Kleine Worte - Bediuzzaman Said Nursi - E-Book

Kleine Worte E-Book

Bediuzzaman Said Nursi

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Beschreibung

Woher kommt der Mensch? Was macht ihn aus? Was heißt Gottvertrauen, was Verkennung? Welche Aufgabe haben der Geist, das Herz und die Vernunft? Sind Glaube und Vernunft Gegensätze? Wohin gehen die Geschöpfe nach ihrem Tod? Was ist die Grundveranlagung des Menschen, was ist sein Kernauftrag? Was bedeuten Gottesdienst und Bittgebet? Diese und andere vitale Fragen werden vom Lehrmeister Bediuzzaman Said Nursi (gest. 1960) aufgegriffen und mit anschaulichen Gleichnissen beantwortet. Seine „kleinen“, aber tiefschürfenden Worte laden die Leserschaft zu einer Erkenntnisreise in das Sein, den Menschen und den Glauben ein.

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Seitenzahl: 185

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Copyright © Define Verlag, Berlin, 2021

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übersetzung: Islamische Akademie für Bildung und Gesellschaft (abg)

vorwort & kommentar: Maximilan Friedler

herausgeber: Dr. Arhan Kardas

lektorat: Lenius Hirschberger

satz: Onur Alka

cover: Yavuz Aydemir

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Linemarketing GmbH

Wilhelmstr. 26–30 Haus 24 – 13593 Berlin

www.deinbuchshop.de

ISBN: 978-3-946871-39-2

Druck: FINIDR

Besonderer Dank gilt für die freiwillige Unterstützung an der Übersetzungsarbeit an Felix Stein, Rümeysa Bağ & Kübra Dalkılıç

Hierzu möchten wir die konsequente Arbeit von Felix Stein, Rümeysa Bag, Kübra Dalkilic, Ahmet Nebi Y., Melih T., Yusuf D., Dr. Abdullah Mutlu, Ertugrul T., Ahmet Ö., Dr. Metin Aysel, Hüseyin Kahraman, Ismet Macit, Ercan Bal, Dr. Arhan Kardas und unseren Lektoren Lenius Hirschberger, Dr. Frank Giesenberg, Sevval Misirlioglu sowie den Satz von Onur Alka besonders würdigen.

Ein ganz besonderer Dank gilt dem Gelehrten Abdullah Aymaz, mit dem wir die Überschriften und offengebliebene Fragen zum Inhalt ein letztes Mal diskutieren konnten.

Inhalt

Einleitung

Einführung in die Vorzüge des Glaubens und des Gebets (Das dreiundzwanzigste Wort)

Das erste Wort

Das zweite Wort

Das dritte Wort

Das vierte Wort

Das fünfte Wort

Das sechste Wort

Das siebte Wort

Das achte Wort

Das neunte Wort

Die Einzigartigkeit und Barmherzigkeit Gottes sowie der Mensch als Sein Spiegel

Index

Einleitung

Zu den Kleinen Worten, die Sie gerade in Händen halten

Historischer Kontext der Kleinen Worte

Im Jahre 1926 wurde derLehrmeister aus seiner asketischen Zurückgezogenheit in Van nach Burdur und später nach Barla, einem Vorort der Stadt Isparta in Westanatolien, gebracht, wo er fortan im Exil lebte. Es war Frühlingsanfang. Der Lehrmeister pflegte Ausflüge in die Berge und Gärten in und um Barla zu machen. Als er eines Tages zwischen Mandelbäumen auf den Egirdir-See sah, kam ihm das Gleichnis des Korans aus der Sure Er-Rūm 30:50 in den Sinn:

„So schau doch auf die Spuren von Gottes Barmherzigkeit – wie Er die Erde wiederbelebt nach ihrem Tod. Ganz gewiss ist Er es, der die Toten (auf ähnliche Weise) wiedererwecken wird. Er hat volle Macht über alle Dinge.“

Seiner Heimat entrissen, ganz allein inmitten dieser Gärten und versunken im Sinngehalt dieses Verses fing er an, ihn mehr als vierzigmal laut zu rezitieren. Als er am Abend zu seinem Haus zurückkehrte, diktierte er seinem Sekretär, einem Damaszener Hafis, eine Allegorie.1 Das zehnte Wort seiner „Botschaft des Lichts“ wurde also als Erstes niedergeschrieben. Darin diskutierte er rationale, intuitive und theologisch-philosophische Beweise für das Leben nach dem Tod sowie für die Wiederversammlung der Geschöpfe nach dem Vergehen dieser Welt. Dazu entwickelte er Beweise für die Existenz des Schöpfers und Seiner vollkommenen Eigenschaften und stellte Überlegungen über den Sinn und Zweck des Seins und der Zeit an.

Das zehnte Wort, „Die Wiederversammlung“, wurde zweimal, im Jahre 1926 und 1928, in Istanbul publiziert. Damals waren Bediuzzamans Schriften noch nicht verboten.

Positive Wissenschaften und der Glaube im 20. Jahrhundert

Der Motivationsgrund für eine solche Abhandlung war höchstwahrscheinlich die allgemeine Stimmung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es war eine Zeit, in der die Menschen – selbst die Gläubigen – daran zweifelten, ob eine körperliche Wiederauferstehung nach dem Tod rational möglich sei. Ähnlich wie in der Zeit der Sieben Schläfer von Ephesus, in der selbst Monotheisten an einem Leben nach dem Tod zweifelten, herrschte bei den Menschen des 20. Jahrhunderts großer Zweifel an der Wiederauferstehung. Nicht nur in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt wurden Religion und Glaube infrage gestellt. Der dialektische Materialismus gewann politisch und gesellschaftlich die Oberhand. Die Wahrheit wurde zuerst auf das rationale Wissen, später auf empirische Erkenntnis reduziert. Das Metaphysische bzw. Spirituelle wurde von diesem Positivismus kategorisch abgelehnt. Positivistische Erkenntnisse wurden von Philosophen aufgegriffen und angereichert. So erklärte Nietzsche Gott für „tot“, und mit dem vermeintlichen Tod Gottes geriet der Glaube an die Wiederauferstehung und das Leben nach dem Tode ebenfalls in Verruf.

Gerade in diesen Jahren war Bediuzzaman mit den Grundfragen des Lebens und des Glaubens beschäftigt. Woher kommt der Mensch? Was macht ihn aus? Wie kann der Mensch sein gewaltiges Potenzial ausschöpfen? Worin begründet sich der Mehrwert des Menschen? Was bedeutet der Glaube? Welche Funktion hat die Vernunft? Gibt es überhaupt einen Gott? Sind Glauben und Vernunft Gegensätze? Wohin gehen die Geschöpfe nach ihrem Tod? Wird die Wiederauferstehung nach dem Tod körperlich oder seelisch stattfinden? Wenn Gott gerecht oder barmherzig ist, warum gibt es in der Welt keine Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit? Warum soll sich Gott mit uns beschäftigen und unseren Dienst verlangen, wenn er transzendent und unabhängig ist?

Als Antworten auf solche und ähnliche Fragen schrieb er seine Worte und Briefe. Zwischen 1926 und 1930 wurde bereits der Hauptteil der 33 Abhandlungen verfasst. Sie galten den Schülerinnen und Schülern als das Hauptwerk ihres Lehrmeisters, als Kernstück seines Gedankengutes. Die Kleinen Worte, die Sie in der Hand halten, sind nur eine „Hineinführung“ in den Palast dieser Lichter, in den Garten dieser Früchte. Sie bilden nur ein Hundertstel des Gesamtwerkes. Im Gegensatz zu den klassischen Ausgaben enthält unsere Edition noch das 23. Wort als Einleitung. Das zehnte Wort über das Leben nach dem Tod wird aufgrund seines Umfangs als ein separates Buch herausgegeben. In diesem Vorwort möchten wir lediglich die theologisch-wissenschaftliche Relevanz dieses Wortes hervorheben, da sie bisher noch nicht gewürdigt wurde. Mit unserer künftig erscheinenden Übersetzung und unserem Kommentar werden wir versuchen, eine Grundlage für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk zu schaffen.

Die Kleinen Worte sind primär ein Selbstgespräch

Die Kleinen Worte sind im Gegensatz zu den Briefen hauptsächlich ein Selbstgespräch. Während die Briefe einen Dialog zwischen Bediuzzaman und den Schülern darstellen, zeichnen sich die Worte als ein Selbstgespräch aus, welches primär zwischen seinem nefs und seinem Herzen geführt wird. So sagt der Lehrmeister in der Einführung: „Ich finde, dass mein nefs mehr Rat braucht als jedes andere.“ So sind die Kleinen Worte zwar ein lautes Selbstgespräch, es steht aber jedem offen, zuzuhören, insbesondere jenem Diener des Militärs, der von ihm Ratschläge erbeten hatte.

Von der Sprache der Philosophen zur Sprache der Propheten

Obwohl der Lehrmeister in seinen jüngeren Schriften einen abstrakt-philosophischen und aphoristischen Schreibstil bevorzugte, versuchte er in den Worten in der Sprache der Propheten zu sprechen. Glaubenswahrheiten und Lichter in die Zukunft werden anhand von Gleichnissen in allgemein verständlicher Sprache zum Ausdruck gebracht. Bediuzzaman bezieht sich dabei nicht nur auf die koranische, sondern auf die abrahamitische Tradition der Allegorien, die wir in diesem Buch nummeriert und mit Zwischenüberschriften gekennzeichnet haben. Es gibt sogar ein Gleichnis im achten Wort, dessen Grundzüge in den Mahabbaratas und den Schriften von Buddha zu finden sind. Somit bedient sich Bediuzzaman in den Worten universeller Gleichnisse und Wahrheiten, die jeden Menschen ansprechen, der über Verstand und Herz verfügt. Die Wirksamkeit der Gleichnisse und der Wahrheiten aus den Worten für die Erneuerung des Glaubens und der Religion ist gewaltig. Ans Herz zu legen sind die Licht- und Sonnenparabel, das Gleichnis der Kunstgalerie, des Menschen im Brunnen, der zwei Diener und die Landstück-, die Baum- und die Manuskriptparabel, die Parabeln über Ziel und Zweck des Seins und der Zeit sowie der Traktat über die Barmherzigkeit Gottes und den Menschen als Sein Spiegel. Sie können durchaus neben Exegesen der Heiligen Schriften sowie den Werken großer Theologen und Philosophen wie Schleiermacher, Kant, Hegel, Karl Rahner oder Calvin bestehen.

Der Grund einiger Allegorien aus dem Militär

In einigen Worten erscheinen Gleichnisse aus dem Militärdienst. Dies geschieht aus mindestens zwei Gründen. Erstens ist derjenige, der den Lehrmeister um Ratschläge bittet, eine Person des Militärs. „Da du ein Soldat bist, werde ich mit Gleichnissen aus dem Militär und mit acht Kurzgeschichten einige Wahrheiten wiedergeben, die du dir zusammen mit meinem nefs2 anhören kannst“, sagt Bediuzzaman zu Beginn des ersten Wortes. Dies aber hat mit Militarismus nichts zu tun, sondern mit dem Beruf des geheimnisvollen Mithörers. Zweitens ist Bediuzzaman zufolge das ganze Universum mit sämtlichen Bestandteilen nichts anderes als eine Heerschar Gottes, die Seinen Anweisungen ohne Wenn und Aber Folge leistet, bis auf den Menschen und einige Wildtiere. Ansonsten ist er kein Freund des Militarismus, ganz im Gegenteil: Bediuzzaman ist gegen jedwedes Militärregime und gegen Despotie. Seine Haltung gegenüber den Repressionen unter Sultan Abdulhamid II. und nach dem Militärputsch von 1908 sind brillante Beweise dafür, dass er politisch immer auf der Seite von Freiheit und Demokratie stand.3 Wie der Lehrmeister am Ende der Einleitung selbst ausführt, werden anhand dieser Gleichnisse abstrakte Begriffe wie Religion, Geist, Charakterzüge oder spirituelle Kämpfe versinnbildlicht.

Des Lehrmeisters Sprache des Vergleiches

Analogien, Parabeln, Gleichnisse oder Vergleiche des Lehrmeisters in den Worten haben immer einen Bezugspunkt. Dieser muss dem Kontext entnommen werden, wenn Bediuzzaman nicht explizit auf dasDritte des Vergleichs (tertium comparationis) eingeht. Beispielsweise wird im ersten Wort gesagt, die Welt sei eine Wüste, im zehnten Wort wird die Welt aber als paradiesähnliches Land, Wartezimmer, Flieger, Felsen, Schiff, Gasthaus, Palast, Bühne und Theater oder Herrschaft beschrieben. Diese Bezeichnungen scheinen widersprüchlich zu sein. Berücksichtigt man jedoch den Kontext dieser Vergleiche, erschließt sich ganz leicht, dass sie gemäß dem jeweiligen tertium comparationis ganz passend sind:

Aufgrund der Notwendigkeiten des Lebens und der Angewiesenheit des Menschen auf einen Helfer gleicht diese Welt einer Wüste.Angesichts der öden und leblosen Landschaften anderer Himmelskörper ist unsere Welt mit dem Paradies zu vergleichen. Im Vergleich zum Paradies wiederum ist diese Welt wie ein Kerker.Aus der Perspektive der seelischen Vervollkommnung und des Kampfes gegen die Feinde der Vervollkommnung (wie Tod, Unwissen, Krankheit) stellt sie ein Übungsgelände dar bzw. gleicht einer Kaserne, wo die Menschen durch Bildung, Gottesdienst und Charaktererziehung diszipliniert werden.Hinsichtlich der Geschwindigkeit und Beweglichkeit im Weltall ist sie mit einem Flieger zu vergleichen. Wenn man das Weltall als Ozean beschreibt, dann lässt sich die Welt mit einem Schiff vergleichen.In Bezug auf ihre Vergänglichkeit und die Überführung des Menschen ins Jenseits stellt diese Welt ein Gasthaus oder ein Wartezimmer dar. Die Existenz dieser Welt als Hindernis zum Jenseits kann als ein Stein im Tal symbolisiert werden, der den Gästen des Schöpfers den Weg ins Jenseits versperrt.Aus der Perspektive der Zeit lässt sich unsere Welt mit einer Spindeluhr vergleichen, die für eine Woche (sieben Tage) eingestellt ist und deren Sekunden der Abfolge von Tag und Nacht entsprechen.Angesichts der zahlreichen Informationen und der kunstvollen Gestaltung dieser Welt ähnelt sie einem verzierten Manuskript, einem Buch, in dessen Wörtern weitere Bücher, also viele weitere Informationen enthalten sind.Wird aber die ganze Schöpfung als ein Baum verstanden, der vom Urknall bis heute wächst, dann bildet unsere Welt die beste Frucht dieses Baumes, weil in ihr das Leben aufkeimte.

So lassen sich die Vergleiche des Lehrmeisters erschließen und es wird ersichtlich, dass sie nicht willkürlich sind.4

Hauptinspirationsquelle der Allegorien: der Koran

Hauptsächlich speisen sich die Vergleiche und Allegorien des Lehrmeisters aus dem Koran, den er im zehnten Wort ausdrücklich als seine Hauptinspirationsquelle benennt. Es scheint, dass er die Bezugspunkte der Vergleiche vieler koranischer Gleichnisse aus einem holistischen Ansatz heraus entdeckt hat. Wir haben daher mit unserem bescheidenen Wissen versucht, im Fußnotenapparat auf solche Verse hinzuweisen. Anhand des folgenden Satzes kann seine Sprache des Vergleichs veranschaulicht werden:

„Es gibt nichts, was gegen die Wiederauferstehung spräche. Alles erfordert sie und alles spricht dafür. Die ruhmreiche und unendliche Herrschaft, die allmächtige und allumfassende Souveränität des Einen, der über Leben und Tod dieser erstaunlichen Auferstehungsbühne der Erde bestimmt, als ob es sich bei ihr nur um ein einziges Lebewesen, einen einzigen Organismus handele5; des Einen, der aus ihr eine angenehme Wiege6 und ein ansehnliches Schiff7 für Menschen und andere Lebewesen gemacht hat, der die Sonne zur Lampe8 und zum Herd gemacht hat, um diesem Gasthaus der Welt Licht und Wärme zu spenden, der die Planeten als Flieger zur Beförderung Seiner Engel erschaffen hat,9 kann nicht auf die veränderbaren, vergänglichen, instabilen, schwachen und unvollkommenen Verhältnisse und Anliegen dieser Welt gegründet und beschränkt sein. Er muss vielmehr über ein anderes Reich verfügen, das Ihm würdig, unveränderlich, dauerhaft, stabil, stark und vollkommen ist. Und in der Tat, Er besitzt so ein anderes Reich. Um dessentwillen lässt Er uns arbeiten10, und in ebendieses Reich lädt Er uns schließlich ein.“11

Über die Aussagekraft der Vergleiche und der analogischen Allegorien12

Nun überlassen wir das Wort dem Lehrmeister. Er schreibt selbst über die Natur und Aussagekraft seiner Vergleiche, Analogien und Allegorien:

Ihr fragt mich:

In den Worten verwendest du oft Analogismen (qiyās temthīl)13 [Schlussfolgerungen aufgrund einer Analogie zwischen zwei Objekten (Wesen, Dingen, Phänomenen)].14 Analogien bieten allerdings gemäß der Logik keine Gewissheit [sie dienen nur als Hypothesen oder Wahrscheinlichkeitsbeweise]. In Themengebieten [wie den Glaubenswahrheiten], die Gewissheit erfordern, werden jedoch unwiderlegbare logische Argumente (burhān) benötigt [Argumentationen wie Deduktion oder Induktion, deren Prämissen und Konklusionen Gewissheit verschaffen]. Analogismus wird von den Gelehrten der Grundlagen der Rechtsmethodik in Gebieten des Rechts angewendet, wo [keine Gewissheit besteht, weshalb] die Wahrscheinlichkeitsaussage (ẓann ghālib) bzw. Hypothesen für die Verifizierung der Urteilsbildung ausreichen.

Die Antwort

Obgleich in der Wissenschaft der Logik gesagt wird, dass Analogismus keine Gewissheit aussagt, gibt es dennoch eine bestimmte Form der analogischen Beweisführung, die viel stärkere Aussagekraft bietet als die Gewissheit der unwiderlegbaren Beweisführung (burhān yaqīnī) in der Logik. Diese Analogieform bietet sogar mehr Gewissheit als die aussagekräftigsten Formen der unwiderlegbaren deduktiven Beweisführung [die Sonne scheint, also ist es Tag. Es ist Tag, also scheint die Sonne].

Sie ist folgende:

Mittels eines besonderen Gleichnisses15, welches als Mini-Vertretung auf die Spitze einer universellen Wahrheit verweist, wird das Urteil – darauf basierend – gebildet. Anders gesagt: Die Wirkung dieser universellen Wahrheit bzw. dieses Gesetzes wird anhand eines besonderen Objektes veranschaulicht, sodass diese gewaltige Wahrheit demonstriert wird. Somit gilt dieses Urteil bei allen anderen vergleichbaren besonderen Objekten.

Ein Beispiel hierfür ist die Analogie, die besagt, dass die Sonne in jedem widerspiegelungsfähigen Objekt durch ihre Reflexion [mit Licht, Farbe und Wärme] gegenwärtig ist, aber selbst ein einzelnes Objekt bleibt. Obwohl sich diese Analogie nur an widerspiegelungsfähigen Objekten verifizieren lässt, wird an ihr ein universelles Gesetz der Wahrheit demonstriert: Absolutes Licht und Lichtwesen sind keinen Beschränkungen unterworfen. Für sie sind Ferne oder Nähe gleichgültig. Die Anzahl der widerspiegelungsfähigen Objekte ist für sie egal. Raum kann sie nicht erfassen, sie sind allgegenwärtig. [Das heißt, die Lichtwesen kennen keine Schranken in Distanz, Menge oder Raum.]

Die Deutung dieses Beispiels

[Die Sonne steht für den Schöpfer. Die Gegenwärtigkeit der Reflexion steht für die Allgegenwart des Schöpfers. Das widerspiegelungsfähige Objekt steht für das Geschöpf. Urteil: Gott ist durch die Reflexionen Seiner Namen und Attribute bei jedem Geschöpf allgegenwärtig, obwohl Er nur ein einzelnes, unteilbares Wesen ist. Denn Gottes Namen und Attribute sind keine Materien, sondern mit absoluten Lichtwesen vergleichbar.

Die Reflexionen der Sonne werden mit den Reflexionen/Widerspiegelungen der Attribute des Schöpfers verglichen. Vergleichsmaßstab ist die Allgegenwärtigkeit. Wenn bei Materien wie der Sonne aufgrund ihrer Lichtquelle das Gesetz der Allgegenwart abzuleiten ist, muss es bei vollkommenen Lichtwesen erst recht Gültigkeit finden. Somit enthält diese Form der analogischen Beweisführung zugleich ein argumentum a fortiori(qiyās awlā), vor allem in Fällen, wenn das eine Bezugsobjekt des Vergleichs Gottes Attribute sind. Diese Analogieform hat mehr Aussagekraft als der folgende deduktive Satz: Die Sonne ist da, also ist es Tag. Denn hier werden Eigenschaftsvergleiche angeführt, die für alle gelten, die über dieselben Merkmale verfügen. Solche Analogien sind von ihrer Aussagekraft her mindestens wie induktive, wenn nicht wie deduktive Schlussfolgerungen einzustufen.]

Übersetzung und Kommentare

Die vorliegende Übersetzung ist hauptsächlich das Ergebnis von wöchentlichen Treffen einer kleinen Gruppe unter der Leitung von Frau Rümeysa Bag in Berlin und der grundlegenden Arbeit einer Gruppe aus Siegen unter der Leitung von Herrn Felix Stein. Die Arbeiten begannen am 11. März 2019. Das ganze Werk wurde aus der Originalsprache ins Deutsche übertragen. Die Siegener Gruppe leistete eine sehr wichtige Arbeit und übersetzte die ersten Worte bis zu den Szenen der Allegorien vom zehnten Wort. Die Berliner Schlussredaktion wiederum prüfte, redigierte, lektorierte die ganze Übersetzung und übersetzte das Kapitel über die Wahrheiten des zehnten Wortes. Im Gegensatz zu den Briefenhalten wir den Fußnotenapparat kurz, denn bei den Worten handelt es sich um Grundwahrheiten des Seins, des Menschen und des Glaubens. Es gab hier und da gewisse Fachtermini, die wir im Fußnotenapparat erläutert haben. Ansonsten konzentrierten wir uns auf den Haupttext und dessen Wiedergabe in allgemein verständlichem Deutsch.

Überschriften, Zwischenüberschriften, Quellenangaben, Fußnoten und Kommentare

Alle Überschriften und Zwischenüberschriften stammen von uns. Sie wurden eingefügt, um das Verständnis zu erleichtern und das inhaltliche Gewicht hervorzuheben, und nicht in eckige Klammer gestellt. Sollten sie den Lesefluss stören, bitten wir das zu entschuldigen.

Danksagung

Dieses Buch ist ein Versuch, die verborgenen Schätze des Risale-i Nur zu entdecken, ein kleiner, mangelbehafteter Spiegel, der eine große, strahlende Sonne reflektiert. Mögen unsere Übersetzung und unser Kommentar sowie der selbstlose Einsatz der MitgliederInnen unserer Gruppe das Wohlgefallen des Erhabenen, Barmherzigen Einen finden. Alles, was in dieser Arbeit zutreffend dargestellt ist und was sie fruchtbar machen könnte, verdanken wir dem Allweisen, Barmherzigen Einen. Alles, was sich im Nachhinein als unzutreffend und unzureichend herausstellen mag, ist unseren Unzulänglichkeiten geschuldet, für die ich unsere Leserinnen und Leser nicht nur um Verzeihung, sondern auch um Korrektur bitten möchte.

Für Frieden mit Frieden

Maximilian Friedler

Berlin, der 11. Mai 2021

11 In diesem Dorf gab es einen Theologen, der sein Studium in Damaskus absolviert hatte und den Koran auswendig konnte. Sein Vater und er waren bei der berühmten Predigt von Damaskus (1911) dabei. Tawfïq, dieser Hafis aus Damaskus, erkannte den Lehrmeister sofort wieder und diente ihm in Barla acht Jahre als Sekretär.

2 nefs (n.): Selbst, Ich, Ego, Seele, Triebseele, „innerer Schweinehund“. nefs verkörpert die niederen Begierden fleischlichen und seelischen Ursprungs. Es ist ein mit dem hebräischen nefesch (נפש) verwandtes Wort, das sowohl „Atem“ als auch „Leben“ oder „Person“ bedeutet. Das Wort könnte man mit „das Selbst“ übersetzen. Der Koran postuliert sieben Arten des nefs, die mit dem nefs emmāra (dem Übel gebietenden Selbst) anfangen und mit nefs zekiyye (dem reinen Selbst) enden.

3 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der Lehrmeister während des Ersten Weltkrieges als Feldprediger und Imam für Soldaten an der kaukasischen Front eingesetzt wurde.

4 Die Worte eins bis acht sind Gleichnisse bzw. Allegorien. Die Gleichnisse im dreiundzwanzigsten Wort sind zum Teil Metaphern. Das zehnte Wort ist eine Allegorie.

5 Vgl. El-Mulk 67:15: „Er ist es, der euch die Erde untertan gemacht hat, so wandert dahin entlang ihren Schultern.“

6 Ein Verweis auf Edh-Dhāriāt 51:48: „Und die Erde, Wir haben sie hingebreitet wie eine Wiege, und wie ausgezeichnet vermögen Wir sie hinzubreiten.“

7 Ein Verweis auf Edh-Dhāriāt 51:3: „bei den leicht dahinziehenden Schiffen“.

8 Ein Verweis auf El-Furqān 25:61: „Gepriesen und erhaben ist Er, der am Himmel gewaltige Sternzeichen errichtet und darin eine (große, strahlende) Lampe gesetzt hat und einen leuchtenden Mond.“

9 Siehe Kleine Briefe, S. 96.

10 El-Ḥadīd 57:21: „Und wetteifert miteinander um Vergebung von eurem Herrn und um einen Garten, dessen Weite ebenso grenzenlos ist wie die Weite des Himmels und der Erde, bereitet für jene, die aufrichtig an Gott und Seine Gesandten glauben.“

11 Yūnus 10:21: „Und Gott lädt ein zur Wohnstätte des Friedens ...“

12 https://www.bibelkommentare.de/index.php?page=dict&article_id=2407.

13 In der klassisch islamischen Logik ist von drei Arten der Analogie die Rede: qiyas temthīl(argumentum per analogiam): Bildung eines allgemeinen Urteils aufgrund einer Teilähnlichkeit zwischen zwei Vergleichsobjekten (Alkohol berauscht den Verstand und er ist verboten; Drogen berauschen den Verstand ebenfalls, also sind auch sie verboten). qiyasschmuli oder burhan (unwiderlegbare Beweisführung): Deduktion des Einzelfalls aus einem allgemeinen Grundsatz (Alle Menschen sind sterblich; Karl ist ein Mensch; also ist Karl sterblich). qiyas awlā (argumentum a fortiori): Beweis einer Behauptung durch eine schon bewiesene stärkere Behauptung (Das Wasser friert bei 00 Celsius. Bei –1000 friert das Wasser erst recht.)

14 https://islamanar.com/chapter-on-measurement-appendices.

15 Der Lehrmeister unterscheidet zwischen djuz (Teil) und djuz’ī (ein Teil, der zugleich die Minivertretung eines Ganzen bildet). Man kann sich einen Teil vom Brokkoli vorstellen. Ein Zweig davon ist ein djuz’i, es ist das Ebenbild des Ganzen. Anders als ein Teil eines Gemäldes, welches nur einen kleinen Teil (djuz) des Ganzen widerspiegelt.

Einführung in die Vorzüge des Glaubens und des Gebets (Das dreiundzwanzigste Wort)

بِسْمِ اللهِ الرَّحْمٰنِ الرَّحيمِ

لَقَدْ خَلَقْنَا اْلاِنْسَانَ فِۤى اَحْسَنِ تَقْوِيمٍ ثُمَّ رَدَدْنَاهُ اَسْفَلَ سَافِلِينَ اِلاَّ الَّذِينَ اٰمَنُوا وَعَمِلُوا الصَّالِحَاتِ

Wir schufen den Menschen erst nach dem wertvollsten Bilde16,

Dann ließen wir ihn sinken in die tiefste Tiefe,

Die ausgenommen, die glauben und das Gute thun [...]17

Erster Punkt: Der Mehrwert des Glaubens

Der Mensch erlangt durch das Licht des Glaubens den Wert der höchsten Höhe und ist somit des Paradieses würdig. Die Dunkelheit der Verkennung hingegen lässt den Menschen im Wert auf die tiefste Tiefe sinken, sodass er in eine Lage gerät, welche den Abgrund zur Folge hat. Denn der Glaube verbindet den Menschen mit seinem großartigen Schöpfer. Der Glaube ist eine Verbindung, eine Beziehung. Demzufolge spiegeln sich die Kunstfertigkeit Gottes und die Reflexion Seiner Namen in der Schöpfung durch das Licht des Glaubens im Menschen wider. Schließlich gewinnt er gemäß den Reflexionen der Kunst Gottes an Wert.

Verleugnung(kufr)18 hingegen trennt diese Verbindung [und erkennt diese Zugehörigkeit nicht an]. Sie verbirgt die Kunst Gottes und reduziert den Wert des Menschen auf das bloße materielle Dasein – vergängliches, sterbliches, flüchtiges, tierisches Leben. Durch ein Gleichnis möchten wir diese Erkenntnis noch näher erläutern:

I. Die Allegorie vom Kunstmarkt und dem Schrotthändler

Bei menschlichen Kunstwerken ist zwischen dem materiellen und dem künstlerischen Wert zu unterscheiden. Es kommt vor, dass Materialwert und Kunstwert gleich sind. Manchmal ist der materielle Wert größer, manchmal der künstlerische. Gelegentlich kann es sein, dass eine Antiquität aus Eisen mehrere Millionen kostet, während ihr Materialwert nur wenige Cents beträgt. Bringt man einen antiken Kunstgegenstand auf einen Kunstmarkt und präsentiert ihn unter Bezugnahme auf seinen namhaften und tüchtigen Künstler und in Gedenken an seine Kunstfertigkeit, kann der Verkauf Millionen einbringen. Bringt man dasselbe Kunstwerk jedoch zu einem Schrotthändler für Eisen, wird sein Preis nach dem Materialwert bestimmt.

Von der Allegorie zur Wahrheit

Auch der Mensch ist ein unbezahlbares und einzigartiges Kunstwerk Gottes