Kleine Hände – großer Profit - Benjamin Pütter - E-Book

Kleine Hände – großer Profit E-Book

Benjamin Pütter

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Beschreibung

Kinderarbeit ist international verboten. Trotzdem schuften Millionen Kinder unter den unwürdigsten Bedingungen für unsere Produkte, z.B. für Schmuck, Teppiche und Natursteine. Der Kinderarbeitsexperte Benjamin Pütter ist schon über 80-mal durch Indien gereist, das Land mit den meisten Kinderarbeitern. Er berichtet von Mädchen und Jungen, die teilweise bereits mit fünf Jahren ganztags arbeiten müssen, prangert die Machenschaften skrupelloser Firmenchefs an und deckt auf, warum auch wir unwissentlich Produkte aus Kinderarbeit kaufen.
Berührend und aufrüttelnd!

„Endlich nun können viele an der spannenden Arbeit von Pütter teilhaben und nicht nur die wenigen – zu denen auch ich zähle –, die Pütter bei seinen Kontrollen und Befreiungsaktionen begleiten durften.“ Norbert Blüm

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Seitenzahl: 251

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Wenn Kinder für uns arbeiten

Kinderarbeit ist international verboten. Trotzdem schuften Millionen Kinder unter den unwürdigsten Bedingungen für unsere Produkte, zum Beispiel für Schmuck, Teppiche und Natursteine. Der Kinderarbeitsexperte Benjamin Pütter berichtet von Mädchen und Jungen, die schon mit fünf Jahren ganztags arbeiten müssen, prangert die Machenschaften skrupelloser Firmenchefs an und deckt auf, warum auch wir unwissentlich Produkte aus Kinderarbeit kaufen.

Berührend und aufrüttelnd!

Benjamin Pütter

Dietmar Böhm

KLEINE HÄNDE –

GROSSER PROFIT

Kinderarbeit – Welches ungeahnte Leid sich

in unserer Warenwelt verbirgt

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Bildnachweis:

Alle Fotos: © Benjamin Pütter

Karten:

© Shutterstock/Rainer Lesniewski

© Die Sternsinger Kindermissionswerk

© Global March International Secretariat

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28,81673 München

Redaktion: Michael Schmidt

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © Benjamin Pütter

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-21121-9V001

www.heyne.de

INHALT

EINLEITUNG

1 BEFREIUNGSAKTION

2 INDIEN – LAND DER UNBEGRENZTEN GEGENSÄTZE

3 KINDERARBEIT IN INDIEN

Die Teppichindustrie

Die Macht der Knüpfstuhlbesitzer

Gesundheitliche Gefahren beim Teppichknüpfen

Mitu und sein Freund Shamshundar

Das Schicksal anderer »Teppich-Kinder«

»Teppich-Kinder« in Nachbarländern Indiens

Mythen und Märchen über Kinderarbeit

Rugmark – ein Siegel entsteht

Von Rugmark zu GoodWeave

Die Natursteinindustrie

Gefahren für Kinder in der Steinindustrie

Investigative Erkundungen in indischen Steinbrüchen

Die Kinder der Steinbrüche

Der Bericht des indischen Sonderermittlers

Von Räucherstäbchen bis zu Waffen: Kinderarbeit in anderen Produktionsbereichen

Schöner Schmuck hat seinen Preis – Kinderarbeit in der Schmuckproduktion

Hausangestellte

Kinderarbeit in der Seidenindustrie

Feuerwerkskörper

Kinderarbeit in der Zigarettenindustrie und in der Räucherstäbchenproduktion

Kinderarbeit in der Waffenproduktion

4 HINTERGRÜNDE UND URSACHEN

Die UN-Kinderrechtskonvention

Die IL0 Konvention 182: Verbot ausbeuterischer, gesundheitsschädigender Kinderarbeit

Schulbildung verändert eine Gesellschaft

Das Konsumverhalten in den Industriestaaten

5 DIE TAKTIK DER INDUSTRIE: LEUGNEN, VERTUSCHEN, NICHT LÖSEN

6 SIEGEL FÜR EINE GERECHTERE WELT

Siegel über Siegel – welchem kann ich trauen?

»Siegel« von Organisationen oder Händlern

Der Stempel Care & Fair

Der Stempel von IGEP

Unabhängige Siegel

XertifiX: Gerechte Arbeit – faire Steine

Fair Stone

7 KOMMUNEN UND LANDESREGIERUNGEN WERDEN AKTIV

8 JURISTISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN

Wie Gerichte in Deutschland mit Kinderarbeit umgehen

Der Sieg vor dem Obersten Gerichtshof in Indien

9 ERFOLGREICHER KAMPF GEGEN KINDERARBEIT

Weltweiter Marsch gegen Kinderarbeit

Ein umfassendes Programm

1. Die Befreiung aus Kindersklaverei

2. Rehabilitationszentren für ehemalige Migranten-

Kindersklaven

3. Angepasste Schulbildung

4. Schulbegleitende Berufsausbildung für Jugendliche

5. Einkommen schaffende Maßnahmen für die Eltern

6. Aufklärungsarbeit in Indien und Deutschland

7. Lobbyarbeit

8. Vernetzung

10 WAS WIR ALS EINZELNE UND ALS GRUPPE ERREICHEN KÖNNEN

DANK

ANHANG

Quellennachweise

Literaturhinweise

Glossar

EINLEITUNG

»Wahrheit sagt uns, wie die Welt beschaffen ist, Moral, wie sie sein sollte.«

Susan Neiman1

Dieses Buch beschreibt, wie für viele Kinder auf dem indischen Subkontinent die Welt beschaffen ist:

eine Welt, in der noch immer Millionen von ihnen das Recht auf ein gutes Leben vorenthalten wird;eine Welt, in der Kinder als Sklaven gehalten und ausgebeutet werden;eine Welt, in der der Profit Einzelner über das Wohl von mehr als 170 Millionen arbeitenden Kindern gestellt wird.2

Dieses Buch handelt aber auch davon, wie die Welt sein sollte, wie jeder Einzelne sie verändern und dazu beitragen kann, dass eine Welt ohne Kinderarbeit Wirklichkeit wird. Dass sich die Welt zum Guten ändert, dass wir heute in Indien 50 Millionen weniger Kinderarbeiter haben als noch vor zehn Jahren, ist das Werk Einzelner ebenso wie vieler Gruppen, die den Kampf um eine bessere Welt nicht auf eine ungewisse Zukunft verschieben wollen.

Weil die Welt eben die dunklen Seiten der Kinderarbeit kennt, schildere ich in diesem Buch zunächst, wie und wo Kinderarbeit in Indien in den unterschiedlichsten Herstellungsbereichen vorkommt. Besonders gravierend ist die Situation in der Teppichindustrie und im Bereich der Natursteine. Gleichzeitig profitieren wir in Deutschland besonders von dieser Situation. Dass diese grausame Realität von verschiedenen Seiten geleugnet wird – von der Industrie wie von der Politik–, wird ebenfalls dargestellt.

Ich bin davon überzeugt, dass unhaltbare Zustände angeprangert werden müssen, damit sich etwas ändert. Dass sich aber in den 38 Jahren, in denen ich nun schon gegen ausbeuterische und gesundheitsgefährdende Kinderarbeit kämpfe, schon viel verändert hat, soll in diesem Buch ebenfalls zur Sprache kommen:

Sie werden etwas darüber erfahren, welche Siegel Ihnen bei Ihren Kaufentscheidungen behilflich sein können.Ich schildere Ihnen, welche Bundesländer und Kommunen sich besonders aktiv gegen Kinderarbeit engagieren.Und ich erzähle Ihnen von Gruppen wie von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern, die mit ihrem Engagement schon enorm viel bewegt haben.

Das Buch zeigt auf, dass auch im 21. Jahrhundert Kinderarbeit nicht besiegt ist und wer dafür mitverantwortlich ist. Es macht aber auch deutlich, dass wir durch unseren Konsum wie durch unser gesellschaftliches Engagement etwas verändern können, wenn wir nur dazu bereit sind.

Eine andere Welt ist möglich.

Gesegnete Unruhe

Benjamin Pütter, Kathmandu im März 2017

1 BEFREIUNGSAKTION

Seit Tagen sondiere ich zusammen mit Harilal und Uttam Kumar die Lage in einem Dorf in der Nähe von Allahabad, um eine Befreiungsaktion vorzubereiten. Nun geht es endlich in die heiße Phase. Wir müssen unbedingt die Arbeitsinspektoren des Distriktes, die Verantwortlichen bei der Polizei und den Regierungspräsidenten für diese Aktion gewinnen. Das größte Problem ist dabei, dass unser Vorhaben vorher keinesfalls bekannt werden darf. Es muss uns gelingen, den Ort der Razzia geheim zu halten, gleichzeitig aber müssen die Verantwortlichen in den Behörden einbezogen werden, damit die Kinder, die befreit werden sollen, später Anrecht auf das staatlich zugesicherte Befreiungsgeld haben. Und dabei wissen wir nur zu gut, dass die Regierungsvertreter mit hoher Wahrscheinlichkeit korrupt sind und monatliches Schweigegeld genau von dem Knüpfstuhlbesitzer erhalten, bei dem wir die Kinder befreien wollen. Eines ist sicher: Erfährt er vorab davon, werden wir bei der Razzia keine Kinder antreffen.

Heute, am 23. November, ist es uns gelungen, genügend Autos für die Aktion zu organisieren. Der Arbeitsinspektor sichert uns zu, dass er zwei Jeeps zur Verfügung stellt, eine für uns überraschende Zusage. Zwei weitere Fahrzeuge organisieren wir selbst.

Um 8.00 Uhr fahren wir aus einem Vorort von Allahabad zum Treffpunkt bei Childline (Kindernottelefon) in der Innenstadt. Um 9.15 Uhr kommt endlich der Arbeitsinspektor. Wie so häufig geraten sich indisches und deutsches Zeitverständnis in die Quere. Dass er 45 Minuten zu spät dran ist, stört ihn nicht.

Zusammen mit dem katholischen Priester Father Louis Mascarenhas, dem Verantwortlichen für das Übergangszentrum für befreite Kindersklaven, fahren wir noch zum Tanken. Um 9.45 Uhr sind auch die Polizisten bereit, und wir können endlich starten. Wir erreichen den Ort Handia, wo wir den Vertreter des Regierungspräsidiums abholen, der in »nur« 15 Minuten so weit ist, dass er uns begleiten kann. Unsere Wagen sind am Straßenrand geparkt, und die Vorbeikommenden fragen uns ganz offen – und als wäre es das Normalste der Welt: »Na, wo gibt es denn heute eine Razzia?« Ganz offensichtlich wissen die Menschen hier Bescheid.

10.30 Uhr: In der Polizeistation von Handia bitten wir um die angeforderten Polizisten und erleben die nächste Überraschung. Normalerweise begleiten uns zwei bis drei Polizisten, die sich aber erst duschen, waschen oder anziehen müssen. Oft bedeutet dies, dass wir zwei bis vier Stunden zu warten haben. Doch heute sind sieben Polizisten sogar mit einem eigenen Polizei-Jeep bereits nach weiteren 15 Minuten abfahrbereit. In der Polizeistation entdecken wir den Pradhan, den Bürgermeister des Dorfes, in dem die Befreiungsaktion stattfinden soll. Seine Anwesenheit verunsichert mich sehr. Wissen die Knüpfstuhlbesitzer etwa schon Bescheid?

10.50 Uhr: Zum Glück gibt es zwei Zufahrtswege zu dem Dorf, in dem wir die Razzia durchführen wollen. Wir wählen einen nicht üblichen Weg, verfahren uns absichtlich und täuschen vor, dass diese Aktion misslingen wird. So gelingt es uns, die auf Motorrädern wartenden Späher der Knüpfstuhlbesitzer zu überlisten, die an der anderen Kreuzung, mit Gewehren und Pistolen bewaffnet, Wache stehen und sofort Alarm geschlagen hätten, wenn sie unsere Autos entdeckt hätten. Als wir auf einem Umweg in der Nähe des Ortes eintreffen, können wir die vier Fahrzeuge hinter einem Hügel und geschützt durch einen Mangohain abstellen. Die letzten 500 Meter bis zu den Hütten legen meine indischen Kollegen zusammen mit den Polizisten zu Fuß zurück. Ich selbst bleibe im Jeep mit abgetönten Scheiben auf der Rückbank sitzen und verberge mich, wenn jemand vorbeikommt. Nur zu gerne würden sich indische Politiker und die Presse bestätigt fühlen, wenn ein Ausländer bei einer solchen Aktion gesichtet würde. Denn immer wieder wird von ihnen behauptet, derartige Aktionen würden von der CIA gesteuert und nur deswegen erfolgen, um Indien zu diskreditieren.

Hinterher erzählen mir meine indischen Kollegen, dass sie keine Kinder entdeckt haben. Niemand arbeitete an den Knüpfstühlen. Ganz offensichtlich waren die Kinder vorher weggebracht oder versteckt worden. Die Polizisten standen duckmäuserisch vor dem Knüpfstuhlbesitzer; offensichtlich ist er ihr wahrer »Chef« – erhalten sie regelmäßig Bestechungsgelder von ihm? Ihre Inaktivität änderte sich jedoch schlagartig, als sie entdeckten, dass auch ein Kindersklavenhändler anwesend war. Diesen nahmen sich die Polizeibeamten vor, sie warfen ihn zu Boden, verprügelten und traten ihn mit ihren Stiefeln. Aber er packte nicht aus und leugnete entschieden, Kinder hierhergebracht und verkauft zu haben. War die Aktion ein Fehlschlag?

Abseits im Jeep wartend, wird mir zunehmend unwohl zumute. Eine Befreiungsaktion sollte nur wenige Minuten dauern, da sich sonst die Gundas, die bewaffneten »Schutztruppen« der Knüpfstuhlbesitzer, formieren können und es zu einem Feuergefecht kommen kann. Wo bleiben meine Kollegen? Haben wir einen Fehlschlag erlitten? Alle müssten längst zurück sein. Man wird wohl pro forma eine Regelkontrolle durchführen, und dabei kann man sich ruhig Zeit lassen, man hat ja nichts gefunden, nichts auszusetzen. Hat etwa meine Präsenz dazu beigetragen, dass es ein Fehlschlag geworden ist? Am Vorabend hatten wir den obersten Polizeipräsidenten des Bundesstaates Uttar Pradesh (rund 200 Millionen Einwohner) davon in Kenntnis gesetzt, dass am nächsten Tag eine Befreiungsaktion geplant sei und ein »Videshi«, ein Ausländer, beteiligt sein werde. Er hatte daraufhin alle Polizeidienststellen des Landes informiert und aufgefordert, Personal und Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen, da sie sonst mit dienstrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten.

11:50 Uhr: Plötzlich kommt ein kleiner Junge angerannt und erzählt, dass zehn Kinder gefunden wurden. Meine indischen Kollegen entdeckten sie zufällig in einem Heuhaufen. Die Knüpfstuhlbesitzer hatten sie dort kurz vor der Razzia versteckt und dabei nicht bedacht, dass die Kinder in diesem Versteck erstickt wären, hätten wir sie nicht gefunden. Ich bin erleichtert und zugleich schockiert wegen der großen Anzahl. Es zeigt sich einmal mehr, dass wir mit unseren Vermutungen recht hatten und mit einer guten Vorbereitung doch Erfolg haben können. Fünf Minuten später eilt endlich die ganze Gruppe mit den zehn Kindern herbei. Wir halten die Türen auf, und alle springen in die Autos, die mit aufheulenden Motoren losrasen. Die 10 Kinder sitzen völlig verängstigt übereinander und verstehen nicht, was gerade mit ihnen geschieht.

Uns ist bewusst, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Bei der vorletzten Befreiungsaktion hatten vom Knüpfstuhlbesitzer bestochene Männer aus dem Dorf den Weg einfach aufgerissen, es war Regenzeit, und ein Ausweichen war nicht möglich gewesen. So konnte damals die Rückfahrt der Fahrzeuge verhindert werden. Nach wenigen Minuten Fahrt erreichen wir die Polizeistation. Ich bleibe draußen im Jeep mit Father Louis zurück. Es wäre viel zu gefährlich, nicht nur für mich, sondern auch für meine indischen Kollegen, wenn wir uns öffentlich zeigen würden. Für die korrupten Polizeibeamten und Regierungsvertreter wäre es dann nur zu klar, dass diese Aktion vom Ausland gesteuert worden war.

Nun werden die Kinder von den Behörden befragt und registriert. Für jedes Kind wird eine Befreiungsurkunde ausgestellt. Hierzu werden Name, Name des Vaters, Wohnort und geschätztes Alter vermerkt und Fingerabdrücke genommen. Dass eine solche Urkunde ausgestellt werden konnte, ist höchst außergewöhnlich, da sie von drei verschiedenen Behörden unterschrieben werden muss, die damit bezeugen, dass sie an der Befreiungsaktion teilgenommen haben. Alles vollzieht sich friedlich und geordnet.

Beim letzten Mal war dies ganz anders gewesen. Da hatten schwer bewaffnete Schutztruppen der Knüpfstuhlbesitzer versucht, die Polizeistation einzunehmen und »ihre« Kinder zurückzuholen. Es war ihnen zum Glück nicht gelungen. Heute allerdings ist zum ersten Mal ein Kindersklavenhändler im Allahabad-Distrikt bei einer Befreiungsaktion für Kindersklaven verhaftet worden. Er sitzt jetzt im Gefängnis von Handia ein.

Später, als wir uns im Übergangszentrum für befreite Migrantenkindersklaven befinden, erfahren wir mehr: Die Eltern dieser Kinder hatten zwischen 300 und 3000 Rupien (7 bis 70 €) erhalten und dafür ihre Kinder an den Sklavenhändler verkauft. Seitdem wurde kein Geld mehr gezahlt. Zum ersten Mal bei einer Befreiungsaktion ist es möglich, dass die Kinder ihre bescheidene Habe mitnehmen können: ihre Plastiksandalen und ihre Zweitkleidung. Ganz offensichtlich hatte der Knüpfstuhlbesitzer die Kinder gut behandelt. Da hatten wir in der Vergangenheit bei ähnlichen Aktionen viel schlimmere Situationen erlebt. Die heute befreiten Kinder bekamen zweimal am Tag zu essen und durften während der Arbeit Musik hören. Gearbeitet wurde täglich von 6 Uhr morgens bis 17.30 Uhr. Hatten die Kinder allerdings bis dahin ihr tägliches Pensum nicht geschafft, mussten sie Überstunden bis manchmal kurz vor Mitternacht machen. Ich frage bei mehreren Kindern nach, ob sie tatsächlich täglich so lange arbeiten mussten. Alle bestätigen mir dies. Weder sonntags noch an den ganz großen indischen Feiertagen wie Deepawali (Neujahr) oder Holi (dem Farbenfest im Frühjahr) hatten sie frei.

Es zeigte sich, dass unsere Vorsicht berechtigt war, mich nicht mit in die Polizeiwache von Handia zu nehmen, denn es gab dort eine heftige Auseinandersetzung darüber, dass man einen Ausländer gesehen habe und was dies zu bedeuten habe. »We have seen a fourth vehicle, a Tata Sumo, and a ›videshi‹ was inside«, behauptete Phoolan Devi, Parlamentsabgeordnete des Bezirks und ehemalige Banditenkönigin, die binnen einer Stunde informiert war und auf der Polizeiwache eintraf. Sie war eine hohe, einflussreiche Politikerin und forderte die sofortige Freilassung der Kinder: »Was sollen diese armen Geschöpfe denn noch alles erleiden. Hier haben sie Arbeit und bekommen Essen, und wer weiß, was jetzt mit ihnen geschehen wird?«

Ironie des Schicksals: Da der oberste Polizeipräsident des Bundesstaates alle Dienststellen darüber informiert hatte, dass eine Befreiungsaktion anstehe, an der ein »Videshi« teilnehmen werde, hatten an diesem 23. November 2002 vermutlich alle Kindersklaven im ganzen Bundesstaat einen freien Tag gehabt. Für viele war es der erste freie Tag seit Monaten oder gar seit Jahren!

2 INDIEN – LAND DER UNBEGRENZTEN GEGENSÄTZE

Bei meinen über 80 Besuchen in Indien im Laufe von 38 Jahren erschloss sich mir dieses Land nach und nach immer mehr. Ich lernte ein Land mit vielen Gesichtern und faszinierenden wie erschreckenden Seiten und Facetten kennen. Je mehr ich in die indische Kultur eintauchte, mich mit der indischen Politik auseinandersetzte und viele Menschen aus unterschiedlichen Schichten kennenlernte, desto mehr wurde mir bewusst, dass sich dieses Land jeder vereinfachenden Beschreibung entzieht. In meiner Tätigkeit als Kinderarbeitsexperte besuchte ich viele Länder, doch kein Land präsentierte sich mir als so vielschichtig wie Indien. Oft verbrachte ich mehrere Wochen oder Monate dort. Und noch heute entdecke ich jedes Mal wieder neue Seiten, die mir verdeutlichen, dass ich mich vor vorschnellen Urteilen hüten sollte.

Um die Probleme der gesundheitsschädigenden, ausbeuterischen Kinderarbeit in Indien verstehen und angemessen darauf reagieren zu können, ist es notwendig, sich mit dem Land, seiner Kultur und seiner Gesellschaft auseinanderzusetzen. In der Entwicklungszusammenarbeit kommt es sehr darauf an, nicht als arroganter Europäer aufzutreten, der die richtigen Rezepte in der Tasche hat, um Kinderarbeit zu bekämpfen. Vielmehr liegt mir daran, die Menschen in Indien darin zu unterstützen, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der es keine Kinderarbeit mehr gibt.

Wenn ich in Deutschland mit Menschen spreche, die Indien einmal besucht haben, kommt mir immer das in Indien so beliebte Bild von blinden Menschen in den Sinn, die zu erfühlen versuchen, was ein Elefant ist. Der erste fasst einen Fuß des Elefanten an, die nächste berührt seinen Rüssel, eine andere streichelt den Rücken, und wieder ein anderer untersucht das linke Ohr. Sie entwickeln alle eine nur sehr begrenzte Vorstellung von diesem Elefanten und behaupten trotzdem, sie wüssten, was ein Elefant sei, wie er sich anfühle, wie groß er sei, wie er aussehe. Doch sie täuschen sich, da sie nur einen kleinen Ausschnitt für das Ganze halten. Wenn ich mit westlichen Begleitern in Indien unterwegs bin, sagen viele nach dem ersten Besuch, dass ihnen nun klar sei, wie die indische Gesellschaft funktioniere. Sie meinen dieses Land verstanden zu haben. Dabei sind sie wie jene Blinden, die einen kleinen Ausschnitt berühren und von ihm aus auf das Ganze schließen. Gleichzeitig haben sie auch recht. Sie kennen immerhin einen kleinen Mosaikstein von einem riesigen Gebilde.

In Indien werden 1652 Sprachen und Dialekte gesprochen.1 So gibt es zum Beispiel im Süden allein 27 verschiedene dravidische Sprachen, die nichts mit den indoarischen Sprachen, die im Norden Indiens gesprochen werden, gemeinsam haben. Die 29 Bundesstaaten und 7 Unionsterritorien Indiens unterscheiden sich teilweise so sehr in ihrer Kultur, in ihren Sitten und durch ihre Sprachen, dass man den Eindruck bekommt, sich in völlig unterschiedlichen Ländern zu befinden. Und fast alle Religionen dieser Welt sind in Indien vertreten – hier gibt es Hindus, Moslems, Sikhs, Christen, Jains, Parsen, Juden, Buddhisten.

In der Begegnung mit Indern verweisen diese gern und stolz auf ihre dreitausendjährige Kulturtradition und bestehen darauf, dass wir europäischen Gesprächspartner diese auch würdigen und respektieren. Eine besondere Rolle spielt die Befreiung der Inder von der Kolonialherrschaft der Briten durch Mahatma Gandhis gewaltfreie Bewegung. Noch heute erinnern Inder im Gespräch gern daran, dass sie sich selbst befreit haben, während uns Deutschen die Befreiung vom Nationalsozialismus nur durch die vier Siegermächte gelungen sei.

Indien hat in diesen 3000 Jahren keine einzige soziale Revolution erlebt. Gravierende gesellschaftliche Verwerfungen, wie sie europäischen Staaten widerfuhren, kennt Indien nicht, und das liegt auch am indischen Kastensystem. Viele Inder engagieren sich erst dann gesellschaftlich, wenn die eigenen Kinder eine Familie gegründet haben. Dadurch hat dieses gesellschaftliche Engagement einen bewahrenden und keinen verändernden Charakter. »Help the poor to stay poor!« lautet dabei ein wesentlicher Grundsatz. Man will den Armen helfen, dass sie überleben, hat aber keinerlei Interesse daran, dass ihre Lage sich grundlegend ändert. Diese Maxime findet sich sogar auf Einkaufstüten als Werbung. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum so viele Inder, die selbst Sklaven halten oder sie in den unterschiedlichen Produktionsbereichen ausbeuten, keinerlei Probleme damit haben. Die hochkastigen Inder helfen den Armen, indem sie ihnen zu essen geben, sind aber an einer Befreiung dieser modernen Sklaven nicht interessiert.

Im Hinduismus gibt es vier Hauptkasten sowie die Kastenlosen. Die meisten Menschen, die in Steinbrüchen arbeiten oder an Knüpfstühlen sitzen, sind Kastenlose. Die meisten Steinbruchpächter und Teppichhändler dagegen sind Hindus aus der höchsten Kaste, der Brahmanen, der Priesterkaste. Die hochkastigen Hindus besetzen in der Regel auch alle wichtigen öffentlichen Stellungen. Sie sind die Großgrundbesitzer und zugleich die Geldverleiher, denn welche Bank würde einer Person, die weniger als einen Euro am Tag verdient und keinerlei Ersparnisse hat, Kredit gewähren? Die Kastenlosen sind häufig Analphabeten und ohne jeden Landbesitz. Diese seit 3000 Jahren existierende soziale Ordnung vermittelt den hochkastigen Brahmanen ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Sie interpretieren ihre Rolle und Aufgabe in der Gesellschaft aus dieser Tradition heraus, und darauf geht auch ihre oftmals herablassende und überhebliche Haltung gegenüber Kastenlosen zurück. Wenn eine gesellschaftliche Ordnung so lange besteht, ist sie für Menschen selbstverständlich und nicht hinterfragbar. Undenkbar, dass diese Grundordnung geändert werden könnte.

Der Glaube an die Ungleichheit der Menschen ist im Hinduismus verankert, der Religion, der in Indien etwa 80 Prozent der Bevölkerung angehören. Fast überall auf der Welt gehen wir von der Gleichheit der Menschen aus. So ist es im deutschen Grundgesetz definiert, und so steht es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Für Hindus stellt sich das ganz anders dar. Man ist als Kastenloser geboren und froh, als solcher geboren zu sein, weil man vielleicht im letzten Leben ein Tier war, eine Stufe vor dem Menschsein. Ein Kastenloser könnte in seinem vorherigen Leben aber auch in einer höheren Kaste gelebt haben. Weil er sich dort falsch verhalten hat, ist er nun – so die Vorstellung – zur Strafe als Kastenloser wiedergeboren worden. Kastenlose erleiden ihr Dasein in der Hoffnung, dass sie im nächsten Leben nicht mehr als Kastenlose auf die Welt kommen werden, sondern eine Stufe höher. Viele hochkastige Hindus haben keine Probleme damit, dass sie kastenlose Arbeiter und deren Kinder in Steinbrüchen oder an Knüpfstühlen schlecht behandeln, schlagen oder foltern. Ein kastenloser Mensch ist nicht grundlos Kastenloser, und damit ist es gerechtfertigt, ihn schlecht zu behandeln. Mehr noch: damit wird Gottes Strafe vollzogen.

2006 wollte ich im Dorf Shuklarahi zwei Dorfschulen für kastenlose Kinder besichtigen. Doch von den zwei Schulen war nichts mehr zu sehen. Ich erfuhr von Dorfbewohnern, dass die beiden Gebäude vor zwei Monaten von Kastenhindus im Auftrag des lokalen Großgrundbesitzers niedergerissen worden waren. Die Schulen standen auf Regierungsland und waren mit staatlicher Genehmigung gebaut worden. Die Kastenhindus waren aber so erbost darüber, dass sich kastenlose Familien im Dorf so viel Raum genommen hatten, dass sie kurzerhand zur Tat schritten.

Das Kastensystem ist einer der Gründe, warum sich in keinem Land der Erde die Sklaverei so sehr ausgebreitet hat und so dauerhaft erhält wie in Indien. Forscher vertreten die Auffassung, dass es sich beim indischen Sklavensystem um das älteste und langlebigste »Versklavungsmuster der Welt«2 handelt. Alles deutet darauf hin, dass Indien das Land mit den meisten Sklaven und den meisten Kindersklaven weltweit ist. So paradox es erscheint, ist Indien aber heute auch das Land, dass bei der Abschaffung der Sklaverei die größten Fortschritte erzielt.

Dass Indien das Land der unbegrenzten Gegensätze ist, zeigt sich eindrücklich in Mumbai. Über die Hälfte der dortigen Bevölkerung lebt in Slums und verfügt nicht einmal über ein eigenes Haus. Aber mitten in Mumbai hat Mr. Ambani, ein indischer Großindustrieller und einer der reichsten Männer der Welt, für eine Milliarde Dollar das teuerste Privathaus der Welt für sich erbaut. Während in anderen Ländern der südlichen Hemisphäre die Reichen häufig in eigenen bewachten Stadtteilen und die Armen in den Slums leben, treffen wir in Indien eine andere Situation an. Arm und Reich leben nebeneinander. Krasse Unterschiede werden in ganz anderer Weise akzeptiert als in europäischen Gesellschaften.

Wie stellen sich die Besitzverhältnisse in Indien dar? Etwa die Hälfte des Landes ist im Besitz von einem halben Prozent der Bevölkerung. Das hört sich für unsere westlichen Ohren zunächst krass an. Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, dass dies etwa sechs Millionen Menschen entspricht, wird deutlich, wie riesig dieser Subkontinent ist. Hinter kleinsten Prozentzahlen stehen viele Millionen Menschen. Weitere zwei Prozent besitzen ein Viertel des Landes. Die Mittelschicht, und das ist das Besondere im Vergleich zu anderen Ländern dieser Erde, wächst von Jahr zu Jahr. Immer mehr Menschen gelingt es, in der Mittelschicht Fuß zu fassen. Allerdings herrscht in Indien ein besonderes Verständnis von »Mittelschicht«, denn nach indischer Vorstellung umfasst sie alle diejenigen, die von weniger als Sozialhilfe leben bis hin zu Einkommen von umgerechnet 7000 Euro monatlich. Auf andere Länder übertragen, würde dies also fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In Indien bilden etwa 300 Millionen Menschen (22 Prozent) diese Mittelschicht. Sie ist konsumorientiert und trägt so zu einem enormen Wachstum der indischen Wirtschaft bei. In absoluter Armut leben rund 75 Prozent der Bevölkerung. Davon wiederum befinden sich 50 Prozent unterhalb der Armutsgrenze (etwa 350 Millionen).3 In Deutschland gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt. Die indische Regierung hingegen ändert die Definition immer wieder. »Die staatliche Plankommission Indiens will die offizielle Armutsgrenze verändern. Über ein entsprechendes Ansinnen informierte sie kürzlich den Höchsten Gerichtshof des Landes. Künftig sollen alle, die in städtischen Gebieten des Landes von mehr als 32 Rupien (etwa ein halber Euro) und in ländlichen Gebieten von mehr als 26 Rupien (weniger als 30 Cent) pro Tag leben, nicht mehr unter die Armutskategorie fallen.«4

Indien bezeichnet sich selbst gern als die größte Demokratie der Erde. Seit seiner Unabhängigkeit 1947 hat es keinen einzigen Militärputsch gegeben. Offiziell ist es auch eine gut funktionierende Demokratie. Sein Parlament verabschiedet die fortschrittlichsten Gesetze zur Bekämpfung von Armut, zum Schutz von Kindern vor Ausbeutung und Sklaverei, zum Schutz von behinderten Menschen und Kastenlosen sowie für Arbeitnehmer- und Frauenrechte. In nur wenigen Ländern der Erde werden benachteiligte Gruppen so sehr geschützt und gefördert wie vom indischen Gesetzgeber. Aber diese Gesetze sind zahnlos, da die Menschen sie nicht einklagen können, und der Staat ist nicht in der Lage, sie umzusetzen und für ihre Einhaltung zu sorgen. Ein Grund dafür ist die Korruption5, die in Indien in der gesamten Wirtschaft sowie bei den Behörden und der Polizei verbreitet ist. Es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht in erheblichem Maße von Korruption beherrscht ist.

Ein großes Problem ist die hohe Rate an Analphabeten: Nach wie vor können 30 Prozent der indischen Bevölkerung nicht lesen und schreiben6 und sind damit von allen wichtigen Formen der Teilhabe ausgeschlossen. Sie kennen die ihnen zustehenden Rechte nicht und werden auch bei Verträgen, zum Beispiel mit Gläubigern, leicht übervorteilt, da sie überhaupt nicht kontrollieren können, was sie gerade mit ihrem Daumenabdruck unterzeichnen. Selbst diejenigen, die über eine formale Schulbildung verfügen, haben keine Ahnung von den für sie wichtigen Gesetzen. Vielfach begegnet mir in den Behörden ein ähnliches Phänomen. Dort wissen die Beamten oft über wichtige Gesetze nicht Bescheid und sorgen deshalb auch nicht für deren Einhaltung.

Dass Indien unter der Geringschätzung von Mädchen und Frauen sehr leidet, wird mir besonders dann bewusst, wenn ich Eltern frage, wie viele Kinder sie haben, und sie mir erzählen, dass sie stolze Erzieher dreier Kinder seien. Wenn ich nachhake und wissen will, wie viele Jungen und Mädchen dies seien, dann entgegnen sie mir: »Natürlich drei Jungs!« – »Ach, Sie haben keine Mädchen?« – »Doch, zwei!«

Die indische Gesellschaft ist eine absolut patriarchalische Gesellschaft. Das indische Sprichwort »Wenn dir deine Frau ein Mädchen gebiert, dann ist es, wie wenn sie dir ins Gesicht spuckt!« drückt dies sehr drastisch aus! Und doch ist Indien der einzige Staat auf der Erde, in dem ein ganzer Bundesstaat matriarchalisch organisiert ist. Im Bundesstaat Meghalaya erben die Frauen alles. Die Geburt eines Mädchens sichert den Fortbestand der Familie.7 Der Name der Frau ist der Familienname, und zu Hause putzt der Mann und nicht die Frau. Rund 80 Prozent der Mädchen gehen in Meghalaya in die Schule und nur 20 Prozent der Jungen. So widersprüchlich ist Indien, und dies zeigt, wie schwierig es ist, wenn pauschal von dem Indien gesprochen wird, denn es gibt viele verschiedene Gesichter Indiens.

Indien ist etwa auch ein Land mit einer sehr hohen Dichte an sozialen Aktionsgruppen und Bürgerinitiativen, die sich für die unterschiedlichsten Belange einsetzen und so für Veränderungen in der Gesellschaft sorgen. Dies hat eine lange Tradition. Mahatma Gandhi konnte sich bereits auf solche Aktionsgruppen verlassen und wusste sie geschickt für seine Zwecke zu nutzen. Die Tatsache, dass es viele Aktionsgruppen gibt, ist für meine Arbeit ein wichtiger Vorteil. Im Bereich der Bekämpfung von Kinderarbeit konnte ich in den letzten dreißig Jahren auf die Unterstützung unzähliger engagierter Menschen bauen. Diese sozialen Aktionsgruppen sind die wahren Akteure des gesellschaftlichen Fortschritts in Indien.

Wer Indien verstehen will, benötigt nicht nur Wissen über die Vielfalt dieses Landes. Genauso wichtig sind Kenntnisse über Aspekte der Kommunikation. Wie Gespräche geführt werden, unterscheidet sich sehr von der europäischen Gesprächskultur. Wir sind es gewohnt, auf eine klare Frage eine klare Antwort zu bekommen. Wer mit solch einer Erwartung in ein Gespräch mit indischen Partnern geht, wird sich, wenn er etwas fragt, über eine widersprüchliche Antwort wundern. Regelmäßig erlebe ich, dass meine Gesprächspartner mir so antworten, dass mir zunächst unklar ist, was sie mir sagen wollen. Erst wenn ich genau hinhöre, kann ich eine Tendenz erkennen. Antworten hängen sehr davon ab, wo und wann ich gerade die Frage stelle. So gibt mir der Kastenlose eine völlig andere Antwort auf eine Frage als ein Brahmane, und in keiner Situation darf ich mit der Tür ins Haus fallen. Für meine Arbeit besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass auf Fragen niemals mit »Nein« geantwortet wird. Fragen werden grundsätzlich bejaht, auch wenn es ganz offensichtlich nicht so ist. Menschen, die das erste Mal in Indien sind und diesen Aspekt nicht berücksichtigen, können in Gesprächen zu völlig falschen Schlussfolgerungen kommen, wenn sie nur davon ausgehen, dass ihre Frage gerade bejaht wurde. Für den indischen Gesprächspartner wäre es nämlich ein Zeichen von Unhöflichkeit, eine Frage zu verneinen, er würde es als Bruch mit seiner Kultur empfinden. Seine kulturelle Tradition sagt ihm, dass Gäste auf die höchste Stufe gestellt werden müssen, und das verbietet es ihm eben, seinem Gast etwas zu versagen oder ihm zu widersprechen. Für uns ist der Gast ein König – für die Inder ein Gott.

Da es für uns Europäer wichtig ist, im Gespräch nicht allzu ausschweifend zu sein, sondern das, was wir sagen wollen, was wir meinen, konkret zu beschreiben, also den Kern der Sache anzusteuern, kann es zu großen Missverständnissen kommen. So erlebe ich in meinen Gesprächen in Indien oft, dass eine allgemeine Aussage als die Wahrheit betrachtet wird. Je allgemeiner ich also etwas ausdrücke, desto aufrichtiger bin ich. In einem Gespräch mit indischen Projektpartnern fiel mir auf, dass in der Abrechnung des Projektes ein Komma nicht richtig gesetzt und somit der abzurechnende Betrag falsch war. Als ich meine indischen Kollegen darauf ansprach, wunderte ich mich über ihre Reaktion. Sie lenkten ab, kamen allgemein auf dieses Projekt zu sprechen und waren nicht geneigt, sich mit meiner konkreten Frage auseinandersetzen zu wollen. Ich argwöhnte, dass hier eine falsche Abrechnungspraxis vertuscht werden sollte, was mich zunächst zunehmend ärgerlich machte, bis mir bewusst wurde, dass für meine indischen Kollegen die Frage nach dem falsch gesetzten Komma zu Beginn gar nicht wichtig war, sondern es ihnen vielmehr um eine allgemeine Bewertung des Projektes ging. Erst als ich mich darauf einlassen konnte, kamen wir miteinander ins Gespräch, in dessen Verlauf meine Kollegen mir nebenbei erklärten, dass die Abrechnung selbstverständlich nochmals überprüft werde. Die Frage nach der falschen Abrechnung ließ sich unkompliziert lösen, weil ich mir bewusst geworden war, welche große Rolle hier Zeit und Wahrheitsverständnis spielen.

Überrascht war ich bei meinen ersten Besuchen in Indien, wenn an mich diese Fragen gerichtet wurden: Wie heißt du? Woher kommst du? Bist du verheiratet, und hast du Kinder? Und was ist für dich der Sinn des Lebens?