Kitty Carter – Dämonenkuss - Jana Paradigi - E-Book

Kitty Carter – Dämonenkuss E-Book

Jana Paradigi

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Beschreibung

England 1862, das Jahr der Weltausstellung in London. Die 49-jährige Kitty Carter hat in ihrem Leben auf Liebe und Familie verzichtet, um als Frau einem Beruf nachgehen zu können. Sie arbeitet als unscheinbare Bürokraft bei der City of London Police. Ihr Talent für treffgenaue Vorahnungen ist das Einzige, was ihr den öden Alltag versüßt - bis sie das erste Mal stirbt und überraschend von Gott persönlich einen Auftrag erhält. Durch die Chance auf ein zweites Leben beginnt Kitty nachzuholen, was sie im ersten Anlauf verpasst hat. Ihre neu gewonnene Abenteuerlust und ungeahnte Begierden lenken sie bald von der eigentlichen Aufgabe ab: der Jagd nach einem mörderischen Dämon. Während Kitty der immer länger werdenden Spur aus Leichen folgt, geraten die Grundfesten ihres Seins weiter ins Schwanken und sie muss sich fragen: Wie göttlich ist ihre Mission wirklich? Alle, die Sherlock Holmes, Mystik und Romance gleichermaßen lieben, haben mit Kitty Carter eine faszinierende neue Heldin gefunden. Die Detektivin aus dem Jenseits erforscht bei der Dämonenjagd ihre magisch-mystischen Fähigkeiten ebenso wie ihre lang verdrängten Träume und erotischen Begehren. "Kitty Carter - Dämonenkuss" verbindet moderne Urban Fantasy mit einem historischen Krimi im Viktorianischen England - als wäre "Miss Fishers mysteriöse Mordfälle" zu einem magischen Steampunk-Abenteuer aufgebrochen.

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Jana Paradigi

Kitty Carter - Dämonenkuss

 

 

 

   

 

 

Jana Paradigi

Kitty Carter - Dämonenkuss

www.janaparadigi.de

 

Content Notes:

Religion, Okkultismus, Tod, Unfall, Mord, Blut, Speichel, Sex (einvernehmlich), sexueller Übergriff (angedroht), Gewalt (angedroht), Drogen

 

1. Auflage

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2022

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

 

Umschlaggestaltung: M. D. Hirt

Shutterstock Credits: Kerem Gogus, Djero Adlibeshe, Enea Kelo, BortN66, Tattoboo, Brilliant Eye, Iris_art, Chaikom, Peddalanka Ramesh Babu, Mia Stendal, Kateryna Upit, TeodorLazarev

 

Lektorat und Korrektorat: worttief-Lektorat (Mareike Westphal)

 

Gebundene Ausgabe: 978-3-98595-112-3

E-Book: 978-3-910238-01-5

 

Vorwort

 

Ihr Lieben,

 

ein Wort vorab, damit ihr wisst, was auf euch zukommt, wenn ihr diese Geschichte lest und euch emotional darauf vorbereiten könnt. Denn dieser Roman beinhaltet Themen, die euch womöglich triggern.

Folgende Themen werden in diesem Roman behandelt und manchmal auch nur angedeutet: Religion, Okkultismus, Tod, Unfall, Mord, Blut, Speichel, Sex (einvernehmlich), sexueller Übergriff (angedroht), Gewalt (angedroht), Drogen.

Bitte passt beim Lesen auf euch auf und gebt mir gerne unter der Adresse [email protected] Feedback, wenn ihr nach dem Lesen in der Rückschau gerne noch weitere genannt bekommen hättet.

Die Geschichte rund um Kitty Carter ist für mich ein ganz besonderes Buch geworden, mit Themen die mich selbst sehr beschäftigen. Ein Roman, der mir beim Schreiben sehr viel abverlangt, aber auch sehr viel Spaß bereitet hat.

 

Viel Lesevergnügen wünscht euch

Jana Paradigi

 

 

Dieses Buch ist für jene,

die sich unsichtbar fühlen

oder unsichtbar gemacht werden.

 

 

Kapitel 1

 

Kitty Carter betrachtete die Habseligkeiten des Toten und hatte so eine Ahnung, dass die Ursache für sein Ableben eine Person war, die einen mintfarbenen Hut trug und gern an Blumen roch.

Ein abstruser Gedanke, aber Kitty wusste, dass solche Eingebungen gerade dann wichtig waren. Weil sie nicht einfach nur den logischen Assoziationen durch Beobachtung geschuldet waren, sondern ihrem Bauchgefühl entsprangen. Einem schier magischen Instrument, wenn es um die Treffsicherheit ging.

Ein Talent, das sie bereits als Kind besessen hatte. Damals war sie überzeugt gewesen, dass alle Menschen das könnten. Sie hatte beim bloßen Berühren des Tellers gewusst, wer den Kuchen aus der Küche gestohlen und wer die vermeintlich verräterische Bröselspur bis zu ihrem Zimmer gelegt hatte. Und das nicht nur, weil solche Streiche typisch für ihren älteren Bruder Jordan gewesen waren.

Leider hatte ihre Fähigkeit sie nie vor Strafen gerettet, denn ihre Eltern waren Verfechter des Prinzips »wahr ist nur, was bewiesen werden kann« gewesen. Selbst Jahre später wischte ihr Vater Barnabas Carter ihre Gabe als bloße Glückstreffer beiseite. Und das, obwohl sie den Mörder ihres Bruders anhand eines einzigen Knopfes identifiziert hatte.

Indirekt zumindest. Denn nachdem Kitty eben dieser Knopf, den ein Constable am Tatort vor der Hafenspelunke gefunden hatte, in die Hand gefallen war und sie ihn näher betrachtet hatte, war ihr der ranzige Geruch von Betty Barnetts eifersüchtigem Freier in die Nase gestiegen. Wohl, weil auch Jordan Vergnügen an ihren Strumpfbändern und deren Inhalt gefunden hatte. Eine Leidenschaft, die ihm schlussendlich zum Verhängnis geworden war.

»Ist was Wertvolles dabei?«, erklang die raue Stimme des Chief Inspectors Patt Wallet.

Kitty blinzelte. Obwohl sie die ganze Zeit in die kleine Box auf ihrem Tisch gestarrt hatte, hatte sie die Gegenstände darin kaum wahrgenommen.

»Ich katalogisiere es Ihnen, Sir. Auf den ersten Blick ist aber kein Goldbarren dabei«, sagte sie und lächelte den großen, etwas ungeschlacht wirkenden, Chief Inspector der City of London Police verschmitzt an.

Doch Patt Wallet war ein ernster, verhärmter Mann, der nicht viel Spaß verstand. Mehr als eine erhobene Augenbraue konnte sie ihm mit diesem Scherz nicht entlocken.

»So ein Fund ist bei einem Säufer und Taugenichts auch nicht zu erwarten«, konstatierte er und maß sie mit diesem tadelnden Lehrerblick, der ihr nicht nur aus Scham die Röte in die Wangen trieb. Ein Detail, das er wie immer übersah oder stoisch ignorierte.

»Natürlich, Sir.« Sie schlug die Augen nieder und strich sich eine ihrer mahagonibraun gefärbten Haarsträhnen hinter das Ohr. Ein Versuch, die ersten grauen Haare zu überdecken. Leider machte die Mischung aus Silbernitratlösung, Metallsalzen und Pyrogallol-Lösung das Haar auf Dauer spröde und brüchig. Sie würde den Chemiker in der Borrow Steet wohl noch einmal besuchen müssen, um ihn um eine Tinktur für die Pflege zu bitten. Später, nachdem sie von ihrer Verabredung zum Tee mit Tessi zurück war.

Ihre Freundin hatte so dringlich in ihrer Nachricht geklungen, dass Kitty das Treffen um nichts auf der Welt verpassen wollte. Immerhin war Tessi ihre engste und älteste Vertraute. Eine der wenigen, die verstanden, warum Kitty sich so störrisch gegen das Eheleben stemmte.

Ein Umstand, der ihren Vater schier zur Verzweiflung getrieben hatte. Erst in Kittys Vierzigern hatte er seine Bemühungen eingestellt, sie Männern vorzustellen, die seiner Meinung nach genug Geld für ein passables Leben boten. Vielleicht, weil er lieber eine Niederlage in Kauf nahm, statt auch sein zweites Kind zu verlieren. Sinnbildlich gesprochen, denn umgebracht hätte sie sich nie. Immerhin war das laut den Predigten des Pastors eine Sünde. Genau wie Kittys Fantasien, wenn sie Patt Wallet ansah und davon träumte, ihm in der Dunkelheit der Nacht näherzukommen, als sittsam war.

Nachdem der Chief Inspector ohne weitere Anweisungen zurück in sein Büro gegangen war, griff sich Kitty eine große Holzpinzette. Damit fischte sie die einzelnen Stücke aus der Box, betrachtete sie und trug sie mit fein säuberlich geschwungener Feder in eine Tabelle ein.

Da waren ein Kronkorken, ein Stückchen Schnur, ein kleines Päckchen Tabak, ein gebrauchtes Schnäuztuch und drei Penny, die rochen, als hätte man sie aus einem verrotteten Fischmagen gezogen. Als Kitty das Schnäuztuch, einem plötzlichen Instinkt folgend, auffaltete, entdeckte sie darin einen blank geriebenen Silberpenny, mit Neptuns Dreizack und dem Schild der sitzenden Britannia geprägt.

Eine jener Münzen, die die königliche Familie traditionell den Armen schenkte. Ein symbolischer Akt der Demut, wie einst Jesus ihn vorgelebt hatte. Er war niedergekniet und hatte die Füße der Armen gewaschen. Die Königin hingegen schnippte ihnen eine Münze zu. Heuchelei und Hohn, wie Kitty fand. Wer trieb die Menschen denn in die Obdachlosigkeit mit seinen Steuern? Die damit einhergehende Abwärtsspirale war selten aufzuhalten. Das wusste Kitty durch die Arbeit auf der Polizeistation nur zu gut.

Der Tote hatte die Münze nicht etwa bei einem Kartenspiel gewonnen. Sie war ihm tatsächlich von jemandem in die Hand gedrückt worden, der von königlichem Blute war. Ein Glücksbringer aus Kindheitstagen, den der Mann selbst im Schnapsdelirium nicht aus der Hand gegeben hätte, das spürte sie ganz deutlich. Ein Hoffnungsfunke in einem Leben aus Leid und Enttäuschungen.

Kitty schluckte und ihre Hand zitterte, ohne dass sie den Grund dafür benennen konnte. Ihr Leben war kein schlechtes, trotz der Entbehrungen, die ihre einstigen Entscheidungen mit sich gebracht hatten.

Eine Frau, die einem Beruf nachging, war zwar nichts gänzlich Exotisches, aber eben auch nichts, was von der dominierenden Männerwelt beklatscht wurde. Hier, auf der Polizeistation, wurde sie geduldet und bestenfalls hinter vorgehaltener Hand für ihre hilfreichen Tipps geschätzt. Aber niemals dafür gelobt. Denn auch hier galt das Prinzip von Logik und Beweisführung.

Detectives überführten Täter nicht einfach aufgrund von Intuition, selbst wenn sie Kitty regelmäßig nach eben dieser befragten. Auf Umwegen. Indem sie ihr, wie heute, die Habseligkeiten eines Toten zur Katalogisierung auf den Tisch stellten. Meistens kam ein paar Stunden später einer der Constables vorbei und begann das Gespräch mit harmloser Plauderei, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, sie wären auf ihre Hilfe angewiesen.

Doch die Wahrheit war, dass die Polizeistation eine besonders hohe Aufklärungsquote hatte, eben weil sie den intuitiven Einflüsterungen von Kitty Carter nachgingen. Und das, obwohl sie nur eine unbedeutende Büroangestellte war.

Kitty schob den Silberpenny mit der Zange in eine Beweisstücktüte und legte diese zusammen mit den anderen Gegenständen zurück in die Box, nachdem sie zu jedem eine kurze Beschreibung notiert hatte. Es mochte kleinlich wirken, doch gerade die Details eines Falls waren entscheidend für seine erfolgreiche Aufklärung.

Hätte Kitty Zugang zu dem Leichnam gehabt, hätte sie wohl noch einiges mehr herauslesen können. Womöglich hätte sie sogar ein Gesicht zu diesem mintfarbenen Hut gesehen. Doch der tote Körper lagerte entweder in der Aufbahrungshalle oder war nach der Beschau durch die Detectives bereits an die Universität geliefert worden.

Zwei Orte, zu denen sie als Frau üblicherweise keinen Zutritt hatte. Weil sie in Hysterie verfallen könnte, hieß es. Dabei waren es viel eher die jungen Constables, die beim Anblick von Blut und aufgeschlitzten Leibern überstürzt den Abort aufsuchten.

Während Kitty die Papiere in den neu angelegten Akt einsortierte, hetzte einer dieser uniformierten Jungspunde herein, das Gesicht leichenblass, mit roten Flecken auf den Wangen. Er musste die Strecke bis zur Polizeistation gerannt sein.

»Chief!«, rief er atemlos. »Wir haben einen Mord am Haymarket.«

Patt Wallet erschien in der Tür und beäugte den desolat wirkenden Mann mit tadelnder Miene. »Knöpfen Sie erst einmal Ihre Jacke zu, Henry. Sie sind hier nicht bei der Metropolitan Police. Bei uns geht es ordentlich zu!«

Der junge Constable straffte sich, legte beiläufig ein schwarzverfärbtes Taschentuch neben Kitty ab und nestelte mit zittrigen Fingern an seiner Jacke herum.

»Sehr gut. Und jetzt erzählen Sie, warum Sie so ein Nervenbündel sind«, setzte Patt mit versöhnlicher Stimme hinzu. Denn eigentlich war er ein guter Kerl. Grobschlächtig, aber mit einem großen Herzen unter all den Schichten, die sich in diesem Beruf wohl zwangsläufig bildeten.

»Die Mädchen aus der Frühschicht haben sie entdeckt.«

Henrys Jackenknopf war immer noch nicht an seinem Platz.

»Wen haben sie gefunden? Wer ist das Opfer?«

»Die Hurenmutter, aus dem Tinker Tanner.«

Wallet hob die Brauen. »Die alte Lucy Wigem hat’s erwischt? Das sieht ihr aber gar nicht ähnlich.«

»Sie ist grauenhaft zugerichtet«, sagte der Constable und Kitty konnte regelrecht spüren, wie ihm das Mittagessen die Speiseröhre wieder hinaufkroch. »Als hätte man ihr eine brennende Fackel in den Rachen gerammt.« Er deutete auf das Taschentuch.

Patt Wallet nickte. Sein Gesicht hatte sich in eine undurchdringliche Maske verwandelt, als er nach zwei weiteren Detectives rief und sie sich gemeinsam zum Tatort aufmachten.

Lucy war eine Art Berühmtheit in ihrem Metier gewesen. Eine Governess, die für ganz besondere Wünsche zuständig war. Die Billigversion davon, im Vergleich zu den Bordellen in der Charlotte Street, bei denen der Adel mehr oder weniger heimlich ein und aus ging. Sie war schon eine halbe Ewigkeit in diesem Geschäft gewesen. Ein bisschen abergläubisch, aber klug genug, sich nicht einfach von einem Straßenräuber umbringen zu lassen.

Kitty hatte diese Frau bis zu einem gewissen Grad bewundert. Sie war frei gewesen, hatte sich ein eigenes kleines Imperium aufgebaut. Sie hatte das hart erarbeitete Geld mit niemandem teilen müssen und mehr verdient als so mancher Kerl, der tagaus, tagein schuftete, bis sein Buckel ganz krumm war.

Mehr noch. Lucy Wigem hatte sich erfolgreich gegen die guten Sitten und prüden Moralvorstellungen der Pfaffen erhoben. Ein Sieg. Doch zu einem bitteren Preis. Denn wer das horizontale Gewerbe ausübte, galt in der Öffentlichkeit gleichsam als geächtete Person. Und so würde man sie selbst nach ihrem Tod noch behandeln.

Kitty blickte auf das achtlos hingeworfene Stofftuch auf ihrem Tisch. Es war so schwarz, als hätte man damit den Ofen ausgewischt. Sollte sie einen genaueren Blick darauf werfen oder sich das Grauen ersparen? Andererseits war sie womöglich die Einzige, die etwas herausfand, das nicht schon offensichtlich war.

Unwahrscheinlich, dass der Chief viel Aufwand betreiben würde, den Mörder zu fassen. Außer ein paar Freiern und den Mädchen vom Tinker Tanner gab es niemanden, der ihr eine Träne nachweinen oder Druck bei der Aufklärung ausüben würde. Heute eine Schlagzeile, morgen bereits vergessen.

Von dem Tuch ging ein Geruch aus, der im ersten Moment an Rauch erinnerte. Aber da war noch etwas. Etwas, das ganz und gar nicht dazu passte. Seife. Teure, parfümierte Seife. Kitty konzentrierte sich darauf und öffnete ihren Geist, so wie sie es immer tat, um die Intuition einzuladen, ihr etwas einzuflüstern. Doch die Stimme blieb stumm. Keine Bilder stiegen in ihren Gedanken auf und sie hörte nichts außer dem gleichmäßigen Ticken der alten Standuhr, die im Büro des Chiefs nebenan ihren Platz hatte.

Hatte das Tuch vielleicht gar nichts mit dem Mord zu tun? Kitty streckte die Hand aus und berührte eine Ecke des Stoffs mit der Zeigefingerspitze. Doch es half nichts. Ihre berühmte Intuition hatte ihr nichts zu sagen. Und das erschreckte Kitty mehr als eine schauerlich zugerichtete Leiche.

Es war das erste Mal, dass so etwas passierte. Ihr Talent mochte launenhaft sein und manchmal sehr vage, oder verworrene Informationen liefern, aber noch nie hatte es Kitty den Dienst gänzlich versagt. Konnte sich eine Begabung abnutzen? Oder altern? Was, wenn sie genau wie ihre Haarfarbe Stück für Stück verblassen und schließlich fort sein würde? Für immer.

Bei diesem Gedanken zog Kitty ihr eigenes Taschentuch aus dem Retikül und tupfte sich die Stirn ab. Sie musste es genau wissen, also nahm sie sich die Box mit den Habseligkeiten des Säufers noch einmal vor, griff die Papiertüte mit dem silbernen Penny und konzentrierte sich darauf.

Sofort war da das Bild eines dürren, schmutzigen Jungen, der barfuß am Straßenrand stand und mit leuchtenden Augen die behandschuhte Hand vor sich fixierte. Der Penny darin glänzte im Sonnenlicht so sehr, dass der Junge blinzelte.

Da war sie wieder, ihre Kraft der Vorhersehung. Sie konnte es noch. Umso seltsamer war es, dass sie bei dem rußschwarzen Taschentuch versagt hatte. Ein Rätsel, das sie später lösen musste. Denn es wurde höchste Zeit, aufzubrechen. Ihre Freundin Tessi konnte Unpünktlichkeit nicht ausstehen, und am späten Nachmittag waren Londons Straßen besonders voll.

Kitty stellte die Box zur Abholung auf den Stuhl neben dem Eingang, legte sich ihre schlichte braune Stola mit den Blumenstrauß-Ornamenten aus Baumwollgarn über die Schultern, nahm ihr farblich abgestimmtes Retikül zur Hand und marschierte eilends hinaus.

Um auf dem schnellsten Weg nach Temple Gardens zu gelangen, musste sie die Old Jewry nach Süden gehen, hinüber zur Queen Victoria Street, an der Blackfriars Bridge vorbei und noch ein Stückchen weiter nach Westen am Wasser entlang, um so das Stückchen Grün nahe des Royal Courts Justice zu erreichen.

Das Mildford Café lag etwas abseits der Hauptstraße und hatte den köstlichsten Kuchen von ganz London, wie Tessi immer zu sagen pflegte. Und sie hatte recht. Besonders zu dieser Jahreszeit, wenn die Bäume in voller Blüte standen und die Sonne die Nässe und den Nebel meistens aus den Straßen vertrieb, wurden hier die herrlichsten Obststückchen zum Tee serviert.

Ihre Freundin saß an einem kleinen Tisch am Fenster und winkte fröhlich, als Kitty eintrat und sich nach ihr umsah. Gerade rechtzeitig, bevor die Kirchturmglocken zur vollen Stunde schlugen.

»Du glaubst nicht, was heute passiert ist«, begann Tessi aufgeregt zu erzählen, bevor Kitty auch nur Platz genommen hatte. »William wurde eingeladen, über seine neueste Erfindung auf der Weltausstellung zu sprechen. Eine Strickmaschine. Und weißt du, wofür? Für Strümpfe! Ist das nicht aufregend!«

Tessi war mit einem eifrigen, aber bisher wenig erfolgreichen Erfinder verheiratet. Seit ihre Kinder ausgewachsen und aus dem Haus waren, vertrieb sie sich ihre Zeit zumeist mit oberflächlichem Klatsch und abergläubischen Geschichten. Aber Kitty liebte sie dennoch. Sie war die treueste Seele, die man sich vorstellen konnte. Und sie wurde nicht müde, ihr immer noch ins Gewissen zu reden, sich einen Mann zu angeln. Trotz ihrer bald fünfzig Jahre, die Kitty bereits in dieser Welt weilte.

»Das ist eine große Ehre. Ich bin sicher, es werden viele Fotografen da sein. Womöglich wird sogar ein Bild in der Zeitung abgedruckt«, sagte Kitty, während sie die lange Nadel aus dem Haar zog und ihren Wollfilzhut mit der hübschen cremefarbenen Seidenschleife ablegte.

»Meinst du?« Ihre Freundin wusste um Kittys Talent und fragte sie regelmäßig nach Dingen wie dem Wetter, wenn ein Picknickausflug anstand, oder zu höfischen und gesellschaftlichen Ereignissen, über die mal wieder getuschelt wurde. Doch Kittys Intuition sprang nicht einfach auf jedes angesprochene Thema an. Es brauchte etwas, worüber sie eine Verbindung herstellen konnte.

»Dein William ist ein wichtiger Mann, und ein gutaussehender noch dazu. Natürlich wird die Presse über seinen Auftritt berichten. Besonders, wenn es dabei um so etwas Schlüpfriges wie Damenstrümpfe geht.«

Tessi gluckste so heftig, dass der Earl Grey über den Rand ihrer Tasse schwappte und einen Fleck auf ihrem azurblauen Rock hinterließ. Doch das konnte eine mehrfache Mutter und Ehefrau wie sie nicht aus der Ruhe bringen. Auch so eine Sache, die Kitty an ihrer Freundin mochte. Sie war eine handfeste, gestandene Frau. Sie ging in ihrer Familienrolle auf und liebte das Leben, das die Gesellschaft für sie standesgemäß vorgesehen hatte.

Ganz im Gegensatz zu Kitty, die sich schon als junges Mädchen gegen all das mit Händen und Füßen gewehrt hatte. Aber man musste nicht dieselben Dinge lieben, um sich zu verstehen. Es reichte ein offener Geist.

Dank ihres Mannes William, mit all seinen Erfindungen und Visionen von einer mechanisierten Zukunft, zählten beide zu den fortschrittlich denkenden Menschen. Sie luden Kitty sogar hin und wieder allein zum Dinner ein und erkundigten sich bei der Gelegenheit nach ihrer Arbeit. Etwas, das Kittys Vater tunlichst vermied, wenn sie das Familienanwesen der Carters einmal im Jahr zum traditionellen Weihnachtsfest besuchte.

Den Rest des Jahres hielt Kitty losen Briefkontakt zu ihm, bei dem es hauptsächlich um die monatlichen Zahlungen, den Zustand ihrer Wohnung nahe Finsbury Square oder wichtige Neuigkeiten über die entfernteren Familienzweige ging. Ihre Mutter war bereits vor Jahren an der Schwindsucht gestorben.

»Warst du denn schon dort? Auf der Weltausstellung?«, fragte Tessi. »Dass die königliche Familie nicht an den Eröffnungsfeierlichkeiten teilgenommen hat, soll ja ein schlechtes Omen gewesen sein.«

»Prinz Albert ist kaum ein halbes Jahr tot, da ist es doch verständlich, wenn Königin Victoria nicht nach Feiern zumute ist«, hielt Kitty dagegen und bestellte bei der vorbeikommenden Bedienung Tee und Kuchen.

Doch so leicht ließ ihre Freundin nicht locker. »Eine Königin hat repräsentative Pflichten. So etwas wie ein Privatleben gibt’s da nicht. Ich glaube ja, sie hatte Angst, dass ihr dieser ganze Protzpalast aus Glas und Holz auf den Kopf fällt, während sie dort auf dem vorbereiteten Thron hockt und sich Industriemaschinen, Bergbauwerkzeuge und die neuesten Kunstallüren dieser modernen französischen Maler vorführen lässt.«

Kitty presste ihre Lippen aufeinander, um bei der Vorstellung nicht laut aufzulachen. Natürlich war es ganz und gar nicht witzig, über den Tod der Queen nachzudenken. Dass sie in Samtumhang und vollem Ornat gekleidet dasitzen könnte, um sich von ein paar Grubenleuten ihre neuesten Werkzeuge vorführen zu lassen, dagegen schon.

»Was?«, fragte Tessi eingeschnappt.

Kitty schüttelte den Kopf. »Dein William wird sicher die gesamte Zuhörerschaft für sich einnehmen und nach seinem Vortrag noch wochenlang in aller Munde sein. Immerhin braucht jeder Strümpfe.«

Ihre Freundin zog einen Schmollmund. »Du machst dich über mich lustig.«

»Ich freue mich für dich«, entgegnete Kitty. »Und ein bisschen zu lachen, tut mir gerade gut.«

Tessi beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich hab das Dienstmädchen von nebenan schon drüber tuscheln gehört. Ein Toter unten an den Docks. Ein Säufer soll es gewesen sein. Weißt du schon, wer der Mörder ist?«

»So funktioniert das nicht. Mein Bauchgefühl spuckt keine Namen auf Knopfdruck aus. Außerdem geht es grad um einen anderen Fall. Einen, bei dem mein Talent bisher völlig nutzlos ist«, antwortete Kitty im vertraulichen Flüsterton.

Ihre Freundin machte große Augen. »Wie meinst du das?«

»Ich sehe nichts und spüre auch nichts. Gar nichts, wenn ich mich darauf konzentriere«, gab Kitty mit einem Seufzen zu.

Tessi nickte bedeutungsvoll. »Dann muss das ein wirklich komplizierter Fall sein.«

»Oder ich werde alt.«

Die Bedienung kam und servierte Tee und ein Erdbeertörtchen, während die Freundinnen sich zurücklehnten und ein spontanes Gespräch über das ungewöhnlich sonnige Wetter in London begannen. Mord und Totschlag waren schließlich keine Themen, die sich für einen Fünf-Uhr-Tee schickten.

»Noch ein Toter bei den Docks? Vielleicht vom selben Mörder um die Ecke gebracht?«, flüsterte Tessi, sobald sie wieder allein am Tisch waren.

»Es ist passiert, kurz bevor ich aufgebrochen bin. Außerdem weißt du ganz genau, dass ich dir solche Details gar nicht erzählen darf. Du könntest immerhin mit dem Täter unter einer Decke stecken«, sagte Kitty und funkelte ihre Freundin herausfordernd an.

»Ich?« Tessi schnappte gespielt nach Luft. »Ich hab doch gar keine Zeit zum Morden. William rennt zu Hause wie ein nervöses Huhn im Kreis und verlegt ständig seine Aktenmappe. Außerdem ist meine Älteste mit den Enkeln da. Diese Schreierei den ganzen Tag bin ich einfach nicht mehr gewöhnt.«

»Dann werde ich deiner Köchin Bescheid geben, dass sie die Messer in die Schublade sperrt, damit kein zufälliges Unglück geschieht«, schloss Kitty mit einem Zwinkern und schwenkte zu leichteren Themen über.

Als die Teller und Tassen leer waren, wurde es Zeit für den Aufbruch. Kitty glaubte schon, bei diesem Treffen ohne die üblichen Verkupplungsversuche ihrer Freundin davongekommen zu sein, als Tessi das Thema doch noch anschnitt.

»William hat vorgestern einen neuen Kollegen zum Abendessen mit nach Hause gebracht. Ein wirklich unterhaltsamer Mann, der ein ansehnliches Erbe mit in die Ehe bringen würde. Er hat ein Landhaus nahe Hatfield Park, oben im Norden.«

Kitty legte sich die Stola über. »Und wo ist der Haken? Wie alt ist er?«

Tessi zog schuldbewusst den Mund schmal. »Er ist ein sehr engagierter Erfinder, der für seinen Beruf sozusagen rund um die Uhr lebt und dabei hin und wieder die übliche Hygiene vermissen lässt. Dann, wenn er glaubt, kurz vor einem Durchbruch zu stehen.«

Kitty seufzte. »Das heißt, er ist unrasiert, hat Läuse im Haar und stinkt wahrscheinlich schlimmer als der Hinterhof einer Hafenbar.« Sie konnte den Kerl mit seinen zerzausten grauen Haaren bereits vor sich sehen.

»Es braucht eben eine feste weibliche Hand in seinem Leben«, hielt Tessi dagegen, während sie voran Richtung Ausgang ging.

Ein Herr mit Zylinder und gestutztem Backenbart öffnete ihnen höflich die Tür, verbeugte sich und blickte Kitty dabei ungeniert auf die üppig gefüllte Bluse. Sie wollte gerade eine Bemerkung dazu fallen lassen, als der Wind die einsame Melodie eines Geigenspiels heranwehte. Die Musik war so süß und zugleich intensiv, dass Kitty zur Straße eilte, um sich nach der Quelle umzusehen.

»Was ist los?«, fragte ihre Freundin.

Doch Kitty war zu sehr damit beschäftigt, die Töne einzufangen, von ihnen zu kosten und sich in ihnen zu wiegen. Diese Melodie war ein göttliches Labsal und gleichzeitig eine Decke der Geborgenheit, die sich um ihre Schultern legte und sie lenkte. Ein paar Schritte vorwärts, dann wieder zur Seite, als würde eine übergeordnete Macht sie in ihren Armen wiegen. Die Töne schienen aus allen Richtungen gleichzeitig zu ihr zu strömen. Die Hände gen Himmel gestreckt, drehte Kitty sich im Kreis.

Sie hörte noch, wie Tessi nach ihr rief. Dann fühlte sie den Aufprall. Etwas Großes und Schweres rammte Kitty von der Seite und schleuderte sie zu Boden. Sie schlug so hart auf, dass ihr die Luft wegblieb und ihr schwarz vor Augen wurde.

 

Kapitel 2

 

Einen Moment später stand Kitty Carter an eine Hauswand gelehnt da und atmete schwer. Die Welt drehte sich und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie wieder klar denken konnte. Sie erkannte das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Davor, auf der Straße, hatte sich eine Menschentraube gebildet. Lauter aufgeregt schnatternde Leute, und mittendrin ihre Freundin Tessi, die auf einen Constable einredete. Sie weinte ganz fürchterlich, gestikulierte und deutete dabei mehrfach auf den Boden.

Erst da begriff Kitty, dass die Leute auf etwas hinabblickten. Zwischen den sich drängenden Leibern lag jemand auf den Pflastersteinen. Jemand mit farblich passenden Riemenschuhen zum braun gemusterten Kleid.

»Ist anders, als man es sich vorgestellt hat, nicht wahr?«, erklang eine Stimme.

Kitty fuhr herum. Neben ihr stand ein Mann in feinem Zwirn und mit Melone auf dem Kopf. Hut und Anzug waren schneeweiß und bildeten einen scharfen Kontrast zu seinem dunkelbraunen Teint. Er lächelte sie freundlich an.

»Bist du eine Vision?«, fragte Kitty und schüttelte mehrmals den Kopf, als könnte sie so ihre Gedanken wieder sortieren.

»Wäre erst mal die am logischsten klingende Erklärung«, stimmte ihr der Mann zu. »Aber ganz so einfach ist es nicht.«

»Wie ist es dann?«, fragte Kitty, während sie erneut zu den Leuten und dann zu ihrer Freundin hinüberblickte. Wo war der Constable so schnell hergekommen und warum sprach er ausgerechnet mit Tessi? Irgendetwas stimmte an dieser Szene nicht.

Kitty überlegte, woran genau sie sich nach dem Verlassen des Cafés erinnern konnte. Doch ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Da war dieser Lüstling mit Zylinder gewesen. Sie war nicht dazu gekommen, ihm die Meinung zu sagen. Irgendetwas hatte sie abgelenkt. Irgendetwas Wichtiges.

»Warum siehst du nicht einfach nach, was los ist?«, fragte der Mann mit Melone.

Seine Stimme klang wie ein gespieltes Vibrato. Oder war es die Luft, die seine Worte zurückzuhalten versuchte? Kitty tastete vor sich ins Nichts und machte probeweise einen Schritt. Die Bewegungen fühlten sich an, als würde sie gegen einen unsichtbaren Widerstand anlaufen. Sie kam vorwärts, aber es kostete ungewöhnlich viel Kraft.

Dennoch machte sie noch einen Schritt und dann noch einen weiteren auf die Menschengruppe zu. Drei Schritte insgesamt, doch schon im nächsten Augenblick stand sie mitten zwischen den Leuten. So, als hätten sich Zeit und Raum gedehnt und dann zusammengezogen.

Jetzt konnte sie es ganz deutlich sehen. Auf dem Boden vor ihr lag eine Frau. Sie war adrett, wenn auch ein wenig altmodisch gekleidet, mit hochgeschlossener Spitzenbluse unter dem gemusterten Kleid. Ihr Hut dagegen war bezaubernd.

Dem toten, starren Gesicht war anzusehen, dass das Leben bereits einige Kerben hinterlassen hatte. Die Haut wirkte fahl. Sie hatte frisch gefärbtes Haar und ihre vollen Lippen waren mit ein wenig Rouge bemalt. Eine gepflegte, aber unauffällige Schönheit.

Kitty beugte sich hinab und berührte eine der Haarlocken, die der Frau ins Gesicht hingen. Sie wollte wissen, was ihr widerfahren war. Doch Kittys siebter Sinn sprang auch bei ihr nicht an. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als würde sie dem Geheimnis direkt ins Antlitz blicken.

»Frag dich nicht, wer sie ist. Frag dich, wer du bist«, ertönte erneut die Stimme des Mannes im weißen Anzug.

»Wer ich bin?«, wiederholte Kitty, weil ihr das Denken noch immer schwerfiel.

Kaum ausgesprochen, durchzuckte sie die Erinnerung wie ein Blitz. Sie war auf die Straße getreten und etwas Großes, Schweres hatte sie mit voller Wucht umgefahren.

Suchend sah sie die Straße entlang und bemerkte den Dampfomnibus, der ein paar Pferdelängen entfernt angehalten hatte. Sie blickte zurück zu der am Boden liegenden Frau, wieder zu dem Bus und plötzlich verstand sie es. Der leblose Körper war ihrer! Sie, Kitty Carter, war von dem metallenen Ungetüm angefahren und überrollt worden!

Als hätte sich ein Schleier gelüftet, sah sie nun auch das Blut, das in ihren Locken und im Gesicht klebte, dort, wo sie auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschlagen war.

»Ich bin tot«, sagte Kitty und wunderte sich, dass ihr diese Worte so wenig ausmachten. Sie war nicht panisch. Es war eher so, als würde sie das alles weiterhin wie eine Zuschauerin betrachten.

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte der Mann in Weiß.

Wohin?, wollte Kitty fragen. Doch sie wusste es. Wer tot war, kam entweder in den Himmel oder in die Hölle. Aber selbst das machte ihr keine Angst. Stattdessen nahm sie die hingestreckte Hand ihres Begleiters und trat mit ihm aus der Szene hinaus und hinein in einen blinden Wirbel, der vor ihnen erschienen war. Im nächsten Moment wurde Kitty von grellem Licht geblendet.

Dann waren sie hindurch.

»Ich bin Amari«, stellte der Mann mit der Melone sich vor.

»Und ich Kitty.«

Amari schmunzelte. »Ich weiß.«

Sie standen auf einem Platz, der wie die Bühne eines alten römischen Amphitheaters aussah. Die schmalen Terrassenstufen waren weiß gestrichen, genau wie die Empore, auf der sie standen.

Kitty sah sich um. »Ist das hier der Himmel?«

»Stellst du ihn dir denn so vor?«, fragte Amari mit diesem immerwährenden Lächeln in der Stimme.

Darüber hatte Kitty noch nie nachgedacht. Über das Sterben, ja. Aber noch nie über das Danach. Zu dem Thema hielt sich sogar der Pfarrer bedeckt. Als lebender Mensch konnte man es ja nicht wissen. Selbst Kitty mit ihren Fähigkeiten hatte dazu nie eine Eingebung erhalten. Wobei die meisten der Täter, wie auch der Opfer, wohl sowieso in der Hölle, statt im Himmel gelandet waren. Schließlich war in London so gut wie jeder ein Sünder. Auch Kitty.

»Ich glaube, selbst der schönste und hellste Ort kann zur Hölle werden, wenn man es verdient«, sagte sie daher.

Amari lächelte noch immer. »Und wer entscheidet, was man verdient?« Es war kein hochnäsiges oder schadenfrohes Lächeln. Eher das eines Lehrers, der einer Schülerin geduldig den Weg zur Erkenntnis aufzeigt.

»Gott«, antwortete Kitty, auch wenn ihr die Antwort zu naheliegend vorkam.

»Bist du bereit, Gott zu treffen? Den Herold dieses Gefildes?«

Kitty horchte in sich hinein und nickte dann.

Ein Thron erschien auf der Plattform. Ein wahrer Koloss aus schimmernd weißem Marmor. Und auf ihm saß eine Gestalt, die weder Mann noch Frau war. Nicht androgyn und geschlechtslos, sondern einfach keinem Geschlecht zuzuordnen und gleichzeitig alle zugleich.

Kitty war so perplex, dass sie jegliche Etikette vergaß, sich weder verbeugte noch knickste, sondern Gott einfach nur fasziniert anstarrte.

»Hallo Kitty«, sagte die Gestalt. Sie war barfuß, trug karierte Stoffhosen und ein weit sitzendes Leinenhemd darüber. Das Haar war lang und kraus und mit einem ebenfalls karierten Haarband locker zurückgebunden.

»Guten Tag«, antwortete Kitty. Kaum ausgesprochen, merkte sie, dass es gar keinen Himmel gab, keine Sonne und gefühlt auch keine Zeit. Als würden sie in einem ewig andauernden Moment festhängen. Einem, der zugegebenermaßen ziemlich ungewöhnlich war.

»Nur zu, du kannst Gott alles fragen, was dir auf der Seele liegt. Es ist ganz natürlich, Antworten zu verlangen, um die erste Unsicherheit zu vertreiben«, sagte Amari mit einer ermunternden Geste.

Kitty versuchte sich zu sammeln und ihre Gedanken zu sortieren. Doch ihr Verstand kämpfte gegen das Verstehen an, gegen das, was sie sah, was sie hörte. Das alles war falsch, auch wenn sie nicht zu sagen wusste, wie es richtig gewesen wäre. Schließlich entschied sie sich dafür, ganz am Anfang zu beginnen. »Bin ich tot?«

»Ja, das bist du«, folgte die prompte Antwort.

»Ist das der Himmel?«

Gott schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. »Du befindest dich im Jenseits. Also auf der anderen Seite des Diesseits. Die Seelen von Verstorbenen versammeln sich hier, um ein neues Dasein zu beginnen. Zu anderen Bedingungen, sozusagen.«

»Also eine Art Wiedergeburt?«, hakte Kitty nach. Sie sprach ganz ruhig, auch wenn eine Stimme in ihrem Hinterkopf unablässig daran erinnerte, wie absurd diese Szenerie war. Redete sie wirklich mit dem Allvater? Dem Schöpferwesen allen Seins?

»Nenn mich Ruff, wenn du magst«, bot Gott an.

Ruf? Kitty blinzelte. Sie hatte sich über Gott durchaus ihre Gedanken gemacht. Über seine Gebote, Verbote und auch darüber, dass er doch sehr engstirnige Ansichten darüber hatte, was Recht und was Unrecht war. Aber das hatte sie natürlich niemandem erzählt, auch Tessi nicht. Und nie, wirklich nie, hatte sie darüber nachgedacht, ob Gott einen Eigennamen oder Vornamen besaß.

»Ruf wie Anrufung oder wie die Kurzform von Rufus?« Die Frage rutschte ihr einfach heraus, nachdem ihre Gedanken sich zwischen all den Fragmenten aus Bibelstellen verlaufen hatten, an die sie sich in dem Zusammenhang erinnern konnte.

»Ruff wie Wuff«, sagte Gott mit einem schalkhaften Blitzen in den Augen.

Kitty blinzelte und wollte zu einer weiteren Frage ansetzen, als Gott die Hand hob. »Um es zu begreifen, musst du zuallererst verstehen, dass es so etwas wie den Tod nicht gibt. Es gibt nur Übergänge von einer Form in eine andere. Rein philosophisch betrachtet, könntest du den Schritt von einem Gefilde in das nächste tatsächlich als Wiedergeburt bezeichnen. Deine Seele wandert einfach weiter in ein neues Dasein hinüber.«

»Dann lebt man also ewig? Nur an einem anderen Ort?« Kitty rang damit, es zu begreifen. »Kann man diese Grenze dann auch wieder in die andere Richtung überschreiten?«

Gott streckte die Finger aus und legte die flache Hand auf der weiß marmorierten Thronlehne ab. »Nein.«

Es dauerte eine Weile, bis Ruff sich erklärte. Doch Kitty wartete ab, verkniff sich weitere Fragen, bis sie schließlich eine Antwort erhielt.

»Meine Aufgabe ist es, über die Seelen zu wachen, ihre Wege zu begleiten und sie hier und da an die Hand zu nehmen, wenn sie sich verirren. Seelen machen verschiedene Phasen durch, beginnend im Diesseits. Aber auch im Jenseits gibt es Stufen, die eine Existenz durchläuft. Man könnte es einen Aufstieg nennen, wie bei einer Leiter. Da wäre es doch töricht, die Sprossen wieder zurückzugehen, die man bereits hinter sich gelassen hat.«

Das leuchtete Kitty ein. Andererseits schloss es die Möglichkeit nicht aus, es dennoch zu tun. »Das heißt, es wäre möglich?«

»Alles ist möglich. Das ist der Kern des Chaos, der im Leben selbst steckt«, erläuterte Gott mit milder Miene. »Ich sorge dafür, dass solche Möglichkeiten anderen Seelen keinen Schaden zufügen. Selbst in einem unendlichen Universum müssen logische Grenzen gezogen werden. Und zwischen Diesseits und Jenseits ist so eine Grenze.«

Ruff sagte es in diesem väterlichen Tonfall, und doch spürte Kitty, dass sich darin eine Warnung verbarg. Vielleicht sogar eine Drohung.

Trotzdem musste sie es wissen. Wenn sie jetzt nicht nachhakte, würde sie vielleicht nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen. Und nie wieder war bei einem unsterblichen Leben in einem unendlichen Universum eine schrecklich lange Zeit.

»Warum ist das so? Ich bin doch immer noch ich. Ich war noch nicht bereit, zu sterben. Warum kann ich nicht einfach zurückkehren? Noch ein wenig länger leben?«

Ruff tippte mit den Fingerspitzen auf den Stein, während er seine Worte abzuwägen schien. Doch statt zu antworten, sprang er schließlich auf, spazierte barfuß über die Plattform und eine Treppe hinab.

Als Kitty nicht sofort folgte, wurde er langsamer und sah sich zu ihr um. »Kommst du? Um Antworten auf deine Fragen zu finden, müssen wir ein wenig die Welt erkunden.«

Also folgte Kitty ihm und Amari schloss sich an. Sie ließen die Bühne hinter sich und auch das Amphitheater. Mit jedem Schritt, den sie sich entfernten, wurde die Umgebung bunter und belebter. Links und rechts des Weges tauchte ein gepflegtes Parkgelände auf, mit Bänken, Straßenlaternen und kleinen Skulpturen, die auf den Wiesenstücken verteilt standen. Ein Blau ohne Sonne spannte sich über die Welt. Die Atmosphäre war heiter und friedlich. Ein Ort voller Harmonie. Bis sich diese Landschaft mit Menschen füllte. Oder zumindest mit Wesen, die mehr oder weniger an Menschen erinnerten.

Kitty klappte der Mund auf. »Sind das Engel?«

Gott steuerte eine der Bänke an, nahm Platz und klopfte auf die Stelle neben sich. »Dies hier ist ein Ort für Menschen, Kitty. Menschen können keine Engel werden, denn im Leben begeht jeder mindestens eine Sünde. Genau dafür ist das Diesseits da. Um Erfahrungen zu sammeln, zu fallen und wieder aufzustehen. Um die schönen, wie die unschönen Gefühle in all ihren Facetten auszukosten. Um Fehler zu machen und um daraus zu lernen. Menschen sind dafür gemacht, zu fallen.«

Kitty folgte der Aufforderung und setzte sich. »Dann ist das hier nicht der Himmel, sondern die Hölle?«

»Ich sagte doch, es gibt keinen Himmel und keine Hölle. Es gibt nur das Jenseits. Man könnte jetzt sagen, dass alle hier Engel wären, oder Teufel. Doch das sind bloße Sinnbilder, von Menschen erdacht und verbreitet«, erläuterte Ruff.

»Aber das dort ist ganz sicher kein Mensch.« Kitty zeigte auf eine Gestalt, die von knorpeligen Wucherungen übersät war und aus deren Rücken knorrige Stummel ragten.

»Das ist ein spiritus es daimonion. Ein Geist, der seine Schicksalsmacht erkannt hat.«

»Das ist ein Dämon?« Kitty keuchte auf. »Du willst mir sagen, dass die Menschen allesamt zu Dämonen werden nach ihrem Tod?«

Gott wiegte den Kopf hin und her. »So könnte man es wohl ausdrücken. Auch wenn das Wort Dämon bei den Menschen über die Jahrhunderte eine völlig verquere Bedeutung angenommen hat.«

»Was soll das nun wieder bedeuten? Dass Dämonen verkannte Engel sind? Schau ihn dir doch an!« Es war Kitty egal, mit wem sie da gerade sprach. Diese ganze Geschichte erschien einfach zu unfassbar, um dabei ruhig und gesittet zu bleiben. Immerhin wurde gerade ihr gesamtes religiöses Weltbild auf den Kopf gestellt. Was kam als Nächstes? Dass Gottes Sohn ebenfalls so eine Abscheulichkeit war?

Amari, der sie bisher auf ihrem Spaziergang stumm begleitet hatte, trat überraschend vor. Er ging auf die Gestalt mit dem verwachsenen Körper zu und strich ihr behutsam über die knochige Wirbelsäule, die wie ein Zahnrad aus dem nackten Oberkörper ragte.

Ein Stöhnen drang aus dem, zur Grimasse verzerrten, Mund, gefolgt von einem tiefen Seufzen. Als hätte die Gestalt durch die Berührung Erleichterung erfahren. Dabei war sie so sehr im eigenen Empfinden gefangen, dass sie Amari, Kitty und Gott keinerlei Beachtung schenkte.

»Was ist mit diesem Menschen passiert?«, fragte Kitty. »Was hat er?«

»Im Jenseits trägt man sein Innerstes im Außen«, erklärte Ruff. »Stell dir den Übergang am besten wie einen großen Spiegel vor, der nicht dein fleischliches Äußeres, sondern deine Gefühle reflektiert und daraus dein neues Ich formt.«

Kitty schüttelte den Kopf, wieder und wieder. Das klang alles viel zu bizarr, um wahr zu sein. Eine Horrorgeschichte, die in ihrem Traum lebendig geworden war. Weil sie sich beim Sturz auf die Pflastersteine den Kopf gestoßen hatte.

Das war die einzige Erklärung für all diese ketzerischen Gedanken. Es konnte nicht wahr sein. Denn wenn doch, hatte sie fast fünfzig Jahre ihres Lebens an ein Märchen geglaubt, an Gebote, die womöglich bedeutungslos waren. Von Schuldgefühlen geplagt, nicht fromm genug zu leben. Die Hölle schon vor Augen, wenn sie lüsterne Gedanken beim Anblick von Patt Wallet gehabt hatte.

Wie sah Schuld aus, wenn man sie als Körper trug? Würden ihre Begierden sich als Hörner zeigen? Wo mochte sich die Trauer um ihre verstorbene Mutter abbilden? Wie all diese tief im Herzen vergrabenen Schreie voller Wut und die Spuren all der Enttäuschungen? War sie am Ende auch so ein Monstrum?

»Schhhhh, schhhh, es ist alles gut, meine Liebe. Alles ist gut«, wisperte Gott neben ihr.

Tatsächlich halfen seine Worte, die aufsteigende Panik zurückzudrängen. Aber beruhigt war sie deswegen noch lange nicht. Sie blickte erneut zu der verwachsenen Gestalt und diesmal fühlte sie Mitleid statt Ekel. Dieser Mensch quälte sich, seine Emotionen fraßen ihn regelrecht auf, rissen seinen Körper entzwei und überwucherten sein einstiges Selbst.

---ENDE DER LESEPROBE---