Kleine Abschiede - Anne Tyler - E-Book

Kleine Abschiede E-Book

Anne Tyler

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Beschreibung

Delia Grinstead ist Hausfrau und Mutter einer ganz gewöhnlichen Familie. Doch während eines Sommerurlaubs beschließt sie plötzlich, ihre Familie zu verlassen. Plötzlich? Ohne Grund? Wohl kaum. Die über Jahre des Familienlebens entstandene Selbstverständlichkeit darüber, dass sie einfach da ist und dass ihr offenbar niemand etwas Abenteuerliches zutraut, nagt an ihr. So trampt sie noch im Badeanzug in eine neue Stadt, sucht sich ein Zimmer und einen Job. Eben noch bis zur Unsichtbarkeit mir ihrer Familie verschmolzen, findet Delia die Unabhängigkeit, die sie bisher noch nie hatte. Bis sie eines Tages eine Nachricht von ihrer Tochter erhält und doch wieder nach Hause fährt, wo sie dringender denn je gebraucht wird.

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

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» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Anne Tyler wurde in Minneapolis, Minnesota, geboren und ist »eine der erfolgreichsten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur« (ZEITmagazin). Sie ist Preisträgerin des Sunday Times Awards für ihr Lebenswerk. Bei Kein & Aber erschienen bisher Verlorene Stunden (2010), Abschied für Anfänger (2012), Im Krieg und in der Liebe, Dinner im Restaurant Heimweh (beide 2014), Die Reisen des Mr Leary, Der leuchtend blaue Faden (beide 2015) und zuletzt Kleine Abschiede und Atemübungen (beide 2016). Anne Tyler lebt in Baltimore.

ÜBER DAS BUCH

Delia Grinstead ist Hausfrau und Mutter einer ganz gewöhnlichen Familie. Doch während eines Sommerurlaubs beschließt sie plötzlich, ihren Ehemann und die drei Kinder zu verlassen und reist noch im Badeanzug in eine neue Stadt, sucht sich ein Zimmer und einen Job. Plötzlich? Ohne Grund? Wohl kaum. Eben noch bis zur Unsichtbarkeit mit ihrer Familie verschmolzen, findet sie die Unabhängigkeit, die sie bisher noch nie hatte. Bis sie eines Tages eine Nachricht von ihrer Tochter erhält und doch wieder nach Hause fährt, wo sie dringender denn je gebraucht wird.

»Scharf tritt Anne Tylers eigentliches Sujet hervor: das Schicksal des Privaten, des Ehe- und Familienlebens.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung

frau aus baltimore inden ferien verschwunden

Die Polizei des Staates Delaware gab heute früh bekannt, dass Cordelia F. Grinstead, 40, Ehefrau eines Arztes in Roland Park, als vermisst gemeldet wurde, während sie mit ihrer Familie in Bethany Beach Ferien machte.

Mrs. Grinstead wurde zuletzt gegen Mittag am vergangenen Montag gesehen, als sie den Strand zwischen Bethany und Sea Colony in südlicher Richtung entlangging.

Zeugen ihres Weggangs – ihr Ehemann, Dr. Samuel Grinstead, 55, und ihre drei Kinder, Susan, 21, Ramsay, 19, und Carroll, 15 – können sich an keinerlei verdächtige Personen in der Nähe erinnern. Sie gaben zu Protokoll, dass – soweit sie sich erinnerten – sie einfach fortging. Die Tatsache, dass sie nicht zurückkam, wurde erst am späten Nachmittag bemerkt.

Mrs. Grinstead ist eine schlanke, zart gebaute Frau mit blonden bis hellbraunen Locken; sie ist zwischen 1,58 m und 1,65 m groß und wiegt 50 bis 60 kg. Augen blau, grau oder auch grün; auf der Nase ein leichter Sonnenbrand und Sommersprossen.

Wahrscheinlich trug sie eine große Strohtasche mit rosa Schleife. Über ihre Bekleidung weichen die Aussagen der Familienmitglieder voneinander ab. Ihr Ehemann gibt an, dass sie mit aller Wahrscheinlichkeit Rosa oder Hellblau trug, Rüschen, Spitzen oder ein Hängerkleidchen.

Offizielle Stellen schließen Tod durch Ertrinken aus, weil Mrs. Grinstead, wann immer möglich, Schwimmen mied und eine erklärte Abneigung gegen Wasser hatte. Ihre Schwester, Eliza Felson, 52, erklärte den Reportern, die vermisste Frau wäre »in ihrer letzten Inkarnation womöglich eine Katze gewesen«.

Wer über den gegenwärtigen Aufenthaltsort Mrs. Grinsteads Auskunft geben kann, wird dringend gebeten, sich an die Polizei des Staates Delaware zu wenden.

1

Alles begann an einem Samstagmorgen im Mai, einem jener warmen Frühlingstage, an denen es nach frischer Wäsche riecht. Delia war zum Supermarkt gefahren, um für die kommende Woche einzukaufen. Sie stand in der Gemüseabteilung, griff lustlos einen Bund Stangensellerie. Lebensmittelläden brachten sie immer ins Grübeln. Wieso, überlegte sie, hieß Stangensellerie nicht »Samtrippengemüse«? Das klang viel plastischer. Und Knoblauchknollen »Geldbeutel« – die Rundungen erinnerten sie an die prallen Münzsäcke im Märchen.

Zu ihrer Rechten suchte ein Kunde grüne Zwiebeln aus. Es war noch früh, der Laden war fast leer, und dennoch kam ihr dieser Mann ein wenig zu nah. Ein-, zweimal hatte sein Hemdsärmel den Ärmel ihres Kleids gestreift. Außerdem schob er die Zwiebeln eigentlich nur hin und her. Er hob ein Bündel hoch, ließ es fallen und nahm das nächste. Seine Finger waren sehr lang und behände, fast wie Spinnen. Die Manschetten seines Hemds waren aus gelbem Popeline.

Er sagte: »Wissen Sie, ob das Frühlingszwiebeln sind?«

»Kann schon sein«, sagte Delia. Sie griff den nächstbesten Selleriebund und ging weiter zu den Plastiktüten.

»Oder sind es Schalotten?«

»Nein, Frühlingszwiebeln«, gab sie ihm zur Antwort. Unnötigerweise hielt er die Plastikrolle oben fest, als sie eine Tüte abriss. (Er überragte sie um gute dreißig Zentimeter.) Sie ließ den Sellerie in die Tüte fallen und griff nach der Schale mit den Verschlüssen, aber er hatte schon einen für sie herausgenommen. »Was sind eigentlich Schalotten?«, fragte er.

Sie befürchtete schon einen Annäherungsversuch; doch als sie sich umdrehte, stellte sie fest, er war sicher zehn Jahre jünger als sie und sah außerdem sehr gut aus. Sein Haar war glatt und dunkelblond; die milchig blauen Augen gaben ihm etwas Verträumtes, Friedfertiges. Er lächelte auf sie herab und stand für einen Fremden ein wenig zu dicht.

»Hm …«, sagte sie verwirrt.

»Schalotten«, erinnerte er sie.

»Schalotten sind dicker«, sagte sie. Sie legte den Sellerie in ihren Einkaufswagen. »Ich glaube, sie stehen über der Petersilie«, rief sie über die Schulter; doch er ging neben ihr, hielt mit ihr Schritt, als sie ihren Wagen zu den Zitrusfrüchten schob. Er trug Jeans, sehr verblichene, und Mokassins, Leisetreter, die von King of the Road aus der Lautsprecheranlage übertönt wurden.

»Zitronen brauche ich auch«, erklärte er.

Sie sah ihn noch einmal verstohlen an.

»Hören Sie«, sagte er plötzlich. Er sprach ganz leise.

»Darf ich Sie um einen großen Gefallen bitten?«

»Hm …«

»Meine Exfrau steht da vorn bei den Kartoffeln. Oder nicht Ex, sondern … eher getrennt, und sie hat ihren Freund dabei. Darf ich einfach so tun, als gehörten wir zusammen? Nur bis ich hier wieder raus bin?«

»Ja, natürlich«, sagte Delia.

Und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, fiel sie begeistert zurück in alte Highschool-Zeiten; romantisches Katz-und-Maus-Spiel, Lug und Trug. Sie kniff die Augen zusammen, reckte das Kinn und sagte: »Wir werden es ihr zeigen!«, umsegelte das Obst und machte zum Wurzelgemüse kehrt. »Welche ist es?«, artikulierte sie wie eine Bauchrednerpuppe.

»Beiges Hemd«, flüsterte er. Da zuckte sie zusammen, weil er plötzlich lauthals lachte. »Haha!«, rief er. »Sie sind ganz schön pfiffig!«

Doch »beiges Hemd« war absolut nicht die passende Beschreibung. Die Frau, die sich auf seine Stimme hin umdrehte, trug eine eierschalfarbene Seidentunika über einer schwarzen Seidenhose mit Beinen, so schmal wie zwei Bleistifte. Ihr Haar war tiefschwarz, an einer Seite kürzer, und ihr Gesicht bildete ein perfektes Oval. »Ach, Adrian«, sagte sie. Die Person neben ihr – irgendein Mann – drehte sich auch um, in der Hand eine Kartoffel. Ein dunkler, breiter Mann mit einem uneben teigigen Gesicht und Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. Er konnte der Frau eigentlich nicht das Wasser reichen; aber wer konnte das schon?

Delias Begleiter sagte: »Rosemary. Dich habe ich ja gar nicht gesehen. Also, vergiss bloß nicht«, erklärte er Delia, ohne sein Tempo zu verringern. Er griff ihren Wagen und steuerte auf Gang drei zu. »Du hast mir versprochen, heute Abend machst du mir wieder deinen Flammeri.«

»Oh, ja, meinen … Flammeri«, wiederholte Delia schwach. Was immer ein Flammeri war, es klang, wie sie sich gerade fühlte: mager, farb- und geschmacklos; sie mit ihren Sommersprossen und den krausen braunen Locken, ihrem rosa Rüschenkleid mit dem braven runden Krägelchen.

Sie hatten die Milch- und Käsegondel und den Gang mit den Säften ausgelassen, wo Delia eigentlich Verschiedenes besorgen wollte, doch darauf wies sie nicht hin, weil dieser Adrian immer noch redete. »Deinen Flammeri und dann dein, na was, dein Fleisch und Gemüse und da-da-da …«

Wie er seine Stimme ausblendete, erinnerte sie an die alten Schlager, in denen sich die Sänger am Ende wie abwesend vom Mikrofon entfernten. »Sieht sie hinter uns her?«, flüsterte er. »Schauen Sie mal nach. Aber nicht so auffällig.«

Delia blinzelte hinüber, heuchelte brennendes Interesse für den vorgekochten Reis im Sonderangebot. Beide, die Ehefrau und der Freund, kehrten ihr den Rücken zu, doch die Pose wirkte unecht. Kein Mensch konnte Rose-Kartoffeln derartig viel Faszination abgewinnen. »Also, mental guckt sie«, sagte Delia leise. Sie drehte sich um und stellte fest, dass sich ihr Einkaufswagen mit Pasta füllte. Eiernudeln, Rotini, Linguine – Adrian warf die Packungen wahllos hinein. »Also, entschuldigen Sie …«, sagte sie.

»Oh, Verzeihung«, erschrak er. Er stopfte seine Hände in die Hosentaschen und ging mit großen Schritten davon. Delia folgte, schob ihren Wagen sehr langsam; vielleicht wollte er jetzt, dass sie jeder wieder ihrer Wege gingen. Doch am Ende des Gangs machte er halt und begutachtete, bis sie ihn einholte, eine Reihe Raviolibüchsen. »Der Freund heißt Skipper«, sagte er. »Er ist ihr Steuerberater.«

»Steuerberater!«, sagte Delia. So sah er nicht aus.

»Ein Halbdutzendmal wenigstens ist er bei uns zu Hause gewesen. Hat in unserem ureigenen Wohnzimmer gesessen und ihre Steuern durchgekaut. Rosemary hat einen Party-Service: ›Feine Gesellschaft.‹ Haha. ›Sündhaft delikate Feinkost für jeden Anlass.‹ Kaum, dass ich es begriffen hatte, ist sie zu ihm gezogen. Sie rief an, sie brauche nur ein paar Wochen für sich, doch ich habe ganz genau gehört, wie er im Hintergrund soufflierte.«

»Oh, wie schrecklich«, sagte Delia.

Eine Frau mit einem Baby im Einkaufswagen schob sich zwischen sie und angelte nach einer Dose Käsemakkaroni. Delia machte ihr einen Schritt Platz.

»Wenn es Ihnen nicht zu lästig ist«, sagte Adrian, als die Frau fort war, »bleibe ich einfach bei Ihnen und Sie kaufen weiter ein. Es ist doch verdächtig, wenn ich jetzt allein hinausgehe. Hoffentlich macht Ihnen das nichts aus.«

Ausmachen? Es war das Interessanteste, das ihr seit Jahren passiert war. »Kein bisschen«, antwortete sie. Sie schob den Wagen nach Gang vier. Adrian spazierte neben ihr.

»Übrigens, ich heiße Adrian Bly-Brice«, sagte er. »Es wäre schon besser, wenn ich Ihren Namen auch wüsste.«

»Ich heiße Delia Grinstead«, sagte sie zu ihm. Sie griff ein Glas getrockneter Minze aus dem Gewürzregal.

»Ich glaube, eine Delia ist mir noch nie über den Weg gelaufen.«

»Cordelia, eigentlich. Mein Vater hat mich so genannt.«

»Sind Sie eine?«

»Eine was?«

»Sind Sie Vaters Cordelia?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Er ist tot.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Letzten Winter ist er gestorben«, sagte sie.

Lächerlich, ihr kamen die Tränen. Diese Unterhaltung lief irgendwie in die falsche Richtung. Sie reckte sich und schob den Wagen den Gang hinunter, steuerte ihn um ein älteres Ehepaar herum, das sich nicht einigen konnte, welchen Salzersatz es kaufen sollte. »Jedenfalls«, sagte sie, »wurde sofort Delia daraus. Wie in dem Lied.«

»Welchem Lied?«

»Oh … ach, Delia is gone, one more round … über die Delia, die auf und davon geht. Mein Vater hat mich damit oft in den Schlaf gesungen.«

»Nie gehört«, sagte Adrian.

Der Lautsprecher spielte By the Time I Get to Phoenix, wetteiferte mit dem väterlichen Brummbass in ihrem Kopf, der Delias’s Gone sang. »Jedenfalls!«, sagte sie noch einmal beherzt.

Sie nahmen den nächsten Gang in Angriff: links Müsli, Popcorn und Süßigkeiten rechts. Delia brauchte Cornflakes, doch Cornflakes sahen gleich so nach Familie aus, also ließ sie es. (Woraus bestand ein Flammeri?) Adrian sah gedankenverloren auf Karamelltüten und Rumkugeln. Seine Haut war leicht gebräunt, wie manchmal bei hellhaarigen Männern, und fast porenlos. Sicher rasierte er sich höchstens jeden zweiten Tag.

»Ich heiße nach einem Onkel«, sagte er. »Der reiche Onkel Adrian Brice. Wahrscheinlich aber ganz umsonst. Er ist mir böse, weil ich mit der Heirat meinen Namen geändert habe.«

»Sie haben mit der Heirat Ihren Namen geändert?«

»Ich war Adrian Brice der Zweite, aber dann habe ich Rosemary Bly geheiratet, und jetzt heißen wir beide Bly-Brice.«

»Oh, mit Bindestrich«, sagte Delia. Darauf war sie nicht gekommen.

»Es war allein ihre Idee, glauben Sie mir.«

Wie wenn man vom Teufel spricht, erschien Rosemary am anderen Ende des Ganges. Sie warf etwas in den roten Plastikkorb, der an Skippers Arm baumelte. Frauen wie Rosemary kauften nie Lebensmittel fuhrenweise.

»Wenn wir ins Kino gehen, verpassen wir aber das Konzert«, sagte Adrian prompt, »und du weißt doch, wie ich mich auf das Konzert freue.«

»Das habe ich ganz vergessen«, sagte Delia. »Das Konzert! Sie spielen …«

Doch kein einziger Komponist fiel ihr ein. (Und vielleicht meinte er auch ein anderes Konzert – ein Rockkonzert etwa. Schließlich war er noch jung.) Rosemary sah ungerührt Delia und Adrian näher kommen. Delia hielt dem Blick nicht stand. »Wir heben uns das Kino für morgen auf«, sagte Adrian. Er lenkte ihren Wagen leicht nach links. Plötzlich fühlte Delia sich kümmerlich klein – nicht zart und zierlich, sondern zu kurz geraten, farblos, unscheinbar. Sie reichte Adrian gerade bis unter die Achseln. Sie beschleunigte ihren Schritt, eilte sich, diesem Aspekt ihrer Person zu entkommen. »Sonntags gibt es sicher eine Matinee?«, fragte Adrian gerade.

»Aber natürlich«, bestätigte sie eine Spur zu nachdrücklich. »Wir gehen in die Vorstellung um zwei, gleich nach unserem Champagnerfrühstück.«

Schon rauschte sie durch den nächsten Gang. Adrian musste große Schritte machen, um mitzukommen. Beinah wären sie mit einem Mann zusammengestoßen, auf dessen Einkaufswagen sich riesige Pamperspackungen türmten.

In Gang sieben schwirrten sie durch die Feinkostabteilung – Anchovispaste, geräucherte Austern – und kamen zur Babynahrung, wo Delia einfiel: Sie brauchte passierten Spinat. Sie machte halt und studierte die aufgereihten Gläschen. »Die nicht!«, zischte Adrian. Sie rasten weiter, ließen Gang sieben hinter sich und kurvten zu acht. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte nur, wenn Rosemary sieht, dass Sie Babynahrung kaufen …«

Sähe sie, dass sie Babynahrung kaufte, hätte sie Delia nur für eine Hausfrau mit Kleinkind gehalten. Ironischerweise hatte Delia schon lange keine kleinen Kinder mehr. Den Spinat brauchte sie nur für ihre Erbsensuppe mit Minze. Doch das klarzustellen, unterließ sie und wählte stattdessen eine Dose Hühnerbrühe. »Oh«, sagte Adrian. »Consommé! Die wollte ich auch kaufen.«

Er ließ eine Dose in ihren Wagen fallen – Nobelmarke mit glänzend weißem Etikett. Dann schlenderte er weiter, die Hände flach in den Gesäßtaschen. Wenn Delia genau überlegte, erinnerte er sie an ihren ersten richtigen Freund – tatsächlich ihren einzigen Freund –, ihren Ehemann nicht mitgezählt. Will Britt bewegte sich genauso kantig, damals war ihr das gleichzeitig gewandt und unbeholfen vorgekommen; und er winkelte seine Arme genauso nach hinten ab, wie knubbelige Flügelspitzen, und dann hatte er auch abstehende Ohren. Beruhigend, dass Adrian abstehende Ohren hatte. Zu hübsche Männer waren ihr nicht geheuer.

Am Gangende blickten sie nach rechts, nach links. Man konnte nie wissen, wo Rosemary mit ihrem leichten, unbeschwerten Einkaufskorb wieder auftauchte. Doch die Luft war rein, und Delia steuerte auf die Papierwaren zu. »Was?«, fragte Adrian. »Noch mehr?«

Eigentlich ja. Sie hatte kaum die Hälfte erledigt. Aber sie verstand seine Bedenken. Je länger sie sich hier herumtrieben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, sich wieder über den Weg zu laufen. »Wir gehen«, beschloss sie. Sie steuerte die nächste Schlange an, doch Adrian griff ins Wagengitter und zog zur Express-Kasse. »Eins, zwei, drei …«, zählte sie laut, was im Wagen lag. »Da können wir nicht hin! Ich habe sechzehn, siebzehn …«

Er zog den Wagen an die Fünfzehn-Teile-Kasse, hinter eine alte Frau, die nur eine Packung Hundefutter kaufte. Er warf die Nudelpackungen aufs Rollband. Na gut. Delia kramte nach ihren Schecks. Die alte Frau vor ihnen zählte inzwischen Münze für Münze in die Hand der Kassiererin. Sie reichte einen Penny, dann den nächsten. Am dritten klebte etwas, das sie umständlich abkratzte. Adrian stöhnte verzweifelt. »Ich habe das Katzenfutter vergessen«, sagte Delia. Nicht dass sie hoffte, er schaffe es herbei; sie dachte, vielleicht beruhigte Reden ihn. »Bei dem Hundefutter ist mir eingefallen, dass wir kaum noch etwas haben«, sagte sie. »Ach, macht nichts. Ich schicke Ramsay später.«

Die alte Frau suchte den vierten Penny. Sie wusste genau: Irgendwo steckte er.

»Ramsey!«, wiederholte Adrian. Er stöhnte schon wieder, oder nein, diesmal lachte er. »Ich wette, Sie wohnen in Roland Park«, sagte er zu Delia.

»Richtig.«

»Habe ich’s doch gewusst! Jeder in Roland Park hat einen Nachnamen als Vornamen.«

»So?«, sagte sie gekränkt. »Was ist daran schlecht?«

»Oh, nichts.«

»Es ist nicht einmal wahr«, sagte sie. »Ich kenne jede Menge Leute, die –«

»Nehmen Sie’s nicht persönlich! Ich wohne auch in Roland Park«, sagte er. »Es war reines Glück, dass sie mich nicht … Bennington oder McKinney genannt haben; McKinney war der Mädchenname meiner Mutter. Ich wette, Ihre Schwiegermutter … und wenn wir den Flammeri heute Abend nicht essen, können wir das immer noch morgen tun, was meinst du?«

Eine Sekunde war sie verdattert, bis sie begriff, Rosemary war wieder in Hörweite. Genau: Der kleine Einkaufskorb mit Inhalt tauchte hinter ihren Lebensmitteln auf. Mittlerweile war die alte Frau weitergegangen, schwankte unter der Last des Hundefutters, und die Kassiererin fragte: »Plastiktüte oder Papier?«

»Plastik, bitte«, sagte Adrian.

Delia öffnete den Mund, wollte widersprechen (eigentlich nahm sie immer Papier), doch vor seiner Frau widersprach sie Adrian besser nicht.

Adrian sagte: »Delia, ich glaube, du kennst meine …«

Delia drehte sich um, verzog ihr Gesicht zu einer freudig überraschten, lächelnden Maske.

»Meine, äh, Rosemary«, sagte Adrian, »und ihr, äh, Skipper. Darf ich euch Delia Grinstead vorstellen.«

Rosemary lächelte überhaupt nicht; Delia kam sich albern vor, aber Skipper nickte ihr freundlich zu. Er hielt die Arme über der Brust verschränkt – kurze, muskulöse Arme, dicht behaart, quollen aus dem Ärmel seines Polohemds. »Verwandt mit Dr. Grinstead?«, fragte er sie.

»Ja! Das ist mein … das war mein … das ist mein Mann«, sagte sie. Wie erklären, dass sie verheiratet war, in dieser Situation?

Aber Skipper nahm es problemlos hin. Er erklärte Rosemary: »Dr. Grinstead ist der Hausarzt meiner Mutter. Behandelt sie schon ewig. Stimmt’s?«, fragte er Delia.

»Stimmt«, sagte sie, obwohl sie keine Ahnung hatte. Rosemary musterte sie inzwischen kühl. Sie hielt den Kopf schräg, so kam der asymmetrische Haarschnitt mit seiner dramatischen Kinnsträhne besser zur Geltung. Es ging Delia natürlich nichts an, aber insgeheim fand sie, Adrian verdiente eine liebenswertere Frau. Sie fand, selbst Skipper verdiente das. Schade, dass sie heute Morgen keine hohen Absätze trug, kein hübscheres Kleid.

»Dr. Grinstead ist so ziemlich der letzte Arzt in Baltimore, der Hausbesuche macht«, erklärte Skipper Rosemary.

»Nur, wenn es wirklich nicht anders geht«, sagte Delia. Ein Reflex: Nie hörte sie auf, ihren Mann vor seinen Patienten zu schützen.

Hinter ihr sagte der elektronische Preisscanner piep … piep … piep, erfasste ihre Lebensmittel. Die Musik spielte nicht mehr, das Rückspulen dauerte einige Minuten; Delia fiel jetzt erst auf, wie gedämpft und bedrohlich die Stimmen der Käufer überall im Laden klangen.

»Dreiunddreißig vierzig«, verkündete die Kassiererin.

Delia wollte einen Scheck ausfüllen, doch Adrian reichte schon das Geld. »Oh!«, sagte sie, bereit zu widersprechen. Doch dann begriff sie, dass Rosemary zuhörte.

Adrian schenkte ihr ein breites, süßes Lächeln und nahm sein Wechselgeld in Empfang. »Schön, euch zu treffen«, erklärte er dem anderen Paar. Er schob den Wagen weiter hinaus, Delia hinter ihm her.

Es hatte seit Tagen immer wieder geregnet, doch heute früh hatte es aufgeklart, und der Parkplatz lag wie gewaschen, frisch und säuberlich in zitronengelbem Sonnenlicht. Adrian machte mit dem Einkaufswagen am Bordstein halt und hob zwei der Einkaufstüten heraus, überließ Delia die dritte. Welcher Wagen, das war jetzt die Frage! Er war schon auf dem Weg zu seinem eigenen, den er vor der Reinigung geparkt hatte, doch sie unterbrach ihn. »Warten Sie«, sagte sie. »Ich stehe hier.«

»Was, wenn sie uns sehen? Wir können doch nicht in zwei verschiedenen Wagen davonfahren!«

»Ich habe auch noch etwas anderes vor«, fuhr Delia ihn an. Die ganze Geschichte reichte jetzt, fand sie. Sie hatte kein Spinatgläschen gekauft, keine Cornflakes und unzählige andere Sachen auch nicht; und alles einem wildfremden Mann zuliebe. Mit Schwung öffnete sie den Kofferraum ihres Plymouth.

»Oh, schon gut«, sagte Adrian. »Was wir tun, ist, wir laden diese Lebensmittel sehr, sehr langsam ein, und bis dahin sind sie weg. Sie hatten an der Kasse nicht viel: Zwei Steaks, zwei Kartoffeln, einen Kopf Salat und eine Schachtel Dinnermints. Das dauert nicht lange.«

Delia staunte über seine Beobachtungsgabe. Sie beobachtete, wie er die Tüten in ihrem Kofferraum verstaute, und dann war er fast eine Minute damit beschäftigt, ein kleines Päckchen herumzurücken. Orzo stand darauf – komische, winzige Nudeln, die sie im Regal schon oft gesehen, aber noch nie gekauft hatte. Sie sahen wie Reis aus, warum dann nicht gleich Reis, nahrhafter war der sicher auch? Sie reichte ihm die Tüte, die sie getragen hatte, und er schob sie mit größter Sorgfalt zwischen die beiden anderen. »Sind sie immer noch nicht draußen?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie und schaute an ihm vorbei zum Supermarkt. »Hören Sie, Sie bekommen noch Geld von mir.«

»Ein Geschenk des Hauses.«

»Nein, wirklich, ich möchte es Ihnen unbedingt zurückgeben. Nur, ich hätte per Scheck bezahlt, weil ich kein Bargeld dabeihabe. Nehmen Sie einen Scheck? Ich kann Ihnen meinen Führerschein zeigen«, sagte sie.

Er lachte.

»Im Ernst«, sagte sie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, einen …«

Dann tauchten Rosemary und Skipper aus dem Supermarkt auf. Skipper trug eine einzelne große Packpapiertüte. Rosemary trug lediglich ein sandwichgroßes Täschchen an einer glitzernden Goldkette.

»Sind sie da?«, fragte Adrian.

»Ja.«

Er beugte sich tief über den Kofferraum und schob die eingekauften Lebensmittel hin und her. »Sagen Sie Bescheid, wenn sie weg sind«, sagte er.

Das Paar ging zu einem flachen roten Sportwagen. Rosemary war mindestens so groß wie Skipper, wenn nicht größer, und sie hatte den lässigen, achtlosen Gang eines Fotomodells auf dem Laufsteg. Wäre sie vor die Wand gelaufen, hätte sie sich zuerst die Hüften gerammt.

»Sehen sie in unsere Richtung?«, fragte Adrian.

»Ich glaube nicht, dass sie uns sehen.«

Skipper öffnete die Tür an der Beifahrerseite, und Rosemary machte sich klein und ward nicht mehr gesehen. Er reichte ihr die Tüte mit den Lebensmitteln und schloss die Tür, schritt zur Fahrerseite, wand sich in den Wagen und ließ den Motor an. Erst dann schlug er seine Tür zu. Der kleine Wagen fauchte laut auf, kreiselte beinah und sauste davon.

»Weg sind sie«, sagte Delia.

Adrian schloss den Kofferraum. Er schien jetzt älter. Zum ersten Mal bemerkte Delia die spröden Linien um seine Mundwinkel.

»Na ja«, sagte sie traurig.

Es schien unpassend, jetzt wieder das Thema Geld anzuschneiden, doch sie musste es sagen: »Übrigens, der Scheck –«

»Bitte. Das bin ich Ihnen schuldig«, sagte er. »Eigentlich schulde ich Ihnen viel mehr. Danke, dass Sie das mit mir durchgestanden haben.«

»Das war doch gar nichts«, erklärte sie. »Ich wünschte nur, Sie hätten, oh, jemand Passenderes getroffen.«

»Passenderes?«

»Jemanden … verstehen Sie«, sagte sie, »der so attraktiv wie Ihre Frau ist.«

»Wie bitte?«, fragte er. »Sie sind doch so hübsch! Sie haben so ein kleines Gesicht, wie eine Blume.«

Sie spürte, wie sie rot wurde. Sicher glaubte er, sie wäre hinter Komplimenten her. »Jedenfalls, ich bin froh, dass ich aushelfen konnte«, sagte sie. Sie machte einen Schritt zurück und öffnete die Wagentür. »Also, Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank.«

Als wäre er ihr Gastgeber, stand er da, als sie den Wagen aus der Parklücke rangierte. Natürlich brauchte sie endlos, weil er zusah. Sie schlug das Lenkrad zu scharf ein, und der Keilriemen quietschte unangebracht. Aber schließlich war das Auto aus der Lücke, und sie rollte davon. Ihr Rückspiegel zeigte Adrian, wie er die Hand zum Abschied hob und erst senkte, als sie an der Ampel nach Süden abbog.

Auf halbem Wege fiel ihr ein: Sie hätte ihm seinen Einkauf geben sollen. Du meine Güte, die vielen Nudeln, die kleinen Orzodinger, und jetzt fiel ihr auch die Brühe wieder ein. Consommé Madrilene; sie wusste nicht einmal, wie das richtig ausgesprochen wurde. Sie fuhr mit Dingen auf und davon, die jemand anderem gehörten, und eigentlich sollte sie sich schämen, wie begeistert sie darüber war und wie glücklich, wie zufrieden.

2

Das Dumme an Plastiktüten war, dass sie praktische Henkel hatten, was dazu verführte, zu viele Tüten auf einmal zu tragen. Delia hatte das vergessen. Auf halbem Weg im Vorgarten fiel es ihr ein, als ihr die Finger vom Krümmen wehtaten. Sie hatte nicht hinterm Haus parken können, weil irgendein Kombi die Einfahrt versperrte. Es gab zwar ein rostiges Blechschild am Stamm der dicksten Eiche, das die Patienten zum Parken auf der Straße aufforderte, doch das wurde gern übersehen.

Sie ging vorn an der Veranda vorbei und bahnte sich seitlich einen Weg durch das Gestrüpp aus verblühten Forsythien. Das Haus war groß, aber schäbig, sein braunes Holz stockfleckig, und die Fensterläden klafften, wo die Riegel im Laufe der Jahre abgefallen waren. Delia hatte nie woanders gewohnt. Ihr Vater übrigens auch nicht. Ihre Mutter, die eigentlich von der Chesapeake-Bay-Küste stammte, war an einem Nierenleiden gestorben, als Delia noch zu klein war, um sich daran zu erinnern. So wuchs sie unter der Obhut ihres Vaters und ihrer beiden älteren Schwestern auf. Delia hatte auf dem Tafelparkett im Flur Hüpfstein gespielt, wenn ihr Vater in der verglasten Veranda neben der Küche seine Patienten versorgte, und sie hatte seinen Assistenzarzt unter dem ausladenden Messingkronleuchter geheiratet, einem Monstrum, das sie bis zum heutigen Tage an eine große Spinne erinnerte. Selbst nach der Hochzeit war sie nicht weggezogen, sondern hatte ihren Mann einfach in ihrem Jungmädchenzimmer untergebracht, und als sie dann Kinder hatte, war es an der Tagesordnung, dass ein Patient aus dem Wartezimmer spazierte und rief: »Delia? Wo bist du, Schätzchen? Ich wollte nur mal sehen, wie es den süßen Kleinen geht.«

Der Kater hockte auf der Hintertreppe und maunzte sie vorwurfsvoll an. Sein kurzes graues Fell klebte an manchen Stellen feucht. »Habe ich es nicht gesagt?« Delia schimpfte und ließ ihn hinein. »Habe ich dich nicht gewarnt, das Gras ist noch nass?« Ihre Schuhe waren vom Gang über die Wiese durchweicht, die dünnen Sohlen kalt und pappig. Sie zog sie gleich in der Küche aus. »Na, hallo!«, begrüßte sie ihren Sohn. Er rekelte sich im Schlafanzug am Tisch und strich Butter auf einen Toast. Sie stellte ihre Tüten auf die Arbeitsplatte und sagte: »Ich staune, du bist ja schon wach!«

»Mir blieb auch nichts anderes übrig«, erklärte er schlecht gelaunt.

Er war der Jüngste, und sie hatte immer gefunden, dass er ihr am stärksten glich (mit hellbraunem Haar wie Drahtwolle, seinem blassen Sommersprossen-Gesicht und den violetten Augenschatten), doch im vergangenen Monat war er fünfzehn geworden, und mit einem Mal sah sie in ihm Sam. Er war fast eins fünfundachtzig, und sein spitzes Kinn war plötzlich kantig; seine muskulösen Hände wirkten beängstigend zupackend. Selbst wie er das Messer hielt, strahlte neue Autorität aus.

Auch seine Stimme war die Sams: tief, aber klar, nicht brüchig und kieksig wie die seines Bruders früher. »Hoffentlich hast du Cornflakes gekauft«, meinte er.

»Wieso, nein, ich –«

»Ach, Mutter!«

»Wart’s ab, bis du weißt, warum nicht«, sagte sie. »Das Komischste, was ich je erlebt habe, Carroll! Ein echtes Abenteuer. Ich stehe in der Gemüseabteilung, vollkommen in Gedanken –«

»In diesem Haus gibt’s nichts Anständiges zu essen.«

»Also eigentlich frühstückst du samstags nie.«

Er sah sie finster an. »Erzähl das mal Ramsay«, sagte er.

»Ramsay?«

»Er hat mich schließlich geweckt. Poltert am helllichten Tag ins Zimmer, die ganze Nacht mit seiner Freundin unterwegs. Danach hab ich kein Auge mehr zugekriegt.«

Delia begutachtete die Einkaufstüten. (Sie wusste, worauf dieses Gespräch hinauslief.) Sie begann darin herumzustöbern, als könnten die Cornflakes schließlich doch noch zum Vorschein kommen. »Lass dir lieber von meinem Abenteuer berichten«, sagte sie über die Schulter. »Aus heiterem Himmel steht dieser Mann neben mir … gut aussehend? Er sah aus wie mein allererster Freund, Will Britt. Ich glaube, von Will habe ich dir noch nie erzählt.«

»Ma«, sagte Carroll. »Wann darf ich endlich in das Zimmer gegenüber ziehen?«

»Oh, Carroll.«

»Kein Mensch, den ich kenne, muss mit seinem Bruder in einem Zimmer wohnen.«

»Nun mach aber einen Punkt. Jede Menge Leute auf der Welt wohnen mit ganzen Familien in einem Zimmer«, erklärte sie.

»Aber nicht mit einem saufenden Collegetypen von Bruder. Nicht wenn gegenüber im gleichen Stockwerk noch ein Zimmer vollkommen leer steht.«

Delia legte die Packung Orzo hin und sah ihm direkt ins Gesicht. Sie fand, er musste zum Friseur, aber dies war nicht der Zeitpunkt, ihn daran zu erinnern.

»Carroll, es tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich bin einfach noch nicht so weit.«

»Tante Eliza ist so weit! Wieso du dann nicht? Tante Eliza war auch Opas Tochter, und sie sagt, natürlich kann ich das Zimmer haben. Sie begreift nicht, was dagegen spricht.«

»Oh, wenn uns jemand hören würde!«, sagte Delia aufgekratzt. »Müssen wir uns wirklich so einen schönen Tag verderben und streiten? Wo ist denn dein Vater? Ist er Patienten besuchen?«

Carroll antwortete nicht. Er hatte seinen Toast auf den Teller fallen lassen und wippte trotzig mit dem Stuhl, sicher machte er noch mehr Dellen ins Linoleum. Delia seufzte.

»Ach, Junge«, sagte sie. »Ich weiß, wie dir zumute ist. Und du bekommst auch bald das Zimmer, ich verspreche es. Aber noch nicht sofort! Nicht jetzt! Es riecht jetzt immer noch nach seinem Pfeifentabak.«

»Das gibt sich, wenn ich drin wohne«, sagte Carroll.

»Das befürchte ich ja.«

»Egal, dann gewöhne ich mir eben das Rauchen an.«

Mit einem gequälten Lachen wischte sie seine Worte vom Tisch. »Also«, sagte sie, »ist dein Vater bei seinen Patienten?«

»Nee.«

»Wo ist er?«

»Er ist laufen.«

»Er ist was?«

Carroll nahm sich den Toast und verspeiste ihn geräuschvoll.

»Er tut was?«

»Er läuft, Mama.«

»Hast du ihm nicht wenigstens angeboten, mitzumachen?«

»Er läuft nur auf der Gilman-Bahn, mein Gott.«

»Ich habe euch Kinder darum gebeten; angefleht habe ich euch, ihn nicht allein gehen zu lassen. Was, wenn etwas passiert und keiner ist dabei?«

»Hohe Wahrscheinlichkeit, besonders auf der Gilman-Bahn«, sagte Carroll.

»Eigentlich soll er überhaupt nicht laufen. Er soll spazieren gehen.«

»Laufen tut ihm gut«, sagte Carroll. »Hör mal. Er selbst hat keine Bedenken. Sein Arzt hat keine Bedenken. Also wo liegt das Problem, Ma?«

Delia hätte einiges darauf antworten können, doch stattdessen hielt sie ihre Hand gegen die Stirn.

Das waren die Tatsachen, die sie dem jungen Mann im Supermarkt mitzuteilen unterlassen hatte: Sie war eine traurige, müde, ängstliche vierzigjährige Frau, die seit Jahrzehnten keinen Champagner mehr zum Frühstück getrunken hatte. Und ihr Mann war noch älter, gute fünfzehn Jahre älter als sie, und hatte gerade vergangenen Februar beinah einen Herzanfall gehabt. Angina pectoris, hatte der Notarzt gesagt. Und jetzt hatte sie jedes Mal, wenn er allein ausging, panische Angst, hasste es, wenn er Auto fuhr, und erfand Ausreden, nicht mit ihm zu schlafen, aus lauter Furcht, er könne davon sterben, und nachts, wenn er schlief, lag sie angespannt wach, horchte, wie er lang und tief atmete.

Und außerdem waren ihre Kinder nicht mehr klein, sie waren Riesen. Sie waren große, dreiste, unverschämte Geschöpfe ohne Benehmen – Susie war im letzten Jahr auf der Goucher-Universität und von einer geradezu atemberaubenden Sportbegeisterung; Ramsay, Erstsemester an der Hopkins-Universität und kurz davor, wegen der achtundzwanzigjährigen alleinerziehenden Mutter, die er sich als Freundin zugelegt hatte, sein Studium abzubrechen. (Und beide, Susie und Ramsay, waren unglaublich pikiert, dass die Familienfinanzen sie zwangen, zu Hause zu wohnen.) Und Delias Baby, ihr süßer, reizender Carroll, hatte sich in diesen halbwüchsigen Rüpel verwandelt, der die Flucht ergriff, wenn seine Mutter ihn umarmen wollte, der ihre Kleider kritisierte und jedes Wort aus ihrem Mund mit entsetztem Augenrollen bedachte.

Wie zum Beispiel jetzt. Entschlossen, sich nicht beirren zu lassen, reckte sie sich selbstbewusst und fragte: »Hat jemand angerufen, als ich nicht da war?«, und er erwiderte: »Wieso soll ich für die Erwachsenen ans Telefon gehen«, – eine Feststellung, keine Frage.

Weil die Erwachsenen den Sellerie für deine liebste Erbsen-mit-Minze-Suppe kaufen, hätte sie ihn aufklären können, doch im jahrelangen Umgang mit Jugendlichen war sie Pazifistin geworden, und so marschierte sie auf Strümpfen aus der Küche und quer durch den Flur ins Arbeitszimmer, wo Sams Anrufbeantworter stand.

Sie nannten diesen Raum Arbeitszimmer, und tatsächlich waren an den Wänden ringsum bis zur Decke Bücherregale, doch hauptsächlich war es ein Fernsehzimmer. Die Samtvorhänge blieben ständig zugezogen, das Licht schien wie in einem altmodischen Kinosaal staubig dunkelrot. Limonadenbüchsen und leere Salzbrezeltüten, Stapel ausgeliehener Videofilme lagen kreuz und quer auf dem niedrigen Tisch, und auf dem Sofa rekelte sich Susie, sah mit ihrem Freund Driscoll Avery die allsamstagmorgendliche Cartoonshow. Die beiden waren schon so lange miteinander befreundet, sie wirkten wie Geschwister, hatten beide die gleiche glatte beige Haut und stämmige taillenlose Figuren, trugen identische ausgebeulte Trainingsanzüge. Driscoll blinzelte kaum merklich, als Delia das Zimmer betrat, Susie tat nicht einmal das, sie wechselte gerade per Fernbedienung das Programm.

»Morgen, ihr zwei«, sagte Delia. »Hat jemand angerufen?«

Susie zuckte die Achseln und hüpfte auf einen anderen Kanal. Driscoll gähnte lauthals. Nur deshalb entschuldigte sich Delia nicht, als sie vor den beiden her zum Anrufbeantworter ging. Sie beugte sich, drückte den Nachrichten-Knopf, aber nichts geschah. Elektronische Geräte blieben ihr immer ein Rätsel. »Wie mache ich –?«, sagte sie, und schon füllte eine spröde Altmännerstimme den Raum. »Dr. Grinstead, können Sie gleich zurückrufen? Hier ist Grayson Knowles, und ich habe wegen der Tabletten mit dem Apotheker gesprochen, aber er lässt fragen, ob –«

Was immer der Apotheker fragen ließ, wurde von einem Schwall Bugs-Bunny-Musik übertönt. Offenbar hatte Susie den Fernseher lauter gestellt. »Piep«, sagte die Maschine, und dann war Delias Schwester zu hören. »Dee, ich bin’s, Eliza. Ich brauche eine Adresse. Kannst du mich bitte auf der Arbeit anrufen?«

»Arbeitet sie jetzt auch samstags?«, fragte Delia, bekam aber keine Antwort.

Piep. »Hier ist Myrtle Allingham«, sagte eine alte Frau geradeheraus.

»Oh, Gott«, sagte Susie zu Driscoll.

»Marshall und ich meinen, vielleicht habt ihr alle Lust, am Sonntagabend bei uns zu essen. Nichts Aufregendes! Nur wir! Und Miss Susie soll auch ihren lieben Driscoll mitbringen. Sagen wir, sieben Uhr?«

Piep piep piep piep piep. Ende.

»Wir sind schon letztes Mal mitgegangen«, sagte Susie und drückte sich noch tiefer ins Sofa. »Uns kannst du vergessen.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte Driscoll. »Ihr Krabbendip ist nicht der schlechteste.«

»Wir gehen nicht hin, Driscoll, schlag’s dir aus dem Kopf.«

»Sie ist einsam, sonst nichts«, sagte Delia. »Sitzt zu Hause mit ihrer Hüfte, kommt nicht vor die Tür –«

Über ihnen hämmerte es.

»Was ist das denn?«, fragte sie.

Wieder Hämmern. Oder eher Scheppern. Schepper! Schepper! in regelmäßigen Abständen, geradezu planmäßig.

»Klempner?«, schätzte Driscoll.

»Welcher Klempner?«

»Klempner oben im Badezimmer?«

»Ich habe keinen Klempner bestellt.«

»Vielleicht Dr. Grinstead?«

Delia sah Susie an. Susie sah höflich zurück.

»Ich weiß nicht, was in diesen Mann gefahren ist«, sagte Delia. »Er re … re … na, renommiert, ach« – sie war sich voll bewusst, dass ihr niemand zuhörte – »ich meine, er re … renoviert dieses Haus, bis es keiner wiedererkennt. Wenn das die Decke ist, dann finde ich doch …«

Sie ging die Treppe hinauf, traf auf halbem Weg die Katze, die ihr verstört in die Quere rannte. Vernon hasste Lärm. »Hallo?«, rief Delia und steckte den Kopf zur Badezimmertür hinein. Ein Mann mit Pferdeschwanz hockte neben den gusseisernen Löwentatzen der Badewanne, untersuchte die Rohre. »Guten Tag«, sagte sie.

Er drehte sich um und sah sie an. »Oh, hallo«, sagte er.

»Wo liegt das Problem?«

»Kann ich noch nicht sagen«, erklärte er. Er hantierte weiter an den Rohren.

Sie wartete einen Augenblick, ob er dem etwas hinzufügte, doch eigentlich wusste sie gleich, er zählte zu jenen Handwerkern, die nur mit den Herren des Hauses verkehrten.

In ihrem Schlafzimmer setzte sie sich auf Sams Bettseite und wählte Elizas Arbeitsstelle. »Pratt Bibliothek«, sagte eine Frauenstimme.

»Ich möchte Eliza Felson sprechen.«

»Einen Augenblick.«

Delia schob sich ein Kissen in den Rücken, hob mit Schwung ihre Beine auf die rosafarbene Rüschendecke. Der Klempner war in das Badezimmer zwischen ihrem Zimmer und dem ihres Vaters vorgedrungen. Sie sah ihn nicht, aber sie hörte ihn hämmern. Welche Informationen entlockte er den Rohren, indem er darauf herumhaute?

»Tut mir leid«, sagte die Frauenstimme, »aber Miss Felson scheint nicht da zu sein. Sind Sie sicher, dass sie heute arbeitet?«

»Eigentlich ja; sie hat mich gebeten, sie im Dienst anzurufen.«

»Tut mir leid.«

»Vielen Dank jedenfalls.«

Sie legte den Hörer auf. Der Klempner pfiff Clementine. Während Delia Mrs. Allinghams Nummer wählte, kam er gemächlich ins Schlafzimmer, pfiff immer noch, und sie zog sittsam ihren Rock über die Knie. Er hockte vor dem Türchen, das die Rohre in der Wand verdeckte. Er pfiff Thou art lost and gone forever, oh my Darling, Clementine; Delia sang im Geiste mit. Er zog einmal am hölzernen Türgriff, und schon hatte er ihn in der Hand. Das hätte sie ihm gleich sagen können. Sie beobachtete mit gewisser Befriedigung, wie er leise fluchte und eine Flachzange aus der Gürtelschlaufe zog.

Siebenmal Läuten. Achtmal. Sie gab nicht auf. Mrs. Allingham hinkte und brauchte zum Telefon endlos.

Neunmal. »Hallo?«

»Mrs. Allingham, ich bins, Delia.«

»Delia, du Liebe! Wie geht es dir?«

»Danke, gut, und Ihnen?«

»Oh, uns gehts gut, ganz gut. Wir freuen uns über das schöne Frühlingswetter! Hatten schon fast vergessen, wie Sonnenschein aussieht, bis heute.«

»Ich auch«, sagte Delia. Sie empfand plötzlich so etwas wie einen Anflug von Heimweh; Mrs. Allinghams ein wenig spröde Zwitscherstimme erinnerte sie an alle Frauen hier in dieser Straße, in der sie aufgewachsen war. »Mrs. Allingham«, sagte sie, »Sam und ich kommen gern morgen Abend zum Essen, aber die Kinder können wir leider nicht mitbringen.«

»Oh!«, sagte Mrs. Allingham.

»Sie haben augenblicklich so viel zu tun. Sie wissen, wie das ist.«

»Ja, natürlich«, sagte Mrs. Allingham schwach.

»Aber vielleicht ein andermal! Sie freuen sich immer so auf Sie.«

»Ja, sicher, und wir auch auf sie.«

»Also, dann bis morgen um sieben«, sagte Delia schnell, denn unten hörte sie Sam, und sie hatte noch tausend Dinge zu erledigen. »Auf Wiedersehen, bis dann.«

Inzwischen hatte der Klempner das Türchen geöffnet und untersuchte das Wandinnere, doch klug wie sie war, fragte sie ihn nicht, was er gefunden hatte.

In der Küche lehnte Sam gegen einen der Schränke und zog seine lehmigen Laufschuhe aus. Er unterhielt sich mit Carroll: »… der Rutscheffekt, wenn du auf Zedernholzstückchen trittst –«

»Sam, wie konntest du allein weggehen?«, fragte Delia. »Du wusstest doch, dass ich mir Sorgen mache.«

»Hallo, Dee«, sagte er.

Sein T-Shirt war vor Schweiß durchsichtig, sein kantiges Gesicht glänzte, und seine Brille war beschlagen. Sein Haar – schwer zu sagen, ob grau oder blond, so unmerklich hatte die Farbe sich verändert – stand ihm in feuchten Strähnen vom Kopf ab. »Sieh dich an«, schimpfte Delia. »Du hast geschwitzt. Du bist einfach allein laufen gegangen und bist ganz durchgeschwitzt, obwohl der Arzt dir ein dutzendmal –«

»Wem gehört der Wagen in der Einfahrt?«

»Wagen?«

»Der Kombi, der in der Einfahrt parkt?«

»Gehört er keinem Patienten? Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Klempner«, sagte Carroll hinter seinem Glas Orangensaft.

»Oh, gut«, sagte Sam, »der Klempner ist da.«

Er stellte seine Schuhe auf die Fußmatte und wollte die Küche verlassen, unbestritten in freudiger Erwartung eines kernigen Gesprächs von Mann zu Mann, über Ventile, Schweißnähte und Dichtungen. »Sam, warte«, sagte Delia, denn sie hatte noch etwas auf dem Herzen. »Bevor ich es vergesse –«

Er drehte sich um, schon in Deckung.

»Mr. Knowles hat angerufen, irgendetwas ist mit seinen Tabletten«, sagte sie.

»Ich dachte, das hätte er geklärt.«

»Und außerdem, hm, Mrs. Allingham. Sie möchte wissen, ob wir zum –«

Er stöhnte. »Nein«, sagte er, »nein.«

»Aber du hast ja noch gar nicht zugehört! Ein leichtes Abendessen am Sonntag, sagte sie, und ich habe ihr –«

»Ich gehe bestimmt nicht hin«, unterbrach Carroll sie.

»Nein, das habe ich schon gesagt; ich habe gesagt, dass ihr Kinder beschäftigt seid. Aber du und ich, Sam, nur zum –«

»Wir können nicht«, sagte Sam schroff.

»Aber ich habe schon zugesagt.«

Eigentlich war er im Begriff gewesen zu gehen, doch jetzt blieb er stehen und sah sie an.

»Ich weiß, ich hätte dich erst fragen sollen, aber ich habe sie aus Versehen gleich angerufen und zugesagt.«

»Na, dann«, sagte er, »rufst du sie am besten noch einmal an und sagst wieder ab.«

»Aber Sam!«

Er ging aus der Küche.

Sie sah zu Carroll hinüber. »Wie kann er so gemein sein?«, fragte sie, aber Carroll hob nur eine Augenbraue, weltmännisch, seine neueste Masche; wahrscheinlich übte er das vor dem Spiegel.

Manchmal kam sie sich vor wie eine winzige Mücke, die die Macken ihrer Familie umschwirrte.

Das Linoleum unter ihren Füßen war glatt und eiskalt, und eigentlich wäre sie nach oben gegangen, um ihre Hausschuhe zu holen, doch oben waren Sam und der Klempner. Also beschäftigte sie sich wieder mit den Einkaufstüten und packte weitere Pastapakete aus. Vielleicht konnte sie Mrs. Allingham erzählen, Sam sei krank geworden. Doch das war immer riskant; sie wohnten in derselben Straße, und es ließ sich leicht feststellen, dass er morgens gesund und munter auf der Schwelle erschien, um die Zeitung hereinzuholen. Sie seufzte und schloss eine Küchenschranktür. »Wann hat das mit mir alles angefangen?«, fragte sie Carroll.

»Hä?«

»Wann hat sich Lieb-und-Nett in Doof-und-Dämlich verwandelt?«

Er hatte dazu keine Meinung.

Da erschien ihre Schwester in der Tür, krempelte sich die Ärmel hoch. »Morgen, allerseits!«, verkündete sie.

»Eliza?«

Es gab Tage, an denen Eliza wie ein Zwerg aussah, und dies war einer. Sie trug ihre Gartenkluft – eine Art Tropenhelm, der ihre glatte schwarze Ponyfrisur verdeckte, dazu ein Khakihemd und eine stabile braune Hose, braune solide Jungenschuhe mit extradicken Sohlen, die sie größer machen sollten. (Sie war die kleinste der drei Felson-Schwestern.) Das Horngestell ihrer Brille überwältigte ihr kleines, bleiches, ungeschminktes Gesicht. »Ich dachte, besser, ich pflanze die Kräuter um, bevor der Boden austrocknet«, erklärte sie Delia.

»Aber ich dachte, du arbeitest.«

»Arbeiten? Es ist Samstag.«

»Du hast doch aus dem Dienst angerufen, dachte ich.«

Eliza sah zu Carroll. Er zog schon wieder diese Augenbraue hoch.

»Du hast angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen«, sagte Delia, »du wolltest eine Adresse von mir.«

»Das war vor zehn Tagen. Ich brauchte Jenny Coops Adresse, erinnerst du dich.«

»Wieso habe ich es dann jetzt auf dem Anrufbeantworter abgehört?«

»Mama«, sagte Carroll, »du hast sicher alte Anrufe abgespielt.«

»Wie das?«

»Du hast wahrscheinlich den Beantworter gar nicht eingeschaltet und dann, als du den Nachrichten-Knopf gedrückt hast –«

»Ach, du großer Gott«, sagte Delia. »Mrs. Allingham.«

»Gibts Kaffee?«, fragte Eliza.

»Nicht dass ich wüsste. Ach, du großer Gott …«

Sie ging zum Telefon an der Wand und wählte Mrs. Allinghams Nummer. »Ich liege gemütlich im Bett«, erzählte Eliza Carroll, »denke: Fabelhaft, Samstagmorgen, ich kann bis mittags schlafen, und wer kommt von hinten durch meinen Wandschrank angekrochen – einer dieser verdammten Handwerker deines Vaters.«

»Mrs. Allingham«, sagte Delia ins Telefon. »Hier ist noch einmal Delia. Mrs. Allingham, ich komme mir wirklich völlig idiotisch vor, aber ich habe anscheinend die Anrufe durcheinandergebracht, und Sie haben uns ja vergangene Woche eingeladen. Da waren wir natürlich da, und es war auch ganz besonders schön; habe ich mich bei Ihnen schriftlich bedankt? Aber diese Woche kommen wir nicht; ich meine, ich habe begriffen, dass Sie uns vergangene –«

»Aber Delia, Herzchen, wir freuen uns auch, wenn ihr diese Woche kommt! Wir freuen uns wirklich jedes Mal, wenn ihr kommt, und ich habe Marshall schon mit einer Liste in den Delikatessenladen geschickt.«

»Oh, das tut mir so leid«, sagte Delia, aber da ging die Kaffeemühle los – ein ohrenbetäubendes Spektakel – und sie rief: »Jedenfalls! Zuerst müssen wir Sie hierher zu uns einladen, ganz bald! Auf Wiedersehen!«

Sie legte den Hörer auf und starrte Eliza an.

»Wenn dein Kaffee so gut schmeckt, wie er riecht«, sagte Eliza gut gelaunt, als die Mühle aufhörte.

Sam kam mit dem Klempner die Treppe herab. Delia hörte den lang gedehnten Ost-Baltimore-Akzent des Klempners; er gab gerade einen lyrischen Erguss über Wasser-an-sich zum Besten. »Das Zeug ist unglaublich«, sagte er, »kommt an einer Stelle raus, läuft zehn Meter ein Rohr unten lang und fängt dann an zu tropfen, wo kein Mensch es erwartet. Es liegt auf der Lauer, es braucht seine Zeit, es sucht sich eine winzige Ritze, wo keiner auf die Idee kommt nachzusehen.«

Delia legte die Hände auf die Hüften und stand abwartend da. Kaum traten die beiden Männer ein, sagte sie: »Ich hoffe schwer, du bist jetzt zufrieden, Sam Grinstead.«

»Hmm?«

»Ich habe die arme Mrs. Allingham angerufen und das Abendessen abgesagt.«

»Oh, gut«, sagte Sam geistesabwesend.

»Ich habe unsere Zusage zurückgenommen. Ich habe mich aus unserer Verabredung gemogelt. Ich habe wahrscheinlich auf immer und ewig ihre Gefühle verletzt«, erklärte ihm Delia.

Doch Sam hörte nicht zu. Er fixierte den Zeigefinger des Klempners, der hoch auf einen Riss im blätternden Putz zeigte. Und Eliza tauchte den Messlöffel in das Kaffeemehl; Carroll war der Einzige, der sie beachtete. Er gönnte ihr einen Blick äußerster Verachtung.

Ratlos nahm Delia sich wieder die Einkaufstüten vor. Aus den Tiefen der einen zog sie den Stangensellerie, blassgrün und exakt gerippt. Sie betrachtete ihn lange und eindringlich. »Sie sind ganz schön pfiffig!«, hörte sie Adrian noch einmal sagen, und sie hielt sich die Worte vor, nahm sie in den Arm, zog sie an ihre Brust, dann drehte sie sich um und schenkte ihrem Sohn ein seliges Lächeln.

3

»Sie sind ganz schön pfiffig!«, hatte er gesagt, und »Sie sind doch so hübsch!«, und »Sie haben so ein kleines Gesicht, wie eine Blume«. Meinte er damit, ihr Gesicht glich einer Blume, die zufällig klein war? Oder wollte er nur sagen, was für ein kleines Gesicht sie hatte? Sie bevorzugte die erste Interpretation, obwohl die zweite wahrscheinlicher war.

Außerdem hatte er ihren fabelhaften Flammeri gelobt. Natürlich war der Flammeri eigentlich aus der Luft gegriffen, trotzdem, sie war doch stolz, als ihr einfiel, wie fabelhaft er ihn gefunden hatte.

Sie betrachtete unbeobachtet ihr Gesicht im Spiegel. Ja, vielleicht glich es wirklich einer Blume. Falls er Blumen mit Sommersprossen meinte. Sie hätte immer gern dramatischer ausgesehen, geheimnisvoller, viel erwachsener. Sie fand es ausgesprochen unfair, dass sie um die Augen Falten bekam und immer noch ihr braves, so gar nicht raffiniertes, spitzes Kindergesicht hatte. Aber das hatte Adrian offensichtlich attraktiv gefunden.

Es sei denn, er hatte das nur aus Nettigkeit gesagt.

Sie suchte seinen Namen im Telefonbuch, aber seine Nummer war nicht zu finden. Sie hielt auf der Straße und in den Läden in ihrer Gegend nach ihm Ausschau. Zweimal fuhr sie in den nächsten drei Tagen wieder zum Supermarkt, trug jedes Mal das Kleid mit der angekrausten Passe, in dem sie nicht so flachbusig wirkte. Doch Adrian tauchte nie auf.

Und wenn, was hätte sie gemacht? Sie war ja eigentlich nicht in ihn verliebt. Schließlich wusste sie gar nicht, was für ein Mensch er war! Und sie hatte ganz gewiss nicht vor (wie sie es nannte), »mit jemandem etwas anzufangen«. Seit sie siebzehn war, hatte sich ihr Leben um Sam Grinstead gedreht. Seit sie ihm begegnet war, hatte sie nicht einmal einen Blick für andere Männer übrig gehabt. Selbst in ihren Wunschträumen war sie kein Typ, der untreu war.

Immerhin, wenn sie sich ausmalte, dass Adrian ihr über den Weg lief, dann spürte sie überdeutlich, wie leicht und natürlich sie sich bewegte und wie ihr Kleid ihren Körper umspielte. Keine Ahnung, wann sie sich zuletzt so ihrer selbst bewusst gewesen war, sich so von außen, von ferne wahrgenommen hatte.

Zu Hause bauten vier Handwerker eine Klimaanlage ein – eine von Sams plötzlichen Neuerungen. Sie schlitzten Fußböden und Wände auf; sie dröhnten mit riesigen Maschinen; sie schleppten Metallrohre und Ballen von Isoliermaterial, das wie graue Zuckerwatte aussah. Delia konnte, wenn sie abends im Bett lag, direkt über sich durch ein rechteckiges Loch in der Decke die Dachbalken sehen. Sie malte sich Fledermäuse und Schwalben aus, die sie im Schlaf umsegelten. Sie bildete sich ein, sie hörte das Haus vor Kummer stöhnen – so ein bescheidenes, freundliches Haus, gar nicht gefasst auf Veränderungen.

Doch Sam war hingerissen. Oh, er brachte zwischen den Handwerkerterminen kaum seine Patienten unter. Elektriker, Maurer und Anstreicher überfielen sein Sprechzimmer mit Kostenvoranschlägen für die vielen geplanten Neuerungen. Ein Schreiner kam wegen der Fensterläden und ein Mann, der den Mehltau auf den Holzschindeln besprühte. Zweiundzwanzig Jahre hatte Sam hier gewohnt; hatte er dies alles die ganze Zeit schon so kritisch gesehen?

An einem Montagmorgen im Juli war er zum ersten Mal ins Wartezimmer ihres Vaters gekommen, kaum drei Wochen nach ihrem Highschool-Abschluss. Dermaßen gespannt, ihn kennenzulernen, hatte Delia auf ihrem gewohnten Platz am Schreibtisch gesessen; auch wenn es nicht ihre gewohnte Zeit war (meist arbeitete sie nachmittags). Sie und ihre Schwestern hatten kein anderes Thema mehr gekannt, seit Dr. Felson seine Anstellung beschlossen hatte. War dieser Mensch verheiratet?, hatten sie gefragt, und wie alt war er? Und wie sah er aus? (Nein, er war nicht verheiratet, sagte ihr Vater, und er war, na, zweiunddreißig, dreiunddreißig, und er sah gut aus. Gut? Na ja, normal; vollkommen in Ordnung, sagte ihr Vater ungeduldig, denn ihm kam es darauf an, dass der Mann ihm einen Teil seiner Arbeitslast abnahm – die Hausbesuche und die Sprechstunden morgens.) Also stand Delia an jenem Sommertag früh auf und zog ihr hübschestes Sommerkleid an, das mit dem herzförmigen Ausschnitt. Dann setzte sie sich ans väterliche Schreibpult und begann demonstrativ seine Notizen abzuschreiben. Punkt neun Uhr stand der junge Grinstead in der Tür, überm Arm einen gestärkten weißen Kittel. Die Sonne blitzte aus seiner seriösen, randlosen Brille und überzog sein noch feuchtes, strähnig gekämmtes blondes Haar wie mit einer Glasur; und Delia wusste immer noch, wie pures Verlangen ihr Innenleben schwindelerregend ins Schlingern gebracht hatte, als stände sie am Rande eines Canyons.

Sam erinnerte sich nicht einmal an dieses Treffen. Er behauptete, er hätte sie zum ersten Mal beim Abendessen gesehen. Es stimmte, das Essen hatte es gegeben, am Abend desselben Tages. Eliza hatte einen Braten gemacht und Linda einen Kuchen gebacken (beide hatten ihre hausfraulichen Fähigkeiten unter Beweis gestellt), während Delia, die Kleine, zwei Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag und eigentlich außer Konkurrenz, im Wohnzimmer Sam und ihrem Vater gegenübergesessen und erwachsen an einem Sherry genippt hatte. Der Sherry hatte nach flüssigen Rosinen geschmeckt und jene neue mächtige Wurzel des Verlangens genährt, die von Minute zu Minute in ihr tiefer an Boden gewann. Aber Sam behauptete, sie hätten, als er ins Zimmer kam, auf dem Sofa gesessen. Wie die drei Königstöchter im Märchen, sagte Sam, seien sie, die Älteste links außen, dem Alter nach aufgereiht gewesen, und wie der brave Sohn des Holzfällers hätte er die Jüngste und Hübscheste gewählt, die kleine Schüchterne rechts, die glaubte, sie hätte keine Chance.

Sollte er glauben, was er Lust hatte. Es hatte jedenfalls wie im Märchen geendet.

Außer dass es in Wirklichkeit am Ende weitergeht und sie nun hier saßen mit ihrer Klimaanlage und den Handwerkern, die den Dachboden ruinierten, und der Katze, die sich unters Bett verkroch, und Delia, die einen billigen Liebesroman auf dem Zweisitzer in Sams Wartezimmer las – dem einzigen ruhigen Ort im Haus, denn in der Praxis und im Wartezimmer war die Klimaanlage schon eingebaut. Delia hatte den Kopf auf eine der Lehnen gelegt, und ihre Füße, in rosa Plüschpantoffeln, lagen auf der anderen. Über ihr hing die Reproduktion des Norman-Rockwell-Bildes, die ihr Vater gerahmt hatte: Ein freundlicher alter Arzt horcht mit seinem Stethoskop die Puppe eines kleinen Mädchens ab. Und hinter der dünnen Trennwand, die nicht ganz bis zur Decke reichte, unterhielt sich Sam mit Mrs. Harper über die Schmerzen in ihrem Ellbogen. Ihre Gelenke seien verschlissen, sagte er. Entsetztes Schweigen; selbst die Elektrosäge schwieg. Dann: »Oh, nein!«, keuchte Mrs. Harper. »Du liebe Güte! Oh, um Himmels willen! Damit habe ich gar nicht gerechnet!«

Nicht gerechnet? Mrs. Harper war zweiundneunzig Jahre alt. Was erwartete sie?, hätte Delia beinah gefragt. Doch Sam sagte freundlich: »Nun, ja, ich nehme an –«, und den Rest verstand Delia nicht, weil die Säge wieder einsetzte, plötzlich, wie auf Bestellung.

Sie blätterte um. Die Heldin besichtigte den weitläufigen Besitz des Helden, bewunderte seine Güter und seine geschmackvollen »Arrangements«, was immer das hieß. In so vielen dieser Bücher waren die Helden wohlhabend, fand Delia. Bei den Frauen spielte das keine Rolle; sie waren manchmal reich und manchmal arm, aber die Männer kamen komplett mit Schloss und dienstbaren Geistern. Nie wieder mussten Frauen, verheiratet mit diesen Männern, Gedanken an die zermürbende Last des Alltags vergeuden – den feuchten Keller, den defekten Backofen, den verlorenen Autoschlüssel. Es klang wunderbar.

»Delia, Herzchen!«, rief Mrs. Harper, als sie aus dem Sprechzimmer schwankte. Sie war ein todschickes, seidenverpacktes weibliches Gerippe; mit Händen wie Klauen, die Delia beschwörend entgegenfuchtelten. »Dein Mann behauptet, meine Gelenke hätten sich in Luft aufgelöst!«

»Na, na«, protestierte Sam hinter ihr. »Das habe ich nun doch nicht gesagt, Mrs. Harper.«

Delia setzte sich schuldbewusst auf und strich ihren Rock glatt. Sie warf einen peinlich berührten Blick auf ihre Hasenohrenpantoffeln und die schmachtende Schönheit auf dem Buchumschlag. »Das tut mir wirklich leid, Mrs. Harper«, sagte sie. »Soll ich Ihnen noch einen Termin geben?«

»Nein, er sagt, damit muss ich zum Spezialisten. Zu einem wildfremden Mann!«

»Kannst du ihr Petersons Telefonnummer geben, Dee?«, fragte Sam.

Sie stand auf und ging zum Schreibtisch, schlurfend in ihren Pantoffeln. (Mrs. Harper trug spitze Pumps mit hohen Absätzen und setzte die Füße im rechten Winkel, um ihre schlanken Fesseln ins rechte Licht zu rücken.) Delia blätterte in der Adressenkartei, die nicht nach Namen, sondern nach Krankheiten geordnet war – Allergien, Arthritis … Heutzutage war die Praxis eine bessere Durchgangsstation. Ihr Vater holte früher noch Kinder zur Welt und führte kleine Operationen durch, aber heute drehte sich alles nur noch um Impfungen gegen Wespenstiche im Frühjahr, gegen Grippe im Herbst; und die Geburten, ach, darüber waren diese Patienten lange hinaus. Sie hatten sie von ihrem Vater geerbt (oder sogar, wie Sam im Scherz behauptete, von ihrem Großvater, der diese Praxis 1902 eröffnet hatte; damals war Roland Park noch ländlich, und keiner fand etwas daran, dass ein Arzt seine Praxis im Privathaus betrieb).

Sie notierte Dr. Petersons Telefonnummer auf einer Karte und reichte sie Mrs. Harper, die sie misstrauisch beäugte und dann in ihre Handtasche steckte. »Ich hoffe sehr, dieser Mensch ist kein Jüngelchen«, sagte sie zu Sam.

»Er ist garantiert über dreißig«, versicherte ihr Sam.

»Dreißig! Mein Enkel ist ja älter! Oh, bitte, kann ich stattdessen nicht weiter zu Ihnen kommen?« Aber weil sie seine Antwort schon kannte, wendete sie sich, ohne abzuwarten, an Delia. »Dein Ehemann ist ein Engel«, sagte sie. »Er ist nicht von dieser Welt. Ich hoffe, das ist dir klar.«

»Oh, ja.«

»Pass bloß auf, dass du ihn gut behandelst!«

»Ja, Mrs. Harper.«

Delia sah zu, wie Sam die alte Dame zur Tür brachte, dann ließ sie sich wieder auf das kleine Sola fallen und griff ihr Buch. »Beatrice«, sagte der Held, »ich begehre dich mehr als das Leben«, und seine Stimme klang rau und verzweifelt – unkontrolliert, war das Wort, das der Autor benutzte. Unkontrolliert, und es schickte einen Schauer über ihren schlanken Rücken unter dem schmeichelnden elfenbeinfarbenen Satin ihres Negligés.

Anstatt Adrian über den Weg zu laufen, konnte sie auch einfach dasitzen und hoffen, dass er sie ausfindig machte. Vielleicht stellte er sich gerade vor, wie sie aussah, und suchte die Straßen nach ihr ab. Oder er hatte ihre Adresse nachgeschaut; schließlich wusste er ihren Nachnamen. Er parkte in diesem Augenblick an der nächsten Ecke und hoffte, einen einzigen Blick von ihr zu erhaschen.

Von nun an trat sie mehrmals täglich vors Haus. Sie erfand tausend Gründe, sich in der Hollywoodschaukel auf der Veranda zu drapieren. Obwohl sie eigentlich ungern draußen war und gewiss ungern im Garten arbeitete, verbrachte sie eine halbe Stunde in Positur vor Elizas Heilkräuterbeet, trug dabei Ziegenlederhandschuhe. Und seit einmal das Telefon geläutet hatte und jemand auf ihr Melden hin stumm geblieben war – nur tief geatmet hatte –, sprang sie bei jedem Läuten wie ein Teenager auf. »Ich gehe ran! Ich gehe ran!« Wenn niemand anrief, versuchte sie wie ein junges Mädchen mit dem Schicksal Kuhhandel zu treiben: Wenn ich nicht an ihn denke, läutet bestimmt das Telefon. Ich gehe aus dem Zimmer, ich tu beschäftigt, dann läutet das Telefon garantiert. Als sie ihre Familie ins Auto verfrachtete, um Sams Mutter einen Sonntagsbesuch abzustatten, waren ihre Bewegungen fließend, sinnlich, wie die einer Schauspielerin oder Tänzerin, ständig im Rampenlicht.

Doch ein wirklicher Zuschauer, was hätte er gesehen: Delias häusliches Drunter und Drüber. Ramsay, klein und gedrungen, mit eisiger Miene, trotzig, wie er unwillig gegen einen Autoreifen kickte; Carroll und Susie, die um einen Fensterplatz stritten; Sam, der sich hinters Steuer klemmte, seine Brille auf der Nase zurechtrückte und ein ungewohntes Wollhemd trug, in dem er dünnarmig und übertrieben aussah. Und am Ziel ihrer Fahrt, die Eiserne Mama (wie Delia sie nannte) – die stabile, unattraktive Eleanor Grinstead, die selbst ihr Dach deckte und ihren Rasen mähte, mit links ihren einzigen Sohn in jenem makellosen Reihenhaus in der Calvert Street großgezogen hatte, wo sie jetzt wartete und verkniffen zuhörte, auf welche dummen Gedanken ihre Schwiegertochter wieder gekommen war.

Nein, keiner von ihnen würde den himmlischen blauen Augen des Adrian Bly-Brice standhalten.

Der Älteste der Handwerker, die die Klimaanlage einbauten – er hieß Lysander –, fragte, was mit den Heubündeln war, die von den Dachbalken baumelten. »Das sind Kräuter, die gehören meiner Schwester«, sagte Delia. Sie hoffte, die Erklärung reichte, doch ihre Schwester, auch in der Küche zugegen, putzte Bohnen fürs Abendessen und erklärte: »Ja, die brösele ich in kleine Schalen und verbrenne sie überall im Haus.«

»Sie machen Feuer damit?«

»Jedes Kraut bewirkt etwas anderes«, erklärte Eliza. »Das eine schützt vor schlechten Träumen, das andere fördert die Konzentration, und noch ein anderes klärt die Luft nach zwischenmenschlichen Zwistigkeiten.«

Lysander sah zu Delia hinüber, hob seine borstigen grauen Augenbrauen.

»Also, jedenfalls«, sagte Delia hastig. »Ist die Arbeit denn bald fertig, was meinen Sie?«

»Hier bei Ihnen? Oh, nein«, sagte er. Er ging schwerfällig zum Spülbecken; er war gekommen, um seine Thermoskanne zu füllen. Er wartete, bis das Wasser kalt aus dem Hahn kam, und sagte: »Wir brauchen noch einige Tage, mindestens.«

»Einige Tage!«, verschluckte sich Delia. Sie räusperte sich. »Aber der Lärm: Ist der bald vorbei? Selbst die Katze hat Kopfweh.«

»Woher wissen Sie denn das?«, fragte er.

»Oh, Delia kann Katzengedanken lesen«, erklärte Eliza. »Was Katzen angeht, da hat sie uns allen was beigebracht: Mit welcher Stimme wir sie ansprechen und wie wir ihnen schöne Augen machen und –«

»Eliza, ich brauche unbedingt die Bohnen«, unterbrach Delia sie.

Schon zu spät: Lysander schniefte, als er seine Thermoskanne unter den Wasserhahn hielt. »Wenn Sie mich fragen, einen Hund würde ich jederzeit nehmen«, sagte er. »Katzen sind nicht mein Ding, die sind hinterhältig.«

»Oh, Hunde mag ich natürlich auch«, sagte Delia. (In Wirklichkeit hatte sie vor Hunden ein bisschen Angst; bei denen kannte sie sich nicht aus.) »Hunde sind nur so … plötzlich. Verstehen Sie?«

»Na klar«, sagte Lysander. Es klang vorwurfsvoll. »Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar Eiswürfel mopse?«

»Nur zu«, sagte Delia.

Er stand hilflos da, umklammerte den Hals der Thermoskanne, bis sie begriff, er wollte die Eiswürfel gebracht bekommen. Garantiert gehörte er zu der Sorte Männer, die keinen blassen Schimmer hatte, wo zu Hause die kleinen Löffel lagen. Sie trocknete ihre Hände ab und holte den Eiswürfelbehälter aus dem Kühlschrank.

»Wo wir zuletzt gearbeitet haben«, sagte er, »wo wir eine neue Heizungspumpe eingebaut haben, da hatte der Nachbar einen von diesen Kampfhunden. Auf Nahkampf abgerichtet. Die Dame, für die wir gearbeitet haben, hatte uns schwer gewarnt.«

Er hielt die Thermoskanne unerschütterlich fest, als Delia probierte, einen Eiswürfel hineinzustecken. Er passte nicht. Sie schlug mit der flachen Hand darauf (Lysander zuckte nicht mit der Wimper) und schrie: »Iiih!«, denn der Eiswürfel flog durch die Luft und schlitterte dann über den Boden. Lysander sah ihm bekümmert nach.

»Warte, dich krieg ich, du kleiner Teufel«, warnte Delia, schnappte die Thermoskanne und knallte sie ins Spülbecken. Über den nächsten Eiswürfel ließ sie Wasser laufen. »Aha«, turtelte sie und ließ ihn hineinplumpsen. Dann bearbeitete sie einen dritten.

Lysander sagte: »Also, wir laden einmal lauter Sachen vom Lastwagen, da kommt doch der Kampfhund um die Ecke. Großes altes Vieh wie ein Wolf, gesträubte Nackenhaare und knurrt wie wild. Großer Gott, ich dachte, ich sterbe. Taucht doch die Dame auf, für die wir arbeiten, hat anscheinend nur drauf gewartet. Sagt: ›Komm schön‹, und fasst ihn am Halsband, brav wie ein Lamm. Bringt ihn nach nebenan und ruft: ›Herr Sowieso! Ich erschieße Ihren Köter, wenn Sie ihn nicht auf der Stelle ins Haus holen.‹ Klar und deutlich, eiskalt. Das war ’ne Frau, ich sags Ihnen.«

Wieso erzählte er ihr das? Wollte er es Delia zeigen? Sie entledigte sich so unauffällig wie möglich des dritten Eiswürfels. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich die Frau wie Rosemary Bly-Brice vor. Vielleicht war es Rosemary Bly-Brice gewesen. Gönnerhaft und angeödet bückte sie sich anmutig; griff mit dem kleinen Finger dem Hund ins Stachelhalsband. Delia spürte unvorhergesehene Bewunderung, als bezöge ihr Entzücken für Adrian seine Frau mit ein.

Sie drehte den Wasserhahn zu, griff die Thermoskanne und überreichte sie Lysander. »Ach du Schreck!«, sagte Lysander. Aus dem Kannenboden rann Wasser. »Ach, Sie haben sie kaputt gemacht«, sagte er.