Mina Moningham - Das Schulhaus am Ende der Galaxis - Jana Paradigi - E-Book

Mina Moningham - Das Schulhaus am Ende der Galaxis E-Book

Jana Paradigi

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Beschreibung

Ein sonderbares Schulhaus samt skurriler Bewohner. Der Wunsch nach einer Familie. Und eine Reise, die erst der Anfang eines großen Abenteuers ist. Die vierundzwanzigjährige Mina hat sich gerade in London im Bereich Grafikdesign selbstständig gemacht, da erbt sie unerwartet ein altes Schulgebäude. Als neue Hüterin des wundersamen Hauses muss sie eine Probezeit bestehen und sich dabei an die seltsamsten Regeln halten. Dazu kommen ein paar außerordentlich skurrile Mitbewohner, die Mina schmerzhaft an ihre verschollene Mutter erinnern. Waren ihre Geschichten über sprechende Tiere und Unglück bringende Vorzeichen am Ende wahr? Während Mina noch mit sich und dem Erbe hadert, kommen auf anderen Ebenen bereits Kräfte zusammen, die es auf das Haus abgesehen haben. Denn es gibt einen Grund, warum es »Das Schulhaus am Ende der Galaxis« genannt wird. Und der ist abenteuerlicher und magischer, als Mina das für möglich hält. »Mina Moningham – Das Schulhaus am Ende der Galaxis« Ein in sich abgeschlossener Urban-Fantasyroman und gleichzeitig der Auftakt einer mehrteiligen Buchreihe.

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Jana Paradigi

Mina Moningham – Das Schulhaus am Ende der Galaxis

 

 

 

Jana Paradigi

Mina Moningham – Das Schulhaus am Ende der Galaxis (1)

www.janaparadigi.de

 

Content Notes:

Beschreibungen von Pilzwucherungen und Schleim in einem Gebäude.

Manipulatives Verhalten, Ansatz einer ungewollten Annäherung, Spinne, Insekten.

 

Copyright © Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing 2024

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

www.novelarcshop.de

 

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Credits Shutterstock: WhataWin, Marish, Alano Design, VRVIRUS, Yeti studio, Iaschi, N.D. Vector, Angry_red_cat, Color Brush, Julia August, HappyPictures, Pixel-Shot, Passion-pearl, azure1, Mary Ro, Sky-iris, klyaksun. Credits Envato Elements: roverto007

Lektorat: Marieke Kühne | textzucker.at

Korrektorat: Ellen Rennen | Texpertin

 

Gebundene Ausgabe: 978-3-98595-361-5

E-Book: 978-3-910238-05-3

 

Weitere Titel der Reihe:

Mina Moningham - Die Allianz der Neun (2)

Mina Moningham - Sprung in die Vergangenheit (3)

Mina Moningham - Reise nach Beetle Burden (Graphic Novel Bilderbuch)

 

 

 

 

In Gedenken an meine

drei Kater Mischa, Ajax und Copito,

meine Wolfhündin Nuca

und meine Mutter.

Happy Birthday, Mum

 

 

»Es wäre schön, eine Laus zu sein. Dann könnte ich mich einfach im Mondschein auf dir niederlassen und nach einem glücklichen, satten Leben vergehen.« Mit diesen Worten breite ich nach einem langen Arbeitstag meine Arme aus und umschlinge den Kastanienbaum im Hinterhof des Bürokomplexes so innig, als wäre er mein Romeo und ich die lebensmüde Balkonschnepfe.

Aber mein Name ist nicht Julia, sondern Mina Moningham. Weil ich Alliterationen mag. Genau genommen heiße ich Jasmina, was Frucht der Liebe bedeutet. Der pure Hohn, wenn man bedenkt, dass sich mein Vater aus dem Staub gemacht hat, bevor ich überhaupt geboren war. Das ist zumindest die Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat, bevor sie ein paar Jahre später selbst im Nirgendwo verschwunden ist.

Natürlich hat sie sich nicht einfach aufgelöst. Nicht so, als würde man ein Stück Zucker in eine Tasse heißen Tee werfen. Dann wäre der Zucker ja noch da, nur in anderer Form. Es war eher so, als würde man seinen Kugelschreiber verlieren. Man legt ihn irgendwo hin und vergisst ihn einfach. Dabei wäre ich der Kugelschreiber und meine Mutter hätte mich in einem Internat abgelegt, um mich dann aus dem Gedächtnis zu streichen.

Entdeckt habe ich das erst nach Dutzenden von unbeantworteten Mailboxmonologen und dem einsamsten Weihnachtsfest meines Lebens. Denn schlimmer, als allein zu feiern, ist es, unter Menschen zu sein, die einem nichts bedeuten, während diejenige, die dir am Herzen liegt, nicht an dich denkt und nicht bei dir sein will.

Nach einigen depressiven Monaten habe ich schließlich eingesehen, dass das Verschwinden meiner Mutter kein großer Verlust war. Sie war mit ihren Gedanken sowieso andauernd irgendwo anders. Vor dem Internat bestand mein Leben aus unzählbaren Regeln und Verboten. Und aus Angst.

Aus der Sicht meiner Mutter lauerte unter jedem Hut ein Spion oder Bösewicht. Wenn uns eine streunende Katze über den Weg lief, verstummte sie, auch wenn es nur um die Einkaufsliste für das Abendessen ging. Denn Tieren war grundsätzlich nicht zu trauen. Sie ließen die Menschen aus reiner Boshaftigkeit in dem Glauben, dass sie nicht sprechen könnten. Ich habe meine Mutter mehr als einmal dabei erwischt, wie sie auf die Krähen in den Bäumen um unser Haus eingeredet hat. Am schlimmsten war sie allerdings beim Anblick von blauen Blumen oder – Himmel bewahre! – bei blauem Obst. Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich in der Kantina ruhig neben meinen Freundinnen sitzen konnte, wenn es Blaubeerpfannkuchen als Nachtisch gab. Gegessen habe ich bis heute keinen.

Stattdessen habe ich Blau zu meiner Lieblingsfarbe erkoren. Sowohl bei der Kleiderwahl als auch in meinem Studium zur Werbedesignerin. Aus reinem Trotz, würde meine Mutter wohl sagen. Die Psychotante aus der Schule hätte es dagegen eher als Zeichen dafür gewertet, dass ich mich endlich meinen inneren Dämonen stelle. Wahrscheinlich ist es von beidem etwas.

Mein Studienmentor fand meine übertriebene Vorliebe für Blau eine gute Sache, auch wenn er die wahren Hintergründe nicht kannte. »Eine richtige Designerin braucht ein Markenzeichen«, hat er immer gesagt. Und die Professoren der Prüfungskommission fanden das offenbar ebenfalls, denn sie haben in ihrer Beurteilung meine Fähigkeit, im Himmelblau der zu bewerbenden Holzfälleraxt die Sehnsucht nach Freiheit zu transportieren, bei meiner Anzeigengestaltung als besonders herausragend unterstrichen. Mein erster Arbeitgeber fand diese Farbleidenschaft hingegen weniger brillant und hat mich nach der Hälfte der Probezeit vor die Tür gesetzt. Seitdem bin ich selbstständig.

Die Arbeitsagentur hat mir glaubhaft vermittelt, wie gut es tue, seine eigene Chefin zu sein. Sie hat mich mit Schlagworten wie Gründerzuschuss, freie Zeiteinteilung, das eigene Design-Imperium und mit der Aussicht, nicht für andere, sondern für mich selbst zu schuften, geködert und mir sogar einen Platz in einer hippen Bürogemeinschaft verschafft – im East End von London. Genauer gesagt in Shoreditch, dem angesagten Viertel für Technikfreaks und Start-ups.

Deshalb lebe ich als Ich-AG mit vierundzwanzig Jahren in einer zu teuren Wohnung und zahle so viel Miete für einen Schreibtisch mit Stuhl, dass ich mir vom Rest meines Monatseinkommens meist nur Tütensuppen leisten kann.

Doch das Schlimmste ist, dass ich das alles gerade einem Baum erzähle. Einer alten, knorrigen Edelkastanie, der mein trostloses, verkorkstes Leben mit Sicherheit völlig egal ist. Selbst der Mond lacht wahrscheinlich bei dem Anblick. Vielleicht hätten sie Mitleid, wenn sie wüssten, dass heute der Geburtstag meiner Mutter ist und dass sie ihn offenbar auch diesmal ohne mich feiern will.

Bevor ich bei dem Gedanken in Tränen ausbreche, lasse ich den Baumstamm los und drehe mich weg. Ich reibe mit dem Handrücken über meine Augen und schniefe so unauffällig wie möglich.

Außer mir und der Kastanie ist niemand in dem weitläufigen Innenhof zu sehen. Wen wundert’s, ist ja schon nach Mitternacht. So merkt auch keiner, wie das letzte der orangeroten Blätter vom Ast segelt und mir tröstend über die Wange streicht. Aber das ist natürlich Einbildung.

Ich schniefe noch mal, um meine Nase freizubekommen. Dann flüstere ich mit belegter Stimme ein Danke ins Halbdunkel, gehe zu meinem Fahrrad, stochere mit dem Schlüssel herum, bis ich das Kettenschloss treffe, sperre auf und mache mich nach einem arbeitsreichen Dienstag die Commercial Street entlang auf den Heimweg.

 

Zu Hause blinkt mich mein Handy vom Küchentisch aus vorwurfsvoll an. Ich wusste, dass ich irgendetwas vergessen hatte. Das rote Lämpchen vermeldet sicher eine Nachricht von Josh, meinem Noch-Freund. Auch er ist dabei, ins Nirgendwo zu verschwinden. Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht habe ich ungeahnte magische Kräfte, mit denen ich alles, was ich liebe, wegzaubern kann.

Ich packe meine Umhängetasche mit dem Laptop neben die Spüle, öffne den Kühlschrank und schenke mir ein Glas Karottensaft ein. Ein Versuchsprojekt, das ich seit ein paar Wochen betreibe, um meine Gesichtsfarbe von leichenblass auf fahl, aber lebendig hochzustufen. Der Erfolg lässt auf sich warten.

Nach nochmaligem Sinnen über meine Verschwindemagie erinnert mich das Ganze doch eher an einen Fluch. Oder an eine Wahnvorstellung, wobei wir wieder bei meiner Mutter wären. Wahrscheinlich werde ich wie sie: pleite, verrückt und bald ohne Kugelschreiber.

Ich nehme einige Schlucke aus dem Glas, entsperre mein Handy mit einem Fingerwisch und höre die Mailbox ab, während sich der muffig-süßliche Geschmack von Karottenextrakt in meinem Mund breitmacht.

»Mina, wo bist du? Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen. Wir wollten uns doch das 3-D-Triple-Feature im Rich-Mix-Cinema ansehen. Ich stehe mit Laura und Ben an der Kinokasse. Komm einfach nach und bring was Flüssiges für die gute Laune mit.«

Die Spitze im letzten Satz entgeht mir nicht. Wenn ich ehrlich zu mir bin, hat Josh recht – gelacht habe ich schon lange nicht mehr. Zumindest nicht von Herzen. Das liegt nur zum Teil an ihm. Immerhin versucht er auf seine Kleinmacho-Art immer wieder, mich aus meinem düsteren Schneckenhaus hervorzulocken. Er kann wirklich witzig sein. Und lieb. Aber als Dauerstudent hat er keinen Schimmer, wie trostlos sich das echte Leben anfühlen kann. Als Hörsaalhocker träumt man noch von der Gestaltungsrevolution statt vom tonnenschweren Joch des Geldes.

Ich tausche mein Glas gegen die Zwiebacktüte und fische nach den letzten Krümeln darin, als das Handy erneut klingelt. Das kann nur Josh sein. Ich schaue auf die Uhr. Teil drei des Triple-Features müsste eigentlich noch laufen.

Will ich seinen Vorwürfen live oder lieber auf Band lauschen? Ich entscheide mich für die unkommunikative Variante und höre nach angemessener Wartezeit die Mailbox gleich noch mal ab. Die Stimme, die daraufhin zu hören ist, ist mir jedoch unbekannt.

»Miss Moningham?«

Ich warte ab, was der offensichtlich männliche Fremde zu sagen hat.

»Miss Moningham, es wäre wirklich wichtig, dass Sie abnehmen.«

Ich drehe mich um und gucke aus dem Fenster, ob mich jemand in der Küche beobachtet. Doch gegenüber befindet sich nur eine alte, verblichene Werbetafel. Mir wird mulmig. Wer ruft zu so später Stunde an? Ob Josh etwas passiert ist? Vielleicht hat er sich geprügelt und sitzt auf der Wache? Die Wiedergabe läuft noch.

»Miss Moning…« Weiter kommt die Stimme nicht. Es folgt der Piep für das Ende der Mailboxaufnahme.

Ich atme einmal kräftig durch und stecke das Handy in die Hosentasche, als es erneut klingelt. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal nehme ich all meinen Mut zusammen und gehe ran. »Ja, hallo? Geht es um Josh?«

Jetzt ist es die andere Seite, die für einen Moment stumm bleibt. Dann höre ich ein Räuspern. »Nein, meine Gnädigste. Es geht vielmehr um Ihre werte Großmutter, Elizabeth Moningham.«

Ich weiß nicht, was mich mehr irritiert: dass hier jemand mitten in der Nacht wegen meiner Großmutter anruft oder die Tatsache, dass ich überhaupt eine habe. Klar ist meine Mutter nicht aus einem Kuckucksei geschlüpft, aber soweit ich mich zurückerinnern kann, haben wir nie über ihre Eltern gesprochen und es gab auch keine gestrickten Pullover zu Weihnachten.

»Miss Moningham, sind Sie noch dran?«

»Ich dachte, es geht um meinen Freund«, antworte ich und weiß im selben Augenblick, wie dümmlich das klingen muss.

Aber die Stimme am anderen Ende bleibt geduldig und freundlich.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Großmutter verstorben ist.«

Ich blinzle verwirrt. »Wann?«

»Heute. Nein, ich muss mich korrigieren. Genau genommen gestern, da es bereits nach Mitternacht ist.«

»Das … das tut mir leid«, stammele ich. Wieder kommt mir meine Antwort albern vor. Der Kerl am anderen Ende ist ganz offenbar weder mein Opa noch sonst ein Verwandter, dazu klingt er viel zu förmlich. »Und Sie sind?«, setze ich nach, um dem Gespräch wieder etwas mehr Sinnhaftigkeit zu verleihen.

»Ich bin Kartasto Winkelbaum, Frau Moninghams Nachlassverwalter.«

»Ist es üblich, jemanden um diese Uhrzeit zu kontaktieren?« Mein Verstand antwortet mir mit einem klaren, unmissverständlichen Nein.

»Diese Erbangelegenheit unterliegt einer außerordentlichen Dringlichkeit. Mehr kann ich Ihnen dazu am Telefon nicht mitteilen. Aber es ist wirklich wichtig, dass Sie morgen früh zur Testamentseröffnung erscheinen.« Tiefer Ernst liegt in seiner Stimme.

»Warum?« Diese Frage muss sein. Auch wenn ich es die meiste Zeit verdränge. In meinem Stammbaum steht vielleicht kein Vater, aber doch zumindest eine Mutter. Eine, die sich aus dem Staub gemacht hat. Dass sie gestorben sein könnte, habe ich nie in Erwägung gezogen. Immerhin wurde das Internat bis zu meinem Abschluss bezahlt.

»Wir informieren alle Begünstigten.«

Diese Antwort kann alles bedeuten. Vielleicht sehe ich meine Mutter wieder. Oder meinen Vater? Genau genommen weiß ich ja nicht mal, ob Moningham ein angeheirateter Nachname ist.

»Ich besitze nur ein Fahrrad«, bringe ich hervor und meine damit eigentlich, dass ich es wohl kaum morgen früh rechtzeitig irgendwohin schaffe, wenn es mehr als ein paar Straßen entfernt liegt.

»Kein Problem. Wir holen Sie um Punkt acht Uhr ab. Und ich möchte hinzufügen, dass ich äußerst erfreut bin, dass Sie sich dazu bereit erklären.« Damit legt Kartasto Winkelbaum auf.

Eine Zeit lang starre ich reglos auf das Handy und versuche zu erfassen, was da gerade abgelaufen ist. Innerhalb von geschätzten fünf Minuten habe ich eine Großmutter bekommen und gleich wieder verloren. Nur um dafür in Aussicht gestellt zu bekommen, einen verschollenen oder gar unbekannten Elternteil zu treffen.

»Das ist doch verrückt!«, sage ich laut und gehe in der Küche auf und ab.

Das musste ein Telefonstreich gewesen sein. Vielleicht sogar von Josh, als Strafe dafür, dass ich nicht ins Kino gekommen bin. Solche Verwalterfritzen legen freitags Schlag drei Uhr ihren Griffel beiseite und tauchen erst montagmorgens wieder aus der Versenkung auf.

Eine schnelle Namensrecherche übers Handy bringt keinerlei Treffer. Es scheint niemanden zu geben, der mit Vornamen Kartasto heißt, schon gar keinen Anwalt. Vielleicht eine neue Telefonmasche, um an meine Kontodaten zu kommen? Aber warum dann der Aufwand, mich irgendwohin zu kutschieren? Die ganze Sache wurmt mich so sehr, dass ich kurz davor bin, Josh anzurufen und zu fragen, ob er dahintersteckt. Andererseits will etwas in mir zumindest für eine Nacht an der Hoffnung festhalten, ich könnte meine Eltern wiedersehen.

Happy Birthday, Mum.

Ein Fall von Erbschock

 

 

Nach einigen Stunden voller beunruhigender Träume von spionierenden Werbetafeln und blutrünstigen Totengräbern brühe ich mir zur Beruhigung eine Tasse Rauchtee auf und setze mich in T-Shirt und Pyjamahose an den Küchentisch. Es ist halb acht.

Mittlerweile bin ich sicher, dass das alles nur ein Scherz gewesen sein kann. Ein wirklich fieser Streich. Dennoch könnte ich heute einfach früher zur Arbeit gehen. Gerade so, dass ich um acht Uhr unten an der Haustür stehe.

Ich trinke den Tee in scheinbarer Ruhe und angemessenen Schlückchen aus, nur um dann wie ein gehetztes Huhn unter die Dusche zu springen und in eine vorsorglich konservative Hosen-Hemd-Pullover-Kombination zu schlüpfen. Der blaue Schal über der schwarzen Manteljacke rundet das Ensemble ab. Es ist eine Minute vor acht.

Was, wenn unten tatsächlich ein Auto auf mich wartet? Soll ich mir einen Ausweis zeigen lassen? Aber der lässt sich sicher fälschen.

Glücklicherweise steht kein Kundentermin an und die Werbeanzeige für die neue vegane Bäckerei um die Ecke habe ich bereits Ende letzter Woche fertig gestellt – man muss hin und wieder einfach verschleiern, wie lange man an so einem Logo samt markigem Zweizeiler sitzt. Sonst wollen sie auch die großen Aufträge innerhalb eines Tages fix und fertig präsentiert bekommen. Aber es schadet ja nichts, trotzdem mal früher zur Arbeit zu fahren.

Acht Uhr. In der Ferne läuten die Kirchenglocken. Niemand wird wissen, dass ich wie bestellt und nicht abgeholt dastehe, wenn ich jetzt runter renne und keiner kommt. Kurz entschlossen hetze ich los, knalle die Wohnungstür hinter mir zu und eile die Treppen hinab. Ich stemme mich mit der Schulter gegen die schwere hölzerne Eingangstür, drücke sie auf und stehe im nächsten Moment auf dem bereits üppig bevölkerten Bürgersteig.

Nichts. Keine schwarze Limousine. Kein wartendes Taxi. Die Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung lässt mich auflachen. »Also doch verrückt«, kommentiere ich und fange mir den misstrauischen Blick eines vorbeieilenden Passanten ein.

Damit ist die Sache abgehakt, zurück zum Alltag. Was gibt es heute im Büro zu tun? Habe ich genug Geld, um mit den anderen mittags Pizza zu bestellen? Reicht das Klopapier noch bis zum Ende des Monats?

Erst als ich mich auf den Fahrradsattel schwinge, höre ich das mehrstimmige Hupen. Auf der Straße steht wie von Zauberhand gerufen ein dottergelb lackierter Oldtimer und versperrt dem Rest der motorisierten Welt den Weg. Aus dem heruntergelassenen Seitenfenster des Beifahrersitzes winkt mir eine Männerhand zu.

Ich stelle mein Fahrrad wieder ab und nähere mich dem vermeintlichen Abholdienst. »Herr, äh, Winkelflaum?«

Die Hand verschwindet und ein rundes Gesicht mit kleinen, verschmitzten Augen erscheint. »Winkelbaum, meine Liebe. Kartasto Winkelbaum. Verzeihen Sie die Verspätung, aber wir sind die Tücken des Großstadtverkehrs nicht gewohnt.«

»Das hier passiert also wirklich«, murmle ich. Eine Tatsache, die weitere Fragen aufwirft. »Woher wissen Sie, dass ich nicht die falsche Moningham bin?«

Der Nachlassverwalter schüttelt energisch den Kopf. »Unsere Kanzlei ist eine der angesehensten ihrer Art. Wir machen keine Fehler!«

Ich lächle, um den peinlichen Moment zu überbrücken, während Kartasto Winkelbaum aussteigt und mir die hintere Autotür öffnet. Das Hupkonzert wird lauter. Ich wedele beschwichtigend mit der Hand und steige ein.

Der Fahrer, ein ebenfalls rundgesichtiger Geselle in Chauffeurklamotte, tritt aufs Gas. Der altertümliche Sportwagen schießt aus dem Stand mit gefühlten neunzig Sachen los und brettert die Hauptstraße Richtung Norden entlang.

»Wohin genau fahren wir?«, wage ich zu fragen.

Der Nachlassverwalter dreht sich zu mir um. »Unsere Kanzlei Winkelbaum und Tulpin liegt ein kleines Stück außerhalb.«

»Wird meine Mutter anwesend sein?« Etwas, das ich bereits gestern hätte fragen sollen.

»Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig, meine Gnädigste. Die Dinge müssen ihren Lauf nehmen, so wie es vorgesehen ist.« Kartasto klopft mir väterlich auf die Hand, mit der ich mich in die Rückenlehne des Fahrers verkrallt habe.

»Nennen Sie mich Mina, bitte. Alles andere klingt, als wäre ich selbst schon Oma.« Dasselbe sage ich zu meiner Kundschaft, wenn sie mich mit Frau Moningham ansprechen. Üblicherweise ein gutes Mittel, um das Eis am Verhandlungstisch zu brechen.

Kartasto Winkelbaums reservierte Miene verrät mir allerdings sofort, dass er anders erzogen wurde. »Ich bin sicher, diese Anrede ist nur Ihren engsten Bekanntschaften vorbehalten. Ein Privileg, dem gewiss ein längerer Prozess des Kennenlernens und Vertrauensgewinns vorausgegangen ist.«

Mein verhaltenes Nicken beendet die Unterhaltung. Ich lehne mich zurück und ergebe mich der Situation. Etwas mulmig ist mir schon zumute, aber immerhin habe ich daran gedacht, mein Handy einzustecken.

Die Sitze sind bequem. Cremefarbenes Leder mit aufwendigen Steppnähten. Auf der Rückseite der Kopflehnen sind Embleme eingestickt – vielleicht das Logo der Kanzlei oder der Autovermietung. Ganz schön protzig. So ein Kutschenservice wird wohl kaum für eine Tote veranstaltet, die am Existenzminimum gelebt hat. Eher für eine Baroness. Vielleicht bin ich adelig, ohne es zu wissen?

Als ich aus dem Fenster blicke, stelle ich überrascht fest, dass wir die Stadt bereits hinter uns gelassen haben. In Gedanken füge ich die Misthaufen und Schafskoppeln, an denen wir vorbeigleiten, in das Szenario eines hundert Hektar großen Landsitzes ein, auf dem ich von einem noch unbekannten Prinzen begrüßt und auf Händen in den Palast getragen werde.

Das Piepen des Handys holt mich zurück, bevor mein Angebeteter und ich uns näherkommen können. Josh will wissen, was los ist. Und bevor ich eine schnelle Ausrede tippen kann, fragt auch noch Stephanie, wann ich endlich im Büro auftauche, da ich Küchenputzdienst habe.

Für Steph muss eine fiese Erkältung ausreichen, für Josh braucht es eine ausgeklügeltere Story. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihm die Wahrheit zu erzählen, aber die ist so unglaubwürdig, dass er wahrscheinlich sofort mit mir Schluss machen würde. Und dazu bin ich noch nicht bereit.

Ich entscheide mich für eine halbe Lüge und beichte reumütig, dass ich gestern Morgen mein Handy im Büro liegen gelassen und den Tag auf einem Kundentermin verbracht habe. Offenbar war der Kinobesuch lustig genug, um nicht weiter nachzufragen. Trotzdem komme ich um eine Wiedergutmachung heute Abend wohl nicht herum.

Wenn ich denn bis dahin wieder zurück von meinem Ausflug bin. Genau genommen habe ich keine Ahnung, wie lange der Termin in der Kanzlei dauern wird. Naiv bin ich davon ausgegangen, dass man wie in den klassischen Filmszenen einen Brief vorgelesen bekommt oder ein Video der Verstorbenen ansieht, sich dann entweder freut oder über die Ungerechtigkeit der Welt lamentiert und wieder nach Hause geht. Vorher eine Weltreise zu unternehmen, kommt in keinem der typischen Blockbuster vor.

Einkleines Stück außerhalb hat der Nachlassverwalter gesagt - die Untertreibung des Jahrhunderts. Erst nach zweistündiger Fahrt wird der Wagen langsamer und biegt schließlich in eines der vielen Dörfer ab, die wie bunte Tupfen zwischen Feldern, Wiesen und Wäldern sitzen.

In der ersten Stunde habe ich noch versucht, mir die wichtigsten Wegkreuzungen und Ortsnamen zu merken, doch spätestens in den letzten dreißig Minuten hat sich alles zu einem Tohuwabohu aus Halls, Hams, Burys und Fords vermengt. Wer hier Post austragen muss, kann damit nur für ein Schwerverbrechen bestraft worden sein. Jede Wette, dass sich auf den Namenschildern die Woods, Greens und Moores häufen.

Der Chauffeur steuert den Wagen zielstrebig auf eine kleine Ansiedlung mit dem drolligen Namen Petlington zu. Die Kirche ist ein erstaunlich anmutiger Backsteinbau ohne viel Schnörkel. Im Ortszentrum reihen sich hübsch eingerichtete Läden aneinander. Mittelpunkt des Platzes ist ein großer Brunnen, der mit Blumenkästen umrahmt ist.

Wir biegen in eine Seitengasse ein. Offenbar ist unser Ziel ein wild überwuchertes Grundstück. Sofort sehe ich im Geiste eine schäbige Holzhütte inklusive Plumpsklo vor mir. Mein Märchenprinz schrumpft zu einer warzigen Kröte zusammen. Bitte lass das nicht Omas Erbe sein. Habe ich nicht auch einmal etwas Gutes verdient? Muss es wieder in einer Katastrophe enden?

Eine moosbewachsene Auffahrt führt überraschenderweise zu einem recht ansehnlichen Haus. Über dem Eingang prangt ein riesiges gusseisernes Schild, auf dem »Kanzlei Winkelbaum und Tulpin« steht. Die ganze Panik war also umsonst.

Das Gebäude wirkt seltsam unproportioniert, als hätte man es von allen Seiten mit riesigen Boxhandschuhen zurecht gedrückt. Die Fenster sind unterschiedlich groß. Balkone, Säulen und Stuckverzierungen wirken wie nachträglich angeklebt.

»Willkommen in unserem bescheidenen Domizil«, verkündet der Nachlassverwalter. Irgendwie hat er es geschafft, auszusteigen und mir die Tür zu öffnen, bevor ich mich von dem Anblick des Hauses lösen konnte.

Ich nehme meine Tasche und steige zögerlich aus. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie man sich bei so einem Termin angemessen verhält. Hätte ich besser ganz in Schwarz erscheinen sollen? Reicht mein Pass aus, um mich auszuweisen, oder hätte ich meine Geburtsurkunde mitbringen müssen?

»Hier entlang, Gnädigste.« Kartasto Winkelbaum lädt mich mit einer Geste ein, ihm ins Haus zu folgen. »Es ist uns eine Ehre, Sie in unseren Hallen begrüßen zu dürfen. Mein Partner hat nicht daran geglaubt, dass wir Sie so zügig ausfindig machen würden. Er hielt es sogar für ausgeschlossen, Sie zu einem so kurzfristigen Treffen zu überreden. Für eine Wette war er allerdings wie immer zu knauserig.«

Ich bin froh, dass der Nachlassverwalter meiner Großmutter die Unterhaltung im Alleingang führt, denn als wir die Eingangshalle betreten, bleibt mir vor Staunen die Spucke weg. Egal, wie zusammengeschustert das Haus von außen wirkt, innen sieht es aus wie ein Thronsaal. Nein, wie eine Schatzkammer!

Der Boden besteht aus blank polierten schwarzen Granitplatten mit kunstvollen Intarsienmustern. Die Wände glänzen wie Perlmutt und sind mit goldenen Reliefs verziert. Die Leuchter strahlen so unwirklich hell, dass ich wie festgewurzelt stehen bleibe und in die flackernden Flämmchen über den glitzernden Kristallarmen starre.

Kartasto Winkelbaum räuspert sich verhalten und sagt schließlich: »Das Notariat wäre dann oben.«

Nur mit Mühe reiße ich meinen Blick von diesem magischen Lichtertanz los und fixiere stattdessen die herrschaftliche Treppe. Die Stufen sind mit einem dicken Samtläufer belegt, der meine Schritte dämpft. Es ist, als würde ich auf blauen Wolken laufen.

Am oberen Treppenabsatz führt ein Gang nach links zu einigen abgetrennten Räumen. Die Türen sind allesamt aus schwarzbraunem Holz gezimmert und haben hübsch gedrechselte Verzierungen. Jeweils auf Augenhöhe befindet sich eine kunstvoll geschnitzte Zahl. Unser Ziel ist die Nummer drei.

Der Nachlassverwalter öffnet und überlässt mir den Vortritt. Drinnen sehe ich aus den Augenwinkeln etwas über den massiven Schreibtisch krabbeln. Vielleicht eine Kakerlake? Alte Gemäuer sollen ja anfällig für Ungeziefer sein. Wahrscheinlich sind die Wände porös, die Bodendielen gewiss morsch.

»Wenn Sie für einen Moment Platz nehmen würden? Ich sehe in der Zwischenzeit nach meinem Partner.« Kartasto Winkelbaum nimmt mir Schal und Mantel ab.

»Bin ich die einzige Erbin?«, frage ich, da niemand sonst anwesend ist.

»Geduld, Miss Moningham. Noch ein klein wenig Geduld.« Und schon ist er zur Tür hinaus.

Die Gestalt, die einen Wimpernschlag später mit einem Tablett hereinkommt, könnte Kartastos Schwester sein. Eine gedrungene Frau älteren Semesters mit üppigen Hüften und einem ebenso runden Gesicht. Ihre Haare sind zu einem Turm aus geflochtenen Zöpfen frisiert.

Statt einer Begrüßung lässt sie bei meinem Anblick nur ein spitz klingendes »Hm!« verlauten und stellt Teetassen und Gebäck für vier auf einem Beistelltisch aus geöltem Wurzelholz ab.

»Zitronenfalter-Tee und Ingwernerz-Häppchen«, kommentiert sie knapp, bevor sie wieder verschwindet.

Die Versuchung ist groß, mir die servierten Sonderbarkeiten genauer anzusehen, doch da schwingt die Tür bereits wieder auf und Kartasto Winkelbaum kommt zurück. Im Schlepptau hat er zwei weitere Gäste. Ich erhebe mich vorsorglich, um für ein Händeschütteln bereitzustehen.

»Darf ich vorstellen, mein Kollege und zuständiger Notar Terenz Tulpin, Miss Jasmina Moningham«, flötet der Nachlassverwalter, während ein knorriger kleiner Kauz in zu engem Frack sich übertrieben tief vor mir verbeugt.

»Eine wahrhaftige Überraschung, Sie heute hier zu sehen. Ganz und gar überraschend«, sagt der Notar und nimmt auf dem ledernen Sessel hinter dem Schreibtisch Platz.

Neuankömmling Nummer zwei bleibt dagegen stumm und mit reservierter Miene an der Tür stehen und würdigt mich keines Blickes. Der Kerl könnte ein weiteres Mitglied von Kartastos Familienbetrieb sein. Sein Gesicht wirkt allerdings etwas kantiger und ist von einem struppigen Backenbart umwuchert.

Das Alter lässt sich schwer schätzen, er wirkt irgendwie zeitlos. Ganz im Gegensatz zu seinem Anzug, wohl ein Flohmarkt-Fundstück aus grob gewebtem Tweed mit allerlei Verschleißspuren. An den Ellenbogen sind große Flicken aufgenäht. Auf dem Revers prangt im Kontrast dazu eine fein ziselierte Brosche in Blumenform. Wenn das mein Vater ist, sollte ich meiner Mum nachträglich auf Knien dafür danken, dass sie sich bei der Vererbung vorgedrängelt hat. Oder ist es vielleicht Großmutters Liebhaber? Nur mit Mühe kann ich mir ein Glucksen verkneifen.

Kartasto Winkelbaum schenkt derweil mit meditativer Gelassenheit Tee ein und drapiert jeweils eines der Kekshäppchen auf den Untertassen. Die erste Tasse erhält der Notar, die zweite ist mir zugedacht. Herr Backenbart verweigert seinen Trunk schon im Ansatz, doch Kartasto scheint davon nicht sonderlich überrascht zu sein. Er tritt ein paar Schritte zurück, atmet hörbar den aufsteigenden Dampf des Tees ein und seufzt entzückt.

Für einen winzigen Moment sehe ich gelbe Miniatur-Schmetterlinge um seine Nase flattern. Die Nervosität scheint mir auf die Augen statt auf den Magen zu schlagen. Ein Blick in meine Tasse offenbart nur ein paar Kandiskrümel, die träge auf dem Boden kreisen. Offenbar hat Kartasto erraten, dass ich meinen Tee mit Zucker trinke. Ich nehme einen Schluck. Der Geschmack ist ungewohnt, erfrischend süß und zugleich bitter.

»Lassen Sie uns anfangen«, sagt Kartasto schließlich und lächelt mir aufmunternd zu.

Sein Partner nickt, zieht ein Monokel aus seiner Brusttasche und klemmt es sich vor ein Auge. »Nachdem sich zum anberaumten Tage alle Erbberechtigten des Nachlasses der verstorbenen Elizabeth Moningham eingefunden haben, breche ich hiermit für alle sichtbar das Testamentssiegel.«

Damit nimmt er einen zweifach gefalteten, vergilbten Stapel Papier in die Hand, der mit Hilfe einer einfachen Fadenbindung zusammengehalten wird.

Als der Notar das dunkelrote Wachssiegel öffnet, weht mir der Geruch von Zimt und Apfelkuchen entgegen. Etwas, das es bei uns zu Hause nie gegeben hat, dennoch kommt mir der Duft seltsam vertraut vor.

Terenz Tulpin faltet das Dokument so vorsichtig auf, als wäre es eine kostbare Antiquität. Statt vorzulesen, überfliegt er die einzelnen Blätter, nickt immer wieder und gibt kleine schmatzende Laute von sich.

Ich beginne zu schwitzen. Immerhin könnte ich in wenigen Sekunden steinreich sein. Nie wieder Tütensuppen! Voller Anspannung greife ich zu einem Ingwerkeks. Auch das Gebäck hat einen ungewöhnlichen Geschmack, ein wenig pelzig auf der Zunge und im Nachgang honigsüß.

Mein möglicher Erbmitstreiter an der Tür kann seine Unruhe nicht mehr verbergen. Nervös wippt er in seinen abgelaufenen Ledertretern vor und zurück und füllt die ansonsten erwartungsvolle Stille mit beständigen Quietschgeräuschen.

Schließlich nickt der Notar ihm zu. »Madame Moningham vererbt ihre durchaus ansehnlich zu nennende Topfpflanzensammlung an den Verein für Pflanzenexoten und namentlich in Vertretung des aktuellen Vorstandes an Herrn Vincent Eulwang«, verkündet der Notar schließlich mit gewichtiger Stimme.

Dann wendet er sich an mich. »Des Weiteren wurde von unserer Kanzlei beglaubigt festgeschrieben, dass jedweder Besitz, ob lebendig oder nicht, an die Enkelin Jasmina Moningham übergeht. Dies beinhaltet im Konkreten das Grundstück und Anwesen in der Kirchgasse 10, mit allen darauf befindlichen Gütern. Hinzu kommen Einlagen bei verschiedenen Bankhäusern sowie im Anhang aufgelistete Leihgaben.«

Die Geldsummen, die er im Folgenden nennt, sind so monströs groß, dass ich mir nur mit Mühe einen Jubelschrei verkneifen kann. Nachdem mich Terenz Tulpin mahnend durch sein Monokel ansieht, versuche ich mein Grinsen in etwas umzuwandeln, das sich hoffentlich irgendwo zwischen betroffen bis trauernd einordnen lässt.

Die wahre Bedeutung seines Blickes verstehe ich erst, als er zu der schier endlosen Liste an skurrilen Bedingungen kommt, die von meiner Großmutter festgelegt wurden. Dabei gibt es zwei Dinge, die mir auf Anhieb Bauchschmerzen bereiten. Einerseits die Probezeit von einem Jahr, die ich bestehen muss, und andererseits, dass ich umgehend in ihr Haus einziehen und dort fortan leben soll.

»Sie haben achtundvierzig Stunden Zeit, das Erbe anzutreten, Miss Moningham. Danach verfällt Ihr Anspruch und geht direkt auf den Verein für Pflanzenexoten über. Das Gleiche gilt für den Fall, dass Sie gegen die Regeln verstoßen oder Ihre mitvererbten Pflichten wiederholt eklatant vernachlässigen«, beschließt er seine Rede.

»Das ist doch ein Witz!«, rufen ich und der Vereinskerl in einem schrill-schrägen Duett. Auch wenn dieser Vincent mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit etwas anders damit meint als ich.

Unbeeindruckt zieht der Notar eine Taschenuhr aus dem Innenfutter seiner Jacke und wirft einen Blick darauf. Ohne auf unseren Aufschrei einzugehen, verkündet er den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Testamentsschrift, klappt das Dokument zu und erhebt sich, bevor er Uhr und Monokel wieder sorgfältig verstaut.

Kartasto räuspert sich. »Im Namen der Kanzlei Winkelbaum und Tulpin möchten wir den Hinterbliebenen unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Im Falle von Unklarheiten stehen wir selbstverständlich jederzeit zur Verfügung.« Dann weist er mit einer unmissverständlich Handbewegung Richtung Ausgang.

»Aber …« Mehr bringe ich im ersten Schock nicht hervor.

Vincent Eulwang scheint dagegen direkt von Phase eins, der Trauer und Enttäuschung, zu Wut überzugehen. Sein Gesicht läuft feuerrot an, die Backen gebläht wie die eines Hamsters. Seine Atmung ähnelt dem stoßweisen Pfeifen einer Lok. Erstaunlicherweise bleibt er jedoch stumm und wie angewurzelt auf der Stelle stehen.

»Der Wagen wartet bereits, um Sie zurück in die Stadt zu bringen, Miss Moningham«, verkündet der Notar. Ein kurzer Händedruck und schon ist er zur Tür hinaus – ohne mir die vielen Fragen zu beantworten, die in meinem Kopf gerade Saltos schlagen.

Kartasto Winkelbaum lächelt mir immerhin zu, als er mir in Mantel und Schal hilft. Am Ende drückt er mir ein Briefchen in die Hand und lotst mich in einem Bogen an Vincent Eulwang vorbei Richtung Ausgang. Bevor ich auch nur einen Laut hervorbringen kann, stehe ich auf dem Gang und die Tür fällt hinter mir zu.

Das Zeitgefüge scheint in diesem Haus relativ zu sein. Gerade überlege ich noch, wieder zurück ins Zimmer zu gehen, um mir mehr Klarheit in der Sache zu verschaffen, da finde ich mich schon auf der cremefarbenen Lederrückbank des dottergelben Oldtimers wieder. Offenbar ein gehirntechnischer Totalausfall aufgrund eines Erbschocks.

Die Kirche von Petlington zieht an meinem Fenster vorbei, gefolgt von einem gemütlich wirkenden Café, das schnell von Wald und Wiese abgelöst wird. Als wäre ich nie angekommen. Als hätte das alles nie stattgefunden. Die einzigen Beweise, dass ich nicht im Auto eingenickt bin und dieses kuriose Treffen geträumt habe, sind der winzige Umschlag in meiner Hand und die Tatsache, dass der Beifahrersitz leer ist.

Zwei Unglücksboten

 

 

Im Gemeinschaftsbüro sitzt Stephanie mit den anderen um den Besprechungstisch. Ein Duftgemisch aus Käse und Fett steigt aus den Pizzakartons auf, aber ich habe keinen Hunger. Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt zur Arbeit gefahren bin, nachdem mich der Chauffeur vor meinem Haus abgesetzt hat. Wahrscheinlich ein Reflex meines Unterbewusstseins, um wieder zurück in die Realität zu finden.

»Hey, Mina, was willst du denn hier? Ich dachte, du bist krank«, sagt Stephanie und mustert mich kritisch. »Siehst aus wie ein Leichentuch. Ich kann mir echt nicht leisten, mich von einer übereifrigen Bakterienschleuder anstecken zu lassen.«

»Die sieht doch immer so aus«, bringt unser Netzwerkguru Tom zwischen zwei Bissen heraus.

Na danke. Ihr mich übrigens auch. Ohne weitere Reaktion gehe ich an ihnen vorbei. Routiniert hänge ich meinen Mantel samt Schal über den Stuhl, ziehe den Laptop aus der Tasche, stöpsle ihn an, fahre ihn hoch und öffne die üblichen Programme. Ab da rutscht mein internes Programm in den Leerlauf. Meine Hand bleibt unbewegt auf der Maus liegen.

Ich könnte das Logo-Finish für die Bäckerei noch einmal überprüfen. Oder endlich ein Testimonial auf die Website des Gemeinschaftsbüros setzen. Oder du könntest den kleinen Umschlag öffnen und nachsehen, was drin ist, meldet sich die Ketzerstimme.

Die gesamte Rückfahrt habe ich das Briefchen in der Hand gehalten und beim Aussteigen in die Hosentasche gesteckt. Wahrscheinlich eine Visitenkarte, damit ich bei der Kanzlei anrufen kann, um ihnen mitzuteilen, ob ich das Erbe annehmen will. Genau genommen weiß ich allerdings immer noch nicht, was das alles beinhaltet.

Gut, da wäre ein Haus samt Mobiliar. Aber das kann alles Mögliche bedeuten, vom schäbigen Schuppen bis zur Nobelvilla. Immerhin wäre Geld wohl kein Problem mehr, sollte ich mich für das Erbe entscheiden. Aber was ist mit dieser Probezeit? Müsste ich die Kohle zurückzahlen, sollte ich nicht bestehen? Die Liste mit Bedingungen war nicht gerade kurz. Und dafür alles aufgeben, was ich mir aufgebaut habe? Keine leichte Entscheidung. Was soll ich bloß tun? Kann mir das jemand verraten?

Ich blicke aus dem Fenster zur Kastanie, die ich die Nacht zuvor so liebevoll umarmt habe. Als würde auch sie abwägen, schaukelt sie im Wind leicht hin und her. Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Halloween steht vor der Tür. Ein Fest, das die Tore zur Geisterwelt öffnet, um den verdammten Seelen eine Pause zu gönnen. Vielleicht brauche ich auch eine Pause. Eine von diesem Büroalltag, von Josh und vom Leben allgemein.

Aber kann ich einfach gehen? Als Erwachsene, egal, ob ich mich wie eine fühle oder nicht, hat man Verpflichtungen. Die Kunden wollen ihre Aufträge, der Vermieter sein Geld und Stephanie wahrscheinlich, dass ich die Küche putze.

Achtundvierzig Stunden habe ich Zeit, mir über mein Erbe Gedanken zu machen. Das sind zwei Nächte, um darüber zu schlafen, zwei Tage, um die sprichwörtlichen Brücken hinter mir abzubrechen. Denn das ist eine der vielen Bedingungen: Wenn ich das Erbe annehme, muss ich in das Haus meiner Großmutter ziehen.

Ich müsste zwar keine Miete mehr zahlen, würde aber den Großstadtflair mit dem prüden Charme einer Dorfidylle tauschen. Wie viel ist mir ein abgesichertes Dasein wert? Wie viel Abstriche bin ich bereit, dafür zu machen?

»Pennst du?« Mich reißt es so sehr, dass ich die Maus quer über den Tisch schleudere. Stephanie hat sich mal wieder von der Seite angeschlichen.

»Scheiße, nein, ich denke nach!«

»Wir finden wirklich, dass es besser wäre, wenn du wieder nach Hause gehen würdest, Mina«, versucht sie es mit der mütterlichen Tour.

»Vielleicht gehe ich besser gleich für immer, wie wäre das? Wie lange ist die Kündigungsfrist für diesen Büroplatz? Vier Wochen? Oder waren es acht? Egal, ich werde einfach mal großzügig sein – jetzt, da ich geerbt habe. Ich schenke euch meine Miete bis zum Ende des Jahres, weil ihr immer so gut zu mir wart.« Das alles sprudelt aus mir heraus, bevor ich recht weiß, was ich da sage.

»Du hast geerbt?«, fragt Steph nach, als wäre das die einzig wichtige Essenz meiner Ansprache.

»Ganz spontan, so ist das mit Todesfällen. In Wahrheit bin ich auch nicht krank, sondern habe nur eine Ausrede gebraucht, um zur Testamentseröffnung meiner unbekannten, verstorbenen Großmutter fahren zu können!«

Offenbar ist das zu viel Information auf einmal. Stephanie verengt die Augen und zieht sich mit einem schnippischen »Ach, mach doch, was du willst!« zurück. Nur um den anderen wahrscheinlich brühwarm zu erzählen, dass ich endgültig verrückt geworden sei.

Die Kündigung ist nicht ernst gemeint gewesen, aber einmal ausgesprochen, klingt sie gar nicht mehr so abwegig. Genau genommen habe ich mich nie so wirklich wohl in diesem Job gefühlt. Ich liebe das Erschaffen und Gestalten, das Spiel mit Harmonie und konterkarierenden Elementen, aber ich hasse es, mich den absurden Wünschen der Kunden unterwerfen zu müssen. Ich arbeite, um zu überleben, und das gelingt mir aktuell eher schlecht als recht.

Während ich meine Maus zwischen Fensterbrett und Tisch hervorziehe, blickte ich flüchtig hinüber zu meinem blattlosen Freund. Auch er wird von ungebetenen Gästen belagert. Krähen. Oder sind es Raben? Den Unterschied habe ich nie so recht begriffen. Auf jeden Fall sind es zwei schwarzgefiederte Gesellen, die aufgeplustert nebeneinander auf einem kahlen Ast hocken und mit düsterer Miene zu mir herüberstarren.

Meine Mutter hätte bei diesem Anblick das Rollo zugezogen und mir befohlen, leise zu sein – eine andere Art von Erbe, das mir anhaftet. Doch ich habe mich entschieden, gegen diese Indoktrinierung anzukämpfen. Mal gelingt mir das besser, mal schlechter. Heute widerstehe ich dem Drang, mich vor den Unglücksboten zu verstecken.

Kein sanfter Kern

 

 

Den restlichen Nachmittag verbringe ich damit, online nach den Spuren meiner Großmutter oder sonst eines Moningham-Sprösslings zu suchen, in der Hoffnung, damit meine Entscheidung zu vereinfachen. Leider führt der einzige Link zu einem Eintrag in Londons Medienregister für das One-Woman-Start-up, das ich gegründet habe. Von wegen gläserne Gesellschaft und so – offenbar ist die Paranoia meiner Mutter eine Familienkrankheit.

Nach einem unproduktiven Nachmittag verlasse ich mit einem knappen »Tschüss« das Büro und gehe schnurstracks in den Supermarkt um die Ecke, um mir Eis und Chips zu besorgen.

Es ist seltsam, bei Tageslicht den Heimweg anzutreten. Ich komme mir wie eine Verräterin vor. Im Multimedia-Geschäft gehört es quasi zum guten Ton, Tag und Nacht für den Kunden oder die Firma zu ackern.

Schon mal eine Designerin Ende dreißig getroffen? Oder gar jemanden, der programmiert? Ich nicht. Die sind alle vorher ausgebrannte Wracks. Noch ein Grund, warum meine spontane Kündigungsidee eine gute Sache wäre. Aber vorerst stehen zwei andere Entscheidungen an: Ob ich die Erbschaft annehme und wie es privat weitergehen soll.

Am liebsten würde ich mich den ganzen Abend mit den Fressalien auf das Sofa verkrümeln und Filme gucken. Aber ich habe Josh gesagt, er solle vorbeikommen. Weil wir reden müssen. Diesen Nachsatz habe ich für mich behalten, so was verschreckt die Jungs, schon bevor die eigentliche Bombe geplatzt ist.

Ich will einen klaren Schlussstrich von Angesicht zu Angesicht, in dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Mir ist klar geworden, dass ein Hinhalten - ein bloßes Aushalten - zu viele Nerven und zu viel Kraft kostet, ohne dass dabei noch etwas für mich herausspringt, außer eine selbstauferlegte Pflicht zu erfüllen. Es wird Zeit, in meinem Leben aufzuräumen. Und dazu gehört auch das Thema »verkorkste Beziehung«.

 

Es ist kurz nach sieben, als Josh klingelt. Ich drücke den Summer. Seine polternden Schritte sind auf der Treppe zu hören. Entweder er will es schnell hinter sich bringen oder er hat keine Ahnung, was da gleich auf ihn zukommt.

»Hey«, sagt er zur Begrüßung und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund. »Ich hatte schon fast vergessen, wie du aussiehst.«

Er grinst, schiebt sich an mir vorbei und marschiert direkt in die Küche. Wahrscheinlich, um im Kühlschrank nach einem Bier zu suchen. Aber der Einkauf von vorhin hat sich nur auf meine Art Seelenbalsam beschränkt.

Ich schließe die Tür und atme einmal tief durch. Jetzt ist es also so weit. Ich werde nicht drum herumreden oder ihn mit Small Talk hinhalten.

»Ich ziehe weg«, platzt es aus mir heraus, als ich ihm nachgehe.

»Was ist?«, fragt Josh. Offenbar hat er meinen wagemutigen Vorstoß überhört, da er als Bierersatz die Chipstüte entdeckt hat und bereits mit seiner Hand darin herumwühlt.

»Ich habe nachgedacht«, beginne ich im zweiten Anlauf etwas dezenter. »Mir geht so einiges auf die Nerven und das schon eine ganze Weile.«

Josh wirft sich eine Handvoll Chili-Cheese-Kartoffelchips in den Mund und sieht mich erwartungsvoll an. Offenbar ist der Groschen noch nicht gefallen.

»Ich hatte einen Anruf«, versuche ich zu erklären. »Meine Großmutter ist gestorben. Ich habe geerbt.«

Die Augenbrauen meines Freundes heben sich. »Wie viel?«, ist alles, was er schmatzend hervorbringt.

»Viel wichtiger ist, dass mir etwas klar geworden ist. Ich habe eine Wahl«, sage ich nun schon etwas energischer. »Ich führe momentan ein Leben, das ich gar nicht führen will. Weder beruflich noch privat.«

Jetzt hat er’s kapiert. Seine Miene verdüstert sich. Er würgt die Chipsreste hinunter und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Verstehe, so ist das also. Kaum hat die Dame Moneten in der Tasche, ist die alte Welt nicht mehr gut genug für sie. Aber mir reicht’s eh schon lange! Die ewige Nörgelfresse, die du ziehst, wenn alle anderen Spaß haben, die Ausreden, die Ignoranz. Als wärst du was Besseres und wir nur der unwürdige Pöbel! Zu Anfang war das vielleicht noch lustig, aber das war einmal.«

Ich lasse ihn einfach reden. Der aufgestaute Ärger muss raus, das verstehe ich. Aber der eine oder andere Satz geht mir am Ende doch unter die Haut. Bin ich wirklich ein gefühlskaltes Arschloch, das andere ausnutzt und dann wegwirft? Gegen meinen Willen füllen sich meine Augen mit Tränen.

Aber Josh scheint das gar nicht mitzubekommen, er ist so richtig in Fahrt. »Übrigens ist es mir egal, wenn du gehst. Laura hat mir die Augen geöffnet. Wie naiv ich war, darauf zu hoffen, dass du wieder normal wirst! Du warst nie normal!«

»Und genau das mochtest du an mir!«, schreie ich zurück, während mir die Tränen über die Wangen rinnen.

»Ich dachte, das wäre so ’ne Masche. Das Mädchen mit den tausend Geheimnissen oder so. Hat ja auch funktioniert, ich bin dir ins Netz gegangen. Aber danach kam nichts mehr! Kein sanfter Kern unter der rauen Schale. Du bist unfähig, wirklich zu lieben!«

Das sitzt. Mir wird schwindelig. Vielleicht hat er recht. Vielleicht kann ich nicht lieben, weil ich es nie gelernt habe. Nie gespürt habe, wie sich das anfühlt. Ich schluchze auf und klammere mich an die Lehne des Küchenstuhls.

»Scheißkerl«, nuschle ich. In mir wächst die Lust, etwas an die Wand zu werfen. Aber vielleicht versau ich sie dann und das wäre unpraktisch, da ich mich doch gerade eben entschieden habe, auszuziehen.

Josh ist da hemmungsloser. Er wirft die Chipstüte quer über die Küchentheke, sodass sie eine Spur aus gelbroten Bröseln zieht und schließlich in der Spüle landet.

»Erstick doch an deiner Ego-Tour!«, ranzt er mich an. Dann geht er. Die Tür wird mit Wucht zugeschlagen und er poltert lautstark die Treppe hinunter.

Was folgt, ist ohrenbetäubende Stille. So muss man sich nach einem schweren Verkehrsunfall fühlen. Aber ich werde den Zusammenstoß überleben, ich bin ein starkes Mädchen – mein Mantra, wenn sich mein Leben wie ein ausgewrungener Wischmopp anfühlt.

Ich nehme die Eispackung, einen Löffel und gehe ins Wohnzimmer. Dort schiebe ich Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück in den DVD-Recorder und verkrieche mich unter die Wolldecke auf der Couch.

Schon nach dem Vorspann driften meine Gedanken ab. Natürlich wurde ich geliebt. Meine Mutter hatte nur eine sehr spezielle Art, es zu zeigen. Ich habe sie damals im Internat nur so schrecklich vermisst, da war es einfacher, aus ihr eine Verrückte und Rabenmutter zu machen.

Was, wenn sie mich gar nicht verlassen hat, sondern gestorben ist? Wenn man es mir einfach verschwiegen hat? Aber wen könnte ich danach fragen? Großmutter ist tot. Meinen Vater kenne ich nicht. Mums Handynummer ist schon lange an jemand anderen vergeben, unsere alte Adresse längst mit neuen Mietern besetzt. Der Einzige, der etwas wissen könnte, ist Kartasto Winkelbaum. Ob ich ihn anrufe?

Ich denke an den Briefumschlag und eine schreckliche Sekunde lang glaube ich, ihn verloren zu haben. Doch dann finde ich ihn in der Hosentasche, dort, wo sich sonst die alten, in Papier gewickelten Kaugummis verstecken.

»Zeit, dein Geheimnis zu lüften«, murmle ich.

Als ich den Umschlag öffne, rechne ich fest damit, eine Visitenkarte zu finden, doch es ist ein gefalteter Brief.

 

Sehr geehrte Miss Moningham,

 

da Sie diesen Brief geöffnet haben, gehe ich davon aus, dass Sie gewillt sind, das Erbe anzunehmen. Der Möbelwagen kommt morgen Nachmittag, um Ihren Besitz abzuholen. Bitte denken Sie daran, die Kündigung in den Briefkasten der Hausverwaltung zu werfen. Alles Weitere findet sich, wenn Sie eintreffen.

 

Hochachtungsvoll

Kartasto Winkelbaum

Nachlassverwalter

 

Wie cool, die schicken einen Möbelwagen, denke ich im ersten Moment. Aber auf den zweiten Blick gibt’s da Ungereimtheiten. Wie kann Kartasto wissen, dass ich den Brief gelesen habe? Oder wann ich ihn gelesen habe? Und dass ich ihn nur lese, wenn ich die Erbschaft auch annehme? Ich hätte ja genauso gut nach einer Nummer suchen können, um ihm abzusagen. Aber am meisten Bauchschmerzen bereitet mir die Frage, wie ich bis morgen alle meine Sachen in Kisten packen soll.

Halb panisch und halb von Vorfreude durchströmt, schlage ich die Decke zurück, schalte den Fernseher aus, verstaue das Eis und stürme in den Keller, um nach den Kartons zu suchen, die hoffentlich noch vom Einzug übrig sind.

Im Umzugsstress

 

 

Als der Wecker klingelt, ist es bereits neun Uhr. Dennoch bin ich müde. Bis drei Uhr früh habe ich Bücher, Klamotten und Geschirr in Kisten gestopft. Leider so enthusiastisch, dass ich kein frisches T-Shirt mehr greifbar habe. Nach eingehendem Schnuppertest entscheide ich mich für ein kakifarbenes Hemd aus dem Wäschekorb, auf dem nur ein winziger Ketchupfleck zu sehen ist.

Im Licht des neuen Tages ist meine Skepsis zurück. Wie soll das alles funktionieren? Niemand zieht einfach so mal eben in ein neues Heim, außer vielleicht ein gesuchter Mörder auf der Flucht. Oder ein Kronzeuge, der von der Mafia gejagt wird und alles andere hinter sich lassen muss.

Mit einer Tasse Tee, Stift und Block bewaffnet, setze ich mich in die Küche, um einen Plan zu erstellen. Oder besser noch eine Liste. Listen sind toll, sie geben Struktur. Man sieht an ihnen genau, was einem noch bevorsteht und was man schon alles geschafft hat. Gerade das Abhaken von Punkten ist dabei enorm wichtig. Es macht Mut, zeigt den Fortschritt. Auch wenn es sich nur darum dreht, den Müll runterzubringen. Ein Schritt nach dem anderen oder wie Beppo Straßenkehrer zu Momo sagt: »Denke nie an die ganze Straße auf einmal. Denke nur an den nächsten Schritt, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten. Und schon hast du die ganze Straße fertig.« Aber was ist mein nächster Schritt? Frühstücken? Den Brief an den Verwalter schreiben und einwerfen? Soll ich noch mal das Bad putzen? Eher nicht. Ich habe die Wohnung besenrein übernommen. Mit Schlafzimmerwänden in Rosa! Ein Farbdesaster, das ich noch am Tag meines Einzugs mit kühlem Arctic-Weiß aus der Welt geschafft habe.

Dann wäre da noch meine Post. Doch für einen Nachsendeauftrag fehlt mir die genaue Adresse meines neuen Heims, also werde ich sie erst einmal einlagern lassen. Außerdem muss ich meinen Arbeitsplatz in der Bürogemeinschaft kündigen und die fertige Werbeanzeige an die Bäckerei versenden. Vielleicht ist Stephanie sogar froh darüber, dass ich gehe.

Nachdem ich noch ein paar weitere Notizen gemacht und meinen Tee ausgetrunken habe, beschließe ich, erst einmal Punkt eins anzugehen: Frühstück im Café um die Ecke.

Auf dem Weg dorthin hocken zwei schwarze Vögel auf einer Straßenlaterne. Schon wieder Krähen! Meine Mum hätte die beiden wohl als Spione beschimpft und versucht, sie zu verscheuchen. Tatsächlich schauen sie in meine Richtung. Doch bevor meine inneren Dämonen es mit dem Verstand ausgekämpft haben, ob da etwas dran sein könnte, vertreibt ein übergroßer Lastwagen sie von ihrem Platz.

Ein wenig erleichtert – auch wenn ich das nie öffentlich zugeben würde – betrete ich das Café. Ich habe wenig Zeit, dennoch gönne ich mir neben einem Körnermüsli mit Joghurt und frischem Obst noch ein Schokocroissant und setze mich an die Theke vor dem Panoramafenster. Wer weiß, ob es auf dem Land einen Laden mit einer ähnlich großen Auswahl gibt.

Draußen auf der Straße eilen die Leute geschäftig über die Gehsteige. Im Grunde sind wir nichts anderes als Tiere im Hamsterrad des Lebens. Es geht immer rundherum, tagein, tagaus. Ewig die gleiche Routine, ohne je einen Endpunkt zu erreichen – außer vielleicht im Tod. Und ich stecke auch schon drin. Wo ist der Spaß geblieben? Die Leidenschaft? Mein Lachen?

Nachdem ich mich eine zweite Kaffeetasse lang in dieser gedanklichen Düsternis gesuhlt habe, packe ich zusammen und stehe auf. Der erste Punkt auf der Liste ist damit abgehakt.

Als ich nach einer halben Stunde nach Hause komme, finde ich meine Eingangstür offen vor. Hatte ich sie nicht richtig zugezogen? Aufgebrochen sieht sie nicht aus. Ich lausche.

In der Wohnung ist es still. Als ich eintrete, wirkt der kleine Flur wie immer. Erleichtert atme ich aus, hänge die Jacke an den Garderobenhaken, ziehe die Schuhe aus und will den Hausschlüssel in die Schale am Spiegel legen, da fällt es mir auf: Der Kellerschlüssel ist weg. Habe ich ihn gestern Abend vielleicht in die Hosentasche gesteckt und vergessen?

Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Riecht es nicht auch seltsam? Irgendwie süßlich? Mit klopfendem Herzen gehe ich die zwei Schritte bis zum Durchgang zu Küche und Wohnzimmer. Mein Herz setzt für einen Moment aus.

In beiden Zimmern herrscht pures Chaos. Als wären die sorgsam gepackten Kartons regelrecht explodiert. Jemand hat sie umgeworfen, aufgerissen und den Inhalt in der ganzen Wohnung verstreut. Das einzeln in Zeitungspapier gewickelte Geschirr ist zerbrochen. Überall liegen Scherben und Splitter. Bücher, Klamotten und meine Zeichensachen finde ich durcheinandergewürfelt auf dem Boden.

Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich schluchze erstickt auf. Wie konnte mein sorgsam aufgebautes und gut sortiertes Leben in dieser kurzen Zeit zu so einem verdammten Durcheinander zerbröseln? Wie viel Pech muss an einem kleben, dass ausgerechnet am Tag des Auszugs jemand bei dir einbricht und dein Zeug stiehlt? Ich hätte die Krähen verscheuchen sollen, so wie meine Mum es mir beigebracht hat.

Mein Blick schweift durch den Raum, bleibt am Flachbildschirm hängen, wandert zu der kleinen Stereoanlage. Wenn das Diebe waren, warum haben sie die zwei wertvollsten Stücke aus meinem Besitz nicht mitgenommen?

Panik steigt in mir auf und schnürt mir den Hals zu. Hatten die Einbrecher es am Ende auf mich abgesehen? Aber dann hätten sie wohl kaum die Kisten durchwühlt. Es wirkt viel mehr so, als wären sie auf der Suche nach etwas gewesen. Nach etwas ganz Bestimmtem.

Was, wenn es Josh war? Aus Rache und weil ich noch irgendeine Spiele-DVD von ihm hatte? Nein. Das ist Quatsch. Josh ist nicht der Typ für diese Art von roher Gewalt. Er würde seiner Wut eher in ein paar fies sarkastischen Nachrichten auf dem Handy Luft machen.

Ich atme bewusst ein paar Mal tief ein und so ruhig wie möglich wieder aus. Ich muss klar denken, überlegen, was jetzt zu tun ist. Soll ich die Polizei rufen? Aber die werden mir den Schaden wohl kaum ersetzen. Eine Hausratversicherung habe ich nicht, warum also Ärger mit Papierkram heraufbeschwören? Die wollen bestimmt eine Aussage auf dem Revier oder stundenlang Fingerabdrücke nehmen. Am Ende verpasse ich zu allem Überfluss noch den Möbelwagen und verliere meine Erbschaft.

Mein Entschluss steht fest: keine Anzeige, keine Polizei. Stattdessen greife ich nach dem Kehrbesen und beginne, das Chaos Stück für Stück aufzuräumen und die Sachen wieder in die verbliebenen Kartons zu stopfen. Das bisschen Hoffnung in meinem Leben nimmt mir keiner so schnell weg!

 

Es ist bereits Mittag, als ich alles wieder notdürftig verstaut habe. Auch die Auftragsarbeit ist per E-Mail an den Kunden verschickt. Ich bin müde und erschöpft, aber eine Pause ist nicht drin. Ich muss zur Post.

Diesmal sperre ich sorgsam ab und rufe in den Treppenaufgang: »Bin gleich wieder da!« Schließlich kann man nie wissen, ob da noch ein weiterer Einbrecher lauert. Pech zieht ja bekanntlich noch mehr Pech an, ganz im Gegensatz zu Glück. Das scheint mir eher ein Einzelgänger zu sein.

Die nächste Postfiliale ist einige Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Bevor ich mich vor dem Schalter einreihe, setze ich mich an einen der Hochtische, ziehe zwei Bögen Papier aus meiner Tasche und schreibe die ausstehenden Kündigungen. Eine an den Hausverwalter und eine an die Bürogemeinschaft.

Als jeweils nur noch die Unterschrift fehlt, lege ich den Stift beiseite. Worte, auch wenn es nur geschriebene sind, können Dinge ganz schön real werden lassen. Will ich das hier wirklich? Oder folge ich nur dem Weg, den andere für mich vorgezeichnet haben?

Ohne diese Erbschaft wäre ich nie auf die Idee gekommen, aufs Land zu ziehen. Ich mag den Trubel und die Anonymität der Großstadt. Es war unglaublich erlösend, das Internat nach dem Abschluss endlich volljährig verlassen zu können, befreit von Zwängen und Regeln. Ich durfte mein Ich neu definieren, mich neu kleiden, neue Gewohnheiten annehmen, ohne dass jemand sagen konnte: »Du hast doch noch nie Röcke getragen. Und seit wann magst du Tee?«

Im Grunde ist Erwachsenwerden wie eine Schmetterlingsgeburt. Vorher ist man eine mehr oder weniger unscheinbare Raupe in einem Pulk aus vielen Raupen. Wenn es Zeit wird, zieht man sich zurück, verkriecht sich, um irgendwo in sich selbst den Mut zu finden, sein eigentliches Ich nach außen zu kehren. Mag sein, dass mir das bisher noch nicht zur Gänze gelungen ist, aber Erwachsenwerden ist ja auch nichts, was an einem Tag passiert.

Ich zücke erneut den Stift, setze die Spitze aufs Papier und schreibe meinen Namen mit einer Entschlossenheit, die man nur hat, wenn man voller Inbrunst auf das Gute hofft, auch wenn das Loch, in das man springt, duster und bodenlos wirkt.

Nachdem ich Briefumschläge samt Briefmarken gekauft und auch die Einlagerung meiner Post beauftragt habe, gönne ich mir einen Mittagssnack an der Imbissbude und eile erneut nach Hause. Damit ist ein weiterer Punkt erledigt. Aber leider ist dafür ein weiterer dazugekommen. Ich muss dem Hausmeister beichten, dass mein Kellerschlüssel weg ist und ich trotzdem dringend an meine Sachen muss. Denn leider sind es keine Abteile aus Sperrholzlatten, sondern Räume mit echten Türen. Sonst hätte ich das Vorhängeschloss einfach durchsägen und mit einem neuen ersetzen können.

 

»Was ist passiert?«, fragt Eddy prompt, nachdem ich sein Büro betreten und ihm meinen Wunsch offenbart habe.

Eigentlich wollte ich ihm nichts von meinem Auszug erzählen, aber spätestens, wenn der Möbelwagen vorfährt, lässt sich das sowieso nicht mehr verheimlichen.

»Ein Todesfall in der Familie«, erkläre ich stockend. »Ich werde gebraucht. Daher ziehe ich aus. Alles ganz kurzfristig.«

Eddy legt den Kopf nachdenklich zur Seite. Er ist kein Mann vieler Worte, aber er hat seinen Job immer tadellos erledigt. Zum Beispiel als die Heizung getropft hat, ausgerechnet an einem Samstagabend. Trotzdem ist er mit Eimer und Klebeband gekommen und hat das Leck notdürftig abgedichtet, bis eine Woche später endlich der Sanitärmann eingetroffen ist, um das Thermostat zu wechseln.

»Ziemlich überstürzt«, kommentiert Eddy.

»Hat Sterben leider so an sich«, antworte ich und lächle schief.

»Stimmt schon. Dann aber Briefkastenschlüssel nicht vergessen«, sagt er. »Oder haste den auch verloren?«

»Nein, nein«, beeile ich mich zu versichern. »Es geht nur um den Keller. Du hast doch sicher einen Generalschlüssel?«

Auch dieses Mal lässt mich Eddy nicht im Stich.

Als wir gemeinsam die Treppe nach unten gehen, steigen Ängste in mir hoch. Haben die Einbrecher auch hier in meinen Sachen gewühlt und Chaos gestiftet?

Eddy weiß auswendig, welches mein Abteil ist. Er sperrt in aller Ruhe auf und wendet sich wieder zum Gehen. »Du sagst einfach, wenn alles draußen ist?«

»Natürlich«, antworte ich mit belegter Stimme.

Ich warte, bis er ein paar Schritte Richtung Treppe gemacht hat, dann ziehe ich die Tür auf. Die Kisten und das restliche Zeug sehen unberührt aus. Eine dünne Staubschicht verrät, dass sich niemand daran zu schaffen gemacht hat. Aber warum wurde dann der Schlüssel gestohlen? Oder habe ich ihn doch verloren?

»Miss Moningham? Mina Moningham?«, fragt hinter mir eine raue Stimme und schafft es, dass ich vor Schreck aufkreische und herumwirble. Vor mir steht ein bulliger Kerl in Latzhose.

»Ja, hier«, antworte ich automatisch.

»Wir komm’, um die Sachen zu holen. Wegen’m Umzug.« Seine riesige Gestalt ist angsteinflößend, aber die Augen strahlen so viel Sanftheit aus, dass ich gar nicht anders kann, als ihn anzulächeln.

»Perfekt, dann können Sie gleich mit dem Raum hier anfangen«, antworte ich.

Tatkräftig will ich ebenfalls nach einer Kiste greifen, doch da stürmt ein gefühltes Dutzend dürrer Männlein herein und kommt mir zuvor. Die Helfer sind so flink, dass ich beim besten Willen nicht sagen kann, wie viele es genau sind. Und eigentlich ist es mir auch egal.

Stattdessen gehe ich mit dem bulligen Anführer der Truppe in meine Wohnung. Aber auch dorthin folgen uns die Männchen und bevor ich so recht weiß, wie mir geschieht, ist das Appartement leergeräumt.

Als ich den Transporter vom Fenster aus losfahren sehe, befällt mich Panik. Habe ich gerade einer dreisten Einbrecherbande dabei geholfen, mich bis aufs letzte Hemd auszurauben?

Mein Rettungsanker erscheint in Form eines dottergelben Oldtimers. Diesmal hält er etwas verkehrsfreundlicher in der Einfahrt. Ich atme erleichtert auf. In diesem Moment ist mir völlig egal, woher Kartasto Winkelbaum weiß, dass wir fertig sind und dass ich alles Notwendige erledigt habe. Ich bin einfach nur froh, dass ich hier wegkann.

Ohne Abschiedsgruß verlasse ich die Wohnung, stecke Haustür- und Briefkastenschlüssel in einen Umschlag und werfe ihn bei Eddy ein. Tschüss, Großstadtleben. Hallo Abenteuer!

Hallo Haus

 

 

Der Fahrer hat Anweisung, mich zur Kanzlei zu bringen, um die nötigen Formalitäten zu erledigen. Mehr erfahre ich nicht. Und als ein Gesprächsversuch über das Wetter und die Verkehrsverhältnisse mit einem schlichten Nicken abgeschmettert wird, lehne ich mich zurück und zücke mein Handy.

Mir ist nach Reden, aber da ist niemand, mit dem ich diesen aufregenden Moment in meinem Leben teilen könnte. Meine so genannten Freunde sind eher oberflächliche Bekanntschaften, selbst die Beziehung mit Josh war da im Grunde keine Ausnahme. Mag sein, dass es an mir liegt. Vielleicht hat mich die Werbebranche bereits vereinnahmt und zu einem lächelnden Werbespot ohne tiefergehenden Inhalt gemacht.

Während wir aus der Stadt fahren, denke ich darüber nach. Ich glaube, wir Raupen haben durchaus wertvolle Gedanken, aber wir verstecken sie unter einer dicken Haut und versuchen erst mal zu überleben. Vielleicht sollte ich diesen Neubeginn auch in dieser Hinsicht nutzen und mich den Menschen mehr öffnen. Bis sie dich wieder verletzen, zu Boden werfen und auf dir rumtrampeln, hält die kleine Ketzerstimme in mir dagegen. Wer soll dich dann auffangen? Wer dich trösten? Du hast doch nur dich und deine verkorksten Träume von einem glücklicheren Leben.

Es stimmt. Ich habe weder Freunde noch Familie. Und auch wenn ich meine Großmutter nie kennengelernt habe, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es schön wäre, wenigstens am Grab mit ihr sprechen zu können. Ihr meine Sorgen und meine Hoffnungen zu erzählen und ihr die vielen Fragen zu stellen, die sich in den vergangenen Tagen angehäuft haben. Es wäre wundervoll, jemanden zu haben, der mir über den Kopf streicht und etwas Heilsames sagt, statt zu ermahnen und zu tadeln. Zumindest in meiner Vorstellung.

Nach dem Einzug werde ich als Erstes auf dem Friedhof nach der Grabstätte suchen. Vielleicht liegt mein unbekannter Großvater ja ebenfalls dort, beide vereint in ihrer Gruft. Bei dem Gedanken rinnt mir eine Träne über die Wange. Ja, eine Familie zu haben, wäre wirklich etwas Schönes gewesen.

 

Wieder biegen wir in dem kleinen Dorf in die Seitenstraße und auf das verwilderte Grundstück ab, auf dem die Kanzlei Winkelbaum und Tulpin angesiedelt ist. Offenbar hat Kartasto unsere Ankunft vorausgesehen und wartet bereits am Eingang, um mir die Türe zu öffnen – ein Gentleman durch und durch.

»Was für eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Moningham. Ich hoffe, Frederick hat Sie zu Ihrer Zufriedenheit kutschiert?« Der Nachlassverwalter sieht mir erwartungsvoll entgegen. Sein Kopf reicht mir kaum bis zur Brust, doch was ihm an Größe fehlt, macht er mit Masse wieder wett.

»Er war zum perfekten Zeitpunkt vor Ort und hat mich sicher bis zu Ihnen gebracht«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Sehr schön. Dann wollen Sie vielleicht einen Tee? Etwas Gebäck dazu? Oder lieber einen herzhaften Snack?« Kartasto macht eine einladende Geste die Treppen zum Haus hinauf.

Ich zögere. Einerseits gebietet es die Höflichkeit, mich zumindest für ein Schlückchen einladen zu lassen, andererseits ist mir nach dem ganzen Trubel eigentlich eher nach etwas Ruhe. Ich will Kartasto nicht verärgern, aber auch nicht anlügen.

Er ist immerhin der Einzige, den ich hier schon ein wenig kenne. Ich sollte mich also eigentlich mit ihm gut stellen. Doch ich bin eben ich, also sage ich: »Mir wäre es lieber, wenn Sie mir ohne viele Umstände die nötigen Unterlagen aushändigen würden, die ich unterzeichnen muss, damit ich mich mit meinem neuen Zuhause bekannt machen kann.«

Unerwarteterweise lächelt der Nachlassverwalter. »Das ist eine sehr löbliche Einstellung, meine Liebe.« Als hätte er meine Antwort geahnt, zaubert er hinter seinem Rücken eine Mappe aus schwarzem Leder hervor, klappt sie auf und reicht mir einen goldenen Füllfederhalter. »Wenn Sie unten auf der Seite die Anerkennung des Erbes quittieren wollen?«