verfärbte, als schwarze Gewitterwolken einen gigantischen Tornado heraufbeschworen. Eine Urgewalt kam mit beängstigender Kraft über das nächtliche Feld in Richtung ihres Wohnblocks gefegt und sie war noch so weit von ihrer sicheren Zuflucht entfernt. Fühlt sich an, als ob ich gestorben wäre, es aber nicht wüsste, da ich mich immer noch im Traum befand, schossen Blitze vom blutroten Himmel unmittelbar in ihren Kopf. Als ob ich im Traum gestorben wäre. So sehr sie sich auch darum bemühte, auf dem Feldweg voranzuschreiten, machte es ihr das Unwetter doch schier unmöglich, ihren Weg nach Hause zurückzufinden.
Auch lange nachdem sie aus dem Traum erwacht war, hielt sie die unheilvolle Furcht noch immer fest in ihren Klauen.
Auf den Schreck hin sprang sie aus ihrem Bett auf und eilte ins Badezimmer. Nachdem sie sich mit kaltem, klarem Wasser erfrischt hatte, beschloss sie, einen kurzen Kontrollblick in die anderen Räume zu werfen. Behutsam, wie auf Zehenspitzen, schlich sie durch die dunkle Wohnung, darum bemüht, zu dieser späten Stunde niemanden aufzuwecken. Es herrschte eine gespenstische Stille, die in Kitts Augen den Eindruck erweckte, als wäre sie ganz allein, als wäre sie die einzig wache Seele auf Erden.
Auf dem Rückweg vom Badezimmer öffnete Kitt behutsam die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Obwohl sie sich auf ihre Mutter verlassen konnte, bereite es ihr doch Sorgen, sie zu so später Stunde aus dem Haus zu wissen. Umso erleichterter konnte sie für gewöhnlich weiterschlafen, wenn sie im Halbschlaf ein Schlüsselklappern vernahm oder ihre Mutter zu ihr ans Bett trat und ihr sanft übers Haar strich. In dieser Nacht hatte sie nichts dergleichen bemerkt. Sie konnte in der Dunkelheit des Schlafzimmers nichts erkennen, also entschied sie sich dazu, eine kleine Nachttischlampe einzuschalten.
Als das schummrige Licht einen Teil des Raums erhellte, musste sie erschrocken feststellen, dass das Bett ihrer Mutter nach wie vor völlig unberührt vor ihr lag. Die Laken waren so glatt gestrichen, dass sich keine noch so kleine Bettfalte abzeichnete.
Kitt war sich darüber im Klaren, dass ihre Mutter an diesem Abend, oder vielmehr in dieser Nacht, die Spätschicht übernommen hatte, dennoch hätte sie zu dieser mitternächtlichen Stunde längst zurück sein müssen.
Ihr Blick wanderte nervös durch den Raum und fiel auf ein dreidimensionales Nagelspiel, das dekorativ auf dem Schreibtisch gegenüber vom Bett stand. Das Gesicht ihrer Mutter im Seitenprofil kristallisierte sich noch immer deutlich aus den unzähligen kleinen Nägelchen heraus. Schon jetzt erschien es Kitt wie ein stilles Andenken an einen Menschen, der dieses Zimmer eben noch mit Leben erfüllt hatte. Bei genauerer Betrachtung erkannte sie, dass einige gelockerte Nägelchen bereits die Gesichtsumrisse ihrer Mutter aufzulösen drohten. Ein kurzes Seitwärtskippen und schon befänden sich alle Nägel wieder in ihrer formlosen Ursprungsposition, als ob da nie ein Gesicht gewesen wäre.
»Na ja, vielleicht ist sie irgendwie aufgehalten wurden«, sagte Kitt leise in den Raum, als versuchte sie sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung sei. Sie beschloss, sich wieder ins Bett zu legen und den nächsten Morgen abzuwarten. Gewiss würde sich alles von selbst klären, wenn nur erst das Tageslicht zurückkehren würde.
Von der Rekonstruktion der vergangenen Nacht wieder im Hier und Jetzt angelangt, schob Kitt ihre Katze zur Seite und stand an diesem Morgen, in besonders gespannter Erwartungshaltung, auf, die Kehle zugeschnürt vom mulmigen Gefühl einer unheilvollen Vorahnung.
Wieder schlich sie, wie auf Zehenspitzen, durch die Wohnung. Das Tageslicht war zwar zurückgekehrt, doch die gespenstische Stille blieb unverändert, wie zur Geisterstunde. Am Tage erschien sie Kitt sogar noch unheimlicher als in der Nacht, wo sie hingehörte.
»Hallo?«, rief sie zaghaft in den stillen Flur.
Schreckhaft fuhr sie herum, als hinter ihr eine Tür, laut scheppernd, aufgerissen wurde. Ihr kleiner Bruder Jim stand vor ihr und sah sie ebenso fragend und verwundert an.
»Wo ist Mutti?«, fragte er aufgeregt. Offensichtlich begleitete ihn dieselbe schauerliche Vorahnung.
»Ich weiß es nicht. Sie hatte doch Spätschicht. Hast du schon überall in der Wohnung nachgeschaut? Komm, lass uns nachsehen!«, entgegnete Kitt und nahm ihren kleinen Bruder an der Hand.
Die beiden Geschwister sahen sich in der Wohnung um. Zögernd öffnete Kitt die Tür zum Schlafzimmer. Der Blick hinein schien ihre dunkle Vorahnung zu untermauern. Die Bettlaken waren noch immer glatt gestrichen.
Von ihrer Mutter fehlte weiterhin jede Spur.
»Vielleicht hat sie ja irgendwo eine Nachricht hinterlassen. Komm, lass uns nachsehen, ob wir irgendeinen Hinweis finden!«, riet Jim und machte sich kurz darauf am Schminkschränkchen der Mutter zu schaffen.
»Nichts! Sie kann doch nicht einfach so spurlos verschwinden!«
»Ich bin sicher, das wird sich alles von selbst aufklären. In ein paar Jahren werden wir bestimmt darüber lachen«, versuchte Kitt ihren kleinen Bruder zu beruhigen, obwohl sie innerlich nicht aufgewühlter hätte sein können. »Warte! Ich werde mal bei ein paar Leuten anrufen«, fügte sie nervös hinzu und eilte in den Flur. Hastig holte sie ein Telefonbuch hervor, um noch hastiger darin zu blättern.
Sie wählte eine Nummer nach der nächsten. »Mist, verwählt!«, gefolgt von »Besetzt!« und »Nimmt Niemand ab!«
Als sie endlich eine reale Person am anderen Ende der Leitung erreicht hatte, erinnerte sich Jim an einen Traum, der ihn vor einiger Zeit verstört hatte.
»Ja, hören sie mich? Sie lag heute Morgen nicht in ihrem Bett, unsere Mutter. Sie ist einfach nicht von der Arbeit wiedergekommen. Sie hat auch nichts Konkretes zu uns gesagt. Das würde sie nie tun! Sie hat immerhin ein kleines Kind, um das sie sich kümmern muss. Ja, sie ist alleinerziehend. Ja, ich bin auch noch da, aber das tut doch nichts zur Sache«, fluchte Kitt in den Hörer, da die Person, mit der sie sprach, offensichtlich die Ernsthaftigkeit der Situation verkannte. »Hören sie, es ist mir egal, dass ihnen das in dieser Gegend häufiger begegnet, es passt jedenfalls nicht zu unserer Mutter. Sie würde uns nie bewusst im Stich lassen, falls es das ist, worauf sie hinaus wollen! Nein, schalten sie nicht das Jugendamt ein! Verdrehen sie mir nicht die Worte im Mund. Die Polizei muss doch erstmal irgendwie tätig werden, eine Vermisstenanzeige aufnehmen oder so? Na fein, leiten sie es weiter und schicken jemanden vorbei, wenn genügend Zeit verstrichen ist!« Wutentbrannt legte Kitt auf. »Für die sind wir nichts weiter als eine Statistik. Warum wir
nicht auch von hier weggehen, hat diese Kuh mich gefragt.«
»Ich hab im Traum jemanden getroffen«, flüsterte Jim seiner aufgebrachten Schwester leise, ganz im Vertrauen, zu.
»Was?«, entgegnete Kitt unaufmerksam, da sie sich noch immer über das Telefonat mit der hiesigen Polizeidienststelle ärgerte.
»Unsere Mutti hat sich jemand anders ausgeliehen, nein, nicht ausgeliehen, ›unter den Nagel gerissen‹ hat der komische Mann gesagt«, flüsterte Jim und versuchte den Mann mit verstellter Stimme zu imitieren: »Und glaub ja nicht, dass sie deine Mutti noch mal hergibt!«
Jim trat näher an seine Schwester heran. Noch leiser, als handelte es sich um das allergrößte Geheimnis, fuhr er fort: »Sie ist ein Waisenkind aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Sie hat sich unsere Mutti als ihre eigene Mutti ausgesucht. Sie möchte sie ganz für sich allein haben, da sie selber keine Eltern mehr hat. Und sie wird sie auch nicht mehr freiwillig hergeben!«
»Deine Fantasie hatte ich früher auch mal, aber ich glaube eher nicht, dass es sich so zugetragen hat«, entgegnete Kitt mitfühlend. Sie ging in die Hocke und umarmte ihren Bruder.
Eine absolute Stille isolierte die kleine Wohnung von der Außenwelt. Es war eine trügerische Stille, die umso größeres Unheil zu verschleiern schien. Die Zeit stand still, während die Kinder warteten und warteten. Sie warteten, dass jemand kam, dass endlich etwas geschah, was ihnen ihr altes Leben zurückbringen würde. Doch so sehr sie es sich auch wünschten, so sehr sie auch dafür beteten, dass Bett im Schlafzimmer blieb weiterhin leer und würde es auch in Zukunft bleiben.
Unverhofft wurde die Totenstille von einem lauten Hämmern gegen die Wohnungstür durchbrochen. Das aggressive Störgeräusch fuhr wie ein Stromschlag durch die Körper der beiden Kinder. Plötzlich war da ein Fremdkörper, der in ihr Heim eindrang, um ihre einst so heile, nun jedoch verletzte Welt endgültig aus dem Gleichgewicht zu reißen.
»Macht schon auf!«, brüllte eine kratzige Männerstimme im finsteren Treppenhaus.
Zögerlich trat Kitt an die Tür. Sie spürte bereits nach wenigen Augenblicken, dass eine äußere Dunkelheit ihr Seelenwohl zu erschüttern drohte, dass großes Unheil selten allein des Weges zog.
»Nicht, warte!«, rief Jim seiner Schwester verängstigt nach.
»Ist schon gut! Erkennst du die Stimme nicht? Das ist Papa!«, beruhigte sie ihren Bruder.
Langsam schob sie den Riegel beiseite. Innerlich geriet sie ins Zögern, doch ihre Hände hatten sich bereits verselbstständigt. Kaum war die Wohnungstür einen Spalt weit geöffnet, da drängte sich ein Arm dazwischen und riss ihr die Tür rabiat aus der Hand.
Norbert, der leibliche Vater der beiden Geschwister, oder vielmehr ihr Erzeuger, ließ sich selber in die Wohnung ein. Im Schlepptau befanden sich seine neue Ehefrau Beate sowie die beiden Töchter Katharina und Diana.
»So eine herrlich große Wohnung«, bemerkte Norbert erfreut. Ohne Jim und Kitt eines Blickes zu würdigen, schaute er sich um und lud sich selber dazu ein, im Wohnzimmer sämtliche Fächer und Schränke zu durchwühlen.
Seine Frau und die beiden Töchter taten es ihm gleich und sahen sich unterdessen in den anderen Räumen der Wohnung um.
»Na ja, ich weiß nicht! Hier muss noch ganz schön was an Arbeit reingesteckt werden«, entgegnete Diana leicht angewidert, während sie die Schränke in Kitts Kinderzimmer durchstöberte.
»Was soll das hier? Norbert? Norbert!«, fragte Kitt, die mit ihrem kleinen Bruder völlig überrumpelt im Flur stand. »Falls ihr denkt, dass hier was zu holen wäre, vergesst es! Hier ist nichts von Wert und es ist auch nicht genug Platz für uns alle!«
»Genau deswegen steht die Wohnung auch unserer Familie zu. Ich habe hier früher immerhin gewohnt und die Miete gezahlt«, fuhr ihr Norbert spitzzüngig ins Wort. Seine aggressive Abwehrhaltung duldete keinen Spielraum zur Verhandlung.
»Und wo warst du denn, als sie uns den Strom abgeschaltet haben und Mutti nicht wusste, wie sie die Miete aufbringen sollte?«, verteidigte sich Kitt. »Sie musste hier ganz alleine mit zwei Kindern über die Runden kommen.«
»Deiner Mutter ging es schon nicht schlecht. Die konnte sich nun wirklich nicht beklagen«, zischte Norberts Frau Beate kühl dazwischen, als versuchte sie jeglichen Zweifel an der Richtigkeit ihres Vorhabens von vornherein im Keim zu ersticken.
»Und jetzt hat sie euch hier einfach so im Stich gelassen?«, hauchte Katharina mit aufgesetztem Mitgefühl. Ihre Empathie sollte eindeutig als Ironie verstanden werden und Kitt von oben herab, wie eine Spitze, treffen.
»Na das ist ja wieder typisch, das passt zu ihr. Zum Glück hat uns das Jugendamt so schnell informiert«, seufzte Beate kopfschüttelnd.
»Das ist doch alles noch gar nicht raus! Was, wenn Mutti plötzlich wieder zurückkommt?«, fragte Kitt, emotional so aufgewühlt und verletzlich, dass es auch den anderen nicht entging.
»Ach machen wir uns doch nichts vor!«, erwiderte Beate mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja, Kitt hat recht! Mutti wird bald wieder zurückkommen«, pochte der kleine Jim wütend auf seinen Standpunkt.
»Sie hat euch sitzen lassen und ist vermutlich mit einem anderen Kerl durchgebrannt«, konterte Beate unbeeindruckt, als liege der Sachverhalt ganz unmissverständlich auf der Hand.
»Und ich hab euch jetzt an der Backe! Was glaubst du, wer jetzt hier die Miete zahlen soll?«, fragte Norbert bissig. »Du aus deinem Sparschwein? In der anderen Wohnung war noch weniger Platz. Wir ziehen jetzt hier ein, ob dir das nun passt oder nicht, Prinzesschen.«
»Das Kinderzimmer werden Katharina und Diana bekommen, weil sie ja auch schon größer sind«, fügte Beate sachlich hinzu. Offensichtlich hatte sie alles bereits genauestens durchdacht. Der sanft gehauchte und doch dominante Ton in ihrer Stimme ließ Kitt mit einem Schlag erkennen, wer in der Beziehung tatsächlich die Hosen an hatte, mochte sich ihr leiblicher Vater auch noch so lautstark aufplustern.
»In der Dachkammer stehen noch zwei Kinderbetten. Wie schnell habt ihr euch da oben euer eigenes kleines Reich errichtet, wie so eine Art Bude hoch über den Dächern«, ergänzte Norbert plötzlich versöhnlich, als versuchte er sein eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er schien sich das Vorhaben selber schön zu reden, da er tief in seinem Inneren sehr wohl erkannte, wie ungerecht er sich seinen Kindern gegenüber verhielt. Doch es gab für ihn nun keinen Weg mehr zurück, dafür besaß er viel zu große Ehrfurcht vor seiner Frau. »Ist doch cool!«
»Ach ja, dann zieht ihr doch da hoch«, entgegnete Kitt kühl. »Eine Frage hätte ich da noch, ich meine, wenn wir ohnehin schon so wenig Platz haben, warum übergibst du uns dann nicht einfach dem Jugendamt?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, gab Kitt die forsche Antwort auf ihre eigene Frage: »Soll ich dir sagen warum? Weil du für uns Geld vom Staat bekommst, hab ich nicht recht? Hab ich nicht recht?«
Ohne mit der Wimper zu zucken verpasste Beate dem Mädchen eine deftige Ohrfeige.
»Seid ihr mit dem Wohnzimmer schon fertig?«, fragte Beate in ihrem gewohnt unnahbaren, gebieterischen Tonfall. Sie hatte Kitt und ihren kleinen Bruder dazu verdonnert, die Wohnung für den bevorstehenden Einzug auf Vordermann zu bringen. Alles musste glänzen und funkeln. Doch noch wichtiger schien das Funkeln in ihren Augen, die Genugtuung, das oberste Alphatier in der Herde zu repräsentieren. Ihr Verhalten, mit all ihren offenkundigen Provokationen, sollte darin keine Missverständnisse aufkommen lassen. Sie war sich von vornherein darüber im Klaren, dass sich die Spannungen zwischen ihr und ihrer Stieftochter als unüberwindbar gestalten würden, noch bevor ihre Stieftochter überhaupt wusste, wie ihr geschah. Es schien ihr auch nicht sehr daran gelegen, dem entgegenzusteuern, ganz im Gegenteil. Die Spannungen spitzten sich im Minutentakt zu. Nur eine Frage der Zeit, bis endlich die herbeigesehnte Eskalation eintreten würde, bis ihre kleine, vermeintliche Feindin endlich kapitulieren und sich in ihre Untertanenrolle fügen würde.
»Noch nicht«, antwortete Kitt kleinlaut.
»Na, dann aber los! Komm endlich aus dem Knick!«, hauchte Beate beinahe gnädig, als wäre es bloß ihrer Gütigkeit zu verdanken, dass dieser ›Schlendrian‹ nicht schon längst bestraft wurde. Gleichzeitig lag eine künstliche Echauffiertheit in ihrer Stimme, die zum Ausdruck bringen sollte, dass ihr Kitt auch noch den letzten Nerv raubte, obwohl es sich in Wahrheit genau umgedreht verhielt. »So was Lahmarschiges!«
Als Kitt mit dem Staubsauger in der Hand und dem Staubsaugerkabel zwischen den Beinen ins Wohnzimmer gestolpert kam, wurde sie, für ihr tollpatschiges Verhalten, auch prompt mit geringschätzigen Blicken gestraft.
Diana und Katharina saßen auf ihrem Sofa, auf ihrer heiligen Zufluchtsinsel, auf der sie mit Jim zuvor in ferne, fantastische Welten abtauchen konnte.
Die beiden Stiefschwestern, die beide etwa in Kitts Alter sein mussten, schienen es sich im gemachten Nest nur allzu bequem zu machen, wie Kitt fand. Sie frühstückten ausgelassen und verfolgten dabei eine Fernsehreportage über angehende Topmodels. Obwohl sie offensichtlich stark auf ihre Figur achteten, öffnete Diana eine Tüte mit fettigen Kartoffelchips und füllte diese in eine Glasschale, die auf dem Tisch stand. Katharina griff in die Schale und aß, mehr zum Schein. Vielmehr ging es ihr darum, die Chips, möglichst breitflächig, auf dem Teppich zu verteilen.
»Oh wie ungeschickt von mir«, erschrak sich Katharina ebenso unterspannt wie künstlich aufgesetzt, als versuchte sie ihre eigene Mutter zu imitieren.
Die beiden Schwestern warfen einander belustigte Blicke zu, während Kitt den Teppich vor ihren Augen absaugte. Wenn es jemanden gab, mit dem Kitt noch weniger klarkam als mit der neuen Frau ihres Vaters, dann waren es diese beiden Stiefschwestern.
Um dem vermeintlichen Missgeschick ihrer Schwester noch eins draufzusetzen, ließ Diana absichtlich ein Frühstücksei fallen und verschmierte es auf dem Fußboden.
In Kitt kochten die Emotionen über. Wutentbrannt warf sie den Staubsauger beiseite, um Diana zur Rede zu stellen, »Heb das auf!«
»Was? Wie redest du denn mit uns?«, zischte Katharina fassungslos.
»Das werde ich nicht wegputzen! Das wirst du schön selber machen«, entgegnete Kitt standhaft.
»Aber das warst du doch«, erwiderte Diana mit gespieltem Unverständnis und warf ihrer echten Schwester dabei ein belustigtes Augenrollen zu.
»Ja, ich hab’s genau gesehen, wie du Diana das Ei aus der Hand gerissen hast«, bekräftigte Katharina die Aussage ihrer Schwester.
»Weil du keinen Bock zum Putzen hast, willst du’s auf uns abwälzen. Wenn deine Mutter genauso stinkend faul wie du war, dann ist es ja kein Wunder, dass es hier so aussieht«, scherzte Diana, wobei sie ihrer Stimme, zum allerersten Mal, eine schneidende Schärfe verlieh, als hätte der Wolf, zum allerersten Mal, unter seinem Schafspelz hervorgeschaut.
Reflexartig kniff Kitt ihre Stiefschwester in den Arm, woraufhin Diana sofort laut losschrie, so übertrieben schrill, das es den Eindruck erweckte, als versuche sie jemand zu ermorden.
Nur wenige Sekunden später kam Beate ins Wohnzimmer gestürmt. Als sie erkannte, dass sich Kitt an ihrer Tochter vergriff, rastete sie aus. »Wirst du dich wohl nicht an meinen Töchtern vergehen!«, schrie sie außer sich. »Ich schwöre dir, wenn du dich je wieder an meinen Töchtern vergehst!« Im selben Augenblick verpasste sie Kitt einen heftigen Schlag an den Kopf.
Das Geschrei drang schließlich bis zu Norbert durch, der dösend in seinem neu eingerichteten, eigenen Arbeitszimmer entspannte. Genervt kam er ins Wohnzimmer gepoltert. »Was ist hier schon wieder los?«, fluchte er, als hielte man ihn von einer wichtigen Tätigkeit ab. Ohne eine Antwort abzuwarten, gesellte er sich an die Seite seiner Frau und warf Kitt vorwurfsvolle Blicke zu, obwohl er nicht einmal hinterfragt hatte, was eigentlich geschehen war.
»Stell dir vor, die hat Diana einfach so am Arm verletzt«, erklärte Beate entsetzt.
»Wenn du dich noch einmal an meinen Kindern vergehst, ich schwöre, dann vergesse ich mich«, tönte Norbert großspurig, die Reaktion seiner Frau im Blick.
Während sie von ihrem Vater lautstark, mit Zeigefinger und Spuckefäden, bedroht wurde, hatte Kitt Mühe ihre Tränen zu unterdrücken. Doch es gelang ihr. Mehr als der scharfe Tonfall ihres Vaters, schmerzte sie seine Rückgratlosigkeit im Angesicht dieser Ungerechtigkeit. In ihren Augen war er nichts weiter als ein jämmerlicher Waschlappen, ein Speichellecker, der lediglich bei seiner neuen Frau gut dazustehen gedachte.
Ihre beiden Stiefschwestern hatten diese Tatsache ebenfalls rasch erkannt und nutzten so ihre unantastbare Machtstellung aus, um Kitt und ihren kleinen Bruder zu unterjochen, wo sie nur konnten. Rasch nahmen sie sich immer mehr heraus, vor allem dann, wenn es ausschließlich Kitt betraf. Sie schwärzten sie an, wo es nur ging und gaben ihr für jeden Fehltritt die Schuld.
Doch auch wenn Norbert Kitts Stiefschwestern offenkundig bevorzugte, war auch sie immer noch seine Tochter, sein eigen Fleisch und Blut. So sehr sich Kitt auch bemühte, ihn bloß als ihren fleischlichen Erzeugerzu betrachten, was ihr zunehmend leichter fiel, schmerzte es dennoch, irgendwo tief in ihrem Inneren, und sie verfluchte sich dafür.
»Da draußen ist vielleicht was los«, rief Jim staunend, während er sein Gesicht an das Glas einer kleinen Dachfensterluke presste. Es war bereits dunkel draußen und die beiden Geschwister hatten sich in ihrem Dachbodenquartier schlafen gelegt, ihrer neuen Zwangsunterbringung, nachdem sie ihr Kinderzimmer für die beiden Stiefschwestern räumen mussten.
Kitt versuchte sich mit ihrem alten, vor Jahren ausrangierten Kinderbett, das ihr mittlerweile viel zu kurz war, zu arrangieren, als eine Detonation in der Ferne ertönte, die ihren kleinen Bruder blitzschnell zum Fenster des Taubenverschlags zog.
»Was ist? Was siehst du?«, fragte Kitt aufgeregt, während sie ihre verängstigte Katze auf ihrem Schoss zu beruhigen versuchte. Wie an den meisten Abenden hatte ihr die Katze auf dem Bett Gesellschaft geleistet und wurde nun ebenfalls durch den lauten Knall aufgescheucht.
»Ich weiß nicht, da ist irgendein grünes Licht am Himmel und alles ist voller Rauch«, überschlug sich die Stimme des Jungen.
»Ja, seit die Truppen in unser Land eingefallen sind, ist da draußen die Hölle los«, erwiderte Kitt mit einem betrübten Seufzer.
»Dennoch müssen wir unser Vorhaben durchziehen! Das hast du selbst gesagt«, erinnerte Jim.
»Ja, aber das war vor all den politischen Unruhen der vergangenen Tage.«
»Ob das vielleicht sogar was mit Muttis Verschwinden zu tun hat?«, fragte er verschwörerisch.
»Jim, wir können da nicht raus! Im Land herrschen mittlerweile Kriegszustände. Du siehst es doch selbst! Da draußen ist es in den letzten Wochen einfach viel zu gefährlich geworden«, sagte Kitt, ohne auf die Frage ihres Bruders einzugehen.
»Gerade deswegen müssen wir hier fort! Als ob wir hier sicherer wären! Sieh aus dem Fenster, wie nah die schon sind! Nicht mehr lange und sie bomben hier alles in die Luft«, erwiderte Jim aufgebracht.
»Die Wohngegenden hier sind noch halbwegs gesichert, was glaubst du, warum die sich da unten in unserer Wohnung breit gemacht haben. Zumindest ist es hier drinnen sicherer als da draußen auf den Straßen, wo die
Militäranlagen sind.«
»Aber wir schulden es Mutti, dass wir nach ihr suchen!«
»Ich weiß, wir haben Pläne geschmiedet und ich hab dir versprochen, dass wir von hier weglaufen, um nach Mama zu suchen«, beteuerte Kitt einfühlend. Sie legte ihren Arm auf Jims Schulter und flüsterte zuversichtlich: »Und das werden wir auch! Aber wir müssen noch ein bisschen hier bleiben und nach handfesten Hinweisen über ihren Verbleib suchen. Da muss irgendwas in ihren Sachen sein, ein Schriftstück oder so, irgendwas, das uns weiterhilft oder ein konkreter Ort, den ich auf der Karte eintragen kann. Ich weiß, dass da etwas ist, was ihr Verschwinden erklärt, irgendetwas, was wir nur noch nicht sehen.«
Abrupt brach sie ab und fuhr vor Schreck zusammen, als das aufgescheuchte Flattern einer Fledermaus zwischen den Holzbalken erklang. Ihr ungewollter Mitbewohner, der sich bis dahin als ein stiller Beobachter erwies, hatte sie und ihren Bruder klammheimlich belauscht. Nun, da er alles vernommen hatte, opferte er seine Tarnung einer polternden Flucht. Zügig huschte das dunkle Geschöpf der Dachluke entgegen. Die Geschwister standen wie angewurzelt im Raum und blickten der Fledermaus hinterher, die rasch in den dunklen, kurzzeitig grün aufflackernden Nachthimmel entschwand.