Kleine Poetik der Schublade - Christian Begemann - E-Book

Kleine Poetik der Schublade E-Book

Christian Begemann

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schubladen dienen bekanntlich der Aufbewahrung von Dingen und der Stiftung von Ordnung, auch wenn in ihnen häufig das Chaos regiert. Meist befinden sie sich an Orten, wo man sie übersieht. Obwohl Schubladen in vielen literarischen Texten eine entscheidende Rolle spielen, bleiben sie in der Literatur- und Kulturgeschichte häufig unbemerkt. Höchste Zeit also, einen Blick hineinzuwerfen. Von Goethe bis Musil nimmt der Essay von Christian Begemann Funktionen und Bedeutungsebenen dieses sehr speziellen Behältnisses in den Blick. Die Literatur des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne entfaltet nämlich eine regelrechte Poetik der Schublade, deren Inhalt etwa der Charakterisierung von literarischen Figuren dient. Aber in und aus ihnen entspringen auch Handlungen, wenn etwa Dinge, Aufzeichnungen oder Briefe zutage treten, die das Leben der Figuren einschneidend verändern. Mitunter werden ganze Geschichten aus Schubladen hervorgesponnen: Katastrophen, kleine und große, Liebesdesaster und Ehekrisen. Das spiegelt sich auch in der Konstruktion von Erzählungen wider, die als alte Blätter fingiert in Schubladen aufgefunden werden. Schubladen sind Räume des Gedächtnisses, damit aber auch Räume des Unbewussten. Neben längst vergessenem Plunder finden sich dort auch Objekte, in denen Erinnerung gespeichert ist, und die, oftmals gespenstisch und zerstörend, die Vergangenheit wiederkehren lassen. Dass hier Kräfte am Werk sind, die ungerufen auftreten und sich nicht steuern lassen, macht die spezielle Magie der Schublade aus. Schaut man genauer in sie hinein, werden Fragen eines kulturellen Imaginären aufgeworfen, das Risse im modernen Bewusstsein markiert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 127

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHRISTIAN BEGEMANN studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Von 2000 bis 2008 hatte er einen Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth inne, von 2008 bis 2020 an der LMU München.

Christian Begemann

KLEINE POETIK DER SCHUBLADE

Umschlagfoto: Deutsches Werkzeugmuseum d. Stadt

Remscheid

Bibliographische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Konstanz University Press 2023

www.k-up.de | www.wallstein-verlag.de

Konstanz University Press ist ein Imprint der

Wallstein Verlag GmbH

Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz

ISBN (Print) 978-3-8353-9163-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-9757-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-9758-3

Inhalt

I

Warum Schubladen? | Woher kommen und wozu dienen Schubladen? | Ordnung und Ordnungen | Dialektiken der Ordnung | Memoria | Überblick

II

Ein charakteristisches Sammelsurium | Räume der Ordnung und des Chaos | Mnemotopik in der Schublade | Die Ordnung des Geldes | Zauberformel und Adelsdiplom | Versteckte Briefe | Effi und das Gesellschafts-Etwas | Der rote Faden | Der Ehemechanismus | ›Sex‹ oder ›Gender‹? | Aufgebrochene Schubladen und kollektive Falschmünzerei | Schubfächer des Unbewussten | Nachtseiten | Der »phantastische Zug«: Bruchlinien im Subjekt der Moderne | Verschollene Dinge, alte Blätter, Erzählscharniere | Eine andere Unsterblichkeit. Zur Poetik des Auffindens und der Überlieferung | Die agency der Schubladen | Das Leben der Toten | Belebte Dinge

III

Rückblick | Epilog: Autodafé | Ausblick: Onkel Dagoberts Bett

Nachbemerkung

Literaturverzeichnis

I

Warum Schubladen?

Ja, warum eigentlich? Schubladen gehören zu jenen unauffälligen und diskreten Alltagsdingen, über die man in aller Regel erst nachdenkt, wenn sie den Dienst verweigern, klemmen oder kaputtgehen. Sie sind zweckdienlich, drängen sich aber nicht auf, eher im Gegenteil. Oft verstecken sie sich in Schränken, immer aber unter Oberflächen, fallen also nicht groß ins Auge. Selten nimmt sich ein Designer ihrer an, zumal ihre Form wenig Gestaltungsspielräume lässt. Anders als Smartphones, coole Sneakers, schicke Handtaschen, Siebträger-Kaffeemaschinen oder gar Autos ziehen sie nur geringe affektive Energien auf sich. Schubladen sind einfach nur da. Der Literaturwissenschaftler, der beiläufig bemerkt, er beschäftige sich momentan mit Schubladen, erntet verwunderte Blicke. Warum gerade Schubladen? Die Antwort ist leicht und schwierig zugleich.

Befragt man den Duden online, so erhält man die technisch-nüchterne Auskunft, eine Schublade sei ein »herausziehbarer offener Kasten, bewegliches Fach […] in einem Schrank, einer Kommode o. Ä.« Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. So sehr die alltägliche Haltung der Benutzerinnen und Benutzer zu ihren Schubladen von freundlicher Gleichgültigkeit gekennzeichnet ist, so sehr stellen diese im Bereich der Kultur- und Literaturgeschichte Imaginationsräume dar, Räume, die die Phantasie beflügeln – eine seltsame Diskrepanz. Einmal aufmerksam geworden, stellt man fest, dass eine nicht geringe Zahl von Bildern und eine Unzahl von Texten es mit Schubladen zu tun haben. Auch hier drängen sich Schubladen nicht dem ersten Blick auf, zeigen sich aber dem zweiten als wesentliche Elemente der Handlung, ja der Struktur von Texten – und um Texte soll es hier in erster Linie gehen. In einem erstaunlichen Variationsreichtum entwickeln sich Geschichten aus Schubladen und um sie herum. Vieles wird in Schubladen verstaut oder kommt zur Unzeit aus ihnen hervor – und oft sind das die Geschichten selbst. Und erneut stellt sich die Frage: Warum Schubladen? Eine Antwort darauf sucht dieser Essay. Zunächst aber sollen einige grundsätzlichere Dinge geklärt werden.

Woher kommen und wozu dienen Schubladen?

Die Schublade und den Schubladenschrank (›armarium‹) gab es bereits in der Antike, wie Adolf Feulner in seiner Kunstgeschichte des Möbels seit dem Altertum mitteilt (Feulner 1927, 26, 55). Man kennt sie von Reliefs, wie etwa der Abbildung des Verkaufsstands eines Messerhändlers aus der Galleria Lapidaria im Vatikan, oder aus Herculaneum, wo sich ein verkohlter zweitüriger Kasten mit Schublade erhalten hat. Insgesamt aber dürfte das Schubladenaufkommen gering gewesen sein, wie lange Jahrhunderte das Mobiliar überhaupt. Im alten China und Japan gab es gleichfalls Schränke mit Schubladen, vor allem für die Zwecke von Ärzten und Apothekern, Vorläufer des japanischen Tansu, der sich seit dem 17. Jahrhundert durchsetzt. Seit Spätmittelalter und früher Neuzeit finden sich auch in Europa Schränke mit mehreren Schubladen, Kommoden oder ›chests of drawers‹ – letztere seit 1599 auch im Wörterbuch belegt –, während gleichzeitig noch die Truhe »die Rolle des Universalmöbels« spielte, in deren Inneren sich Schreibfächer und »Lädlein« befinden konnten (ebd. 55) – wie sich überhaupt zwischen Truhen und Schubladen wechselseitige Einschlüsse zeigen. Kästen und Truhen können Schubladen einschließen, umgekehrt kann man in diesen Kästchen und Schatullen aufbewahren.

Ihren eigentlichen Siegeszug treten Schubladen zunächst wohl weniger in Privathaushalten an als in Sammlungen, Bibliotheken und Apotheken, wo sich spezielle Sammlungsmöbel entwickeln, wie beispielsweise der in den sog. Wunderkammern beliebte ›Kabinettschrank‹. Eine andere Weiterentwicklung der frühen Schubladenmöbel ist der seit dem 18. Jahrhundert sich verbreitende Schreibsekretär, der im hier verfolgten Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen wird. Gegenüber dem späteren und nüchterneren Schreibtisch weist er über bzw. hinter der aufklappbaren oder herausziehbaren Schreibfläche Aufbauten auf, die zum Teil elaborierte Dekorelemente tragen können, wie etwa kleine Tempelfassaden mit Säulchen und Giebelfeldern. Überhaupt sind der gestalterischen Raffinesse keine Grenzen gesetzt. In zahllosen Variationen gibt es hier Ablagefächer, teils schwenkbare Schubladenelemente, Schublädchen und nicht zuletzt Geheimfächer, die sich in doppelten Böden oder Wänden oder hinter verkürzten Schubladen verbergen können. Die ›Universalisierung‹ des Prinzips Schublade belegen dann seit dem 19. Jahrhundert Registrierkassen (1879 in den USA erfunden), Kaffeemühlen oder Zündholzschachteln.

In der Gegenwart zeigt sich eine gegenläufige Tendenz: Mit der Digitalisierung erübrigen sich viele Schubladen bzw. Typen von Schubladen, beispielsweise in den Katalogsälen von Bibliotheken und Archiven, gelegentlich aber auch im Alltag. Zwar übernehmen digitale Ordnungssysteme mit ihren Ordnern, Unterordnern oder versteckten Dateien oftmals die Funktionen von Schubladen, deswegen sind sie aber noch lange keine – zumindest keine ›realen‹, sondern allenfalls metaphorische Schubladen. Solange wir in analogen Welten leben, wird es voraussichtlich auch künftig Schubladen geben, jedenfalls sofern wir es weiterhin mit materiellen ›Dingen‹ zu tun haben – und deren Ende ist nicht in Sicht. Denn die zunehmende Bedeutung von Schubladen in den vergangenen Jahrhunderten hängt auch mit der industriellen Warenproduktion zusammen. Man hat das 19. Jahrhundert das »Saeculum der Dinge« genannt (Böhme 2006, 17), weil sich die Produktion alltäglicher Waren entscheidend verbilligt und deren Menge entsprechend in die Höhe schnellt, bis es in der Gegenwart zu einem regelrecht beklemmenden Andrang von Dingen kommt. Und alles will verstaut werden: Mit der Zahl der, wenn nicht für jedermann, so doch für viele Menschen erschwinglichen Dinge steigt auch der Bedarf an ordnungsstiftenden Möbeln.

Ordnung und Ordnungen

Ordnung ist eine der hauptsächlichen Funktionen von Schubladen. Üblicherweise werden im geschützten Raum der Schublade Dinge aufbewahrt, dem Verfall entzogen und wiederauffindbar gehalten. Häufig sind es Dokumente, Wertsachen, Geld, Briefe, aber auch so ziemlich alles andere. Im Alltag gibt es daher spezialisierte Schubladen etwa für Besteck oder bestimmte Lebensmittel, für Socken oder T-Shirts, für Werkzeug, Schrauben oder Nägel. Ohne Schubladen würden sich diese Dinge im Raum zerstreuen oder in wüsten Konglomeraten anhäufen. Um dem vorzubeugen, gibt es mittlerweile Spezialistinnen, unter denen die japanische Ordnungsberaterin Marie Kondo die erfolgreichste ist, deren Bücher in 27 Sprachen übersetzt wurden, sich 7 Millionen Mal verkauft haben und auch als Manga vorliegen. Marie Kondo ist der Rettungsengel in der selbstverschuldeten Konsumhölle. Sie erklärt ihren Leserinnen und Lesern, wie sie mit Hilfe der »KonMari-Methode« durch Wegwerfen, Sortieren, Ordnen, Falten und Stauen aus einer messy person zu einem Menschen mit kalkulierbarem Chaos-Risiko werden. Eine rigorose Schubladenbewirtschaftung ist dabei ein unverzichtbares Hilfsmittel. Mit Hilfe von Magic Cleaning stellt sich eine zwar magische, aber eindeutige Beziehung zwischen aufgeräumter Wohnung und erfülltem Leben, zwischen Wohnung und Seele her. Immerhin kommt damit eine psychische Dimension der Schublade ins Blickfeld, die uns noch beschäftigen soll. Viele andere Autorinnen, darunter eine »Frau Ordnung«, und unzählige You Tube-Videos oder Artikel in Lifestyle- und Wohnmagazinen bedienen dasselbe Bedürfnis. Eine ganze Ordnungsindustrie hat sich hier etabliert. Es kann nicht ausbleiben, dass so viel Ordnungseuphorie auch den Ratschlag provoziert hat, beim Ausmisten mit Marie Kondos Büchern anzufangen.

Noch weiter geht das Ordnungsprojekt, wo Schubladen Teil, Faktor oder Abbildung kultureller Ordnungssysteme werden. Das ist oder genauer: war, wie bereits erwähnt, etwa in den Zettelkästen der Bibliotheken der Fall, in Apotheken oder systematischen Sammlungen, wie Gemmen- oder Münzkollektionen, vor allem aber in Naturaliensammlungen, in denen spezielle Schubladen in speziellen Möbeln in speziellen Räumen und speziellen Bauwerken stehen, dort Orte innerhalb einer Taxonomie markieren, in der Dinge zumeist als Exemplare eine Systemstelle bezeichnen. Hier sind Schubladen Container des kulturellen Wissens, und hier feiert die Ordnung ihre eigentliche Epiphanie.

Von hier aus beziehen Metaphern rund um die Schublade ihre pejorative Färbung, insbesondere die des Schubladendenkens, die auf eine recht lange Geschichte zurückblickt. Sie begegnet etwa bei Grillparzer, Börne, Balzac und vielen anderen und steht für ein starres kategorienfixiertes Denken. Es gibt mittlerweile eine dem Thema Vorurteil gewidmete Kleine Einführung in das Schubladendenken des Sozialpsychologen Jens Förster, der allerdings nirgends die Metapher selbst herleitet oder erläutert (Förster 2007). Deutlicher ist da Nietzsches Fröhliche Wissenschaft. Nietzsche spricht nämlich von der auch unter Gelehrten verbreiteten Manier von »Registratoren und Büreauschreibern jeder Art […], ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu vertheilen« und »ein Problem […] damit für gelöst zu halten, dass sie es schematisirt haben« (Nietzsche 1999 b, 3, 584). Gottfried Keller zieht aus dieser Denkfigur unerwartete Konsequenzen. Sein Grüner Heinrich glaubt das Schubladendenken seinen Subjekten ansehen zu können, wenn er anlässlich der Schilderung seines Konfirmandenunterrichts die »starrsinnigen Knüppelstirnen […], welchen in der Mitte nur ein Knöpfchen fehlte, um ganz ein viereckiges Schublädchen vorzustellen,« von denjenigen unterscheidet, »welche in edler Rundung eine ganze runde Welt abbildeten« (Keller 1996, 369). Die Art des Denkens schlägt physiognomisch auf die Oberfläche durch. Ein Seitenstück des ›Schubladendenkens‹ ist eine andere Metapher: die »Comédie à tiroir, ein schlechtes Schubladenstück«, über das sich nicht nur Goethe, wie hier in den Wahlverwandtschaften (Goethe 1987, 467), abfällig äußert, sondern auch E. T. A. Hoffmann und andere. Gemeint ist damit ein triviales, bausatzartig montiertes Theaterstück aus losen Szenen ohne innere Einheit, dafür aber mit vielen schnellen Verwandlungen. Eine Vielzahl anderer, auch weniger vorgeprägter Schubladenmetaphern ließe sich noch hinzufügen.

Die Metapher des Schubladendenkens ist selbst schon so stereotyp geworden wie das, was mit ihr bezeichnet werden soll. Sie ist selbst eine Schublade, in die man die Schublade nicht stecken sollte. Gaston Bachelard, der sich als einer von ganz wenigen Theoretikern in seiner Poetik des Raumes von 1957 auch mit Schubladen, Truhen und Schränken befasst hat, polemisiert gegen Henri Bergsons Polemik gegen das Schubladendenken, indem er dieser Metapher eine ganz falsche Tendenz bescheinigt. Sei die Metapher generell »ein falsches Bild« (Bachelard 2011, 92) – eine Auffassung, die man nicht teilen muss und auch gar nicht teilen sollte –, so sei die Schubladenmetapher doppelt falsch, denn Bachelard sieht in der Schublade etwas ganz anderes als Bergson. Sie sei nämlich nicht etwa Inbild von »stereotypen Ideen« (ebd.), sondern vielmehr eines der »Organe des geheimen psychologischen Lebens«, ja, eines der »äußeren Modelle der Innerlichkeit« (94). Das ist nicht falsch, und ich komme darauf zurück. Bachelards Argument verkürzt aber doch die Problematik der Schubladenmetapher. Diese liegt nicht nur darin, dass es auch ganz andere Imaginationen der Schublade geben kann als diejenige haltbar gezimmerter Gedankenformeln. Sie liegt darin, dass die Metapher einen zentralen Aspekt gerade dessen, womit sie etwas anderes zu charakterisieren vorgibt, unterschlägt. Ich möchte ihn das entropische Potential der Schublade nennen. Man könnte in ihm geradezu die geheime Rache der Schublade an ihrer Metaphorisierung sehen, der sie einen subversiven Gegensinn einzeichnet.

Dialektiken der Ordnung

Die Schubladensysteme der Bibliotheken, Museen und Apotheken stellen ja bekanntlich nicht den Normalfall dar. Im Alltag dominiert vielmehr ein anderer Typus von Schublade. Im schweizerischen Französisch gibt es das schöne Lehnwort ›schubladiser‹, das so viel bedeutet wie ›unerledigt ablegen‹ und ›aus dem Blickfeld schaffen‹. In Schubladen packt man nicht zuletzt gerade das, was irgendwie stört und aktuell nicht passt, man verstaut dort all das, was man andernorts nicht unterbringt, was sich also anderen Ordnungen gerade nicht fügt, Überständiges und Erratisches. Ordnung entsteht hier auf zweierlei Weise. Zum einen, indem das Umfeld entlastet und Lästiges beiseitegeschafft wird. So bildet sich ein eingeschlossenes Ausgeschlossenes der Ordnung, das diese ermöglicht, zugleich allerdings auch unterminiert. Denn immerhin gibt es diese ja nur auf der Basis, dass in ihr die unsichtbaren kleinen Enklaven des Chaos ihr Dasein fristen dürfen. Von Glück kann man sagen, wenn dieses nicht in der Art einer infektiösen Dialektik wieder auf sein Umfeld übergreift, das Verdrängte also wiederkehrt.

Evidenz dafür findet man dort, wo man sie vielleicht nicht gesucht hätte, nämlich in Ellis Kauts Kindergeschichte Pumuckl und der Schmutz (1964). Weil Pumuckl sich gegen eine umfassende Renovierungs-, Säuberungs- und Aufräumaktion in der Wohnung von Meister Eder empört, überlässt ihm dieser eine Schublade mit viel altem Krimskrams. Hier – und nur hier – soll alles so bleiben dürfen, wie es ist. Dieser Kompromissversuch unterschätzt jedoch die Neigung der Ordnung zu ihrer Totalisierung, denn die Putzfrau attackiert erwartungsgemäß nun auch die alte Schublade, entbindet dadurch aber die in ihr hausende Kraft des Kobolds und löst damit einen massiven Kollateralschaden der Ordnungsstiftung aus. Es entsteht nämlich ein geradezu mythischer Endkampf zwischen den Repräsentanten von Unordnung und Ordnung, und der Plan von Putzaktion und Ordnungsstiftung schlägt um in die reaktive Ausbreitung von Chaos und Schmutz.

Zum anderen versucht man dem in der Schublade entstehenden Sammelsurium eine minimale Struktur abzugewinnen, schon allein um seine Bestandteile einmal wiederzufinden. Auch dieser Versuch erweist sich zumeist als realitätsfern. Schon das Zuschieben der Schublade bewirkt, dass sich die mühsam separierten Gegenstände wieder in Bewegung setzen, untereinander unerwünschte Koalitionen schließen und alle Bemühungen sabotieren. Wie man es auch anstellt, Schubladen erweisen sich allzu oft nicht als Ordnungselemente, sondern vielmehr als intrinsische Chaostreiber in der Ordnung. Das führt uns auch ein Bild des englischen Malers Henry Stacy Marks aus dem Jahr 1882 vor Augen, das den vielsagenden Titel Where Is It? trägt. Auf der Suche nach irgendetwas hat der missmutige alte Herr bereits einen Wandschrank und mehrere Schubladen seiner Kommode durchwühlt und ihren Inhalt über die nähere Umgebung verstreut. Neben den Briefen, Schriftstücken und Mappen gehören vermutlich auch die Objekte auf dem Tisch, ein Kästchen, Bücher und ein mutmaßlicher Geldbeutel, zu den Bewohnern der Schubladen. Die Ordnung – wenn es sie einmal gab – hat sich in Konfusion zurückverwandelt. Hinter dem Suchenden befindet sich ein überdimensionaler Schlüssel an der Wand, vielleicht der Schlüssel zu seinem Problem, aber er sieht ihn nicht.

Henry Stacy Marks, Where Is It ?, Öl auf Leinwand, 1882, Birmingham Museums Trust

Memoria

Dieses Problem scheint darin zu liegen, dass der alte Herr nicht mehr weiß, ›where it is‹. Das ist signifikant, denn Schubladen haben mit dem Gedächtnis zu tun, und zwar in allen seinen Spielarten. Geht es bei den Schubladen in Sammlungen und Museen um ein kulturelles und kollektives Gedächtnis, das Wahrnehmung, Denkweisen und Lebenswelten strukturiert, so hier um individuelle Erinnerung. Schubladen sind häufig Räume für das Private und Intime. In ihnen werden Dinge gelagert, die man aufheben möchte, weil sie wichtig sind oder eine biographische Bedeutung haben. Oft handelt es sich um emotional hoch besetzte Sachen, die man nicht wegwerfen, aber auch nicht dauernd vor Augen haben und vielleicht auch nicht jedermann zeigen will. Dabei speichern die Dinge der Schublade einerseits Erinnerung, die sich aus ihnen abrufen lässt oder ungerufen wiederkehrt, und mitunter sind sie Teile, gleichsam Exklaven der Person, die, wie die geläufige Redewendung weiß, ›ihr Herz‹ an sie gehängt hat. Andererseits müssen die Dinge selbst wiederum erinnert werden. Schubladen gehören entschieden in den Kreis der Erinnerungsräume