Kleiner Mann – was nun? - Hans Fallada - E-Book

Kleiner Mann – was nun? E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Überarbeitete und kommentierte Ausgabe Diese Gesichte ist auch die Geschichte unserer Großeltern. Der schwer schuftende Verkäufer Johannes Pinneberg und seine Freundin Lämmchen erwarten ein Kind. Zwischen den Weltkriegen, in Zeiten von Unsicherheit, Wirtschaftskrise und Inflation kämpfen Sie in Berlin ums Überleben. Wenn die mittellose, um Zweckoptimismus bemühte Lämmchen sich sorgt, dass die mangelhafte Ernährung ihrer Milch schaden könnte, und damit ihrem Kinde, möchte man als Leser nur noch weinen. So war Deutschland mal. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 542

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Hans Fallada

Kleiner Mann – was nun?

Überarbeitete und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Kleiner Mann – was nun?

Überarbeitete und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1932 (363 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-29-1

null-papier.de/571

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Die Sorg­lo­sen

1. Pin­ne­berg er­fährt et­was Neu­es über Lämm­chen und fasst einen großen Ent­schluss

2. Mut­ter Mör­schel, Herr Mör­schel, Karl Mör­schel: Pin­ne­berg ge­rät in die Mör­sche­lei

3. Ge­schwätz in der Nacht von Lie­be und Geld

Ers­ter Teil – Die klei­ne Stadt

4. Die Ehe fängt ganz rich­tig mit ei­ner Hoch­zeits­rei­se an, aber – brau­chen wir einen Schmor­topf?

5. Pin­ne­berg wird mys­tisch, und Lämm­chen be­kommt Rät­sel zu ra­ten

6. Pin­ne­bergs ma­chen einen An­tritts­be­such, es wird ge­weint, und die Ver­lo­bungs­uhr schlägt im­mer­zu

7. Der Schlei­er der Mys­tik hebt sich. Berg­mann und Klein­holz. Wa­rum Pin­ne­berg nicht ver­hei­ra­tet sein kann

8. Was sol­len wir es­sen? Und mit wem dür­fen wir tan­zen? Müs­sen wir jetzt hei­ra­ten?

9. Das Zwie­beln be­ginnt. Der Nazi Lau­ter­bach, der dä­mo­ni­sche Schulz und der heim­li­che Ehe­mann sind in Not

10. Erb­sen­sup­pe wird an­ge­setzt und ein Brief ge­schrie­ben, aber das Was­ser ist zu dünn

11. Klein­holz stän­kert, Kube stän­kert und die An­ge­stell­ten knei­fen. Erb­sen gibt es noch im­mer nicht

12. Pin­ne­berg hat ja doch nichts vor, macht aber einen Aus­flug, auf dem Au­gen ge­macht wer­den

13. Wie Pin­ne­berg mit dem En­gel und Ma­rie­chen Klein­holz ringt, und wie es doch zu spät ist

14. Herr Fried­richs, der Lachs und Herr Berg­mann, aber al­les ist um­sonst: Es gibt nichts für Pin­ne­bergs

15. Ein Brief kommt, und Lämm­chen läuft in der Schür­ze durch die Stadt, um bei Klein­holz zu heu­len

Zwei­ter Teil – Ber­lin

16. Frau Mia Pin­ne­berg als Ver­kehrs­hin­der­nis. Sie ge­fällt Lämm­chen, miss­fällt ih­rem Sohn und er­zählt, wer Jach­mann ist

17. Ein echt fran­zö­si­sches Fürs­ten­bett, aber zu teu­er. Jach­mann weiß von kei­ner Stel­lung, und Lämm­chen lernt bit­ten

18. Jach­mann lügt, Fräu­lein Semm­ler lügt, Herr Leh­mann lügt und Pin­ne­berg lügt auch, aber je­den­falls be­kommt er eine Stel­lung und einen Va­ter oben­drein

19. Pin­ne­berg geht durch den Klei­nen Tier­gar­ten, hat Angst und kann sich nicht freu­en

20. Was Keß­ler für ein Mann ist, wie Pin­ne­berg kei­ne Plei­ten schiebt und Heil­butt einen Tip­pel ret­tet

21. Von den drei Ar­ten Ver­käu­fern, und wel­che Art Herr Sub­sti­tut Jäne­cke liebt. Ein­la­dung zu ei­nem But­ter­brot

22. Pin­ne­berg er­hält Ge­halt, be­han­delt Ver­käu­fer schlecht und wird Be­sit­zer ei­ner Fri­sier­toi­let­te

23. Lämm­chen be­kommt Be­such und sieht sich im Spie­gel. Am gan­zen Abend wird nicht von Geld ge­spro­chen

24. Ehe­li­che Ge­wohn­hei­ten bei Pin­ne­bergs. Mut­ter und Sohn. Jach­mann im­mer der Ret­ter

25. Keß­ler ent­hüllt und wird geohr­feigt. Aber Pin­ne­bergs müs­sen doch aus­zie­hen

26. Lämm­chen sucht, kein Mensch will Kin­der, und sie wird ohn­mäch­tig, aber es lohnt sich

27. Woh­nung wie noch nie. Herr Putt­bree­se zieht, und Herr Jach­mann hilft

28. Ein Etat ist auf­ge­stellt, und das Fleisch wird knapp. Pin­ne­berg fin­det sein Lämm­chen ko­misch

29. Der par­fü­mier­te Tan­nen­baum und die Mut­ter zwei­er Kin­der. Heil­butt meint: Ihr habt Mut. Ha­ben wir Mut?

30. Der Jun­ge muss sein Mit­tag ha­ben, und Frie­da sich ein Bei­spiel neh­men. Wenn ich sie nun nie wie­der­se­he?

31. Viel zu­we­nig Ab­wasch! Die Er­schaf­fung des Mur­kel. Auch Lämm­chen wird schrei­en

32. Pin­ne­berg macht einen Be­such und lässt sich zur Nackt­heit ver­füh­ren

33. Wie Pin­ne­berg über Frei­kör­per­kul­tur denkt, und was Frau No­th­na­gel dazu meint

34. Pin­ne­berg be­kommt eine Mol­le ge­schenkt, geht Blu­men steh­len und be­lügt am Ende sein Lämm­chen

35. Die Her­ren der Schöp­fung krie­gen Kin­der, und Lämm­chen um­armt Putt­bree­se

36. Der Kin­der­wa­gen und die bei­den feind­li­chen Brü­der. Wann müs­sen Still­gel­der ge­zahlt wer­den?

37. April schickt in die Angst, aber Heil­butt hilft. Wo ist Heil­butt? Heil­butt ist futsch

38. Pin­ne­berg wird ver­haf­tet, und Jach­mann sieht Ge­s­pens­ter. Rum ohne Tee

39. Lo­gier­be­such wi­der Wil­len. Jach­mann ent­deckt die gu­ten, nahr­haf­ten Din­ge

40. Jach­mann als Er­fin­der und der Klei­ne Mann als Kö­nig. Wir sind ja zu­sam­men!

41. Kin­topp und Le­ben. On­kel Knil­li ent­führt Herrn Jach­mann

42. Der Mur­kel ist krank. Jun­ger Va­ter, was ist denn?

43. Ge­huppt wie ge­sprun­gen. Die In­qui­si­to­ren und Fräu­lein Fi­scher. Noch eine Gal­gen­frist, Pin­ne­berg!

44. Noch ein­mal Frau Mia. Das sind mei­ne Kof­fer! Kommt die Po­li­zei?

45. Der Schau­spie­ler Schlü­ter und der jun­ge Mann aus der Acker­stra­ße. Al­les ist zu Ende

Nach­spiel – Al­les geht wei­ter

46. Soll man Holz steh­len? Lämm­chen ver­dient groß und gibt ih­rem Jun­gen Be­schäf­ti­gung

47. Der Mann als Frau. Das gute Was­ser und der blin­de Mur­kel. Streit um sechs Mark

48. Wa­rum Pin­ne­bergs nicht woh­nen, wo sie woh­nen. Bil­der­zen­tra­le Joa­chim Heil­butt. Leh­mann ist ab­ge­sägt!

49. Pin­ne­berg als Stein des An­sto­ßes. Die ver­ges­se­ne But­ter und der Schu­po. Kei­ne Nacht ist schwarz ge­nug

50. Au­to­be­such in der Sied­lung. Zwei war­ten in der Nacht. Lämm­chen kommt wirk­lich nicht in Fra­ge

51. Busch zwi­schen Bü­schen. Und die alte Lie­be

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Die Sorglosen

1. Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und fasst einen großen Entschluss

Es ist fünf Mi­nu­ten nach vier. Pin­ne­berg hat das eben fest­ge­stellt. Er steht, ein nett aus­se­hen­der, blon­der jun­ger Mann, vor dem Hau­se Ro­then­baum­stra­ße 24 und war­tet.

Es ist also fünf Mi­nu­ten nach vier, und auf drei vier­tel vier ist Pin­ne­berg mit Lämm­chen ver­ab­re­det. Pin­ne­berg hat die Uhr wie­der ein­ge­steckt und sieht ernst auf ein Schild, das am Ein­gang des Hau­ses Ro­then­baum­stra­ße 24 an­ge­macht ist. Er liest:

Dr. Se­sam Frau­en­arzt Sprech­stun­den 9–12 und 4–6

Eben! Und nun ist es doch wie­der fünf Mi­nu­ten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zi­ga­ret­te an­bren­ne, kommt Lämm­chen na­tür­lich so­fort um die Ecke. Lass ich es also. Heu­te wird es schon wie­der teu­er ge­nug.

Er sieht von dem Schild fort. Die Ro­then­baum­stra­ße hat nur eine Häu­ser­rei­he, jen­seits des Fahr­damms, jen­seits ei­nes Grün­strei­fens, jen­seits des Kais fließt die Stre­la, hier schon hübsch breit, kurz vor ih­rer Ein­mün­dung in die Ost­see. Ein fri­scher Wind weht her­über, die Bü­sche ni­cken mit ih­ren Zwei­gen, die Bäu­me rau­schen ein we­nig.

So müss­te man woh­nen kön­nen, denkt Pin­ne­berg. Si­cher hat die­ser Se­sam sie­ben Zim­mer. Muss ein klot­zi­ges Geld ver­die­nen. Er wird Mie­te zah­len … zwei­hun­dert Mark? Drei­hun­dert Mark? Ach was, ich habe kei­ne Ah­nung. – Zehn Mi­nu­ten nach vier!

Pin­ne­berg greift in die Ta­sche, holt aus dem Etui eine Zi­ga­ret­te und brennt sie an.

Um die Ecke weht Lämm­chen, im plis­sier­ten wei­ßen Rock, der Roh­sei­den­blu­se, ohne Hut, die blon­den Haa­re ver­weht.

»Tag, Jun­ge. Es ging wirk­lich nicht eher. Böse?«

»Kei­ne Spur. Nur, wir wer­den end­los sit­zen müs­sen. Es sind min­des­tens drei­ßig Leu­te rein­ge­gan­gen, seit ich war­te.«

»Sie wer­den ja nicht alle zum Dok­tor ge­gan­gen sein. Und dann sind wir ja an­ge­mel­det.«

»Siehst du, dass es rich­tig war, dass wir uns an­ge­mel­det ha­ben!«

»Na­tür­lich war es rich­tig. Du hast ja im­mer recht, Jun­ge!« Und auf der Trep­pe nimmt sie sei­nen Kopf zwi­schen die Hän­de und küsst ihn stür­misch. »O Gott, bin ich glück­lich, dass ich dich mal wie­der­ha­be, Jun­ge. Den­ke doch, bei­na­he vier­zehn Tage!«

»Ja, Lämm­chen«, ant­wor­tet er. »Ich bin auch nicht mehr brum­mig.«

Die Tür geht auf, und im halb­dunklen Flur steht ein wei­ßer Sche­men vor ih­nen, bellt: »Die Kran­ken­schei­ne!«

»Las­sen Sie einen doch erst mal rein«, sagt Pin­ne­berg und schiebt Lämm­chen vor sich her. »Üb­ri­gens sind wir pri­vat. Ich bin an­ge­mel­det. Pin­ne­berg ist mein Name.«

Auf das Wort »pri­vat« hin hebt der Sche­men die Hand und schal­tet das Licht auf dem Flur ein. »Herr Dok­tor kommt so­fort. Ei­nen Au­gen­blick, bit­te. Bit­te, dort hin­ein.«

Sie ge­hen auf die Tür zu und kom­men an ei­ner an­de­ren, halb of­fen­ste­hen­den vor­bei. Das ist wohl das ge­wöhn­li­che War­te­zim­mer, und in ihm schei­nen die drei­ßig zu sit­zen, die Pin­ne­berg an sich vor­bei­kom­men sah. Al­les schaut auf die bei­den, und ein Stim­men­ge­wirr er­hebt sich: »So was gib­t’s nicht!« – »Wir war­ten schon län­ger!« – »Wozu zah­len wir un­se­re Kas­sen­bei­trä­ge?!« – »Die fei­nen Pin­kels sind auch nicht mehr wie wir.«

Die Schwes­ter tritt in die Tür: »Sei­en Sie man bloß ru­hig! Herr Dok­tor wird ja ge­stört! Was Sie den­ken, ist nicht. Das ist der Schwie­ger­sohn von Herrn Dok­tor mit sei­ner Frau. Nicht wahr?«

Pin­ne­berg lä­chelt ge­schmei­chelt, Lämm­chen strebt der an­de­ren Tür zu. Ei­nen Au­gen­blick ist Stil­le.

»Nu bloß schnell!« flüs­tert die Schwes­ter und schiebt Pin­ne­berg vor sich her. »Die­se Kas­sen­pa­ti­en­ten sind zu ge­wöhn­lich. Was die Leu­te sich ein­bil­den für das biss­chen Geld, das die Kas­se zahlt …«

Die Tür fällt zu, der Jun­ge und Lämm­chen sind im ro­ten Plüsch.

»Das ist si­cher sein Pri­vat­sa­lon«, sagt Pin­ne­berg. »Wie ge­fällt dir das? Schreck­lich alt­mo­disch, fin­de ich.«

»Mir war es gräss­lich«, sagt Lämm­chen. »Wir sind doch sonst auch Kas­sen­pa­ti­en­ten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns re­den.«

»Wa­rum regst du dich auf?« fragt er. »Das ist doch so. Mit uns klei­nen Leu­ten ma­chen sie, was sie wol­len …«

»Es regt mich aber auf …«

Die Tür öff­net sich, eine an­de­re Schwes­ter kommt: »Herr und Frau Pin­ne­berg bit­te? Herr Dok­tor lässt um einen Au­gen­blick Ge­duld bit­ten. Wenn ich un­ter­des die Per­so­na­li­en auf­neh­men dürf­te?«

»Bit­te«, sagt Pin­ne­berg und wird gleich ge­fragt: »Wie alt?«

»Drei­und­zwan­zig.«

»Vor­na­me: Jo­han­nes.«

Nach ei­nem Sto­cken: »Buch­hal­ter.«

Und glat­ter: »Im­mer ge­sund ge­we­sen. Die üb­li­chen Kin­der­krank­hei­ten, sonst nichts. – So­viel ich weiß, bei­de ge­sund.«

Wie­der sto­ckend: »Ja, die Mut­ter lebt noch. Der Va­ter nicht mehr, nein. Kann ich nicht sa­gen, wor­an er ge­stor­ben ist.«

Und Lämm­chen: »Zwei­und­zwan­zig. – Emma.«

Jetzt zö­gert sie: »Ge­bo­re­ne Mör­schel. – Stets ge­sund. Bei­de El­tern am Le­ben, bei­de ge­sund.«

»Also einen Au­gen­blick noch. Herr Dok­tor ist so­fort frei.«

»Wozu das al­les nö­tig ist«, brummt er, nach­dem die Tür wie­der zu­fiel. »Wo wir doch nur …«

»Ger­ne hast du es nicht ge­sagt: Buch­hal­ter.«

»Und du nicht das mit der ge­bo­re­nen Mör­schel!« Er lacht. »Emma Pin­ne­berg, ge­nannt Lämm­chen, ge­bo­re­ne Mör­schel. Emma Pin­ne…«

»Bist du stil­le! O Gott, Jun­ge, ich müss­te noch ein­mal ganz un­be­dingt. Hast du eine Ah­nung, wo das hier ist?«

»Also, das ist doch im­mer die­sel­be Ge­schich­te mit dir …! Statt dass du vor­her …«

»Aber ich bin, Jun­ge. Ich bin wirk­lich. Noch auf dem Rat­haus­markt. Für einen gan­zen Gro­schen. Aber wenn ich auf­ge­regt bin …«

»Also Lämm­chen, nimm dich doch einen Au­gen­blick zu­sam­men. Wenn du wirk­lich eben erst …«

»Jun­ge, ich muss …«

»Ich bit­te«, sagt eine Stim­me. In der Tür steht Dok­tor Se­sam, der be­rühm­te Dok­tor Se­sam, von dem die hal­be Stadt und die vier­tel Pro­vinz flüs­tern, dass er ein wei­tes Herz hat, man­che sa­gen auch, ein gu­tes Herz. Je­den­falls hat er eine volks­tüm­li­che Bro­schü­re über se­xu­el­le Pro­ble­me ver­fasst, und dar­um hat Pin­ne­berg den Mut ge­habt, ihm zu schrei­ben und sich und Lämm­chen an­zu­mel­den.

Die­ser Dok­tor Se­sam steht also in der Tür und sagt: »Ich bit­te.«

Dok­tor Se­sam sucht auf sei­nem Schreib­tisch nach dem Brief. »Sie ha­ben mir ge­schrie­ben, Herr Pin­ne­berg. Sie kön­nen noch kei­ne Kin­der brau­chen, weil das Geld nicht reicht.«

»Ja«, sagt Pin­ne­berg und ist schreck­lich ver­le­gen.

»Ma­chen Sie sich im­mer schon ein biss­chen frei«, sagt der Arzt zu Lämm­chen und fährt dann fort: »Und nun möch­ten Sie einen ganz si­che­ren Schutz wis­sen. Ja, einen ganz si­che­ren …«

Er lä­chelt skep­tisch hin­ter sei­ner gol­de­nen Bril­le.

»Ich habe in Ihrem Buch ge­le­sen«, sagt Pin­ne­berg, »die­se Pes­soirs …«

»Die­se Pessa­re«, sagt der Arzt, »ja, aber sie pas­sen nicht für jede Frau. Und dann ist es im­mer et­was um­ständ­lich. Ob Ihre Frau das Ge­schick hat …«

Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein biss­chen aus­ge­zo­gen, nur so an­ge­fan­gen, die Blu­se und den Rock. Mit ih­ren schlan­ken Bei­nen steht sie sehr groß da.

»Nun, ge­hen wir ein­mal rü­ber«, sagt der Arzt. »Die Blu­se hät­ten wir nun dazu nicht aus­zu­zie­hen brau­chen, klei­ne jun­ge Frau.«

Lämm­chen wird ganz rot.

»Jetzt las­sen Sie sie schon lie­gen. Kom­men Sie. Ei­nen Au­gen­blick, Herr Pin­ne­berg.«

Die bei­den ge­hen in das Ne­ben­zim­mer. Pin­ne­berg sieht ih­nen nach. Der gan­ze Dok­tor Se­sam reicht der »klei­nen jun­gen Frau« nicht bis an die Schul­tern. Pin­ne­berg fin­det wie­der, sie sieht herr­lich aus, das bes­te Mäd­chen von der Welt, das ein­zi­ge über­haupt. Er ar­bei­tet in Du­che­row und sie hier in Platz, er sieht sie höchs­tens alle vier­zehn Tage, und so ist sein Ent­zücken im­mer frisch und sein Ap­pe­tit über al­les Be­grei­fen.

Ne­ben­an hört er den Arzt ab und zu halb­laut et­was fra­gen, ge­gen einen Scha­len­rand klap­pert ein In­stru­ment, das Geräusch kennt er vom Zahn­arzt, es ist kein an­ge­neh­mes Geräusch.

Nun fährt er zu­sam­men, die­se Stim­me von Lämm­chen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schrei­end, sehr hell: »Nein, nein, nein!« Und noch ein­mal: »Nein!« Und dann ganz lei­se, aber er hört es doch: »O Gott!«

Pin­ne­berg macht drei Schrit­te ge­gen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon ge­hört, dass sol­che Ärz­te schreck­li­che Wüst­lin­ge sind … Aber nun spricht Dok­tor Se­sam wie­der, nichts zu ver­ste­hen, und nun klap­pert wie­der das In­stru­ment.

Und dann lan­ge Stil­le.

Es ist ein Hoch­som­mer­tag, etwa Mit­te Juli, herr­lichs­ter Son­nen­schein. Der Him­mel drau­ßen ist dun­kel­blau, ins Fens­ter rei­chen ein paar Zwei­ge, sie be­we­gen sich im See­wind. Da ist ein al­tes Lied aus Pin­ne­bergs Kin­der­zeit, es fällt ihm eben ein:

»Wehe-Wind, Pus­te-Wind, Nimm den Hut nicht mei­nem Kind! Sei ge­lind zu mei­nem Kind, Wehe-Wind, Pus­te-Wind!«

Die im War­te­zim­mer re­den. De­nen wird die Zeit auch lang. Eure Sor­gen möcht ich ha­ben. Eure Sor­gen …

Die bei­den kom­men wie­der. Pin­ne­berg wirft einen ängst­li­chen Blick auf Lämm­chen, sie hat so große Au­gen, wie von ei­nem Schreck er­wei­tert. Sie ist blass, aber nun lä­chelt sie ihm zu, küm­mer­lich erst, und dann brei­tet sich das Lä­cheln voll aus über das gan­ze Ge­sicht und wird im­mer stär­ker und blüht auf … Der Arzt steht in der Ecke, er wäscht sich die Hän­de. Schräg schaut er hin­über zu Pin­ne­berg. Dann sagt er ei­lig: »Ein biss­chen zu spät, Herr Pin­ne­berg, mit der Ver­hü­tung. Die Tür ist zu. Ich den­ke An­fang des zwei­ten Mo­nats.«

Pin­ne­berg ist ohne Atem. Das war wie ein Schlag. Dann sagt er has­tig: »Herr Dok­tor, es ist doch un­mög­lich! Wir ha­ben so auf­ge­passt! Ganz un­mög­lich ist das. Sag doch selbst, Lämm­chen …«

»Jun­ge!« sagt sie. »Jun­ge …«

»Es ist so«, sagt der Arzt. »Irr­tum aus­ge­schlos­sen. Und glau­ben Sie mir, Herr Pin­ne­berg, ein Kind ist für jede Ehe gut.«

»Herr Dok­tor«, sagt Pin­ne­berg, und sei­ne Lip­pe zit­tert. »Herr Dok­tor, ich ver­die­ne im Mo­nat hun­dert­acht­zig Mark! Ich bit­te Sie, Herr Dok­tor!«

Dok­tor Se­sam sieht schreck­lich müde aus. Was jetzt kommt, das kennt er, das hört er an je­dem Tag drei­ßig­mal.

»Nein«, sagt er. »Nein. Bit­ten Sie mich gar nicht erst dar­um. Kommt über­haupt nicht in Fra­ge. Sie sind bei­de ge­sund. Und Ihr Ein­kom­men ist gar nicht schlecht. Gar – nicht – schlecht.«

»Herr Dok­tor!« sagt Pin­ne­berg fie­ber­haft.

Hin­ter ihm steht Lämm­chen und streicht ihm über die Haa­re: »Lass, Jun­ge, lass! Es wird schon ge­hen.«

»Aber es ist ganz un­mög­lich …«, bricht Pin­ne­berg aus – und wird still. Die Schwes­ter ist her­ein­ge­kom­men.

»Herr Dok­tor wer­den am Ap­pa­rat ver­langt.«

»Sie se­hen«, sagt der Arzt. »Pas­sen Sie auf, Sie freu­en sich noch. Und wenn das Kind da ist, kom­men Sie so­fort zu mir. Dann ma­chen wir das mit der Ver­hü­tung. Ver­las­sen Sie sich nicht aufs Näh­ren. Also denn … Mut, jun­ge Frau!«

Er schüt­telt Lämm­chen die Hand.

»Ich möch­te gleich …«, sagt Pin­ne­berg und zieht sein Por­te­mon­naie.

»Ach ja«, sagt der Arzt, schon in der Tür, und sieht die bei­den noch ein­mal an, schät­zend. »Na, fünf­zehn Mark, Schwes­ter.«

»Fünf­zehn …«, sagt Pin­ne­berg ge­dehnt und sieht die Tür an. Dok­tor Se­sam ist schon fort. Er holt um­ständ­lich einen Zwan­zig­mark­schein her­vor, schaut mit ge­run­zel­ter Stirn zu, wie die Quit­tung aus­ge­schrie­ben wird, und nimmt sie in Empfang.

Sei­ne Stirn hellt sich et­was auf: »Ich be­kom­me das von der Kran­ken­kas­se wie­der, nicht wahr?«

Die Schwes­ter sieht ihn an, dann Lämm­chen. »Schwan­ger­schafts­dia­gno­se, nicht wahr?« Sie war­tet gar nicht erst auf die Ant­wort. »Doch nicht. Das er­set­zen die Kas­sen nicht.«

»Komm, Lämm­chen!« sagt er.

Sie stei­gen lang­sam die Trep­pe hin­un­ter. Auf ei­nem Ab­satz bleibt Lämm­chen ste­hen und nimmt sei­ne Hand zwi­schen die ih­ren. »Sei nicht so trau­rig! Bit­te nicht! Es wird schon ge­hen.«

»Jaja«, sagt er, tief in Ge­dan­ken.

Sie ge­hen ein Stück Ro­then­baum­stra­ße, dann bie­gen sie in die Main­zer Stra­ße ein. Hier sind hohe Häu­ser und vie­le Men­schen, Au­tos fah­ren in Ru­deln, die Abend­zei­tun­gen sind schon da, nie­mand ach­tet auf die bei­den.

»›Gar kein schlech­tes Ein­kom­men‹, sagt der, und nimmt mir fünf­zehn Mark ab von mei­nen hun­dert­acht­zig, solch Räu­ber!«

»Ich schaf­fe es schon«, sagt Lämm­chen. »Ich schaf­fe es schon.«

»Ach du!« sagt er.

Von der Main­zer Stra­ße kom­men sie in den Krüm­per­weg, still ist das plötz­lich hier.

Lämm­chen sagt: »Jetzt ver­steh ich man­ches.«

»Wie­so?« fragt er.

»Ach nichts, nur dass mir mor­gens im­mer schlecht ist. Und es war über­haupt so ko­misch …«

»Aber du musst es doch ge­merkt ha­ben?«

»Ich hab doch im­mer ge­dacht, es kommt noch. Wer denkt denn gleich an so was?«

»Vi­el­leicht hat er sich ge­irrt!«

»Nein. Das glau­be ich nicht. Es stimmt schon.«

»Aber mög­lich ist es doch, dass er sich ge­irrt hat?«

»Nein, ich glau­be …«

»Bit­te! Höre doch ein­mal zu, was ich sage! Mög­lich ist es doch!?«

»Mög­lich? Mög­lich ist al­les!«

»Also, viel­leicht kommt mor­gen schon die Re­gel. Dann schreib ich dem aber einen Brief!« Er ver­sinkt in Ge­dan­ken, er schreibt einen Brief.

Auf den Krüm­per­weg folgt die Heb­bel­stra­ße, die bei­den ge­hen fein be­dacht­sam durch den Som­mer­nach­mit­tag, in die­ser Stra­ße ste­hen schö­ne Ul­men.

»Mei­ne fünf­zehn Mark ver­lan­ge ich dann aber auch zu­rück«, sagt Pin­ne­berg plötz­lich.

Lämm­chen ant­wor­tet nicht. Sie tritt vor­sich­tig auf mit der gan­zen Brei­te des Schuhs, und sie sieht ge­nau, wo­hin sie tritt, es ist al­les so an­ders.

»Wo­hin ge­hen wir ei­gent­lich?« fragt er plötz­lich.

»Ich muss noch mal nach Haus«, sagt Lämm­chen. »Ich hab Mut­ter nichts ge­sagt, dass ich weg­blei­be.«

»Auch das noch!« sagt er.

»Schimpf nicht, Jun­ge«, bit­tet sie. »Aber ich will se­hen, dass ich um halb neun noch mal run­ter­kom­men kann. Mit wel­chem Zug willst du fah­ren?«

»Um halb zehn.«

»Dann bring ich dich zur Bahn.«

»Und sonst nichts«, sagt er. »Sonst wie­der mal nichts. Ein Le­ben ist das.«

Die Lüt­jen­stra­ße ist eine rich­ti­ge Ar­bei­ter­stra­ße, im­mer wim­melt es von Kin­dern da, man kann kei­nen rich­ti­gen Ab­schied neh­men.

»Nimm es nicht so schwer, Jun­ge«, sagt sie und gibt ihm die Hand. »Ich schaff es schon.«

»Jaja«, sagt er und ver­sucht zu lä­cheln. »Du bist Trumpf-Ass, Lämm­chen, und stichst al­les.«

»Und um halb neun bin ich un­ten. Be­stimmt.«

»Und kei­nen Kuss jetzt?«

»Es geht wirk­lich nicht, es wird gleich wei­ter­ge­tratscht. Tap­fer. Tap­fer!«

Sie sieht ihn an.

»Also gut, Lämm­chen«, sagt er. »Nimm du es auch nicht so schwer. Ir­gend­wie wird es ja wer­den.«

»Na­tür­lich«, sagt sie. »Ich ver­lier den Mut schon nicht. Tjüs der­wei­le.«

Sie huscht schnell die dunkle Trep­pe hin­auf, ihr Stadt­köf­fer­chen schlägt ge­gen das Ge­län­der: klapp – klapp – klapp.

Pin­ne­berg sieht den hel­len Bei­nen nach. Hun­dert­tau­send Mal ist ihm Lämm­chen schon die­se gott­ver­damm­te Trep­pe hin­auf ent­schwun­den.

»Lämm­chen!« brüllt er. »Lämm­chen!«

»Ja?« fragt sie von oben und sieht über das Ge­län­der.

»Ei­nen Au­gen­blick!« ruft er. Er stürmt die Trep­pe hin­auf, er steht atem­los vor ihr, er fasst sie bei den Schul­tern. »Lämm­chen!« sagt er und keucht vor Auf­re­gung und Atem­not. »Emma Mör­schel! Wie wär’s, wenn wir uns hei­ra­ten wür­den …?«

2. Mutter Mörschel, Herr Mörschel, Karl Mörschel: Pinneberg gerät in die Mörschelei

Lämm­chen Mör­schel sag­te nichts. Sie mach­te sich von Pin­ne­berg los und setz­te sich sach­te auf eine Trep­pen­stu­fe. Plötz­lich wa­ren ihre Bei­ne weg. Nun saß sie da und sah zu ih­rem Jun­gen hoch. »O Gott!« sag­te sie. »Jun­ge, wenn du das tä­test!«

Ihre Au­gen wur­den ganz hell. Es wa­ren dun­kelblaue Au­gen mit ei­ner Schat­tie­rung ins Grün­li­che; jetzt ström­ten sie ge­ra­de­zu über von strah­len­dem Licht.

Wie wenn alle Weih­nachts­bäu­me ih­res Le­bens auf ein­mal in ihr brenn­ten, dach­te Pin­ne­berg und wur­de ganz ver­le­gen vor Rüh­rung.

»Also, geht in Ord­nung, Lämm­chen«, sag­te er. »Ma­chen wir. Und mög­lichst bald, was?«

»Jun­ge, du brauchst es aber nicht. Ich kom­me auch so zu­recht. Nur, da hast du recht, bes­ser ist es schon, wenn der Mur­kel einen Va­ter hat.«

»Der Mur­kel«, sag­te Jo­han­nes Pin­ne­berg. »Rich­tig, der Mur­kel.«

Er war einen Au­gen­blick still. Er kämpf­te mit sich, ob er Lämm­chen nicht sa­gen soll­te, dass er bei sei­nem Hei­rats­an­trag gar nicht an die­sen Mur­kel ge­dacht hat­te, son­dern nur dar­an, dass es sehr ge­mein war, an die­sem Som­mer­abend drei Stun­den auf sein Mäd­chen in der Stra­ße zu war­ten. Aber er sag­te es nicht. Statt­des­sen bat er: »Steh doch auf, Lämm­chen. Die Trep­pe ist si­cher ganz dre­ckig. Dein gu­ter wei­ßer Rock …«

»Lass den Rock, lass ihn sau­sen! Was küm­mern uns alle Rö­cke von der Welt. Bin ich glück­lich! Han­nes! Jun­ge!« Nun war sie wirk­lich auf ih­ren Bei­nen und fiel ihm wie­der um den Hals. Und das Haus war gü­tig: Von den zwan­zig Par­tei­en, die über die­se Trep­pe aus- und ein­gin­gen, kam nicht eine, nach­mit­tags nach fün­fe in der Lauf­zeit, wo die Er­näh­rer nach Haus kom­men und alle Haus­frau­en schnell noch eine ver­ges­se­ne Zutat fürs Es­sen ho­len. Kei­ner kam.

Bis Pin­ne­berg sich frei mach­te und sag­te: »Aber das kön­nen wir doch si­cher auch oben – als Braut­paar. Ge­hen wir rauf.«

Lämm­chen frag­te be­denk­lich: »Gleich willst du mit? Ist es nicht bes­ser, ich be­rei­te Va­ter und Mut­ter vor, wo sie doch noch gar nichts von dir wis­sen …?«

»Was doch sein muss, tut man am bes­ten gleich«, er­klär­te Pin­ne­berg und woll­te noch im­mer nicht auf die Stra­ße. »Üb­ri­gens wer­den sie sich doch be­stimmt freu­en?«

»Na ja«, mein­te Lämm­chen nach­denk­lich. »Mut­ter sehr. Va­ter, weißt du, da darfst du dich nicht dran sto­ßen. Va­ter flachst ger­ne, der meint das nicht so.«

»Ich werd’s schon rich­tig ver­ste­hen«, sag­te Pin­ne­berg.

Lämm­chen schloss die Tür auf: ein klei­ner Vor­platz. Hin­ter ei­ner an­ge­lehn­ten Tür klang eine Stim­me: »Emma, komm gleich mal her!«

»Ei­nen Au­gen­blick, Mut­ter«, rief Emma Mör­schel. »Ich zieh nur mei­ne Schuh aus.«

Sie nahm Pin­ne­berg bei der Hand und führ­te ihn auf Ze­hen­spit­zen in ein klei­nes Hof­zim­mer, wo zwei Bet­ten stan­den.

»Leg dei­ne Sa­chen da­hin. Ja, das ist mein Bett, da schlaf ich drin. Im an­de­ren Bett schläft Mut­ter. Va­ter und Karl schla­fen drü­ben in der Kam­mer. Nun komm. Halt, dein Haar!« Sie fuhr ihm schnell mit dem Kamm durch die Wirr­nis.

Bei­den klopf­te das Herz. Sie nahm ihn bei der Hand, sie gin­gen über den Vor­platz, sie stie­ßen die Tür zur Kü­che auf. Am Herd stand mit run­dem, krum­mem Rücken eine Frau und briet et­was in ei­ner Pfan­ne. Pin­ne­berg sah ein brau­nes Kleid und eine große blaue Schür­ze.

Die Frau sah nicht hoch. »Lauf schnell mal in den Kel­ler, Emma, und hol Press­koh­len. Ich kann das dem Karl hun­dert­mal sa­gen …«

»Mut­ter«, sag­te Emma, »das ist mein Freund Jo­han­nes Pin­ne­berg aus Du­che­row. Wir wol­len uns hei­ra­ten.«

Die Frau am Herd sah hoch. Es war ein brau­nes Ge­sicht mit ei­nem star­ken Mund, ei­nem schar­fen ge­fähr­li­chen Mund, ein Ge­sicht mit sehr hel­len schar­fen Au­gen und mit zehn­tau­send Fal­ten. Eine alte Ar­bei­ter­frau.

Die Frau sah Pin­ne­berg an, einen Au­gen­blick, scharf, böse. Dann wand­te sie sich wie­der ih­ren Kar­tof­fel­puf­fern zu. »Dumm Tügs«, sag­te sie. »Schleppst du mir jetzt dei­ne Ker­le ins Haus?! Geh und hol Koh­len, ich hab kei­ne Glut.«

»Mut­ter«, sag­te Lämm­chen und ver­such­te zu la­chen, »er will mich wirk­lich hei­ra­ten.«

»Hol Koh­len, sag ich, Deern«, rief die Frau und fuhr­werk­te mit der Ga­bel.

»Mut­ter …!«

Die Frau sah hoch. Sie sag­te lang­sam: »Bist du noch nicht un­ten? Willst du einen Backs?!«

Ganz rasch drück­te Lämm­chen ih­rem Pin­ne­berg die Hand. Dann nahm sie einen Korb, rief, so fröh­lich es ging: »Gleich bin ich wie­der da!« – und die Fl­ur­tür klapp­te.

Pin­ne­berg stand ver­las­sen in der Kü­che. Er sah vor­sich­tig ge­gen Frau Mör­schel hin, als könn­te sein Hin­se­hen sie schon rei­zen, dann ge­gen das Fens­ter. Man sah nur einen blau­en Som­mer­him­mel und ein paar Schorn­stei­ne.

Frau Mör­schel schob die Pfan­ne bei­sei­te und han­tier­te mit den Her­drin­gen. Es klap­per­te und klirr­te sehr. Sie sto­cher­te mit dem Feu­er­ha­ken in der Glut, da­bei murr­te sie vor sich hin. Höf­lich frag­te Pin­ne­berg: »Wie bit­te …?«

Es wa­ren die ers­ten Wor­te, die er bei Mör­schels sag­te.

Er hät­te nichts sa­gen sol­len, denn wie ein Gei­er schoss die Frau auf ihn nie­der. In der einen Hand hielt sie den Ha­ken, in der an­de­ren noch die Ga­bel vom Puf­fer­wen­den, aber das war nicht so schlimm, trotz­dem sie da­mit fuch­tel­te. Schlimm war ihr Ge­sicht, in dem alle Fal­ten zuck­ten und spran­gen, schlim­mer wa­ren ihre grau­sa­men und bö­sen Au­gen.

»Wenn Sie mir mein Mäd­chen in Schan­de brin­gen!« schrie sie au­ßer sich.

Pin­ne­berg trat einen Schritt zu­rück. »Ich will Emma ja hei­ra­ten, Frau Mör­schel!« sag­te er ängst­lich.

»Sie den­ken wohl, ich weiß nicht, was ist«, sag­te die Frau un­be­irrt. »Seit zwei Wo­chen ste­he ich hier und war­te. Ich den­ke, sie sagt mir was, ich den­ke, sie bringt mir den Kerl bald an, ich sit­ze hier und war­te.« Sie hol­te Atem. »Das ist ein gu­tes Mäd­chen, Sie Mann Sie, mei­ne Emma, das ist kein Dreck für Sie. Die ist im­mer fröh­lich ge­we­sen. Die hat mir nie ein bö­ses Wort ge­ge­ben – wol­len Sie sie in Schan­de brin­gen?«

»Nein, nein«, flüs­tert Pin­ne­berg angst­voll.

»Doch! Doch!« schreit Frau Mör­schel. »Doch! Doch! Zwei Wo­chen ste­he ich hier und war­te, dass sie ihre Bin­den zum Wa­schen gibt – nichts! Wie ha­ben Sie das ge­macht, Sie?« Pin­ne­berg kann es nicht sa­gen.

»Wir sind jun­ge Leu­te«, sagt er sanft.

»Ach Sie«, sagt sie noch böse, »dass Sie mein Mäd­chen dazu ge­kriegt ha­ben.« Plötz­lich grollt sie wie­der: »Schwei­ne seid ihr Män­ner, al­les Schwei­ne, pfui!«

»Wir hei­ra­ten, so­bald es mit den Pa­pie­ren geht«, er­klärt Pin­ne­berg.

Frau Mör­schel steht wie­der am Herd. Das Fett brut­zelt, sie fragt: »Was sind Sie denn? Kön­nen Sie denn über­haupt hei­ra­ten?«

»Ich bin Buch­hal­ter. In ei­nem Ge­trei­de­ge­schäft.«

»Also An­ge­stell­ter?«

»Ja.«

»Ar­bei­ter wäre mir lie­ber. – Was ver­die­nen Sie denn?«

»Hun­dert­acht­zig Mark.«

»Mit Ab­zü­gen?«

»Nein, die ge­hen noch ab.«

»Das ist gut«, sagt die Frau, »das ist nicht so viel. Mein Mäd­chen soll ein­fach blei­ben.« Und plötz­lich wie­der ganz böse: »Den­ken Sie nicht, dass sie was mit­be­kommt. Wir sind Pro­le­ta­ri­er. Bei uns gibt es das nicht. Nur das biss­chen Wä­sche, was sie sich selbst ge­kauft hat.«

»Das ist al­les nicht nö­tig«, sagt Pin­ne­berg.

Plötz­lich ist die Frau wie­der böse: »Sie ha­ben doch auch nichts. Sie se­hen doch auch nicht nach Spa­ren aus. Wenn man mit sol­chem An­zug rum­läuft, bleibt nichts üb­rig.«

Pin­ne­berg braucht nicht zu ge­ste­hen, dass sie ziem­lich das Rich­ti­ge ge­trof­fen hat, denn Lämm­chen kommt mit den Koh­len. Sie ist bes­ter Stim­mung. »Hat sie dich auf­ge­fres­sen, ar­mer Jun­ge?« fragt sie. »Mut­ter ist ein rich­ti­ger Tee­kes­sel, sie kocht im­mer gleich über.«

»Sei nicht so frech, Ütz«, schilt die Alte. »Sonst kriegst du doch noch dei­nen Backs. – Geht in die Schlaf­stu­be und schleckt euch ab. Ich will mit Va­ter zu­erst al­lein re­den.«

»Na also«, sagt Lämm­chen. »Hast du mei­nen Bräu­ti­gam auch schon ge­fragt, ob er Kar­tof­fel­puf­fer mag? Heu­te ist un­ser Ver­lo­bungs­tag.«

»Weg mit euch!« sagt Frau Mör­schel. »Und dass ihr mir nicht die Tür ab­schließt, ich sehe ein paar­mal nach, dass ihr kei­ne Dumm­hei­ten macht.«

Sie sit­zen sich an dem klei­nen Tisch auf den wei­ßen Stüh­len ge­gen­über.

»Mut­ter ist ’ne ein­fa­che Ar­bei­te­rin«, sagt Lämm­chen. »Die ist so derb, sie denkt sich nichts da­bei.«

»Oh, sie denkt sich schon was da­bei«, sagt Pin­ne­berg und grinst. »Dei­ne Mut­ter weiß Be­scheid, ver­stehst du, was uns der Dok­tor heu­te ge­sagt hat.«

»Na­tür­lich weiß sie das. Mut­ter weiß im­mer al­les. Ich glaub, du hast ihr gut ge­fal­len.«

»Na, hör mal, so sah es aber nicht aus.«

»Mut­ter ist so. Mut­ter muss im­mer schimp­fen. Ich hör’s schon gar nicht mehr.«

Ei­nen Au­gen­blick ist Stil­le, bei­de sit­zen sich brav ge­gen­über, die Hän­de lie­gen auf dem Tisch­chen.

»Rin­ge müs­sen wir uns auch kau­fen«, sagt Pin­ne­berg ge­dan­ken­voll.

»O Gott, ja«, sagt Lämm­chen rasch. »Sag schnell, wel­che magst du lie­ber, glän­zend oder matt?«

»Matt!« sagt er.

»Ich auch! Ich auch!« ruft sie. »Ich glau­be, wir ha­ben in al­lem den glei­chen Ge­schmack, das ist fein. – Was wer­den die kos­ten?«

»Ich weiß auch nicht. Drei­ßig Mark?«

»So viel?«

»Wenn wir gol­de­ne neh­men?«

»Na­tür­lich neh­men wir gol­de­ne. Lass se­hen, wir wol­len Maß neh­men.«

Er rückt zu ihr. Sie neh­men einen Fa­den von ei­ner Garn­rol­le. Es ist schwie­rig. Ein­mal schnei­det das Garn ein, und ein­mal sitzt es zu lose.

»Hän­de be­se­hen bringt Streit«, sagt Lämm­chen.

»Aber ich be­se­he sie ja gar nicht«, sagt er. »Ich küs­se sie ja. Ich küs­se ja dei­ne Hän­de, Lämm­chen.«

Es klopft mit sehr har­tem Knö­chel ge­gen die Tür. »Rüber­kom­men! Va­ter ist da!«

»Gleich«, sagt Lämm­chen und löst sich aus sei­nem Arm. »Schnell uns ein biss­chen zu­recht­ma­chen. Va­ter flachst ewig.«

»Wie ist er denn, dein Va­ter?«

»Gott, du wirst ja gleich se­hen. Ist ja auch egal. Du hei­ra­test mich, mich, mich, ohne Va­ter und Mut­ter.«

»Aber mit dem Mur­kel.«

»Mit dem Mur­kel, ja. Net­te un­ver­nünf­ti­ge El­tern be­kommt er. Nicht eine Vier­tel­stun­de kön­nen sie ver­nünf­tig sit­zen …«

Am Kü­chen­tisch sitzt ein lan­ger Mann in grau­en Ho­sen, grau­er Wes­te und ei­nem wei­ßen Tri­ko­themd, ohne Ja­cke, ohne Kra­gen. An den Fü­ßen hat er Pan­tof­feln. Ein gel­bes fal­ti­ges Ge­sicht, klei­ne schar­fe Au­gen hin­ter ei­nem hän­gen­den Zwi­cker, ein grau­er Schnurr­bart, ein fast wei­ßer Kinn­bart.

Der Mann liest die »Volks­s­tim­me«, aber nun, da Pin­ne­berg und Emma her­ein­kom­men, lässt er das Blatt sin­ken und be­trach­tet den jun­gen Mann.

»Sie sind also der Jüng­ling, der mei­ne Toch­ter hei­ra­ten will? Sehr er­freut, set­zen Sie sich hin. Üb­ri­gens wer­den Sie es sich noch über­le­gen.«

»Was?« fragt Pin­ne­berg.

Lämm­chen hat sich auch eine Schür­ze um­ge­bun­den und hilft der Mut­ter. Frau Mör­schel sagt är­ger­lich: »Wo der Ben­gel nur wie­der bleibt. Die gan­zen Puf­fer wer­den zäh.«

»Über­stun­den«, sagt Herr Mör­schel la­ko­nisch. Und zu Pin­ne­berg zwin­kernd: »Sie ma­chen auch manch­mal Über­stun­den, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Pin­ne­berg. »Ziem­lich oft.«

»Aber ohne Be­zah­lung?«

»Lei­der. Der Chef sagt …«

Herrn Mör­schel in­ter­es­siert nicht, was der Chef sagt. »Se­hen Sie, dar­um wäre mir ein Ar­bei­ter für mei­ne Toch­ter lie­ber; wenn mein Karl Über­stun­den macht, kriegt er sie be­zahlt.«

»Herr Klein­holz sagt …«, be­ginnt Pin­ne­berg von neu­em.

»Was die Ar­beit­ge­ber sa­gen, jun­ger Mann«, er­klärt Herr Mör­schel, »das wis­sen wir lan­ge. Das in­ter­es­siert uns nicht. Was sie tun, das in­ter­es­siert uns. Es gibt doch ’nen Ta­rif­ver­trag bei euch, was?«

»Ich glau­be«, sagt Pin­ne­berg.

»Glau­be ist Re­li­gi­ons­sa­che, da­mit hat’n Ar­bei­ter nischt zu tun. Be­stimmt gibt es ihn. Und da steht drin, dass Über­stun­den be­zahlt wer­den müs­sen. Wa­rum krieg ich ’nen Schwie­ger­sohn, dem sie nicht be­zahlt wer­den?«

Pin­ne­berg zuckt die Ach­seln.

»Weil ihr nicht or­ga­ni­siert seid, ihr An­ge­stell­ten«, er­klärt Herr Mör­schel ihm den Fall. »Weil kein Zu­sam­men­hang ist bei euch, kei­ne So­li­da­ri­tät. Da­rum ma­chen sie mit euch, was sie wol­len.«

»Ich bin or­ga­ni­siert«, sagt Pin­ne­berg mür­risch. »Ich bin in ’ner Ge­werk­schaft.«

»Emma! Mut­ter! Un­ser jun­ger Mann ist in ’ner Ge­werk­schaft? Wer hät­te das ge­dacht! So schnie­ke und Ge­werk­schaft!« Der lan­ge Mör­schel hat den Kopf ganz auf die Sei­te ge­legt und be­sieht sei­nen künf­ti­gen Schwie­ger­sohn mit ein­ge­knif­fe­nen Au­gen. »Und wie nennt sich Ihre Ge­werk­schaft, mein Jun­ge? Nur raus da­mit!«

»Deut­sche An­ge­stell­ten-Ge­werk­schaft«, sagt Pin­ne­berg und är­gert sich im­mer mehr.

Der lan­ge Mann krümmt sich völ­lig zu­sam­men, so stark über­kommt es ihn. »Die DAG! Mut­ter, Emma, hal­tet mich fest, un­ser Jüng­ling ist ein Da­ckel, das nennt er ’ne Ge­werk­schaft! Ein gel­ber Ver­band, zwi­schen zwei Stüh­len. O Gott, Kin­der, so ein Witz …«

»Na, er­lau­ben Sie mal«, sagt Pin­ne­berg wü­tend. »Wir sind kein gel­ber Ver­band! Wir wer­den nicht von den Ar­beit­ge­bern fi­nan­ziert. Wir zah­len un­sern Bun­des­bei­trag sel­ber.«

»Für die Bon­zen! Für die gel­ben Bon­zen! Na, Emma, da hast du dir ja den Rich­ti­gen aus­ge­sucht. Ei­nen DAG-Mann! Ei­nen rich­ti­gen Da­ckel!«

Pin­ne­berg sieht hil­fe­su­chend zu Lämm­chen, aber Lämm­chen sieht nicht her. Vi­el­leicht ist sie es ge­wöhnt, aber wenn sie es ge­wöhnt ist, für ihn ist es doch schlimm.

»An­ge­stell­ter, wenn ich so was schon höre«, sagt Mör­schel. »Ihr denkt, ihr seid was Bes­se­res als wir Ar­bei­ter.«

»Denk ich nicht.«

»Den­ken Sie doch. Und warum den­ken Sie das? Weil Sie Ihrem Ar­beit­ge­ber nicht ’ne Wo­che den Lohn stun­den, son­dern den gan­zen Mo­nat. Weil Sie un­be­zahl­te Über­stun­den ma­chen, weil Sie sich un­ter Ta­rif be­zah­len las­sen, weil Sie nie ’nen Streik ma­chen, weil Sie im­mer die Streik­bre­cher sind …«

»Es geht doch nicht nur ums Geld«, sagt Pin­ne­berg. »Wir den­ken doch auch an­ders als die meis­ten Ar­bei­ter, wir ha­ben doch an­de­re Be­dürf­nis­se …«

»An­ders den­ken«, sagt Mör­schel, »an­ders den­ken! Sie den­ken ge­nau­so wie ein Pro­let …«

»Das glaub ich nicht«, sagt Pin­ne­berg, »ich zum Bei­spiel …«

»Sie zum Bei­spiel«, sagt Mör­schel und kneift die Au­gen ganz ge­mein ein und feixt. »Sie zum Bei­spiel ha­ben sich doch Vor­schuss ge­nom­men?«

»Wie­so?« fragt Pin­ne­berg ver­wirrt. »Vor­schuss …?«

»Na ja, Vor­schuss«, grinst der an­de­re noch mehr. »Vor­schuss, da, bei der Emma. Nicht sehr fein, Herr. Mäch­tig pro­le­ta­ri­sche An­ge­wohn­heit …«

»Ich …«, fängt Pin­ne­berg an und ist sehr rot und hat Lust, die Tü­ren zu don­nern und zu brül­len: Oh, so rutscht mir doch alle …!

Aber Frau Mör­schel sagt scharf: »Ru­hig bist du jetzt, Va­ter, mit dei­nem Flach­sen! Das ist er­le­digt. Das geht dich gar nichts an.«

»Da kommt der Karl«, ruft Lämm­chen, denn drau­ßen klapp­te eine Tür.

»Also her mit dem Es­sen, Frau«, sagt Mör­schel. »Und recht habe ich doch, Schwie­ger­sohn, fra­gen Sie mal Ihren Pas­tor, un­fein ist das …«

Ein jun­ger Mensch kommt her­ein, aber jung ist nur eine Al­ters­be­zeich­nung, er sieht völ­lig un­jung aus, noch gel­ber, noch gal­li­ger als der Alte. Er knurrt: »’n Abend«, nimmt von dem Gast kei­ner­lei No­tiz und zieht Ja­cke und Wes­te aus, dann das Hemd. Pin­ne­berg sieht es mit stei­gen­der Ver­wun­de­rung.

»Über­stun­den ge­macht?« fragt der Alte.

Karl Mör­schel knurrt nur et­was.

»Lass doch jetzt die Scheuerei, Karl«, sagt Frau Mör­schel, »komm es­sen.«

Aber Karl lässt schon das Was­ser am Aus­guss lau­fen und fängt an, sich sehr in­ten­siv zu wa­schen. Bis zu den Hüf­ten ist er nackt, Pin­ne­berg ge­niert sich et­was, Lämm­chens we­gen. Aber die scheint nichts da­bei zu fin­den, es ist ihr wohl selbst­ver­ständ­lich.

Pin­ne­berg ist vie­les nicht selbst­ver­ständ­lich. Die häss­li­chen Stein­gut­tel­ler mit den schwärz­li­chen An­schlag­stel­len, die halb kal­ten Kar­tof­fel­puf­fer, die nach Zwie­beln schme­cken, die sau­re Gur­ke, das laue Fla­schen­bier, das nur für die Män­ner da­steht, dazu die­se trost­lo­se Kü­che, der wa­schen­de Karl …

Karl setzt sich an den Tisch, sagt brum­mig: »Nanu, Bier?«

»Das ist der Bräu­ti­gam von Emma«, er­klärt Frau Mör­schel. »Sie wol­len bald hei­ra­ten.«

»Hat sie doch einen ab­ge­kriegt«, sagt Karl. »Na ja, einen Bour­geois. Ein Pro­let ist ihr nicht fein ge­nug.«

»Siehst du«, sagt Va­ter Mör­schel, sehr be­frie­digt.

»Du zahl man lie­ber dein Kost­geld, eh du hier den Mund auf­rei­ßt«, er­klärt Mut­ter Mör­schel.

»Was heißt ›siehst du‹«, sagt Karl gal­lig zu sei­nem Va­ter. »Ein rich­ti­ger Bour­geois ist mir noch im­mer lie­ber als ihr So­zi­al­fa­schis­ten.«

»So­zi­al­fa­schis­ten«, ant­wor­tet der Alte böse. »Wer wohl Fa­schist ist, du So­wjet­jün­ger!«

»Na klar«, sagt Karl, »ihr Pan­zer­kreuzer­hel­den …«

Pin­ne­berg hört mit ei­ner ge­wis­sen Be­frie­di­gung zu. Was der Alte ihm ge­sagt hat­te, be­kam er jetzt vom Sohn mit Zin­sen.

Nur, die Kar­tof­fel­puf­fer ge­wan­nen nicht sehr da­durch, es war kein net­tes Mit­ta­ges­sen, er hat­te sich sei­ne Ver­lo­bungs­fei­er an­ders ge­dacht.

3. Geschwätz in der Nacht von Liebe und Geld

Pin­ne­berg hat sei­nen Zug sau­sen las­sen, er kann auch mor­gens um vier fah­ren. Dann ist er im­mer noch recht­zei­tig im Ge­schäft.

Die bei­den sit­zen in der dunklen Kü­che. Drin­nen in der einen Stu­be schläft Herr, in der an­de­ren Frau Mör­schel. Karl ist in eine KPD-Ver­samm­lung ge­gan­gen.

Sie ha­ben zwei Kü­chen­stüh­le ne­ben­ein­an­der ge­zo­gen und sit­zen mit dem Rücken nach dem er­kal­te­ten Herd. Die Tür zu dem klei­nen Kü­chen­bal­kon steht of­fen, der Wind be­wegt lei­se den Schal über der Tür. Drau­ßen ist – über ei­nem hei­ßen, ra­diolär­men­den Hof – der Nacht­him­mel, dun­kel, mit sehr blas­sen Ster­nen.

»Ich möch­te«, sagt Pin­ne­berg lei­se und drückt Lämm­chens Hand, »dass wir es ein biss­chen hübsch hät­ten. Weißt du« – er ver­sucht es zu schil­dern –, »es müss­te hell sein bei uns und wei­ße Gar­di­nen und al­les im­mer schreck­lich sau­ber.«

»Ich ver­steh«, sagt Lämm­chen, »ich ver­steh, es muss schlimm sein bei uns für dich, wo du es nicht ge­wöhnt bist.«

»So mei­ne ich es doch nicht, Lämm­chen.«

»Doch. Doch. Wa­rum sollst du es nicht sa­gen, es ist doch schlimm. Dass sich Karl und Va­ter im­mer zan­ken, ist schlimm. Und dass Va­ter und Mut­ter im­mer strei­ten, das ist auch schlimm. Und dass sie Mut­ter im­mer um das Kost­geld be­trü­gen wol­len, und dass Mut­ter sie mit dem Es­sen be­trügt … al­les ist schlimm.«

»Aber warum sind sie so? Bei euch ver­die­nen doch drei, da müss­te es doch gut ge­hen.«

Lämm­chen ant­wor­tet ihm nicht. »Ich ge­hör ja nicht rein hier«, sagt sie statt­des­sen. »Ich bin im­mer das Aschen­put­tel ge­we­sen. Wenn Va­ter und Karl nach Haus kom­men, ha­ben sie Fei­er­abend. Dann fang ich an mit Auf­wa­schen und Plät­ten und Nä­hen und St­rümp­fe­stop­fen. Ach, es ist nicht das«, ruft sie aus, »das täte man ja ger­ne. Aber dass das al­les ganz selbst­ver­ständ­lich ist und dass man da­für ge­schubst wird und ge­k­nufft, dass man nie ein gu­tes Wort be­kommt, und dass der Karl so tut, wie wenn er mich mit er­nährt, weil er mehr Kost­geld zahlt als ich … Ich ver­di­en doch nicht viel – was ver­dient denn heu­te eine Ver­käu­fe­rin?«

»Es ist ja bald vor­bei«, sagt Pin­ne­berg. »Ganz bald.«

»Ach, es ist ja nicht das«, ruft sie ver­zwei­felt, »es ist ja al­les nicht das. Aber, weißt du, Jun­ge, sie ha­ben mich im­mer rich­tig ver­ach­tet, ›du Dum­me‹ sa­gen sie zu mir. Si­cher, ich bin nicht so klug. Ich ver­steh vie­les nicht. Und dann, dass ich nicht hübsch bin …«

»Aber du bist hübsch!«

»Du bist der ers­te, der das sagt. Wenn wir mal zum Tanz ge­gan­gen sind, im­mer bin ich sit­zen­ge­blie­ben. Und wenn dann Mut­ter zum Karl ge­sagt hat, er sol­le sei­ne Freun­de schi­cken, hat er ge­sagt: ›Wer will denn mit so ’ner Zie­ge tan­zen?‹ Wirk­lich, du bist der ers­te …«

Ein un­heim­li­ches Ge­fühl be­schleicht Pin­ne­berg. Wirk­lich, denkt er, sie soll­te mir das nicht so sa­gen. Ich hab im­mer ge­dacht, sie ist hübsch. Und nun ist sie viel­leicht gar nicht hübsch …

Lämm­chen aber re­det wei­ter: »Siehst du, Jung­chen, ich will dir ja nichts vor­jam­mern. Ich will es dir nur die­ses ein­zi­ge Mal sa­gen, dass du weißt, ich ge­hör hier nicht her, ich ge­hör nur zu dir. Zu dir al­lein. Und dass ich dir ganz furcht­bar dank­bar bin, nicht nur we­gen des Mur­kels, son­dern weil du das Aschen­put­tel ge­holt hast …«

»Du«, sagt er. »Du!«

»Nein, jetzt noch nicht. – Und wenn du sagst, wir wol­len es hell und sau­ber ha­ben, du musst ein biss­chen ge­dul­dig sein, ich hab ja nie rich­tig ko­chen ge­lernt. Und wenn ich et­was falsch ma­che, dann sollst du es mir sa­gen, und ich will dich nie, nie be­lü­gen …«

»Nein, Lämm­chen, nein, es ist ja gut.«

»Und wir wol­len uns nie, nie strei­ten. O Gott, Jun­ge, was wol­len wir glück­lich sein, wir bei­de al­lein. Und dann der drit­te, der Mur­kel.«

»Wenn es aber ein Mäd­chen wird?«

»Er ist ein Mur­kel, sage ich dir, ein klei­ner sü­ßer Mur­kel.«

Nach ei­ner Wei­le ste­hen sie auf und tre­ten auf den Bal­kon. Ja, der Him­mel ist da über den Dä­chern und sei­ne Ster­ne in ihm. Sie ste­hen eine Wei­le schwei­gend, je­des die Hand auf der Schul­ter des an­de­ren.

Dann keh­ren sie zu die­ser Erde zu­rück, mit dem en­gen Hof, den vie­len hel­len Fens­ter­qua­dra­ten, dem Jaz­z­ge­quäk.

»Wol­len wir uns auch Ra­dio an­schaf­fen?« fragt er plötz­lich.

»Ja, na­tür­lich. Weißt du, ich bin dann nicht so mut­ter­see­len­al­lein, wenn du im Ge­schäft bist. Aber erst spä­ter. Wir müs­sen uns so furcht­bar viel an­schaf­fen!«

»Ja«, sagt er.

Stil­le.

»Jun­ge«, fängt Lämm­chen sach­te an. »Ich muss dich was fra­gen.«

»Ja?« sagt er un­si­cher.

»Aber sei nicht böse!«

»Nein«, sagt er.

»Hast du was ge­spart?«

Pau­se.

»Ein biss­chen«, sagt er zö­gernd. »Und du?«

»Auch ein biss­chen«, und ganz rasch: »Aber nur ein ganz, ganz, ganz klein biss­chen.«

»Sag du«, sagt er.

»Nein, sag du zu­erst«, sagt sie.

»Ich …«, sagt er und bricht ab. »Sag schon!« bit­tet sie.

»Es ist wirk­lich nur ganz we­nig, viel­leicht noch we­ni­ger als du.«

»Si­cher nicht.«

»Doch. Si­cher.«

Pau­se. Lan­ge Pau­se.

»Frag mich«, bit­tet er.

»Also«, sagt sie und holt tief Atem. »Ist es mehr als …«

Sie macht eine Pau­se.

»Als was?« fragt er.

»I wo«, lacht sie plötz­lich. »Soll ich mich ge­nie­ren! Hun­dert­drei­ßig Mark hab ich auf der Kas­se.«

Er sagt stolz und lang­sam: »Vier­hun­dert­sieb­zig.«

»Au fein!« sagt Lämm­chen. »Das wird ge­ra­de glatt. Sechs­hun­dert Mark. Jun­ge, was ein Hau­fen Geld!«

»Na …«, sagt er. »Viel fin­de ich es ja nicht. Aber man lebt schreck­lich teu­er als Jung­ge­sel­le.«

»Und ich hab von mei­nen hun­dertzwan­zig Mark Ge­halt sieb­zig Mark für Kost und Woh­nung ab­ge­ben müs­sen.«

»Dau­ert lan­ge, bis man so viel zu­sam­men­ge­spart hat«, sagt er.

»Schreck­lich lan­ge«, sagt sie. »Es wird und wird nicht mehr.«

Pau­se.

»Ich glaub nicht, dass wir in Du­che­row gleich ’ne Woh­nung krie­gen«, sagt er.

»Dann müs­sen wir ein mö­blier­tes Zim­mer neh­men.«

»Da kön­nen wir auch für un­se­re Mö­bel mehr spa­ren.«

»Aber ich glau­be, mö­bliert ist schreck­lich teu­er.«

»Also, lass uns mal rech­nen«, schlägt er vor.

»Ja. Wir wol­len mal se­hen, wie wir hin­kom­men. Wir wol­len rech­nen, als ob wir nichts auf der Kas­se hät­ten.«

»Ja, das dür­fen wir nicht an­grei­fen, das soll ja mehr wer­den. Also hun­dert­acht­zig Mark Ge­halt …«

»Als Ver­hei­ra­te­ter kriegst du doch mehr.«

»Ja, weißt du, ich weiß nicht.« Er ist sehr ver­le­gen. »Nach dem Ta­rif­ver­trag viel­leicht, aber mein Chef ist so ko­misch …«

»Da­rauf wür­de ich kei­ne Rück­sicht neh­men, ob er ko­misch ist.«

»Lämm­chen, lass uns erst mal mit hun­dert­acht­zig rech­nen. Wenn’s mehr wird, ist es ja nur schön, aber die ha­ben wir doch erst mal si­cher.«

»Also schön«, stimmt sie zu. »Nun erst mal die Ab­zü­ge.«

»Ja«, sagt er. »An de­nen kann man ja nichts än­dern. Steu­ern sechs Mark und Ar­beits­lo­sen­ver­si­che­rung zwei Mark sieb­zig. Und An­ge­stell­ten­ver­si­che­rung vier Mark. Und Kran­ken­kas­se fünf Mark vier­zig. Und die Ge­werk­schaft vier Mark fünf­zig …«

»Na, dei­ne Ge­werk­schaft, das ist doch über­flüs­sig …«

Pin­ne­berg sagt et­was un­ge­dul­dig: »Das lass man erst. Ich hab von dei­nem Va­ter ge­nug.«

»Schön«, sagt Lämm­chen, »macht zwei­und­zwan­zig Mark sech­zig Ab­zü­ge. Fahr­geld brauchst du nicht?«

»Gott sei Dank nein.«

»Blei­ben also erst mal hun­dert­sie­ben­und­fünf­zig Mark vier­zig. Was macht die Mie­te?«

»Ja, ich weiß doch nicht. Zim­mer und Kü­che, mö­bliert. Si­cher doch vier­zig Mark.«

»Sa­gen wir fünf­und­vier­zig«, meint Lämm­chen. »Blei­ben hun­dertzwölf Mark vier­zig. Was denkst du, brau­chen wir fürs Es­sen?«

»Ja, sag du mal.«

»Mut­ter sagt im­mer, eine Mark fünf­zig braucht sie für je­den am Tag.«

»Das sind neun­zig Mark im Mo­nat«, sagt er.

»Dann blei­ben noch zwei­und­zwan­zig Mark vier­zig«, sagt sie.

Die bei­den se­hen sich an.

Lämm­chen sagt ganz schnell: »Und dann ha­ben wir noch nichts für Feue­rung. Und nichts für Gas. Und nichts für Licht. Und nichts für Por­to. Und nichts für Klei­dung. Und nichts für Wä­sche. Und nichts für Schu­he. Und Ge­schirr muss man sich auch manch­mal kau­fen.«

Und er sagt: »Und man möch­te doch auch mal ins Kino. Und am Sonn­tag ’nen Aus­flug ma­chen. Und ’ne Zi­ga­ret­te rauch ich auch ganz ger­ne.«

»Und spa­ren wol­len wir doch auch was.«

»Min­des­tens zwan­zig Mark im Mo­nat.«

»Drei­ßig.«

»Aber wie?«

»Rech­nen wir noch mal.«

»An den Ab­zü­gen än­dert sich nichts.«

»Und bil­li­ger krie­gen wir kein Zim­mer und Kü­che.«

»Vi­el­leicht fünf Mark bil­li­ger.«

»Na ja, ich will mal se­hen. ’ne Zei­tung möcht man sich aber auch hal­ten.«

»Si­cher. Kön­nen wir nur am Es­sen spa­ren, nun gut, zehn Mark viel­leicht ab.«

Sie se­hen sich wie­der an.

»Dann kom­men wir noch im­mer nicht aus. Und an Spa­ren ist auch nicht zu den­ken.«

»Du«, sagt sie sor­gen­voll, »musst du im­mer Plätt­wä­sche tra­gen? Die kann ich nicht sel­ber plät­ten.«

»Doch, das ver­langt der Chef. Ein Ober­hemd kos­tet sech­zig Pfen­nig plät­ten und ein Kra­gen zehn Pfen­nig.«

»Macht auch wie­der fünf Mark im Mo­nat«, rech­net sie.

»Und Schu­he be­soh­len.«

»Auch das, ja. Das ist auch ge­mein teu­er.«

Pau­se.

»Also, rech­nen wir noch mal.«

Und nach ei­ner Wei­le: »Also strei­chen wir vom Es­sen noch mal zehn Mark ab. Aber bil­li­ger als für sieb­zig kann ich es nicht.«

»Wie ma­chen es denn die an­de­ren?«

»Ja, ich weiß auch nicht. Furcht­bar vie­le ha­ben doch noch ’ne gan­ze Ecke we­ni­ger.«

»Ich ver­steh das nicht.«

»Da muss ir­gend­was nicht rich­tig sein. Lass uns noch mal rech­nen.«

Sie rech­nen und rech­nen, sie kom­men zu kei­nem an­de­ren Er­geb­nis. Sie se­hen sich an. »Weißt du«, sagt Lämm­chen plötz­lich, »wenn ich hei­ra­te, kann ich mir doch mei­ne An­ge­stell­ten­ver­si­che­rung aus­zah­len las­sen?«

»Au fein!« sagt er. »Das gibt si­cher hun­dertzwan­zig Mark.«

»Und dei­ne Mut­ter«, fragt sie. »Du hast mir nie von ihr er­zählt.«

»Da ist auch nichts zu er­zäh­len«, sagt er kurz. »Ich schreib ihr nie.«

»So«, sagt sie. »Ja dann.«

Wie­der Stil­le.

Sie kom­men nicht wei­ter, also ste­hen sie auf und tre­ten auf den Bal­kon. Es ist fast al­les dun­kel ge­wor­den im Hof, auch die Stadt ist still ge­wor­den. In der Fer­ne hört man ein Auto tu­ten.

Er sagt in Ge­dan­ken ver­lo­ren: »Haar­schnei­den kos­tet auch acht­zig Pfen­ni­ge.«

»O du, lass«, bit­tet sie. »Was die an­de­ren kön­nen, wer­den wir auch kön­nen. Es wird schon ge­hen.«

»Hör noch mal zu, Lämm­chen«, sagt er. »Ich will dir auch kein Haus­halts­geld ge­ben. Zu An­fang des Mo­nats tun wir al­les Geld in einen Topf, und je­der nimmt sich im­mer da­von, was er braucht.«

»Ja«, sagt sie. »Ich hab einen hüb­schen Topf da­für, blau­es Stein­gut. Ich zeig ihn dir noch. – Und dann wol­len wir furcht­bar spar­sam sein. Vi­el­leicht ler­ne ich noch Ober­hem­den plät­ten.«

»Fünf-Pfen­nig-Zi­ga­ret­ten sind auch Un­sinn«, sagt er. »Es gibt schon ganz an­stän­di­ge für drei.«

Aber sie stößt einen Schrei aus: »O Gott, Jun­ge, den Mur­kel ha­ben wir doch ganz ver­ges­sen! Der kos­tet ja auch Geld!«

Er über­legt: »Was kos­tet denn solch klei­nes Kind? Und dann gibt es Ent­bin­dungs­geld und Still­geld, und Steu­ern zah­len wir auch we­ni­ger … Ich glaub im­mer, die ers­ten Jah­re kos­tet der gar nichts.«

»Ich weiß nicht«, sagt sie zwei­felnd.

In der Tür steht eine wei­ße Ge­stalt.

»Wollt ihr nicht end­lich ins Bett?« fragt Frau Mör­schel. »Drei Stun­den könnt ihr noch schla­fen.«

»Ja, Mut­ter«, sagt Lämm­chen.

»Es ist schon al­les gleich«, sagt die Alte. »Ich schlaf heu­te bei Va­ter. Der Karl bleibt heu­te Nacht auch weg. Nimm ihn dir mit, dei­nen …« Die Tür schrammt zu, un­ge­sagt bleibt, wel­chen dei­nen …

»Aber ich möch­te wirk­lich nicht«, sagt Pin­ne­berg et­was pi­kiert. »Das ist doch wirk­lich nicht an­ge­nehm hier bei dei­nen El­tern …«

»O Gott, Jun­ge«, lacht sie. »Ich glaub, der Karl hat recht, du bist ein Bour­geois …«

»Aber kei­ne Spur!« pro­tes­tiert er. »Wenn es dei­ne El­tern nicht stört.« Er zö­gert noch ein­mal. »Und wenn Dok­tor Se­sam sich nun ge­irrt hat, ich habe nichts da.«

»Also set­zen wir uns wie­der auf die Kü­chen­stüh­le«, schlägt sie vor. »Mir tut schon al­les weh.«

»Ich komm ja schon, Lämm­chen«, sagt er reu­mü­tig.

»Ja, wenn du nicht willst …?«

»Ich bin ein Schaf, Lämm­chen! Ich bin ein Schaf!«

»Na also«, sagt sie. »Dann pas­sen wir ja zu­ein­an­der.«

»Das wol­len wir gleich se­hen«, sagt er.

Erster Teil – Die kleine Stadt

4. Die Ehe fängt ganz richtig mit einer Hochzeitsreise an, aber – brauchen wir einen Schmortopf?

Der Zug, der um vier­zehn Uhr zehn an die­sem Au­gust-Sonn­abend von Platz nach Du­che­row fährt, be­för­dert in ei­nem Nicht­rau­cher­ab­teil drit­ter Klas­se Herrn und Frau Pin­ne­berg, in sei­nem Pack­wa­gen einen »ganz großen« Schließ­korb mit Em­mas Habe, einen Sack mit Em­mas Bet­ten – aber nur ihr Bett, »für sein Bett kann er sel­ber sor­gen, wie kom­men wir dazu« – und eine Eier­kis­te mit Em­mas Por­zel­lan.

Der Zug ver­lässt ei­lig die große Stadt Platz, am Bahn­hof war kei­ner, die letz­ten Vor­stadt­häu­ser blei­ben zu­rück, nun kom­men die Fel­der. Eine Wei­le noch geht es an dem Ufer der glit­zern­den Stre­la ent­lang, und nun Wald, Bir­ken an der Bahn lang.

Im Ab­teil sitzt au­ßer ih­nen nur noch ein gräm­li­cher Mann, der sich nicht ent­schlie­ßen kann, was er nun ei­gent­lich tun soll: Zei­tung le­sen, die Land­schaft be­se­hen oder das jun­ge Paar be­ob­ach­ten. Über­ra­schend geht er von ei­nem zum an­de­ren über, und im­mer, wenn die bei­den sich ge­ra­de ganz si­cher glau­ben, wer­den sie von ihm er­wi­scht.

Pin­ne­berg legt os­ten­ta­tiv sei­ne rech­te Hand aufs Knie. Der Reif schim­mert freund­lich. Je­den­falls sind es voll­stän­dig le­gi­ti­me Din­ge, die die­ser Gräm­ling be­ob­ach­tet. Er sieht aber nicht den Ring an, son­dern die Land­schaft.

»Macht sich gut, der Ring«, sagt Pin­ne­berg zu­frie­den. »Kann man über­haupt nicht se­hen, dass er nur ver­gol­det ist.«

»Weißt du, ein ko­mi­sches Ge­fühl ist es doch mit dem Ring, ich fühl ihn im­mer­zu und muss ihn ewig an­se­hen.«

»Bist ihn eben noch nicht ge­wöhnt. Alte Ehe­leu­te spü­ren ihn über­haupt nicht. Ver­lie­ren ihn, mer­ken es gar nicht.«

»Das soll­te mir pas­sie­ren«, sagt Lämm­chen ent­rüs­tet. »Ich werd ihn mer­ken, im­mer und im­mer.«

»Ich auch«, er­klärt Pin­ne­berg. »Wo er mich an dich er­in­nert.«

»Und mich an dich!«

Sie nei­gen sich ge­gen­ein­an­der, im­mer nä­her, im­mer nä­her. Und fah­ren zu­rück, der Gräm­li­che starrt ge­ra­de­zu scham­los.

»Kei­ner aus Du­che­row«, flüs­tert Pin­ne­berg. »Müss­te ihn ken­nen.«

»Kennst du denn alle bei euch?«

»Was so in Fra­ge kommt, na­tür­lich. Wo ich frü­her bei Berg­mann Her­ren- und Da­men­kon­fek­ti­on ver­kauft habe. Da kennt man al­les.«

»Wa­rum hast du denn das auf­ge­ge­ben? Das ist doch ei­gent­lich dei­ne Bran­che.«

»Hab mich ver­kracht mit dem Chef«, sagt Pin­ne­berg kurz.

Lämm­chen möch­te wei­ter­fra­gen, sie spürt, hier ist noch ein Ab­grund, aber lie­ber lässt sie es. Al­les hat Zeit, jetzt, wo sie rich­tig stan­des­amt­lich ge­traut sind.

Er hat an­schei­nend auch ge­ra­de dar­an ge­dacht. »Dei­ne Mut­ter sitzt nun längst wie­der zu Hau­se«, sagt er.

»Ja«, sagt sie. »Mut­ter ist böse, des­we­gen ist sie auch nicht mit zur Bahn ge­gan­gen. ’ne Hun­de­hoch­zeit ist das, hat sie ge­sagt, wie wir weg­ge­gan­gen sind vom Stan­des­amt.«

»Soll ihr Geld spa­ren. So ’ne Fest­fres­se­rei, wo alle nur dre­cki­ge Wit­ze rei­ßen, ist mir gräss­lich.«

»Na­tür­lich«, sagt Lämm­chen. »Mut­ter hät­te es nur Spaß ge­macht.«

»Ha­ben nicht ge­hei­ra­tet, da­mit Mut­ter Spaß hat«, sagt er kurz an­ge­bun­den.

Pau­se.

»Du«, fängt Lämm­chen wie­der an, »ich bin so schreck­lich ge­spannt auf die Woh­nung.«

»Na ja, hof­fent­lich ge­fällt sie dir. Viel Aus­wahl ist nicht in Du­che­row.«

»Also, Han­nes, be­schreib sie mir noch mal.«

»Schön«, sagt er und er­zählt, was er schon öf­ter er­zählt hat. »Dass sie ganz drau­ßen liegt, hab ich schon ge­sagt. Ganz im Grü­nen.«

»Das fin­de ich ge­ra­de so fein.«

»Aber es ist ein rich­ti­ger Miets­kas­ten. Mau­rer­meis­ter Mo­thes hat ihn da drau­ßen hin­ge­setzt, hat ge­dacht, da kom­men noch mehr. Aber kei­ner kommt und baut da.«

»Wa­rum nicht?«

»Weiß ich nicht. Ist den Leu­ten zu ein­sam, zwan­zig Mi­nu­ten von der Stadt. Kein ge­pflas­ter­ter Weg.«

»Also die Woh­nung«, er­in­nert sie ihn.

»Ja, also, wir woh­nen ganz oben, bei der Wit­we Schar­ren­hö­fer.«

»Wie ist sie denn?«

»Gott, was soll ich sa­gen. Sie tat ja sehr fein, sie hat auch mal bes­se­re Tage ge­se­hen, aber die In­fla­ti­on … Na, sie hat mir tüch­tig was vor­ge­weint.«

»O Gott!«

»Sie wird ja nicht im­mer wei­nen. Und über­haupt, das ist aus­ge­macht, nicht wahr, wir sind schreck­lich re­ser­viert! Wir wol­len kei­nen Ver­kehr mit an­de­ren Leu­ten ha­ben. Wir sind für uns ge­nug.«

»Na­tür­lich. Aber wenn sie auf­dring­lich ist?«

»Glaub’ ich nicht. Ist ’ne rich­ti­ge fei­ne alte Dame mit ganz wei­ßen Haa­ren. Und sie hat schreck­li­che Angst um ihre Sa­chen, es sind doch noch die gu­ten Sa­chen von ih­rer Mut­ter se­lig, und wir sol­len uns im­mer lang­sam auf das Sofa set­zen, weil das noch die gute alte Fe­de­rung hat, die ver­trägt kei­ne plötz­li­che Be­las­tung.«

»Wenn ich da man nur im­mer dran den­ke«, sagt Lämm­chen be­denk­lich. »Wenn ich mich freue oder wenn ich schreck­lich trau­rig bin und rasch mal heu­len möch­te, und ich setz mich hin, dann kann ich doch nicht an die gute alte Fe­de­rung den­ken.«

»Musst du«, sagt Pin­ne­berg streng. »Musst du eben. Und die Uhr un­ter dem Glas­sturz auf dem Ver­ti­ko, die sollst du nicht auf­zie­hen und ich auch nicht, das kann nur sie al­lein.«

»Soll sie sich ihre olle ek­li­ge Uhr raus­ho­len. Ich will in mei­ner Woh­nung kei­ne Uhr, die ich nicht auf­zie­hen darf.«

»Es wird schon al­les nicht so schlimm wer­den. Schließ­lich sa­gen wir, das Schla­gen stört uns.«

»Aber gleich heu­te Abend! Ich weiß ja nicht, solch vor­neh­me Uhren, viel­leicht müs­sen die nachts auf­ge­zo­gen wer­den. – Also, sag end­lich, wie ist es: Man kommt die Trep­pe rauf und da ist die Fl­ur­tür. Und dann …«

»Dann kommt der Vor­platz, den ha­ben wir ge­mein­sam. Und links gleich die ers­te Tür, das ist un­se­re Kü­che. Das heißt, ’ne ganz rich­ti­ge Kü­che ist es nicht, frü­her ist es wohl nur so ’ne Dach­kam­mer ge­we­sen un­ter dem schrä­gen Dach, aber ein Gas­ko­cher ist da …«

»Mit zwei Flam­men«, er­gänzt Lämm­chen trau­rig. »Wie ich das ma­chen soll, das ist mir noch schlei­er­haft. Auf zwei Flam­men kann doch kein Mensch Es­sen ko­chen. Mut­ter hat vier Flam­men.«

»Aber na­tür­lich geht es mit zwei­en.«

»Nun pass doch mal auf, Jun­ge!«

»Wir wol­len ganz ein­fach es­sen, da rei­chen zwei Flam­men voll­kom­men.«

»Wol­len wir auch. Aber ’ne Sup­pe willst du doch ha­ben: ers­ter Topf. Und dann Fleisch: zwei­ter Topf. Und Ge­mü­se: drit­ter Topf. Und Kar­tof­feln: vier­ter Topf. Wenn ich dann zwei Töp­fe auf den bei­den Flam­men warm habe, sind un­ter­des die bei­den an­de­ren kalt ge­wor­den. Bit­te!«

»Ja«, sagt er ge­dan­ken­voll. »Ich weiß doch auch nicht …«

Und plötz­lich, ganz er­schro­cken: »Aber dann brauchst du ja vier Kochtöp­fe!«

»Brauch ich auch«, sagt sie stolz. »Da­mit komm ich noch nicht ein­mal aus. Ei­nen Schmor­topf muss ich auch ha­ben.«

»O Gott, und ich hab nur einen ge­kauft!«

Lämm­chen ist un­er­bitt­lich: »Dann müs­sen wir eben noch vier dazu kau­fen.«

»Aber das geht doch nicht vom Ge­halt, das geht doch schon wie­der vom Er­spar­ten!«

»Das hilft aber nichts, Jun­ge, sei schon ver­nünf­tig. Was sein muss, muss doch sein, wir brau­chen doch die Töp­fe.«

»Das hab ich mir ganz an­ders ge­dacht«, sagt er trau­rig. »Ich den­ke, wir kom­men vor­wärts und spa­ren, und nun fan­gen wir gleich mit Geld­aus­ga­ben an.«

»Aber wenn es sein muss!«

»Der Schmor­topf ist ganz über­flüs­sig«, sagt er er­regt. »Ich ess nie Ge­schmor­tes. Nie! Nie! We­gen so ein biss­chen Schmor­bra­ten einen gan­zen Topf kau­fen! Nie!«

»Und Rou­la­den?« fragt Lämm­chen. »Und Bra­ten?«

»Also, die Was­ser­lei­tung ist auch nicht in der Kü­che«, sagt er ver­zwei­felt. »We­gen Was­ser musst du im­mer in die Kü­che von Frau Schar­ren­hö­fer ge­hen.«

»O Gott!« sagt sie wie­der ein­mal.

Von wei­tem sieht eine Ehe au­ßer­or­dent­lich ein­fach aus: Zwei hei­ra­ten, be­kom­men Kin­der. Das lebt zu­sam­men, ist mög­lichst nett zu­ein­an­der und sucht vor­wärts­zu­kom­men. Ka­me­rad­schaft, Lie­be, Freund­lich­keit, Es­sen, Trin­ken, Schla­fen, das Ge­schäft, der Haus­halt, sonn­tags ein Aus­flug, abends mal Kino! Fer­tig.

Aber in der Nähe löst sich die gan­ze Ge­schich­te in tau­send Ein­zel­pro­ble­me auf. Die Ehe, die tritt ge­wis­ser­ma­ßen in den Hin­ter­grund, die ver­steht sich von selbst, ist die Voraus­set­zung, aber bei­spiels­wei­se: Wie wird das nun mit dem Schmor­topf? Und soll er gleich heu­te Abend noch Frau Schar­ren­hö­fer sa­gen, dass sie die Uhr aus dem Zim­mer nimmt? Das ist es.

Dun­kel füh­len es die bei­den. Aber das sind noch kei­ne drin­gen­den Pro­ble­me, je­der Schmor­topf wird über der Fest­stel­lung ver­ges­sen, dass sie jetzt al­lein im Ab­teil sind. Der Gräm­li­che ist ir­gend­wo aus­ge­stie­gen. Sie ha­ben es gar nicht ge­merkt. Schmor­topf und Stutz­uhr blei­ben hin­ten, sie neh­men sich in die Arme, der Zug rat­tert. Ab und an ho­len sie ein­mal Atem, und dann küs­sen sie sich wie­der, bis der lang­sa­mer fah­ren­de Zug ver­rät: Du­che­row.

»O Gott, schon!« sa­gen bei­de.

5. Pinneberg wird mystisch, und Lämmchen bekommt Rätsel zu raten

Ich hab ein Auto be­stellt«, sagt Pin­ne­berg has­tig, »der Weg zu uns raus wäre doch zu viel ge­wor­den für dich.«

»Aber wie­so denn? Wo wir spa­ren wol­len! In Platz sind wir doch erst vo­ri­gen Sonn­tag zwei Stun­den ge­lau­fen!«

»Aber dei­ne Sa­chen …«

»Die hät­te uns auch ein Dienst­mann brin­gen kön­nen. Oder je­mand aus dei­nem Ge­schäft. Ihr habt doch Ar­bei­ter …«

»Nein, nein, das mag ich nicht, das sieht dann so aus …«

»Na schön«, sagt Lämm­chen er­ge­ben, »wie du meinst.«

»Und noch eins«, sagt er ei­lig, wäh­rend schon die Brem­sen an­ge­zo­gen wer­den. »Wir wol­len nicht so ver­hei­ra­tet tun. Wir wol­len so tun, wie wenn wir uns nur ganz flüch­tig ken­nen.«

»Aber warum denn?« fragt Lämm­chen er­staunt. »Wir sind doch ganz rich­tig ver­hei­ra­tet!«

»Weißt du«, er­klärt er ver­le­gen, »es ist we­gen der Leu­te. Wir ha­ben doch kei­ne Kar­ten ver­schickt, über­haupt nichts an­ge­zeigt. Und wenn sie uns nun so se­hen, sie könn­ten doch be­lei­digt sein, nicht wahr?«

»Das ver­steh ich nicht«, sagt Lämm­chen ver­blüfft. »Das musst du mir noch mal er­klä­ren. Wie­so kön­nen die Leu­te be­lei­digt sein, wenn wir ver­hei­ra­tet sind?«

»Ja, ich er­zähl dir das al­les noch. Aber jetzt nicht. Jetzt müs­sen wir … Nimmst du dei­nen Stadt­kof­fer? Also bit­te, tu so ein biss­chen fremd.«

Lämm­chen sagt nichts mehr, son­dern sieht ih­ren Jun­gen nur zwei­fel­haft von der Sei­te an. Der ent­wi­ckelt eine vollen­de­te Höf­lich­keit, hilft sei­ner Dame aus dem Wa­gen, sagt ver­le­gen lä­chelnd: »Also dies ist der Haupt­bahn­hof Du­che­row. Wir ha­ben näm­lich auch noch die Klein­bahn nach Max­fel­de. Bit­te, hier.« Und er geht vor­an, die Trep­pe vom Bahn­steig hin­un­ter, wirk­lich ein biss­chen zu rasch für einen so be­sorg­ten Ehe­mann, der so­gar ein Auto be­stellt hat, da­mit sei­ner Frau das Ge­hen nicht zu viel wird, im­mer zwei, drei Schrit­te vor­weg. Und dann durch einen Sei­ten­aus­gang. Da hält das Auto, ein ge­schlos­se­ner Wa­gen.

Der Chauf­feur sagt: »Gu­ten Tag, Herr Pin­ne­berg. Gu­ten Tag, Fräu­lein.«

Pin­ne­berg mur­melt has­tig: »Ei­nen Au­gen­blick, bit­te. Vi­el­leicht schon ein­stei­gen …? Ich be­sor­ge un­ter­des das Ge­päck.« Und ist fort.

Lämm­chen steht da und sieht den Bahn­hofs­platz an, mit sei­nen klei­nen zwei­stö­cki­gen Häu­sern. Gera­de ge­gen­über ist das Bahn­hofs­ho­tel.

»Liegt hier auch das Ge­schäft von Klein­holz?« fragt sie den Chauf­feur.

»Wo Herr Pin­ne­berg ar­bei­tet? Nee, Fräu­lein, da fah­ren wir nach­her vor­bei. Gera­de am Markt­platz, ne­ben dem Rat­haus.«

»Hö­ren Sie«, sagt Lämm­chen. »Kön­nen wir das Ver­deck nicht auf­ma­chen vom Wa­gen? Es ist doch heu­te ein so schö­ner Tag.«

»Tut mir leid, Fräu­lein«, sagt der Chauf­feur. »Herr Pin­ne­berg hat aus­drück­lich ge­schlos­sen be­stellt. Sonst hab ich das Ver­deck doch auch nicht oben, die­se Tage.«

»Na schön«, sagt Lämm­chen. »Wenn es Herr Pin­ne­berg so be­stellt hat.« Und steigt ein.

Sie sieht ihn kom­men, hin­ter dem Ge­päck­trä­ger, der Kof­fer, Bett­sack und Kis­te auf ei­ner Kar­re her­an­schiebt. Und weil sie ih­ren Mann seit fünf Mi­nu­ten mit ganz an­de­ren Au­gen an­sieht, fällt ihr auf, dass er die rech­te Hand in der Ho­sen­ta­sche hat. Das ist sonst sei­ne Art nicht, so was macht er sonst gar nicht. Aber jetzt hat er je­den­falls die rech­te Hand in der Ho­sen­ta­sche.

Dann fah­ren sie los.

»So«, sagt er und lacht ein we­nig ver­le­gen. »Nun be­kommst du ganz Du­che­row im Flu­ge zu se­hen. Ganz Du­che­row ist ei­gent­lich eine lan­ge Stra­ße.«

»Ja«, sagt sie, »du woll­test mir auch noch er­klä­ren, warum die Leu­te be­lei­digt sein könn­ten.«

»Nach­her«, sagt er. »Es re­det sich wirk­lich schlecht jetzt. Das Pflas­ter ist mi­se­ra­bel bei uns.«

»Also nach­her«, sagt sie und schweigt auch. Aber wie­der fällt ihr et­was auf: Er hat den Kopf ganz in die Ecke ge­drückt, wenn je­mand ins Auto sieht, kann er ihn si­cher nicht er­ken­nen.

»Da ist dein Ge­schäft«, sagt sie. »Emil Klein­holz. Ge­trei­de, Fut­ter- und Dün­ge­mit­tel. Kar­tof­feln en gros und en détail. – Da kann ich ja mei­ne Kar­tof­feln bei dir kau­fen.«

»Nein, nein«, sagt er has­tig. »Das ist ein al­tes Schild. Wir ha­ben Kar­tof­feln nicht mehr im De­tail.«

»Scha­de«, sagt sie. »Ich hät­te mir das so hübsch ge­dacht, wenn ich zu dir ins Ge­schäft ge­kom­men wäre und hät­te von dir zehn Pfund Kar­tof­feln ge­kauft. Ich hät­te auch gar nicht ver­hei­ra­tet ge­tan, du.«

»Ja, scha­de«, sagt auch er. »Es wäre wun­der­hübsch ge­we­sen.«

Sie tippt mit der Fuß­spit­ze sehr ener­gisch auf den Bo­den und tut einen em­pör­ten Schnau­fer, aber sie sagt nichts wei­ter. – Ge­dan­ken­voll fragt sie spä­ter: »Ha­ben wir hier auch Was­ser?«

»Wie­so?« fragt er vor­sich­tig.

»Nun, zum Ba­den! Was heißt da wie­so?« sagt Lämm­chen un­ge­dul­dig.

»Ja, Ba­de­ge­le­gen­heit gibt es hier auch«, sagt er.

Und sie fah­ren wei­ter. Aus der Haupt­stra­ße müs­sen sie her­aus sein. Feld­stra­ße liest Lämm­chen. Ein­zel­ne Häu­ser, alle in Gär­ten.

»Du, hier ist es hübsch«, sagt sie er­freut. »Die vie­len Som­mer­blu­men!«

Das Auto macht förm­lich Sprün­ge.

»Jetzt sind wir im Grü­nen Ende«, sagt er.

»Im Grü­nen Ende?«

»Ja, un­se­re Stra­ße heißt das Grü­ne Ende.«

»Das ist eine Stra­ße?! Ich dach­te schon, der Mann hat sich ver­fah­ren.«

Links ist eine sta­chel­draht­be­wehr­te Kop­pel, be­setzt mit ein paar Kü­hen und ei­nem Pferd. Rechts ist ein Klee­schlag, der Rot­klee blüht ge­ra­de.

»Mach doch jetzt das Fens­ter auf!« bit­tet sie.

»Wir sind schon da.«

Wo die Kop­pel zu Ende ist, hört auch das fla­che Land wie­der auf. Hier­hin hat die Stadt ihr letz­tes Denk­mal ge­pflanzt – und was für ei­nes! Schmal und hoch steht der Spe­ku­la­ti­ons­kas­ten des Mau­rer­meis­ters Mo­thes im Fla­chen, braun und gelb ver­putzt, aber nur von vorn, die Sei­ten­mau­ern sind un­ver­putzt und war­ten auf An­schluss.

»Schön ist es nicht.« Lämm­chen sieht an ihm hoch.

»Aber drin­nen ist es wirk­lich nett«, er­mu­tigt er sie.