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Ein literarischer Streifzug durch Kästners München München war schon vor dem Zweiten Weltkrieg immer wieder eine wichtige Anlaufstelle für Erich Kästner; nach dem Krieg machte er die Stadt zu seiner Wahlheimat. Hier wirkte er tatkräftig am kulturellen Wiederaufbau mit, übernahm die Feuilletonredaktion der Neuen Zeitung und engagierte sich im politischen Kabarett. Zahlreiche Künstler und Künstlerinnen debattierten auf seinem Sofa über Literatur und Theater, Kunst und Kino, Zigarettenpreise und Zementscheine. Für Kästner war München schließlich auch ein Neubeginn. Die vorliegenden Texte und Gedichte zeichnen ein fesselndes Panorama der bayerischen Landeshauptstadt aus Kästners Perspektive, kenntnisreich zusammengestellt von Sylvia List.
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Seitenzahl: 77
Erich Kästner
Erich Kästner und seine Stadt
Sylvia List
Erich Kästners Werke erscheinen im Atrium Verlag in ihrer originalen Textgestalt. Die Sprache hat sich im Lauf der Jahrzehnte gewandelt, manche Begriffe werden nicht mehr oder anders verwendet. Von minimalen Eingriffen abgesehen, wurde aus urheberrechtlichen Gründen darauf verzichtet, Kästners Sprache – die eines aufgeklärten Moralisten und Satirikers – dem heutigen Sprachgebrauch anzupassen.
© Atrium Verlag AG, Zürich 2024
© Thomas Kästner
Die missglückte Auferstehung; An den Landrat der Kreises Miesbach; Pension Dollmann; Kein sehr schönes Spiel; Aus einem Brief an Pony Bouché; Auf dem Nachhauseweg; Sorgen und Einfälle; Ein Brief an alle Kinder der Welt; Hausmittel und Außerhausmittel; Brief an Eric Gottgetreu; Brief an einen Redakteur; Hausnachrichten; Gedanken über das Lachen; Eine Nachrede als Vorrede; Ein Brief aus dem Tessin; Ein Flug nach Berlin; Annette Kolb und die Nebensachen; Kleiner Liebesbrief an München.
© Nachlass Luiselotte Enderle
Aus Briefen an Ida Kästner; Aus Briefen an Emil Kästner.
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg
Covermotiv: © akg-images
Motiv auf der U4: Adobe Stock/willimeister
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03792-221-7
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Bis es Erich Kästner 1945 nach München verschlug, kannte er die Stadt eigentlich nur von Kurzaufenthalten auf der Durchreise. Sein eigentliches Ziel, sommers wie winters, waren die Alpen.
Herr Klein ging am Ostersonnabend mit kurzen hüpfenden Schritten die Ludwigstraße entlang. Er trug einen hellkarierten Sportanzug, einen schwarzen Filzhut und einen niedlichen Rucksack. Ängstlich hielt er hinter seiner Brille Umschau. Aber es lachte ihn niemand aus. – Herr Klein war das erste Mal in München. Ja, Herr Buchhalter Klein befand sich überhaupt das erste Mal auf einer Erholungsreise!
Er ging also die Ludwigstraße entlang. Und fand, dass man, um solche grauen Paläste und solche mit dem Lineal gezogenen Straßenzüge zu sehen, auch sehr gut in Berlin hätte bleiben können. Allerdings – die Theatinerkirche war ganz niedlich. Und der Hofgarten auch. Aber es war doch sehr unpraktisch, nur deswegen so weit zu fahren …
Auf der Brücke vor dem Maximilianeum blieb er stehen und schaute – wie die andern auch – in die lehmbraune, lärmende Isar hinunter. Dann kehrte er um. –
Die freundlichen Wiesenwege des Englischen Gartens waren recht voller Menschen. Herr Klein stand einigermaßen verdutzt vor dem Monopteros und saß dann am Chinesischen Türmchen nieder, um seinem Chef eine Ansichtskarte zu schreiben.
Dann ging er bald in sein Hotel an der Kaufingerstraße, denn er war sehr müde …
Schon frühzeitig saß er am ersten Osterfeiertag in einem schrecklich überfüllten Zug nach Garmisch. Die Landschaft zog trüb und verärgert an den Fenstern entlang. Herr Klein hielt den Regenschirm zwischen den Knien, stützte seinen Kopf auf den Schirmgriff und dachte nach.
Es war reichlich unvernünftig gewesen, dem Drängen des Chefs so ohne weiteres nachzugeben. Aber schließlich, war Herr Steinkopf nicht beinahe zudringlich geworden? »Herr Klein«, hatte er gesagt, »Sie müssen mich den ganzen Sommer über vertreten. Denn auf wen soll ich mich sonst verlassen, ja? Also fahren Sie geschwind drei Wochen in die bayrischen Alpen. Denn der Sommer wird harte Arbeit bringen …«
Mein Gott! Wer weiß, wie es jetzt im Büro drunter und drüber ging! Der Ehrenberg würde sicher viel zu nachlässig arbeiten.
In Garmisch regnete es. Und Herr Klein sah beim besten Willen nichts weiter als etliche Villenstraßen, die von einer grauweiß wallenden Nebelmauer umzingelt waren. Herr Klein spannte den Regenschirm auf und ging mit kurzen hüpfenden Schritten durch den frostigen Kurort …
Entsetzlich! Hier sollte er drei Wochen wohnen? Nicht um die Welt! Wenn er wenigstens die Pelzweste mitgebracht hätte, wie ihm die Wirtschafterin zugeredet hatte! Es war fürchterlich kühl in diesen Bergen, die man nicht sah, wenn man nicht gerade vor einem Postkartenladen stehen blieb.
Nach mancherlei Umwegen und bereits erkältet kam Herr Klein zum Bahnhof zurück, setzte sich in die Wirtschaft und spannte den Schirm zum Trocknen auf. Er aß etwas, machte sich Notizen in seinen Block, rechnete aus, was er bis jetzt ausgegeben habe, und fuhr, als der Regen nachließ, mit der Kleinbahn nach Niedergrainau.
Links und rechts unerbittliche Nebelwände. Herr Klein marschierte mit kurzen hüpfenden Schritten zwischendurch und fröstelte. Er stieß den Schirm herzhaft gegen den Boden und versuchte zu singen. Aber es machte ihm keine Freude. Eigentlich fiel ihm auch gar nichts ein, was auf seine Situation gepasst hätte.
Am Eibsee setzte er sich in die Veranda des Hotels und schaute in den flatternden Nebel hinaus. Voller Erwartungen, die sich nicht zu erfüllen schienen. Er zählte bis drei. Er ließ sich vom Kellner belehren, dass der Nebel unmöglich lange anhalten könne.
Aber der Nebel hielt trotz des Kellners an. Auch das Zählen blieb ohne Wirkung. –
Die Zugspitze pflege sonst da drüben sichtbar zu sein! Herr Klein starrte ehrfurchtsvoll nach links hinüber. Nach einem fast schwarzen Nebelfleck, auf den der Kellner mit dem Finger wies. So, dort dahinter.
Am Abend war Herr Klein schon wieder in München. Und es regnete noch immer. Am zweiten Feiertag war er schon wieder in Berlin.
Dienstag früh ging der Buchhalter Klein durch die Stadt. Und ohne dass er sich übermäßig gewundert hätte, fand er sich plötzlich in der Kommandantenstraße. Vor dem Büro.
Aber er kehrte wieder um; denn er war noch sehr erkältet.
Doch am Mittwoch war er endlich wieder in seinem Geschäftszimmer. Die andern Angestellten waren sehr verwundert. Sie schüttelten die Köpfe und versicherten einander, wie forsch sie losgezogen wären! Solch einen Urlaub hätte man ihnen einmal anbieten sollen – Und Herr Steinkopf, der Chef, verstand erst nach längerer Unterhaltung, wieso Klein schon wieder zurück wäre. »Nja«, sagte Herr Steinkopf und zog ernst an seiner Zigarre, »nja, Klein, da wollen Sie also allen Ernstes gleich wieder mit der Arbeit anfangen?«
»Wenn ich darum bitten dürfte, Herr Steinkopf«, sagte Buchhalter Klein.
»Nja, aber mit dem größten Vergnügen, Klein! Sie sind vielleicht ein komischer Kerl! – Will keine Ferien haben!«
Herr Klein sah vor sich hin und sagte leise, als ob er das eben erst erkannte: »Die Ferien sind zehn Jahre zu spät gekommen …«
»’n Morgen!«, knurrte der Chef und ging ins Privatkontor.
»Guten Morgen, Herr Steinkopf!«, sagte Klein.
Und sah die Post durch.
Oberstdorf, 10. Februar 1930
Mein liebes, gutes Muttchen!
Vielen Dank für die letzten beiden Briefe. […] Ich werde doch am Mittwoch früh bis 11 h hier losgondeln, bin gegen 8 h in München, steig in unserm hübschen »Schottenhaml [sic!]« ab, weißt du noch? Und gehe abends bißchen aus. Da kann ich mein MM-Gedicht fabrizieren. Am Donnerstag besuch ich Redaktionen – »Jugend«, »Simplicissimus«, Funk –, am Abend lese ich dann, und da geht der Betrieb mal wieder los. Ich fühle mich wirklich hübsch erholt, sehe besser aus. Kurz und gut, nu geht’s mal wieder weiter im Text.
Das Hotel Schottenhamel stand in der Prielmayerstraße, zwischen Hauptbahnhof und Karlsplatz (Stachus).
«MM-Gedicht»: Vom 11. Juni 1928 bis 22. April 1930 veröffentlichte Kästner allwöchentlich ein Gedicht in dem Berliner Wochenblatt »Montag Morgen«.
[Kitzbühel,] 19.2.32
Wir fahren also Sonnabend nachmittag hier weg. Moritz fährt mit, weil sie in ihrem jetzigen Zustand doch nicht filmen kann.
Sonntag sind wir in München. Der »Simplicissimus« will was von mir. Sonntag abend – ich weiß noch nicht, wann der Zug geht – geht’s Richtung Berlin. Montag morgen komme ich angeturnt. Hurra!
Heute war wieder prachtvolle Sonne. Ich hab auf dem Hahnenkann noch bißchen Nachbräune getrieben, weil die Farbe so sehr rasch verschwindet …
»Moritz«: Die Schauspielerin Steffa Bernhard
Regina Palast Hotel, München, 6.2.35
Heute mittag bin ich noch einmal auf dem Kreuzeck in der Sonne gewesen. Dort traf ich den SS-Mann Heinrich, also Hellbergs Bruder, mit seiner Freundin. Sie hat eine Erbschaft gemacht, und da reisen sie ein bißchen herum. Vorhin haben sie mich zur Bahn gebracht. Jetzt ist es abends, und ich sitz in München. Nachher werde ich mir mal den Fasching ein bißchen betrachten. Morgen treff ich einen Verleger. Dann will ich bald nach Berlin. […]
Das Regina-Palast-Hotel, Maximiliansplatz 5, war ein Luxushotel, das von 1908–1975 bestand.
Zur Bergstation des Kreuzecks pflegte Kästner, anstatt dreieinhalb Stunden von Garmisch aufzusteigen, die Zugspitzbahn zu nehmen und an der Station Kreuzeckbahn in die Seilbahn umzusteigen.
Mintzlaff setzte langsam die Tasse nieder, lehnte sich in dem sanftgeblümten Ohrenstuhl zurück und blickte, während er die Lider senkte, hinter den kleinen freundlichen Empfindungen, die in ihm schwebten, drein, als wären es bunte Kinderballons an einem inwendigen Himmel.
›Du müsstest öfter reisen‹, sprach er zu sich selber. ›Nicht aus geographischen Erwägungen; nicht wegen irgendwelcher Fernsichten, Gletscher, Gemäldegalerien, Tropfsteinhöhlen und Ritterburgen. Du müsstest öfter reisen, um zuweilen nicht daheim zu sein. Nur unterwegs erfährt man das Gefühl märchenhafter Verwunschenheit. Nur der Fremdling ist einsam und fröhlich in einem!‹
Ihm war nicht ganz klar, ob diese einigermaßen romantische Deutung des Reisens nur für Menschen Geltung hatte, die, wie er, eigentlich lieber zu Hause blieben; es reizte ihn im Augenblick auch gar nicht, der Frage auf den Grund zu gehen.