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Willkommen in Pipinea – einer Welt aus Purpurstaub! Die Geschichte beginnt für die elfjährige Serafina Nightingale mit einem Umzug ihrer Familie in die Großstadt. Am Sterbebett ihrer geliebten Großmutter erfährt sie, dass die Geschichten über das Land voller Feenstaub, Kobolde, Elfen, Wupfel, Spiegelfalter und anderer Fabelwesen wahr sind. Damit beginnt für Fina eine fantastische Abenteuerreise. Sie wird zur Fee, reist nach Pipinea und sucht zusammen mit ihrem gefiederten Freund Pampusch nach der Feenkönigin Tula. Denn nur deren magischer Purpurstaub kann Serafinas Oma vielleicht zurückholen. Doch Pipinea droht großes Unheil. Die Königin ist verschwunden und dunkle Mächte streben nach der Herrschaft über das Land und die Quellen des magischen Purpurstaubs. Ungewollt gerät Serafina zwischen die Fronten eines aufziehenden Krieges. Serafina muss im Kampf für das Gute Mut und Selbstvertrauen beweisen. Denn nur, wenn sie ihre Ängste überwindet, kann sie das Feenreich und seine magischen Geschöpfe retten! Jana Paradigi hat ein magisches Fantasy-Abenteuer voller Feen, sprechender Tierwesen und Magie für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren geschrieben, das Fans von Chris Colfer, Angie Sage, Kathrin Tordasi, Benedict Mirow oder Anna Ruhe begeistern wird. Das zauberhafte Cover des Fantasy-Romans gestaltete Heiko Hentschel, Autor der Glas-Trilogie.
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Jana Paradigi
Purpurstaub Magie
Jana Paradigi
Purpurstaub Magie
www.janaparadigi.de
Content Notes:
Mobbing in der Schule, Trauer, Tod durch Krankheit, Tod im Kampf, Krieg
1. Auflage Mai 2022
Copyright @ Novel Arc Verlag, Fridolfing 2022
Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing
Alle Rechte vorbehalten.
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Umschlaggestaltung und Illustrationen: Heiko Hentschel
Lektorat: Ursula Tanneberger
Korrektorat: Sophie Weigand (Kia Kahawa)
E-Book Erstellung: Novel Arc Verlag
Gebundene Ausgabe: 978-3-98595-113-0
E-Book: 978-3-910238-00-8
Für meine Oma, die mir die Magie
des Geschichtenerzählens vererbt hat.
Und für Semmy, Pampusch und Tönny,
von denen ich nicht genug gelernt habe.
Die Verwandlung
Es war ein sonniger Sonntag im Juni. Serafina Nightingale schlich sich, herausgeputzt wie sie war, aus dem Haus, um nicht mit in die Kirche gehen zu müssen. Sie hatte beschlossen, nicht mehr an Gott zu glauben. Sie wollte nichts mehr über jemanden hören, der derjenigen wehtat, die sie am meisten liebte.
»Gott ist unfair«, erklärte sie im Vorbeigehen ihren Vögeln draußen in der Voliere und dachte insgeheim, dass ihm alles genauso egal war wie den Erwachsenen. Wenn Gott ein Kind wäre, dann sähe die Welt ganz anders aus. Dann müsste keiner sterben oder unglücklich sein. Ob er überhaupt wusste, was eine Oma war? Wie wichtig sie war?
Falls ja, zeigte er es nicht. Und auch ihre Eltern wollten nichts von Serafinas rebellischen Ansichten hören. Deshalb lief sie vor dem Gottesdienst davon. Sie nutzte einen unbeobachteten Moment, huschte in ihrem Sonntagskleid aus dem Haus, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte ohne Ziel drauflos.
Ihr Vater würde ernsthaft sauer sein und ihre Mutter würde ihr mal wieder Hausarrest aufbrummen, aber das war egal. Hier in dieser öden, kalten Stadt hatte Serafina ohnehin keine Lieblingsplätze, so wie früher auf dem Land. Da konnte sie genauso gut auf dem Bett liegen und vor sich hin träumen. Doch jetzt wollte sie erst mal möglichst weit weg von ihren Eltern und von diesem gemeinen Gott.
Schneller und schneller trat Serafina in die Pedale, bis die Häuser nur so an ihr vorbeiflogen. Eintönige, graue Reihenhäuser. Eine Tür, ein Küchenfenster, darüber zwei weitere, bei denen die Jalousien geschlossen waren. Davor ein kleines Gartenstück, mal mit Büschen und Blumen bepflanzt, mal eine kurz geschorene Rasenwüste. Warum musste in der Stadt alles so hässlich sein? Die Welt war schrecklich. Keiner sah, wie sehr Serafina litt, keiner rettete sie.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Straße verschwand hinter einem salzigen Nebelschleier, doch Serafina hielt nicht an. Sie wollte ihre Trauer und Wut über all die Ungerechtigkeit aus sich heraustreten.
Gleich nach den Halbjahreszeugnissen war sie mit ihrer Familie zu Oma Heide in die Stadt gezogen. »So ist es am einfachsten«, hatte ihr Vater gesagt. »Dann müsst ihr euch nur noch bis zu den Oster- über die Pfingstferien zur großen Sommerpause durchhangeln, schon ist das Schuljahr vorbei, ihr habt neue Freundschaften geschlossen, und alles ist gut.«
Nichts war gut. Sie hatte ihre alten Freunde Theo und Gustav verloren, ihren geliebten Wald aufgeben müssen und war stattdessen in einer grauen, gemeinen Welt gelandet.
Ihre Klassenkameradinnen aus der Sechsten riefen Tomatenkopf oder Hexe Hühnerbein hinter ihr her, weil sie klein war, strubbelige rote Haare und die Streichholzfigur von ihrer Mutter hatte – im Gegensatz zu Luise. Die war zwei Köpfe größer als sie. Klar, dass die anderen in der Klasse sich mit Luise zusammentaten und niemand Serafina half.
»Gemeines Riesenmonster«, hatte Serafina am Freitag nach dem Unterricht mutig zurückgerufen und war davongerannt. Luise und ihre Püppchen-Gang waren hinterhergespurtet, aber ohne Erfolg. Denn rennen konnte Serafina wie keine andere, rennen und klettern.
Zu Hause hatte sie sich zu ihrer Oma geflüchtet. Sie war das einzig Gute am Umzug. Mit ihr konnte Serafina sprechen. Sie hatte immer Zeit, hörte ihr zu und konnte unglaublich spannende Geschichten erzählen.
Der Gedanke gab Serafina neue Kraft. Wie eine Profirennfahrerin jagte sie durch die Siedlung, halb blind vom Weinen bog sie in wilder Fahrt um Straßenecken, kam an einem Schrottplatz vorbei und blieb schließlich kaputt und verschwitzt in einer Sackgasse stehen.
Ihr Gesicht war verklebt von Tränen und Rotz. Aber ihre Mutter war nicht da, um ihr ein Taschentuch zu geben. Also schniefte sie einmal kräftig, schluckte den Schleim hinunter, nahm einen Rockzipfel und rieb sich Augen und Wangen, so wie sie es sonst mit ihren Trikots tat.
Ein seltsam bekannter Geruch ließ sie innehalten und sich umsehen. Wo war sie überhaupt? Das war nicht mehr die Siedlung, in der ein Haus wie das andere aussah. Hier standen die Gebäude nicht mehr Wand an Wand nebeneinander. In dieser Gegend schien die Natur das Sagen zu haben.
Efeu, Wein und Knöterich krochen die Mauern entlang, knorrige, kahle Bäume ragten in den Himmel und verdeckten die Sicht auf die Villen, die wie kleine Inseln in einem Meer aus Gestrüpp standen. Eigentlich kein besonders einladender Anblick, aber Serafina erschien das Knäuel aus wild wuchernden Pflanzen wie eine himmlische Oase. Überall krabbelte, raschelte und rauschte es. Das Aroma alter, harziger Borke gemischt mit gammelndem Laub lag in der Luft. Hier und da pfiff ein Vogel.
Fasziniert schob Serafina ihr Fahrrad den Fußweg entlang und stieß einen Jubelschrei aus, als sie das Wunder sah. Vor ihr, in dieser Sackgasse mitten in der Stadt, war ein Wald, ein richtiger grüner, nadeliger Wald. Mit pochendem Herzen ging sie näher. Der Duft von frischer Erde, Wurzeln und Tannenzapfen verdrängte den Modergeruch der Häuser und Gärten. Die Baumwipfel wiegten sich im Wind hin und her, als würden sie ihr zuwinken.
Serafina folgte der Einladung. Flink lehnte sie ihr Fahrrad an einen Zaun und schloss es ab. Sie wanderte einen schmalen Trampelpfad in den Wald hinein. Weiter und immer weiter, bis sie nach einem kleinen Marsch überraschend auf eine Blumenwiese stieß.
Wenn Oma das doch sehen könnte. Vielleicht würde sie das gesund machen, wenn sie Bäume um sich hätte, die ihr zuhören und sie trösten. Bei diesem Gedanken schloss Serafina die Augen, streckte die Arme zur Seite aus und ließ sich in die Wiese fallen. So, als wäre ihr Weg hier für immer zu Ende.
Sie atmete tief ein und aus und lauschte. Um sie herum summte, brummte und raschelte es. Sie glaubte, kleine Füße stampfen zu hören. Doch als sie sich umdrehte und vor sich ins Gras blickte, sah sie nur einen Schmetterling, der sich die Sonne auf das Köpfchen scheinen ließ.
»Kannst du nicht machen, dass es meiner Oma besser geht, kleiner bunter Freund? Ich brauche Oma Heide doch so sehr. Sie ist die Einzige, die mich wirklich versteht.«
Ihr Vater war nur selten da, redete davon, dass alles teurer geworden sei und dass das Geld hinten und vorne nicht reichte. Also ging ihre Mutter seit Neuestem dreimal die Woche im Supermarkt arbeiten.
»Um ihren Teil zum Lebensunterhalt beizusteuern«, wie beide Serafina mit feierlicher Miene erklärt hatten. Mist war das!
Alles war kompliziert geworden. Die neue Schule, die Sache mit dem Geld und dann Oma Heides Krankheit.
Dabei waren sie doch in die Stadt gezogen, um ihr zu helfen. »Sie ist alt und schafft die viele Arbeit, die in so einem großen Haus anfällt, nicht mehr alleine«, hatte ihre Mutter erklärt. Erst später hatte Serafina erfahren, dass es ihrer Oma nicht gut ging.
Eine weitere Träne rann ihr über die Wange und tropfte in die Wiese. »Bitte, kleiner Freund! Wenn du mit den Flügeln schlägst, heißt das, Oma wird wieder gesund.«
Doch der Schmetterling bewegte sich nicht, hockte träge an einem Halm und ließ sich vom Wind schaukeln. Eigentlich liebte Serafina Schmetterlinge, und Pfauenaugen besonders, doch dieses hier war wie ihr Bruder: ein echter Fiesling. In der Schule tat Titus neuerdings so, als wäre sie eine Fremde. Er ignorierte sie oder nannte sie »lästige Göre«.
»Und das alles nur, um bei den Mädchen Eindruck zu schinden. Weil er ja jetzt soooo cool ist«, schimpfte Serafina und scheuchte den Schmetterling davon. »Wie es mir geht, ist euch allen total egal!«
Mit einem tiefen Seufzer blickte Serafina auf ihr frisch gewaschenes Sonntagskleid. Sie hasste Kleider. Der gemusterte Rock blähte sich im Wind. Die gelben Kringel wurden zu unzähligen Rettungsringen auf einem tosenden, tiefblauen Meer. Normalerweise hätte sie aus diesem Gedanken eine Geschichte gemacht, in der sie eine grimmige Piratenbraut wäre. Oder vielleicht eine mit einem Seeungeheuer, das verrückt nach gelben Sachen war. Doch heute erinnerten die Kringel sie zu sehr an die Tapete in Oma Heides Zimmer.
Traurig legte sie sich zurück ins Gras, drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Sie glaubte, wieder das leise Trippeln winziger Insektenbeine zu hören. Wahrscheinlich Ameisen, die auf der Suche nach dem nächsten Picknickkorb durch den Grashalmdschungel marschierten. Doch auch diese Vorstellung konnte Serafina nicht trösten.
Seit Wochen war ihre Großmutter nun schon krank. Erst nur ein bisschen müde und schlapp, war sie mittlerweile sogar zu schwach, um zum Essen aufzustehen und nach unten in ihre eigene Küche zu kommen.
Serafina schob die Hand zwischen die Grashalme und grub ihre Finger in die Erde. Eine blau glänzende Fliege kam herangedüst und kreiste brummend ein paarmal über ihrem Arm. Schließlich landete sie auf einer der vielen Sommersprossen und begann mit dem Rüssel über Serafinas Haut zu tupfen. Genau wie Mama. Die staubsaugt dauernd, um nicht an Oma denken zu müssen.
»Heide macht’s nicht mehr lang«, hatte Titus neulich gesagt. Serafina schluchzte. Der ist auch schon wie ein Erwachsener. Den interessieren nur noch Mädchen und das Rennrad, auf das er spart.Keinen kümmert es, was mit Oma passiert, keiner tut was.
Mit einer kräftigen Armbewegung schüttelte Serafina die Fliege ab, richtete sich auf, wischte sich über die Augen und kniff sich ins Ohrläppchen – wie immer, wenn sie nicht wusste, wohin mit all ihrem Ärger. Wegfliegen können, das wäre schön. Sich vom Wind davontragen lassen, weit, weit weg. Zu Tula, der Feenkönigin.
Serafina blickte in den Himmel. Eine der dicken weißen Wolken wurde zum Schiff. Der Kapitän trat an die Reling, warf ihr das eine Ende einer Strickleiter herab und machte ein Handzeichen, dass sie hochklettern und mitkommen sollte. Doch Serafina schüttelte den Kopf, also segelte er ohne sie weiter.
Wolken konnten unendlich lange fliegen, ohne müde zu werden. Sogar bis nach Afrika. Serafina kannte Afrika aus Erzählungen und aus ihren Geografiebüchern. Dort gab es Löwen und wilde Elefantenherden. Da lebten die Giraffen aus dem Zoo, ohne eingesperrt zu sein, und fraßen Blätter von Bäumen, die so hoch waren wie Häuser.
Und sie wusste, dass auch Schmetterlinge manchmal verreisten. Dass sie zum Mittelmeer flogen, hieß es in ihrem Tierlexikon. Der Admiral zum Beispiel und der Distelfalter. Ihr Pfauenauge nicht. Das hatte keine Zeit. Denn ein Pfauenauge lebte maximal eineinhalb Monate – also nicht mal bis zu den großen Ferien.
Aber Oma ist kein Schmetterling, dachte Serafina schnell, sie ist eher eine Wolke. Sie war schließlich schon immer gern und viel in der Welt unterwegs gewesen. Auf allen Kontinenten. Und sie hatte Serafina immer etwas Kleines mitgebracht. Eine geschnitzte Figur, ein Lederarmband oder ein paar Postkarten.
Wenn ihre Oma dann in den Ferien zu Besuch auf den kleinen Gutshof gekommen war, hatte sie das Geheimnis hinter dem Geschenk gelüftet, von sprechenden Schildkröten berichtet, die in den smaragdgrünen Meeren auf den Karten lebten, von exotischen Früchten – der Lieblingsspeise des mausgroßen Drachen, der jetzt als Statue auf Serafinas Schreibtisch stand –, und der glühend heißen Wüstensonne, die einem das Gesicht verbrennen konnte.
Aber erst, wenn Oma Heide Geschichten über Pipineaund Königin Tula erzählte, fühlte Serafina sich, als wäre sie dabei – mittendrin im Land der Feen, Wupfel und Spiegelfalter.
Dorthin träumte sie sich, wenn ihre Eltern stritten, wenn die Lehrer schimpften oder Luise sie ärgerte. In Pipinea lachte niemand über die Fußballtrikots, die sie sammelte und so gern trug. Da interessierte es keinen, ob sie auf Englisch »Tibby ist eine Katze« sagen konnte oder vor dem Abendbrot ihre Matheaufgaben machte. Dort wurde sie geliebt, wie Oma Heide sie liebte. Einfach so.
»Wenn du weiter trübsinnig schaust, drück ich dich, bis dir das Glück aus den Ohren schwappt«, drohte ihre Großmutter regelmäßig, wenn Serafina verweint aus der Schule kam. Wenn Luise und die Mädchengang sie ausgelacht hatten, weil sie sich nicht schminken wollte und auch nicht den Stars aus den Medien in Aussehen und Tanz nacheiferte.
Lippenstift und Puder waren etwas für Erwachsene. Angemalt sah das aus und unpraktisch war es außerdem. Genau wie Miniröcke oder Kleider. Wenn man durch Gestrüpp rannte, piekten einen die Disteln an den Beinen, und beim Klettern musste man aufpassen, dass niemand die Unterhose sah.
Theo und Gustav hatten sich nie über ihr Äußeres beschwert. Letzten Sommer waren sie zusammen stundenlang im Wald umhergestreift, hatten wilde Brombeeren gepflückt, im Maisfeld Verstecken gespielt, Staudämme im Bach gebaut und Baumwettklettern veranstaltet. Hier in der Stadt taten die Jungs so, als wären Mädchen giftig.
Wie gern wäre Serafina ein Junge gewesen. Sie hasste es, dass sich ihr Körper veränderte. Die ersten Wölbungen auf ihrer Brust versuchte sie mit noch weiteren Hemden zu verbergen. Bloß nicht groß werden. Erwachsene wie ihr Vater dachten nur an sich und das Geld. Nur Oma Heide nicht. Die war so viel wert wie hundert Freundinnen und Freunde zusammen. Sie durfte nicht sterben!
Serafina ließ den Blick über die Wiese wandern. Ihre Wiese, die sie auf so wundersame Weise entdeckt hatte. So wie man nur etwas entdecken konnte, wenn man fest an Wunder glaubte.
Mit einem lauten Seufzer blies sie einer Pusteblume die Haare vom Kopf und rappelte sich auf. Sie musste los. Der Gottesdienst war sicher vorbei und ihre Mutter kochte bestimmt schon Mittagessen.
Schweren Herzens ging sie den Pfad zurück zur Straße und holte ihr Fahrrad. Die Häuser wirkten mit einem Mal griesgrämig und verlassen. Wind fegte durch das Dornengestrüpp. Die nackten Äste der Bäume klapperten wie Geistergerippe. Serafina fröstelte.
Ein schneller Blick zurück. Da war er noch. Der Wald. Ihr Wald. »Bis bald«, flüsterte sie den Bäumen zu. Dann schwang sie sich aufs Rad und fuhr mit dem Wissen heimwärts, dass sie zurückkommen würde. In ihr geheimes Reich.
»Wo hast du dich nur wieder herumgetrieben, Fina? Schau dir nur das Kleid an, so zerknittert und fleckig. Es ist immer dasselbe mit dir. Man kann dich keine Minute in etwas anderem als deinen Schmuddelsachen alleine lassen.«
Serafinas Mutter stand mit Schürze und Kochlöffel bewaffnet im Flur und schüttelte den Kopf. »Und glaub ja nicht, dass Papa das Gezeter von heute Morgen vergessen hat.«
Serafina rieb sich die Nase und schaute zu Boden. Und wenn schon.
Als sie klein gewesen war, hatte sie sich mit ihrer Mum noch prima verstanden. Sie hatten rumgealbert und gemeinsam bei Oma Heide und Opa Heinz gesessen, um ihren Geschichten zu lauschen. Denn auch in Serafinas Großvater hatte ein Erzähler gesteckt. Seine Spezialität waren Piratengeschichten gewesen. Als Einleitung hatte er seine bauchige Tabakspfeife angezündet und mit den Rauchschwaden Fantasiemeere in das Wohnzimmer gezaubert. Aber Opa Heinz war schon lange tot.
Manchmal glaubte Serafina, auch noch heute etwas von dem herben Tabakduft im Haus der Großeltern zu riechen. Dann stellte sie sich vor, dass ihr Opa hinter ihr stehen würde, mit seinem knittrigen Gesicht, den riesigen ledrigen Händen und dem wolligen grauen Haar. Er hätte bestimmt nicht zugelassen, dass ihre Eltern stritten und Oma Heide immer kränker wurde.
»Wie geht es Oma? Wird sie mit uns essen?«, fragte Serafina.
Ihre Mutter seufzte. »Sie fühlt sich nicht besonders wohl. Aber du kannst ihr nachher gern ihren Teller ans Bett bringen. Bis dahin mach am besten die Voliere sauber und gib den Biestern Futter.«
Mit Biestern waren die zwei Beos gemeint, die Großmutter im Garten in einem vergitterten, überdachten Gehege hielt. Beos sind ein bisschen größer als eine ausgewachsene Amsel. Ihr Federkleid schillert tiefschwarz-violett mit jeweils einem weißen Punkt am hinteren Teil ihrer Flügel. Ihre Beine und die kleinen Hautlappen in ihrem Genick sind leuchtend gelb und werden nur noch durch den grell orangefarbenen Schnabel, mit dem die Vögel das Fruchtfleisch der verschiedensten Obstsorten herauspicken, übertroffen.
Serafina liebte die beiden Beos heiß und innig und hatte seit dem Umzug die Verantwortung für ihre Pflege übernommen. Vor und nach der Schule rannte sie als Erstes in den Garten, um Pampusch und Tönny zu begrüßen und sie wurde stets mit einem fröhlichen Pfiff und dem perfekt imitierten Lachen von Oma Heide empfangen. Beos können jedes Geräusch täuschend echt nachmachen, vom Hundegebell über das Telefonklingeln bis zum Quietschen des Garagentors.
»Hallo, ihr Rabauken. Ihr habt ja wieder mächtig viel Dreck gemacht. Dabei sollt ihr die Früchte doch essen und nicht an den Wänden verteilen.« Serafina lachte.
Die zwei Beos hüpften ohne ersichtliche Reue von Stange zu Stange und beobachteten sie beim Aufräumen, Futterstelle putzen, Kot aus dem Sand schaufeln, Wassernapf tauschen.
»Dreckspatz!«, rief Tönny und gab gurgelnde Geräusche von sich.
Pampusch dagegen hatte es auf die Schale mit frischen Erdbeerstückchen abgesehen, die Serafina mitgebracht hatte. Er flatterte auf ihren Arm und versuchte eines zu stibitzen.
»Du gefräßiger Lümmel!« Sie nahm ihn auf die Hand und setzte ihn auf dem kleinen Holzplateau an der Wand ab. »Aber schlag dir den Bauch nicht zu voll, ich hab nämlich noch eine Überraschung für euch.«
Sie griff durch die Käfigtür, hob eine breite, flache Wanne mit Wasser herein und stellte sie auf den Boden. »Heute ist Badetag.«
Wie so oft zeigten sich die unterschiedlichen Charaktere der zwei Beos. Pampusch ignorierte den Vogelzuber und widmete sich voll und ganz den Erdbeeren. Tönny dagegen beäugte die Umgebung, versicherte sich, dass keine Feinde im Garten lauerten und stürzte sich dann gierig auf das erfrischende Nass.
Das war eine Schau! Als Erstes stakste der Vogel in die Mitte des Beckens und prüfte misstrauisch mit dem Schnabel die Güte des Wassers. Nach drei Schlucken schien er zufrieden, tauchte genüsslich seine Schwanzfedern ein und wedelte langsam mit ihnen hin und her. Nach diesem Vorspiel breitete er die Flügel aus, zog sie durchs Becken und begann ausgelassen und wild spritzend das eigentliche Bad.
Nichts im Umkreis von einem halben Meter blieb trocken, auch Serafina nicht. Immer wieder schüttelte sich der Beo wie ein pudelnasser Hund, bis das Becken leer war und Serafinas Mutter zum Essen rief.
An diesem Sonntag gab es Auflauf und zum Nachtisch Birnenkompott. Dass ihr Vater noch immer sauer wegen ihres morgendlichen Verschwindens war, erkannte Serafina an der steilen Falte zwischen seinen Augenbrauen. Trotzdem sagte er kein Wort, blickte starr vor sich hin und schob geräuschvoll eine gehäufte Gabel nach der anderen in seinen Mund.
Für ihn waren Glaube, Politik und Wirtschaft wichtige Sachen. Täglich las er die Zeitung, ging bei jeder Wahl ins Rathaus, um dort auf große Zettel Kreuze zu machen und sah sich langweilige Sendungen im Fernsehen an, bei denen langweilige Leute über langweilige Themen sprachen. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er Oma Heides Sohn war. Aber auch Serafina und ihre Mutter hatten bis auf die roten Haare und die zierliche Figur wenig gemeinsam.
Das Essen verlief, ohne dass jemand ein Wort sprach. Serafinas Vater löffelte das Kompott so schnell in sich hinein, dass die Mutter missbilligend die Augenbraue hob und sich räusperte. Das war alles. Zum Schluss schöpfte sie eine Portion von allem auf einen extra Teller, stellte ihn zusammen mit einem großen Glas Wasser auf ein Tablett und schickte Serafina nach oben ins Krankenzimmer.
Unsicher, ob ihre Großmutter schlief, klopfte Serafina an die Tür, bevor sie sie vorsichtig öffnete. Doch Oma Heide war wach und lächelte. »Komm rein, mein Schatz. Ist schon wieder Fütterungszeit?«
»Fütterungszeit ... so wie im Zoo.« Serafina prustete los und verschüttete auf ihrem Weg vor Lachen beinahe das Essen auf die Bettdecke.
Sie sieht schon wieder viel rosiger im Gesicht aus, dachte sie, als sie das Tablett abstellte. Und Appetit schien die Oma auch zu haben, denn sie griff ohne Zögern nach der Gabel und tauchte sie in das Stück Auflauf.
»Ich muss dir etwas ganz Wichtiges erzählen ...«, begann Serafina voller Ungeduld, nachdem sie es sich am Fußende des Bettes bequem gemacht hatte.
»So? Was gibt es denn Aufregendes, Fina?«
»Als ich heute Morgen durch die Siedlung gefahren bin, habe ich einen Wald entdeckt. Einen echten Wald, mit riesigen alten Bäumen und einer versteckten Blumenwiese innen drin. Das ist das Allerallerschönste, was ich seit Langem erlebt habe. Endlich gibt es wieder einen Platz für mich, für mich ganz alleine!«
Die Oma nickte und kaute eine Weile lang.
»Gleich morgen werd ich wieder hinradeln, um den Wald näher zu erkunden. Der ist so groß, da werd ich Wochen brauchen, bis ich ihn ganz kennengelernt habe.«
Laut gluckernd spülte die Großmutter den letzten Brocken mit Wasser hinunter, tupfte sich ein bisschen Soße vom Mund und sagte mit sanfter und etwas nachdenklicher Stimme: »Dann hast du also den Purpurwald gefunden. Das überrascht mich nicht bei deinem Gespür fürs Fantastische.«
»Den Purpurwald?« Serafina riss die Augen auf. »Den Purpurwald aus deinen Geschichten?«
»Ja, mein Engel, genau den. Aber du nimmst ihn natürlich nur durch die begrenzten Sinne eines Menschen wahr. Schließlich sind für dich die Bewohner von Pipinea unsichtbar, auch wenn sie auf der anderen Seite des Übergangs genau vor dir stehen oder dich auf dieser Seite gut versteckt auf deinen Streifzügen durch den Wald begleiten.«
Serafinas Stirn und Wangen brannten regelrecht vor Aufregung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von dieser Fantasiewelt gehört und sich dorthin geträumt. Und nun, ganz plötzlich, sollte Pipinea Wirklichkeit geworden sein? Wirklich, und doch wieder unerreichbar?
»Dann kann ich all die Wesen niemals treffen? Keinen der blinkenden Spiegelfalter, nicht einen miesen Wurzelwurm oder winzigen Wupfel? Und was ist mit den Feen? Gibt es denn keine Möglichkeit, Tula zu sehen?«
Der Blick der Großmutter wanderte zum Schälchen Birnenkompott in ihrer Hand. Die Antwort dauerte lange. Schließlich hob sie den Kopf und zwinkerte Serafina verschwörerisch zu. »Doch, es gibt einen Weg, aber der ist gefährlich. Denn mit dem magischen Pulver, das einem Menschen die Augen öffnet, lockt man gleichzeitig die Fänger an wie der Fisch die Katze. Aber ich glaube, von den Fängern habe ich dir noch gar nicht erzählt, oder?«
Serafina schüttelte heftig den Kopf und rückte neugierig ein Stückchen näher.
»Ganz zu Anfang, als die Welt von Pipinea gerade erst aus herabregnendem purpurfarbenem Sternenstaub entstanden war, da gab es neben den verschiedenen Feenarten und anderen Bewohnern, die du bereits kennst, auch menschenähnliche in der Welt. Der Legende nach entstanden sie, als eine Gruppe junger Spiegelfalter sich unerlaubterweise davongeschlichen hatte, um den äußersten Rand des Purpurwalds zu erkunden.
Genau in dem Moment, als sie die Grenze zur Menschenwelt erreichten und neugierig mit ihren Flügeln flatterten, fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf sie. Das Licht reflektierte von den Flügeln, vermengte sich mit dem Purpurstaub, der damals noch am Körper der Falter klebte, und fiel auf einen zufällig vorbeispazierenden jungen Mann auf der Straße vor dem Wald.
Die Macht des Staubs erschuf mehrere Spiegelbilder dieses Menschen in Pipinea. Und diese Abbilder wurden Schnem getauft. M-E-N-SCH, nur anders herum.
Um aber solche unkontrollierten Zwischenfälle zukünftig zu vermeiden, beschlossen die Anführer aller Wesen im Reich, dass fortan ausschließlich die Feen den purpurnen Sternenstaub für den Übergang in andere Welten nutzen durften. So wurde die Feenkönigin Tula zur obersten Hüterin dieses Zaubers.
Doch der Mann, der Vorbild für die neuen Kreaturen gewesen war, hatte durch seine habgierigen Gedanken einen giftigen Samen in die Seelen der Schnem gepflanzt. Und dieser Samen wuchs und ergriff über die Jahre und Jahrzehnte ganz allmählich und unbemerkt Besitz von ihnen. Damit begann eine dunkle Zeit.
Kucan, der mächtige Anführer der Schnem, redete seinem wachsenden Volk ein, dass es von den Feen unterdrückt und absichtlich kleingehalten würde. Er rief zum Kampf auf und forderte die gestohlene Macht zurück. Ein schrecklicher Krieg um den Besitz des Purpurstaubs entbrannte.
Wochenlang tobten Schlachten in Pipinea. Dann endlich konnten Kucan und seine Mannen besiegt werden. Doch der Preis dafür war furchtbar. Das Land lag in Schutt und Asche. Fast die Hälfte aller Bewohner war im Kampf gefallen.
Zur Strafe wurden die wenigen übrig gebliebenen Schnem für immer in die Menschenwelt verbannt. Und es war verboten, ihren Namen laut auszusprechen. Daher nannte man sie in den Geschichten fortan nur noch Feenfänger. Denn in ihrem Wahn, die Macht des Sternenstaubs wiederzuerlangen, hatten sie eine Methode entwickelt, Feen in sich aufzusaugen und so den kostbaren Staub zu filtern.«
»Und die Feenfänger versuchen heute immer noch zurückzukehren?«, fragte Serafina gespannt.
»In Pipinea geht seit Langem das Gerücht um, die Schnem hätten gelernt, auf der Menschenseite im Wald zu überleben und würden ihre Kräfte sammeln, um einen erneuten Angriff zu starten.«
Serafina überlegte. Dann lebten die Fänger also wahrscheinlich in ihrem neu entdeckten geheimen Reich! Ob man sie wohl sehen konnte? Aber wie genau sahen sie in dieser Welt aus?
»Bist du mal einem begegnet?«, fragte sie schließlich.
Oma Heide wiegte den Kopf. »Ich glaube schon. Sie wohnen meines Wissens im Geäst der uralten Bäume am Rand des Purpurwalds. Wenn du ganz aufmerksam bist, fühlst du sie vielleicht als blasse Schatten an dir vorüberhuschen.«
Langsam bekam Serafina es mit der Angst zu tun. »Sind sie auch für mich gefährlich?«
»Nein, ich denke, so lange du dich in der Menschenwelt befindest, nicht. Aber genug der Fragerei. Ich muss mich ein bisschen ausruhen, mein Schatz.«
Serafina nickte, gab ihrer Großmutter einen dicken Kuss auf die Wange, stand auf und ging mit dem Tablett hinaus. Aber in ihr brodelten Neugier und Aufregung. Da war noch so vieles, was sie wissen wollte.
Wie gern wäre sie jetzt mit ihrer Oma losgezogen, um den Wald zu erkunden und Schnem zu jagen. Doch um draußen spielen zu können, musste man gesund sein. Also ließ sie Oma Heide allein, damit sie sich ausruhen konnte.
Den Nachmittag verbrachte Serafina damit, sich durch ihre Hausaufgaben zu quälen. Am schlimmsten war Mathe. Diese blöden Textaufgaben machten sie wahnsinnig. Wen interessiert schon, wie viele Bananen jeder Affe bekommt, wenn es insgesamt drei Affen gibt und sie sich die fünf Bananen, die auf jeder der vier Palmen wachsen, teilen sollen. In Wahrheit essen die Viecher doch eh so viele, wie sie gerade Lust haben.
Verärgert warf sie ihren Füller auf den Tisch. »Ich kann das nicht. Das wird nie was!«
In zwei Wochen war die letzte große Prüfung und immer noch wollte der Stoff in ihrem Kopf einfach keinen Sinn ergeben. Dabei hatte sie sich nach dem Umzug so viel vorgenommen. Hatte fleißig gelernt, geübt, im Unterricht aufgepasst und ordentlich mitgeschrieben. Sie wollte ihren Eltern beweisen, dass sie die neue Schule schaffte. Aber es war verdammt schwer so alleine.
Wie gern hätte sie wenigstens ab und zu die Hausaufgaben bei einer Freundin abgeschrieben. Aber alle in der Klasse hielten zu Luise. Bis auf Marco, der saß schräg vor ihr, drehte sich manchmal um und lächelte sie an. Aber ein Lächeln löste keine Mathegleichungen. Als sie versucht hatte, ihn um sein Heft zu bitten, hatte er nur so komisch geguckt und rumgestottert. Typisch.
Alle waren sie gemein, genau wie die Schnem. Mit Mühe schluckte Serafina den Kloß in ihrem Hals hinunter, klappte das Mathebuch zu und räumte die Sachen in ihren Schulranzen. Schluss für heute mit der Quälerei.
Niedergeschlagen warf sie sich auf ihr Bett, breitete die Arme zur Seite aus und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den gemalten Sternenhimmel an der Zimmerdecke. Wie es wohl ausgesehen hat, als Purpurstaub vom Himmel geregnet und daraus Pipinea entstanden ist?
Sie schloss die Augen und stellte sich die riesigen Ströme von Sternenstaub vor, wie sie vor einem tintenblauen Nachthimmel als violett glitzernde Wolken auf die Erde niederschwebten. Sie sah die Körnchen ganz nah, wie sie vor ihr tanzten und an ihr herabrieselten. Sie konnte fast das Prickeln auf ihrer Haut spüren.
Im Zeitraffer entstanden die verschiedensten Landschaften und Kreaturen. Feen flogen lachend und im Reigen tanzend um ihren Kopf, Spiegelfalter segelten übermütig zwischen den Bäumen des Purpurwalds hindurch und eine ganze Schar strubbeliger Wupfel tobte fröhlich durch die neugeborene Landschaft.
Pipinea, das ist meine wahre Heimat, dachte Serafina. Wie gern wäre sie jetzt in den Wald geradelt, aber draußen wurde es bereits dunkel und an den Geräuschen unten in der Küche erkannte Serafina, dass ihre Mutter das Abendbrot machte. Seufzend richtete sie sich auf. Dann eben morgen.
Wenig später saß Serafina mit ihren Eltern am Tisch, biss abwechselnd von ihrem Marmeladenbrot ab und dann wieder von einer Karotte, die sie vorher in Joghurt-Dip tunkte. Doch in Gedanken war sie immer noch im Land der Feen.
Sie überlegte sogar, ob sie ihren Eltern von ihrer Entdeckung erzählen sollte, aber dann hätten sie sich vielleicht an die angedrohte Strafe erinnert und ihr wirklich Hausarrest aufgebrummt. Außerdem hatten sie für so etwas bestimmt kein Verständnis.
»Hast du deine Hausaufgaben gemacht, junge Dame? Du weißt, wie wichtig deine Ausbildung ist, oder?«, fragte ihr Vater mit strengem Blick.
Junge Dame, wenn ich das schon höre! Serafina stopfte sich den Mund mit Brot voll. Er wusste ganz genau, dass sie mit Mathe Schwierigkeiten hatte! Aber es waren ja alle zu beschäftigt, um ihr zu helfen.
Ohne eine Antwort abzuwarten referierte ihr Vater darüber, dass man gute Noten brauche, um später studieren zu können. Titus galt da natürlich wieder mal als leuchtendes Beispiel. Er war in fast allen Fächern ein Ass. Seiner Schwester Nachhilfe zu geben, dafür war ihm seine Zeit allerdings zu kostbar. Je älter ein Mensch wurde, umso kürzer schienen die Tage für ihn zu werden.
Als Serafina fertig gekaut hatte, antwortete sie: »Ja, Papa. Die Hausaufgaben sind fertig.« Dabei hoffte sie, dass er die verräterische Röte nicht bemerkte, die ihr beim Lügen immer in die Wangen schoss. Mit ihrem unschuldigsten Lächeln saß sie noch einen Moment da, sammelte Brotkrümel vom Teller und bat schließlich darum, in ihr Zimmer gehen zu dürfen.
Dort lag sie bis spät in die Nacht wach und blätterte in ihrem Buch über Feen und Elfen. Und noch im Traum tobte sie mit Tula durch das Feenschloss und tanzte durch Sternenstaubregen. Doch etwas war anders als sonst. Ein dunkler Schatten lauerte hinter Ecken und Bäumen. Die Schnem waren zurück und sie planten nichts Gutes.
Am nächsten Tag war Serafina nur von einem Gedanken erfüllt: so schnell wie möglich in ihren Wald zurückzukehren.
Gleich nach der Schule eilte sie nach Hause, versorgte die Vögel, wartete ungeduldig auf das Mittagessen und radelte danach wie der Wind den langen Weg durch die Siedlung, am Schrottplatz vorbei, bis sie schließlich mit klopfendem Herzen in der Sackgasse ankam.
Da war er, der Purpurwald. Grün, groß und voller wunderbarer Geheimnisse. Wo sollte sie mit ihrer Entdeckungstour anfangen? Sie stieg ab, schloss das Fahrrad an einen Laternenpfahl an und schlenderte die Straße entlang.
Wieder fielen ihr die alten Villen auf. Sie wirkten dreckig und verwahrlost. An einigen Stellen bröckelte der Putz von den Wänden, in den Dachrinnen wuchs Moos und die Fenster waren verschmiert oder von innen mit schweren, dunklen Gardinen verhängt.
Hier wohnen bestimmt keine Kinder, dachte Serafina, während sie vom Zaun aus versuchte, durch eine der Glasscheiben zu spähen. Und wenn, dann müssen sie ein schreckliches Leben führen, eingesperrt in so ein düsteres Zuhause.
In den Gärten wucherte das Unkraut. Die meisten Büsche und Bäume waren abgestorben. Sie wirkten seltsam verdreht und trotz des helllichten Tags gruselig.
Vielleicht sind die Bewohner weggezogen? Neugierig ging Serafina zur Eingangspforte des ersten Hauses und las das Klingelschild: »Dr. jur. H. Kemper. Rechtsanwalt.«
Sie ging weiter. Am nächsten Eingang stand in Großbuchstaben der Name Strauss, dann folgte das Heim von Liselotte Glutschmitt, wie ein angelaufenes Messingschild mit verschnörkelter Schrift verriet.
Auf der anderen Straßenseite fand Serafina einen Briefkasten mit dem Namen L. Höllwardt. Am Tor daneben hing eine Holztafel, auf der mit bunten Pinselstrichen »Jesaja Torquard« aufgemalt war. Der letzte Eingang hatte nur einen einfachen runden Klingelknopf ohne Bezeichnung. Ob das Haus wohl leer stand?
Gerade, als sie sich unauffällig näher heranpirschen wollte, um durch eines der Fenster zu schauen, bewegte sich etwas im Inneren. Ein kurzes Wehen des samtenen Vorhangs nur, aber deutlich genug, um Serafina einen kräftigen Schrecken einzujagen. Sie machte einen Satz zur Seite, huschte geduckt hinter die erste Baumreihe des Waldes und wartete, ob jemand rauskommen und sie verfolgen würde. Doch die Tür der Villa blieb geschlossen.
Fürs Erste hatte sie genug von diesen Gruselhäusern. Also drehte sie sich um und drang tiefer in den schönen Teil ihres neuen Reichs vor. Sie genoss die leisen Geräusche, die ihre Turnschuhe auf dem nadeligen Boden machten, und den Geruch nach Harz und Borke. Hier und da schwirrten Insekten zwischen den Bäumen hindurch oder krabbelten die Stämme hinauf Richtung Himmel.
Daheim, dachte Serafina. Sie streifte liebevoll einen der tief hängenden Äste einer Fichte und balancierte auf ein paar dicken Wurzeln, die sich auf dem Boden entlangschlängelten. Das also war der sagenumwobene Purpurwald, durch den die Spiegelfalter flogen, in dem Wupfel auf die Jagd gingen und miese Wurzelwürmer am Fuß der Bäume ihrer Beute auflauerten.
Oma Heide hatte erzählt, dass diese Würmer es besonders auf Feen abgesehen hatten. Sie fingen sie, indem sie sich zwischen Pilzen versteckten und dann wie ein Frosch blitzschnell mit ihren klebrigen, langen Zungen nach ihren Opfern angelten.
»Böse Würmer!«, sagte Serafina ins Nichts hinein und kicherte.
Wie bei ihrem ersten Besuch schlenderte sie den schmalen Pfad entlang, der sie auf die Blumenwiese führte. Rechts und links säumten wuschelige Farne den Weg, ab und an musste sie über eine Ameisenstraße steigen oder den Kopf einziehen, um einem ausladenden Ast auszuweichen.
Ein Eichelhäher schimpfte hoch oben aus einem Baumwipfel über ihren Besuch und aus der Ferne erklang das Hämmern eines hungrigen Spechts. Das ist doch mal ein ganz anderes Konzert, als das Geschrammel des Schulorchesters in der Aula.
Als Serafina die Wiese erreichte, erkannte sie an den sich bewegenden Halmen, dass etwas durch das hohe Gras schlich. Wie angewurzelt blieb sie stehen. War das etwa ein Ringelschwanz?
»Ringelschwänze«, hatte Oma Heide ihr erklärt, »sind beliebte Transporttiere in der Welt von Pipinea. Und da sie am liebsten kleine Käfer fressen, streunen sie gerne auf Wiesen umher oder schaben auf der Futtersuche mit ihren Krallenpfoten die Rinde von Bäumen ab.«
Wie eine Jägerin auf der Pirsch versteckte sich Serafina hinter einem Holunderbusch und beobachtete die Wiese durch ein Guckloch im Geäst. Mit jedem Schritt, den das Tier näher kam, wuchs ihre Unsicherheit. Was, wenn das da vor ihr ein Schnem auf der Suche nach Feen war? Oder ein garstiger Kobold.
»Mit Kobolden ist nicht zu spaßen«, hatte Oma Heide in ihren Geschichten immer gewarnt. »Das sind garstige Wesen, die immer nur an ihren eigenen Vorteil denken und sich nicht um das Wohl der anderen scheren.«
Serafina hielt den Atem an. Nur noch drei Meter war das Ungetüm entfernt. Gleich würde es zwischen den Grashalmen zum Vorschein kommen.
Ein Grunzen erklang. Dann tauchte eine braune Schnauze auf, gefolgt von zwei dunklen Knopfaugen und einem borstigen Körper mit haarigem Schwänzchen.
»Du bist ja bloß ein Wildschwein«, rief Serafina erleichtert, holte einmal kräftig Luft und kniff sich zur Strafe für ihre Ängstlichkeit in die Nase. Sie hätte gleich merken müssen, dass es niemand aus Pipinea sein konnte. Schließlich waren die Wesen von dort ohne Purpurstaub ja unsichtbar.
Lachend stand sie auf und schaute dem Schwein zu, wie es gemütlich in den Wald trottete. Dann spazierte sie mit ausgebreiteten Armen durch die Wiese, pflückte ein paar Blumen und setzte sich in die Sonne, um sich einen Kranz zu basteln. Sie nahm abwechselnd weiße und gelbe Blüten, schlitzte mit ihrem Fingernagel vorsichtig die Stiele auf und fädelte die Blumen ineinander, sodass eine hübsche Krone entstand.
Ob Feen in Pipinea auch Blumen im Haar trugen? Wie mochte Tula wohl aussehen? So wie Peter Pans Helferin Glöckchen? Versunken in ihre Gedanken streifte Serafina durch den Wald, bis die Dämmerung sie zwang heimzukehren.
Doch da erlebte sie eine böse Überraschung. Schon von Weitem sah sie den Notarztwagen, der schräg vor der Garage parkte.
»Oma!« Panisch stürmte Serafina aufs Grundstück, ließ ihr Fahrrad ins Blumenbeet fallen und rannte durch die offene Terrassentür ins Haus.
Ihre Eltern saßen mit besorgter Miene im Wohnzimmer und hörten einem Mann in weißroten Sachen zu.