Klinik des Grauens - O. F. Schwarz - E-Book

Klinik des Grauens E-Book

O. F. Schwarz

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Beschreibung

Gier ist nur gar zu oft die Mutter der Skrupellosigkeit. Und von Fall zu Fall ist es in solchen Menschen drinnen, dass sie nicht anders können, als ihren verbrecherischen Charakterzug auszuleben. Sogar dann, wenn es darum geht, Menschen zu ermorden! Und besonders verwerflich wird es, wenn der Täter noch dazu ein Chirurg ist, der durch das mörderische Besorgen von Organen zum Millionär wird. Aber, wie das Leben glücklicherweise manches Mal spielt, bricht diese mit teuflischer Präzision aufgebaute Organisation durch einen kleinen Zufall sowie durch darauffolgende, perfekt aufgezogene Privat-Ermittlungen zusammen wie ein Kartenhaus.Und die harten aber gerechten Urteile über alle Beteiligten werden gesprochen.

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Seitenzahl: 647

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

** 1 **

Berlin

Der Winter hat sich überraschend zurückgemeldet: Es ist Mitte März, ein eisiger Wind fegt durch Berlins Straßen und wirbelt vereinzelte Schneeflocken vor sich her. Es ist Montag, Punkt 11 Uhr vormittags. Ein Taxi fährt langsam die Auffahrt des Hotels International hoch und hält vor dem Eingang. Der Portier springt hinzu und öffnet die rechte hintere Wagentüre. Der Fahrgast begleicht gerade den Fuhrlohn, dann windet er sich aus dem Wagen: Es handelt sich um einen ca. einsneunzig großen, schwergewichtigen, vierschrötigen Typ mit extremem Kurzhaarschnitt. Seine gesamte Erscheinung steht im krassen Gegensatz zu der eleganten Livree des Portiers und überhaupt zu diesem Fünf-Sterne-Haus.

Der Mann steigt, während er seinen dunkelgrauen Mohair-Mantel fest an seinen Körper drückt, die Stufen zur Dreh-Türe hinauf, betritt die Lobby und wendet sich gleich nach links. Nach wenigen Metern kommt er in die Lobby-Bar und bleibt wartend stehen. Sogleich eilt ein Ober hinzu, nimmt ihm den Mantel ab und führt den Gast an einen hinter einer Säule nahe den großen Fenstern platzierten Tisch mit zwei Fauteuils.

„Was darf ich Ihnen bringen, mein Herr?“

„Können Sie mirr ein Stück Kuchen brringen?“ fragt, noch am Tisch stehend, der Gast mit starkem, slawischem Akzent.

„Ich kann Ihnen einen ausgezeichneten Wiener Apfelstrudel anbieten!“ offeriert der Ober.

„Dann wirrd das auch gut sein, oderr? Und dazu nehme ich einen Tee, aberr nurr schwarrzen Tee mit ein wenig Sahne, ja?“

„Kommt sofort, mein Herr!“ bestätigt der Ober und entfernt sich, um den Mantel zur Garderobe zu bringen und die Bestellung an der Bar aufzugeben.

Der Gast hat nun Platz genommen, lehnt sich zurück und streckt die Beine aus. Sehr elegant wirkt das nicht gerade, auch Statur und übriges Aussehen lassen bei ihm nicht unbedingt eine Knigge-Schulung erwarten!

Bei dem Mann handelt es sich um Dieter Jovenborg, einen Ost-Handels-Kaufmann aus Wien. Er starrt durch die sündteuren, gestickten Stores hinaus auf die Straße, während man seinen schweren Atem hören kann. Seine kurzen Arme mit den dick mit Fett gepolsterten Handrücken hat er auf seine Oberschenkel gelegt. In einemfort ballen sich diese Hände zur Faust, dann wieder öffnen sie sich, pausenlos!

Der Ober tritt an den Tisch, stellt Apfelstrudel, Tasse, Teekanne und das Kännchen mit Sahne ab und wünscht guten Appetit. Jovenborg kostet die Mehlspeise, nickt anerkennend dazu und lässt seinen Tee ziehen. In diesem Moment tritt ein hochgewachsener älterer Herr an seinen Tisch und grüßt mit wohltönender Bass-Stimme:

„Guten Tag, Herr Jovenborg!“

Der Mann ist vielleicht einen Meter und achzig groß, hat silbrig glänzendes, wellig-volles und zurückgekämmtes Haar. Sein Gesicht ist braun gebrannt, unter einer hohen Stirn und silbrigen Augenbrauen blitzt ein smaragdgrünes Augenpaar. Eine stark gebogene Adlernase über einem silbrigen Menjou-Bärtchen und volllippigem Mund vollenden seine seriöse Erscheinung.

Unter seinem elegant geschnittenen, weinroten Kamelhaarmantel mit taubenblauem Mohair-Schal trägt er einen grauen Eszterházy-Doppelreiher. Dazu ein dunkelblaues Hemd mit weißem, hohem Kragen, und eine blau-silber gemusterte Fliege. Seine Gesamterscheinung löst alles noch eventuell vorhandene Misstrauen einer neuen Bekanntschaft augenblicklich in Nichts auf: Seine aufrechte Haltung, gepaart mit seiner samtweichen, dunklen Stimme geben jedem Gesprächspartner das Gefühl, hier mit einem absolut seriösen Menschen zu verhandeln!

Jovenborg wuchtet sich aus seinem Sessel hoch und reicht dem Ankömmling seine Hand hin.

„Ja, Jovenborrg, Dieterr Jovenborrg!“ bestätigt er grüßend „Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Prrofessorr!“

Professor Samuel Mandel, und um den handelt es sich, nimmt seinen Mantel ab und händigt ihn dem inzwischen herbeigeeilten Ober aus. Er bestellt einen Cappuccino und nimmt Platz. Einige Sekunden sagt keiner der beiden Männer etwas, man schätzt sich kurz ab und dann beginnt Mandel:

„Vorerst, Herr Jovenborg, darf ich mich detaillierter vorstellen: Mein Name ist Professor Samuel Mandel, wie ich mich bereits telefonisch gemeldet hatte! Zurzeit erarbeite ich als Konsulent für einen internationalen Konzern gewinnbringende Konzepte bezüglich neuer Verarbeitungs-Technologien! Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für dieses Treffen! Sie wurden mir von einem befreundeten Arzt als vertrauenswürdig und verlässlich empfohlen!“

Jovenborg bestätigt mit einem leichten Nicken und mit einem kurzen Schließen seiner Lider sein Gegenüber. Er kann sich nicht vorstellen, welcher Arzt ihn denn an diesen Professor vermittelt haben sollte! Mandel möchte fortfahren, wartet jedoch kurz ab, da der Ober eben sein Getränk bringt. Nachdem es abgestellt ist und der Ober sich wieder zurückgezogen hat, fährt Mandel fort:

„Eine jahrzehntelange, geschäftliche Verbindung aus den USA hat mich um Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Organhandels gebeten. Sind Sie über dieses Geschäft informiert?“

Jovenborg zieht die Augenbrauen hoch, ruckt seinen Kopf zurück und meint:

„Davon weiß ich eigentlich nichts, sehrr verrehrterr Prrofessorr! Aberr Sie werrden mirr sicherrlich einiges darrüberr bekanntgeben wollen?“

Mandel nickt sofort, er hat mit dieser Antwort gerechnet! Einige Sekunden denkt er nach, dann fährt er fort:

„Hunderttausende Organe werden jährlich weltweit gebraucht. Aber nur ein Bruchteil davon kann auf offiziellem Wege auch bereitgestellt werden! Wie Sie sich denken können, lieber Jovenborg, bestimmen eben Nachfrage und Angebot die Preise! Und so kommt es, dass auf dem Schwarzmarkt im Notfall - und wir behandeln ausschließlich Notfälle - z.B. für ein Spenderherz bis zu 500.000 Euro geboten werden, für eine Niere bis zu 250.000 Euro!“

Mandel hält inne, um die Reaktion seines Gegenübers abzuwarten. Dieser allerdings bleibt ungerührt, isst langsam und genüsslich seinen Apfelstrudel und trinkt dazu schluckweise seinen Tee. Mandel kann ihn so aber nicht einordnen: Was ist das für ein Mensch? Ist er entweder zu weit davon entfernt, dass er sich hier überhaupt ein Geschäft ausrechnen kann? Oder spielt er den Eiskalten, den nichts, auch keine noch so große Summe, beeindrucken kann? Er wartet noch einige Sekunden, bis er fortfährt:

„Nun denken meine Partner und ich, dass wir bei genügend von Ihnen bereitgestelltem Spendermaterial wöchentlich genügend Organtransplantationen durchführen könnten! Weiters haben wir jede Menge Anfragen aus Europa und Übersee auf transplantierbare Organe! Dies würde einen monatlichen Umsatz von bis zu fünfzehn Millionen Euro ausmachen!“ Mandel senkt nun seine Stimme und setzt hinzu: „Und von diesen Summen, mein lieber Herr Jovenborg, erhalten Sie 20%!“

Jetzt kann Mandel erstmals eine Reaktion, wenn auch nur eine unmerkliche, bei Jovenborg erkennen: Auch wenn dieser meint, sich unauffällig zu geben, kann Mandel am Gehaben seines Gesprächspartners sehen, dass ihm diese Angelegenheit nicht mehr egal sein dürfte: Erst einmal stellt er den Teller mit dem noch nicht fertig gegessenen Apfelstrudel zurück auf den Tisch. Zweitens trinkt er von seiner Tasse, ohne sich vorher den Mund abgewischt zu haben! Drittens lehnt er sich zurück, obwohl man sich in solchen Situationen meist interessiert vorbeugt!

Mandel spricht nicht weiter. Er wird vorerst einmal abwarten, wie sich Jovenborg zu dem Thema stellt. Aber er weiß schon jetzt, dass dieser von dem Thema Organhandel nicht mehr wird abrücken können! Jovenborg fährt - eine typische Verlegenheitsgeste - einige Male mit dem linken Zeigefinger unter seiner Nase hin und her, bevor er mit belegter Stimme meint:

„Herr Prrofessorr Mandel! Das rriecht nach Geschäft! Nurr noch eine Frrage habe ich dazu: Welche Aufgabe hat die Firrma Jovenborrg bei diesem Orrganhandels-Prrojekt?“

„Ganz einfach!“ erwidert Mandel „Sie besorgen die Organe, bringen diese an die vereinbarte Adresse und erhalten dafür Ihre Provision auf ein Schweizer Konto, lautend auf den Namen, den Sie mir nennen werden! Aber hier und sofort darf ich Ihnen garantieren, dass Sie gewaltigen Gewinn machen werden! Unser sicherlich leicht zu erfüllender Plan beinhält pro Woche die Anlieferung von 21 Organen aus drei Spendern, das wären rund gerechnet 2,5 Millionen Euro pro Monat für Sie bzw. für Ihr Unternehmen!“

Jovenborg muss kurz schlucken: Hier könnte sich der sehnlichst erwartete finanzielle Befreiungsschlag anbahnen! Die fetten Export-Zeiten für sein Unternehmen sind längst vorüber und seit Monaten schon kämpft er mit nagenden Finanz-Problemen! Noch ist er nicht in der Bredouille, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis seine Bank sich mahnend melden wird!

„Ok, Prrofessorr!“ meint er nun formlos „Ich darrf mirr die Sache einige Tage durrch den Kopf gehen lassen? Schließlich ist so etwas ja ohne entsprrechendes Hilfsperrsonal und ohne exzellent ausgefeilte Logistik sicherrlich nicht zu bewerrkstelligen, was meinen Sie?“

Mandel nickt beifällig und antwortet:

„Das geht natürlich in Ordnung, Jovenborg! Ich hoffe, Sie können mir bis spätestens Mittwoch nächster Woche Bescheid geben?“

„Nun,“ meint Jovenborg „ich denke, dass es am besten wärre, die nächste Besprrechung in meinem Wienerr Bürro abzuhalten! Ich schlage vorr, dieses Trreffen schon fürr diese Woche…Frreitag anzusetzen. Vielleicht um…14 Uhrr? Dann ist mein Perrsonal berreits im Wochenende. Bis Frreitag werde ich einige Erkundigungen vornehmen und und wirr könnten dann alles Weiterre ungestörrt und im Detail durrchsprrechen! Passt Ihnen das so?“

Etwas überrascht nickt Professor Mandel:

„Fein, ok! Freitag dieser Woche, 14 Uhr! Sollten Sie noch Fragen zu diesem Projekt haben, Sie wissen, wie Sie mich erreichen können?“

Die beiden Männer erheben und verabschieden sich. Nachdem Jovenborg seine Einladung für die Getränke ausgesprochen und Mandel sich bedankt hat, begibt sich dieser zur Garderobe. Jovenborg bleibt noch einige Minuten am Fenster stehen, sieht in den immer stärker werdenden Schneesturm hinaus und lässt seinen Gedanken nun freien Lauf:

Erstens: Er benötigt Spender für die Organe. Darüber weiß er nur so viel, dass es immer wieder in Not geratene, verzweifelte Menschen gibt, die ihre Organe zum Kauf anbieten. Dafür braucht es einen Fachmann, denn: Wie kommt man überhaupt zu solchen Spendern?

Zweitens: Die Spender…plötzlich hält Jovenborg inne: Hat Professor Mandel nicht eben auch Herzen als Spenderorgane genannt? Aber…wenn man ein Herz einpflanzt, dann …muss man es ja vorher jemandem wegnehmen, oder? Und wie viele Unfallopfer, die keine Chance auf ein Überleben haben, gibt es denn auf der Welt? Und wie vielen davon werden ihre Organe sowieso entnommen und diese Organe in einer internationalen Datenbank vermerkt? Also, mit diesen kann man nicht rechnen! Jovenborg rinnt es ein wenig kalt über den Rücken: Das hieße, dass es sich um…unfreiwillige Spender handeln müsste? Die wären nach der Operation doch tot! Und dann muss man sie doch irgendwie…also auf irgendeine Art und Weise…entsorgen? Jovenborg hat die Vision der schrecklichen Komplexität dieses Projektes immer klarer vor Augen!

Drittens: Er benötigt einen verlässlichen Chirurgen, der a) skrupellos und für illegales Arbeiten zugänglich ist und der b) die bestellten Organe fachmännisch aus den Spendern herausoperieren wird!

Nun hieße das Viertens, dass er jemanden Eingeweihten, der diese Leichen dann entsorgt, verpflichten wird müssen!

Er will nun nicht mehr weitergrübeln, ruft den Ober, begleicht die Rechnung und lässt sich ein Taxi zum Hotel rufen. Aber egal, wohin er auch während der Fahrt blickt, die schönen Bauwerke, die in ihrer Mittagspause hastenden Menschen oder wie der wirbelnde Schnee langsam und stetig Gebäude, Autos und Straßen mit einer feinen Schicht bedeckt, dies alles sieht er eigentlich nicht wirklich: Die von Professor Mandel genannten Summen, die große Verantwortung, die ihn erwartet, darüber nachzudenken kann er einfach nicht abstellen!

Am nächsten Tag, Dienstag, trifft Jovenborg gegen Zehn Uhr in seinem Büro in der Wiener Innenstadt ein. Lena, seine Sekretärin, stellt ihm wie gewohnt seinen Espresso auf den Schreibtisch und legt die Post von heute vor ihn hin. Jovenborg bedankt sich kurz und Lena verlässt wieder das Büro ihres Chefs.

** 2 **

Wien.

Ein exquisit eingerichtetes Büro in der 5. Etage eines Nachkriegsbaues in der Wiener Innenstadt, nahe dem berühmten Wiener Stephansplatz. Dieses besteht aus drei Räumen mit jeweils 36 m2, als Büros genutzt, zwei kleineren, ca. 15 m2 großen, als Abstellräume verwendete Zimmer und einer viel zu großen Küche mit separatem Eingang zum WC. Im Chef-Büro, welches nach dem Graben ausgerichtet ist, kann man den Sitz eines höchst erfolgreichen Unternehmens erkennen: Schwere Teppiche, teure Designer-möbel, exklusive Lüster sowie elegante Vorhänge mit geschmackvollem Dekor ergeben eine angenehme Atmosphäre.

Das einzig nicht Angenehme in diesem Raum aber ist die Person, welche in einem mächtigen, mit dunkel-beigem Leder überzogenen Chefsessel hinter dem Schreibtisch aus Jacaranda-Holz sitzt: Dieter Jovenborg, der in dieses elegante Ambiente passt wie ein Presslufthammer in einen Kristallglas-Laden!

Sein fast viereckiger Kopf ist geneigt, er studiert den Inhalt einer vor ihm auf der Tischplatte liegenden Aktenmappe, während man seinen schweren Atem hören kann. Seine kurzen Arme mit den dick gepolsterten Händen liegen, während er den Text liest, links und rechts der Mappe auf dem Tisch. In einemfort ballen sich diese Hände zur Faust, dann wieder öffnen sie sich, pausenlos. So, als wären sie eine externe Herz-Lungen-Maschine. Plötzlich lehnt er sich zurück, legt seinen Kopf in den Nacken und starrt ins Leere. Alles an ihm ist zu wuchtig, zu derb: Wangen, Nase und Mund wirken wie zusammengedrückt, die engstehenden schwarzen Schweinsaugen vervollständigen diesen Eindruck noch.

Jovenborg hat mit Professor Mandel einen Gesprächstermin vereinbart und wartet nun auf dessen Eintreffen. Auf dem A4-Notizblock neben der Aktenmappe auf dem Schreibtisch hat er nach alter Gewohnheit alle ihm wichtig erscheinenden Fragen, die er mit dem Professor klären möchte, notiert. So wie es die Vorbereitung auf eine effizient zu führende Besprechung eben verlangt. Gerade überfliegt er noch einmal prüfend seine Aufstellung, da hört er den Türsummer und gleich darauf meldet ihm Lena des Professors Ankunft. Jovenborg bittet sie, ihn einzulassen und trägt ihr auf, ihn gleich nach seinem Wunsch für ein Getränk zu fragen.

Kurz darauf betritt der Gast das Büro, man begrüßt sich kurz und Jovenborg nimmt den Professor jovial unter dessen Arm, was Professor Mandel mit innerlicher Genugtuung registriert: Aha, zeigten die genannten Summen also doch schon Wirkung? Jovenborg geleitet Mandel zu dem kleinen Besprechungstisch neben dem großen Fenster. Hier bittet er ihn, in einem der bequemen Fauteuils Platz zu nehmen und holt noch seinen Notizblock vom Schreibtisch herüber. Dann nimmt auch er selbst Platz und man beginnt den unverfänglichen Small Talk, zumindest so lange, bis Lena die beiden bestellten Espressi abliefert. Jovenborg erlaubt Lena nun, ins Wochenende zu gehen zu dürfen. Nachdem die Sekretärin das Büro verlassen hat, richtet Jovenborg sich auf und blickt noch einmal kurz auf seine Notizen:

„Herr Prrofessorr,“ beginnt er und spricht mit nicht allzu lauter Stimme „wirr beide - und auch Ihrre Parrtnerr - wissen, dass die Beschaffung von implantations-fähigen Orrganen höchst schwierrig zu bewerrkstelligen ist, liege ich rrichtig mit meinerr Annahme?“

Professor Mandel hat seinen Blick gerade auf Jovenborg gerichtet und nickt nun wortlos.

„Nach meinen Rrecherrchen“ fährt Jovenborg fort „müssen explantierrte lebende Orrgane innerrhalb höchstens 4-6 Stunden nach derr Explantation in den Empfängerrkörperr implantierrt werrden. Ebenfalls rrichtig?“

Wieder nickt Mandel.

„Ich bin nicht sicherr, ob ich solche Implantationen durrch eigens dafürr ausgebildete Ärrzte orrganisierren kann. Wenn wirr z.B. eine Nierre explantierrt haben, wohin soll diese denn innerrhalb dieserr doch rrelativ kurrzen Zeit gebrracht werden? Diesbezüglich habe ich noch überrhaupt keine Idee, das muss ich fairrerrweise gleich festhalten!“

Mandel lächelt leicht, rückt nun etwas in seinem Fauteuil vor und nimmt einen kleinen Schluck von seinem Kaffee. Dann stellt er die Tasse vorsichtig ab und bleibt in seiner vorgebeugten Haltung:

„Ich meine, Herr Jovenborg, dass wir uns langes Hin und Her ersparen können, wenn ich Ihnen gleich sowohl Grundidee als auch die geplante Abwicklung darlege, sind Sie einverstanden?“

Jovenborg nickt zustimmend, lehnt sich zurück und harrt Mandels Ausführungen:

„Wenn Sie mit Ihren Leuten die Spender, deren Organe sowie die rückstandslose Entsorgung dieser Spender organisieren können, dann, Herr Jovenborg, sollen Sie sich keine allzu großen Sorgen machen: Unsere Schweizer Organisation wird sich sowohl um den Abtransport der Organe ab einem Ihnen noch bekanntzugebenden Übergabeort, als auch um die Empfänger und die Implantationen der Organe kümmern! Natürlich obliegt das gesamte Projekt höchster Geheimhaltung, dies ist Ihnen ja klar? Nur ein Minimum an teilnehmenden Menschen darf über diese Operationen Bescheid wissen! Denken Sie, dass Sie das schaffen werden?“

Jovenborg denkt einige Sekunden nach, nickt bedächtig mit seinem mächtigen Kopf und meint:

„Herr Prrofessorr, ich denke, dass ich das alles so hinkrriegen kann, wie gewünscht! Derr Mann, den ich in das komplette Prrojekt einweihen muss, derr jedoch überr unwahrrscheinliche Verrbindungen verrfügt, ist absolut integerr! Also,“ und jetzt beugt er sich vor, nimmt seinen Kugelschreiber zur Hand und fährt fort, während er dazu auf seinem Notizblock skzziert: „die Beschaffung von Spenderrn, die chirrurrgischen Entferrnungen derr Orrgane, sprrich die Explantationen, sowie die rrückstandsfrreie Entsorrgung derr Spenderr-Körrperr, also fürr diese Aufgaben sehe ich keine allzu grroßen Schwierrigkeiten. Aberr wenn z.B. nurr ein einzigerr Wagen, derr die Orrgane abholen soll, aus Gott weiß welchen Grründen aufgehalten wirrd und die Orrgane nicht zur rrechten Zeit überrnommen werrden können, dann wirrd derr Verrlust enorrm sein, oderr?“

Wieder lächelt Mandel, nickt verstehend und möchte Stellung dazu nehmen, aber Jovenborg fährt fort:

„Ich habe mich natürrlich ein bißchen eingelesen in das Trransplantations-Thema, Herr Prrofessorr und zwei fürr mich nicht unwichtige Frragen sind nicht gelöst: Errstens kann nicht jedes Orrgan in jeden Körper trransplantierrt werrden, oderr? Und zweitens: Von wo denn sollen wir wöchentlich drrei Spenderr herrnehmen, ohne aufzufallen?“

Mandel nickt dazu nur kurz und entgegnet:

„Zu Ihrer ersten Frage: Natürlich muss es eine Übereinstimmung hinsichtlich gewisser Blutwerte zwischen Spender und Empfänger geben! Diese speziellen Blutwerte des Spenders zu bestimmen und mitzuliefern, wird ebenfalls Ihre Aufgabe sein! Zweitens, Herr Jovenborg: Ich werde Ihnen nun eine hundertprozentig sichere Möglichkeit der Spender-Rekrutierung erklären:“

Was der mit allen Wassern gewaschene Export-Kaufmann Dieter Jovenborg nun zu hören bekommt, kann er zuerst gar nicht glauben: Wer kommt auf solch eine Idee? Jovenborg ist schließlich vollkommen fasziniert und nun beginnt sich der bislang eher noch undurchsichtige Vorhang zwischen ihm und diesem Riesengeschäft langsam zu heben! Professor Mandel macht eine kurze Pause und fährt fort:

„Nun kommen wir noch einmal zu den zwei wichtigen Punkten: Erstens sollen die Spender aus dem Zentralen Auffanglager für Flüchtlinge in Paris rekrutiert werden, weil der für die Flüchtlingsabwicklung zuständige Mann im Innenministerium leicht zu ködern sein wird. Ohne diesen höheren Beamten wird das alles nicht so einfach ablaufen können! Die Details erfahren Sie noch rechtzeitig! Und nun sind wir am zweiten und entscheidenden Punkt des gesamten Projektes angelangt: Nämlich bei der Herrschaft über die Organe!“

Jovenborg blickt ihn verständnislos an, aber Mandel, seine Stimme auf das Minimum senkend, fährt schon fort:

„Niemand wird das glauben, Herr Jovenborg, aber wir haben mit gewaltigem finanziellem Aufwand in den USA eine Technologie entwickeln lassen, mittels derer wir unsere entnommenen Organe monatelang haltbar machen können! Die weitere Bedeutung dieser Entwicklung ist uns allen noch nicht wirklich bewusst, Jovenborg, aber wir werden sie vorerst für unseren Organhandel einsetzen!“

Er lehnt sich zurück und wartet auf Jovenborgs Reaktion. Dieser schüttelt den Kopf, zuckt mit den Achseln und zieht seine Mundwinkel nach unten:

„Sie entschuldigen, Prrofessorr, aberr das klingt doch verrückt, ja, total verrückt!“

„Richtig, Jovenborg!“ Beide Herren haben längst schon auf die formelle Anrede verzichtet „Durch diese neue Behandlungstechnologie bietet sich uns die Möglichkeit, die in unserer Klinik in der Schweiz lagernden konservierten Organe nach Bedarf auszuwählen! So dürfen wir sicher sein, immer das den geforderten Werten entsprechende Organ vorrätig zu haben! Und Sie persönlich sollen sich davon überzeugen! Sie werden, sobald Sie Ihren Arzt in Ihrem Team haben, mit ihm nach Florida fliegen! Und der Mann soll sich vor Ort selbst von dieser unglaublichen Entwicklung ein klares Bild verschaffen können!“

Noch immer blickt Jovenborg ungläubig auf den Professor! Er blickt nun einige Sekunden zu Boden, denkt nach, hebt seinen Kopf und fragt:

„Und wieviel hat diese im Grrunde fürr alle Menschen Heil brringende Errfindung gekostet?“

„Ob sie der Menschheit letztendlich auch wirklich Heil bringen wird, das bleibt abzuwarten, Jovenborg!“ antwortet Mandel nach einigem Überlegen ausweichend „Aber so weit darf ich Sie informieren, dass die Anlage, mit der Sie die Organe haltbar machen werden, einige Millionen USD kostet. 50% sind bereits bezahlt als á conto. Und wenn Sie uns nach Besichtigung und Genehmigung durch Ihren Chirurgen Ihr OK senden, überweisen wir die zweiten 50%. Drei bis vier Wochen später wird die Anlage geliefert. Nun, Jovenborg, es liegt an Ihnen, wann wir mit dem Projekt starten können!“

„Das heißt,“ meint Jovenborg nach kurzem Überlegen „dass die Anlage eigentlich in derr Klinik, wo die Explantationen stattfinden, installierrt werrden muss?“ô

„Genau!“ bestätigt ihm Mandel „Wir werden für die Einarbeitungszeit zwei Spezialisten von den Amerikanern beigestellt bekommen. Ab dem Tage, wo die Anlage in der Klinik aufgebaut und der Probelauf problemlos durchgeführt wurde, werden sämtliche Kosten für Personal, Material, Wartung, etc. bei Ihnen, bzw. bei der Klinik liegen. Natürlich werden Sie bzw. Ihre Leute dann sämtliche Details für die Haltbarmachung der Organe übermittelt bekommen!“

Jovenborg überdenkt kurz das Gespräch und meint aufgekratzt:

„Na, dann wollen wirr einmal in medias rres gehen, Mandel, nicht? Ich werrde mich arrg dahinterrklemmen und ich denke, Ihnen innerrhalb von vierr bis fünf Wochen definitiven Bescheid geben zu können, ob meine Mannschaft steht, ok?“

Beide Männer erheben sich und Jovenborg bringt den Professor noch hinaus bis zur Eingangstüre, wo er ihn noch kurz am Arm festhält und leise fragt:

„Professorr, ich habe den von Ihnen genannten Anteil in derr Höhe von 20% in meinem Gedächtnis prrotokollierrt: Es bleibt dabei?“

Beinahe ein wenig erstaunt zieht Mandel seine Augenbrauen und Schultern hoch und bestätigt:

„In diesem Geschäft, Jovenborg, sind Zusagen immer fix, weil sie vorher exakt durchdacht und berechnet wurden!“

Jovenborg hebt wie entschuldigend kurz die Hände in Schulterhöhe, nickt und sie verabschieden sich. Jovenborg kehrt in sein Büro zurück und fällt, nachdem er einige Male in Gedanken versunken das Büro durchmessen hat, schwer in seinen Chefsessel.

** 3 **

Wien

Das Wetter in Wien an diesem Freitagmorgen hat unerwartet umgeschlagen und die Temperaturen liegen im Plus-Bereich. Sogar die Sonne tastet mit einigen verschämten Strahlen zögernd über die Dächer der Stadt und alles sieht irgendwie befreiter und gelöster aus! Nikolai Pavlu steht hemdsärmelig am Fenster seines ganzjährig angemieteten Hotelzimmers im 2. Stock des Hotels Central und starrt gedankenversunken hinunter auf die kreuz und quer eilenden Passanten auf dem Stephansplatz.

Er ist von mittelgroßer, stämmiger Statur mit breiten Schultern, ein Hals ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Auf seinen Schultern sitzt ein fast runder Kopf mit spiegelnder Glatze, verstümmelter Boxernase und ebensolchen Ohren. Entgegen dem ungeschlachten Körper sind seine Hände und Finger eher einem Musiker zuzuordnen: Zarte Handgelenke und lange, schmale Finger mit perfekt manikürten Nägeln. Sowohl Unterarme als auch Handrücken und Finger sind dicht und dunkel behaart!

Seine Gesichtshaut ist unglaublich glatt, es gibt keine einzige Falte, auch nicht an den hellgrauen, kalten, unglaublich eng beieinander liegenden Augen. Und auch nicht seitlich des breiten, fast lippenlosen Mundes, dessen Winkel immer nach unten zeigen! Sein Aussehen erinnert an eine Comic-Figur, wäre da nicht dieser stechende, leblose und doch zur Vorsicht mahnende Blick!

Das Klopfen an der Zimmertüre holt ihn zurück in die Wirklicheit und er ruft:

„Ja, bitte?“

„Ihr Frühstück, Herr Pavlu!“ antwortet jemand durch die Türe.

„Es ist offen, kommen Sie!“ gibt er zurück und sofort wird die Türe geöffnet. Der Servierwagen mit dem bestellten Frühstück wird herein gerollt und nach den obligaten Handgriffen des Kellners an Geschirr und Besteck hat Pavlu sich nur kurz umgedreht und dem Mann mit einem Wink bedeutet, dass er sein Trinkgeld von der Anrichte nehmen kann. Zwei Dinge sind dem Kellner sofort nach Betreten der Suite aufgefallen: Das auf der Anrichte bereitliegende Trinkgeld sowie die auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe des Gastes! Er nimmt das Trinkgeld mit einem kurzen „Besten Dank, Herr Pavlu!“ an sich und gleich darauf verlässt er den Raum.

Nachdem Pavlu wieder alleine im Zimmer ist, bleibt er weiter am Fenster stehen. Er sieht hinunter und lässt das lebhafte Treiben, diese interessante Mischung aus Erwartung an das beginnende Wochenende, Verantwortung für den Job, verhaltene Hektik und nostalgischem Hin- und Her auf dem Fiaker-Standplatz auf sich einwirken. Und es mag diese morgendliche kompakte und innerstädtische Stimmung sein, die ihm wieder einmal und wie so oft schon die Stationen seines bisherigen Lebens in Erinnerung rufen:

** 4 **

Nikolai Pavlu, gebürtiger Rumäne aus Timisoara, war nicht immer ein furchtbar unsympathisch aussehender Mann: Im Gegenteil, in jungen Jahren, also so mit dreizehn, vierzehn hatte er natürlich schon seine gedrungene Gestalt. Bemerkenswert waren sein praktisch nicht vorhandener Hals, seine dichte, blauschwarze Mähne, die ihm über den Kragen bis auf die Schultern reichte und sein immerwährend positiven Eindruck vermittelndes Lächeln. Egal, ob ihm einer der Lehrer coram publico ein paar Ohrfeigen verpasste, ob ihn sein Vater von der Schule abholte und ihm wegen einer schlechten Schularbeitsnote noch vor dem Schultor die Ohren lang zog: Nikolai lächelte immer!

Dieses Lächeln begleitete ihn bis zu seinem fünzehnten Lebensjahr. So lange nämlich, bis unvermittelt ein tödlicher Virus zuerst seine Mutter und bald darauf seinen Vater dahinraffte. Nokolai konnte mit diesen furchtbaren Schicksalsschlägen einfach nicht fertig werden! Bereits am Grabe seiner Mutter war sein allseits bekanntes Lächeln verschwunden! Und während der gesamten Trauerzeremonie für seinen Vater war Nikolais Miene nicht bedrückt und auch nicht trauernd, sondern hart und ausdruckslos geworden! Was allen Trauergästen jedoch besonders ins Auge stach, waren Nikolais blank gewienerte Schuhe: So blank waren die, dass man sich darin spiegeln konnte!

Nikolai wurde ab nun von seinen Großeltern aufgezogen. Er beendete die Schule, ging bei einem Großhändler in die Lehre und bekleidete danach den Posten als Export-Sachbearbeiter in einem rumänischen Außenhandelsunternehmen mit Sitz in Bukarest.

Im Zuge dieser Tätigkeit lernte er einige wichtige Leute aus dem Handelsministerium kennen. Und es wäre nicht Nikolai Pavlu, würde es hier nicht zu einer länger andauernden, engeren Zusammenarbeit mit diesen Leuten und deren Vorgesetzten gekommen sein! Seine Chefs erkannten Nikolais schnelle Auffassungsgabe, seine Gerissenheit und seinen messerscharfen Verstand! Niemand wunderte sich sonderlich, als Nikolai gleitend und ohne Schwierigkeiten hinüber ins Ministerium wechselte! Dort bekleidete er bereits nach wenigen Jahren den allseits begehrten Posten des Abteilungschefs der Wirtschaftsabteilung, Sektion Export. Im gesamten Ministerium kannte man Nikolai Pavlu als den Blitz-Schuh, nämlich wegen seiner immer tadellos blank geputzten Schuhe! Und es interessierte ihn nicht ein Jota, dass man ihn hinter vorgehaltener Hand als bevorzugtes Lieb- und Protektionskind des Handelsministers bezichtigte: Allein was ihn wirklich interessierte war, seine nationalen und internationalen Verbindungen auszubauen und zu festigen!

Und es musste einfach so kommen: Nikolai entwickelte sich zu einem der mächtigsten Männer der rumänischen Wirtschaft! Mit ausgeprägtem Gespür zum Erkennen von charakterlichen Stärken oder Schwächen seiner Verhandlungspartner betonierte sich Nikolai ein sicheres, praktisch unzerstörbares Fundament an treuen Mitarbeitern! Von dieser Rampe, welche ausschließlich aus engsten politischen und wirtschaftlichen Freunden bestand, pflegte Nikolai Pavlu private und staatliche Milliarden-Geschäfte einzufädeln! Dass er dabei als Vermittler dieser Verträge von den westlichen Vertragspartnern natürlich nie „vergessen“ wurde, verstand sich ebenfalls von selbst: Seine fetten Provisionen landeten unversteuert auf ausländischen Konten, von denen Nikolai allenfalls benötigte Summen anlässlich seiner zahlreichen offiziellen Auslandsreisen behob!

Der Natur jedoch ist es einerlei, ob jemand mächtig oder unwichtig ist: Nach einem von seinen Feinden hämisch belächelten Magendurchbruch konstatierten die Ärzte bei Nikolai Magenkrebs. Eine Heilung könne man sich zwar vorstellen, allerdings nur durch eine in den USA bereits erfolgreich angewandte, jedoch höchst kostspielige Therapie! Geld aber bedeutete Nikolai nichts, der Flug nach Washington war gebucht und drei Monate später kehrte ein völlig wiederhergestellter Nikolai Pavlu in sein Ministerium zurück! Allerdings ohne sein dichtes, blau-schwarzes Haar: Sein Glatzkopf wurde zu seinem Markenzeichen, allgemein sprach man von ihm von der Blitz-Schuh-Bulldogge! Und genauso sah Nikolai auch aus: Er bot einen abstoßenden, gefährlichen Anblick, auch seine Stimme hatte durch die intensive Chemo-Therapie schwer gelitten: Sie war knarrend-gallig geworden!

Nikolai war ein bauernschlauer und nur auf seinen Vorteil fokussierter Beamter! Er wusste bestens mit seinen in- und ausländischen Beziehungen umzugehen! Nicht allzu lange nach seinem Eintritt in das Ministerium jedoch wuchsen bereits die ersten Disteln auf der Wiese seine Erfolges: Neid ist oft die Mutter der Intrige, Nikolai wusste zwar darüber, war sich aber seines Postens zu sicher! Bedauerlicherweise hatte ihm diesbezüglich niemand ausreichend Abwehrmechanismen angedeihen lassen!

Kaum zurück, musste Nikolai bemerken, dass nicht nur einer seiner engsten, von ihm ständig protegierten Mitarbeiter kräftig an seinem Stuhl gesägt hatte! Von ihm dazu direkt unter vier Augen befragt, konnte keiner der Verschwörer sein Verhalten der letzten Wochen seriös begründen und Nikolai griff hart durch: Innerhalb einer Woche saßen neue Leute an den für Nikolai wichtigen Schreibtischen!

Aber auch Nikolai war nur ein Mensch: Die eine Liebes-Affäre hier, die andere dort, seine von ihm auf ein Abstellgleis beförderten Feinde hatten alles nur Erdenkliche mobilisiert, um dem Kollegen Pavlu unseriöses und unmoralisches Verhalten nachweisen zu können! Und dann war das Maß voll: sein leichtsinniges Verhältnis zu der Ehefrau eines der höchsten Parteifunktionäre brach Nikolai letztendlich das Genick! Aber er hatte noch Glück im Unglück: Aufgrund Nikolais Wissen um einige intime Details aus dem Leben dieses Funktionärs legte man ihm nahe, ungestraft von allen seinen Ämtern zurückzutreten und mit einer saftigen Abfertigung in Schweizer Franken auf ein Nummernkonto in Liechtenstein von der öffentlichen Bühne zu verschwinden!

Hier zuwiderzuhandeln bedeutete den sicheren Untergang, dies war Nikolai schon bekannt! Also tat er wie geheißen, räumte sein Büro und beschloss, fürs Erste einmal abzuwarten. Laufend jedoch hielt er Kontakt mit allen seinen in- und ausländischen Geschäftspartnern und mit den wichtigsten Parteifunktionären im gesamten Comecon!

Einige Jahre danach kam er in Kontakt mit einem gewissen Dieter Jovenborg, einem sehr erfolgreich agierenden Handelsmann aus Wien. Die beiden verstanden sich auf Anhieb und man beschloss, ab sofort gemeinsame Geschäfte abzuwickeln. Und dies alles kam so:

** 5 **

Bukarest

Nikolai war Schläge gewohnt, er stand nun zwar ohne Job da, aber an ein Aufgeben dachte er nicht im Traum! Und oft weist einem tüchtigen Menschen das Schicksal den weiteren Lebensweg! Nikolai hielt sich des Öfteren in der Lobby-Bar eines internationalen Hotels in Bukarest auf. Nicht nur, um dort seinen Nachmittags-Kaffe zu nehmen, sondern auch, um das eine oder andere Gespräch zwischen ausländischen Geschäftsleuten zu belauschen!

Eine glückliche Fügung ergab, dass Nikolai eines Nachmittags in der schwach besetzten Lobby des Hotels Excelsior Ohrenzeuge einer Diskussion zwischen einem Österreicher mit starkem slawischem Akzent und einem Rumänen wurde: Der Geschäftsmann aus Wien warf seinem Gesprächspartner vor, einen größeren, längst fälligen Betrag bis dato nicht überwiesen zu haben! Die beiden Herren stritten sich zwar verhalten, dennoch konnte Nikolai, der zufällig am Nebentisch saß, jede Einzelheit des Gespräches mitbekommen!

Nach etwa einer halben Stunde Hin- und Her-Debattierens rief der Österreicher seinem Vis-a-vis plötzlich erzürnt, jedoch verhalten zu:

„Hörren Sie jetzt genau zu, Sie unserriöserr Mensch: Sie werrden das, was wirr verreinbarrt hatten, bezahlen! Ich werrde eben anderre Wege zu gehen wissen, darrauf können Sie Gift nehmen!“

Daraufhin sprang der Rumäne abrupt auf, lief zum Ausgang und verließ grußlos und im Eilschritt das Hotel! Der Kaufmann aus Wien saß weit zurückgelehnt in der ausladenden Sitzgarnitur, hatte den rechten Arm auf die Lehne gelegt und trommelte nervös mit seinen kurzen, dicken Fingern auf den Lederüberzug! Man konnte ihm ansehen, dass er zwar erregt, aber auch beherrscht war: Sein zusammengekniffener Mund, sein unruhig umherwandernder Blick und sein rascher Atem ließen keinen Zweifel an seinem Zustand!

Nikolai ließ noch einige Zeit verstreichen. Er war sich bewusst, dass mit dem Mann in dessen momentanem Zustand schwer zu reden sei! Dann erhob er sich, nahm sein halb ausgetrunkenes Glas Gin Tonic auf und ging an den Nebentisch. Dort blieb er stehen und sah auf den Österreicher hinunter. Dieser blickte etwas indigniert auf, taxierte Nikolai von oben bis hinunter zu dessen blank geputzten Schuhen, kniff die Augen zusammen und wartete ab. Nikolai stellte sein Glas auf dem Tisch ab und nahm in dem links von der Sitzbank platzierten Fauteuil Platz. Der Österreicher sagte noch immer nichts, er beobachtete Nikolai weiter. Dieser blieb nach vorne gebeugt sitzen, stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab und begann vorsichtig:

„Sie entschuldigen meine Aufdringlichkeit, mein Herr? Aber…“ und als Geste der Seriosität hob er beide Hände kurz in die Höhe und zeigte seine Handflächen „…ungewollt konnte ich von meinem Platz aus diese unangenehme Auseinandersetzung mit Ihrem Partner mithören! Und so, wie sich der Herr benommen hatte, das ist doch wirklich kein kongenialer Partner, oder?“

Er machte eine kleine Kunstpause, in Verhandlungen war Nikolai unglaublich geschickt: Oberstes Gebot in einer Diskussion ist immer, das Interesse seines Gegenübers zu wecken und auch zu halten! Und genau das hatte er eben getan! Der Österreicher blickte jetzt ein wenig ungehalten auf und runzelte seine Stirn.

„Wie ich hörte,“ fuhr Nikolai fort „sollte Ihnen Ihr Partner einen ansehnlichen Betrag überweisen, wozu dieser jedoch keineswegs bereit zu sein scheint! Ich meine, hier kann effiziente Unterstützung hilfreich sein, meinen Sie nicht auch?“

Jetzt war natürlich der Andere am Zug! Nun gab es nur mehr zwei Möglichkeiten: Entweder bat sein Gegenüber ihn, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen! Dann wäre das Gespräch beendet. Oder der Mann wollte mehr über Nikolais Möglichkeiten erfahren! Dann lief das normalerweise ganz einfach ab: Nikolai rezitierte das Gespräch, er hatte ja ein fabelhaftes Gedächtnis, und danach bot er seinem Gesprächspartner seine Hilfe an. Im Normalfalle stellte er sich dann mit seiner Visitenkarte vor und informierte den Partner kurz über seine Verbindungen.

Der Österreicher blieb eine Weile ruhig sitzen und schätzte Nikolai ab. Dann rutschte er in seinem Fauteuil nach vor, ebenso wie Nikolai und nun waren ihrer beider Gesichter sich doch sehr nahe! Nikolai ließ sich seine Anspannung nicht anmerken: Er saß da, seine verschränkten Hände hingen jetzt zwischen seinen Knien locker herab, ein freundlicher Zug lag um seinen Mund und nichts verriet seine Aufregung und Neugierde! Jetzt sah der Österreicher kurz zu Boden und sein Blick streifte ungewollt die unglaublich blank geputzten Schuhe seines Gegenübers. Jetzt spitzte er die Lippen und sagte mit seiner eher unangenehmen, heiseren Stimme:

„Also, ich weiß nicht, mit wem ich es hierr zu tun habe, aberr vielleicht besprrechen wirr das woanderrs? Diese Halle hierr ist mirr unsympathisch und soweit ich weiß, ist sie durrchsetzt mit lauterr Spitzeln!…Sind Sie auch einerr?“ ließ er plötzlich seine Frage los.

Nikolai musste ob der Spontaneität des Österreichers laut auflachen:

„Aber natürlich bin ich ein Spitzel!“ flüsterte er, noch immer lachend „Und gleich lasse ich Sie verhaften, weil Sie von meinem Landsmann Geld haben wollen! Und wenn Sie alles abstreiten,“ schauspielerte er weiter „sperren wir Sie für dreißig Jahre ein in einen unserer dunkelsten Weinkeller: Dort aber werden Sie sich als Österreicher eher wohl fühlen, stimmt das?“

Er lachte wieder, nun jedoch leiser und sah dem Fremden direkt in dessen Augen! Der musste ebenfalls lächeln, erhob sich und meinte:

„Nehmen wirr ein Taxi und fahrren ins Hotel Rraimond! Dorrt ist es rruhigerr und derr Kaffee schmeckt um Längen besserr als dieses Gesöff hierr!“

Sie bezahlten ihre Konsumationen, ließen ein Taxi rufen und wechselten die Hotelhalle. Im Raimond war es dunkler als im Excelsior, weil hier von den 120 Glühbirnen des riesigen, mittig in der Halle abgehängten Lüsters sicherlich mehr als die Hälfte kaputt waren! Im kommunistischen System waren Lieferungen von politischen Parolen eben häufiger und sicherer als der Nachschub an Glühbirnen!

Sie nahmen im Restaurant Platz, denn hier war es gemütlicher als vorne in der Eingangshalle: Dort checkten eben die Passagiere eines italienischen Reisebusses ein und der südländische Geräuschpegel der neu Angekommenen trug nicht unbedingt zu einer angenehmen Stimmung in der Halle bei! Beide bestellten Drink bzw. Kaffee, dann begann Nikolai:

„Ich denke, zuerst einmal sollten Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, mein Herr: Mein Name ist Pavlu, Nikolai Pavlu und zu Hause bin ich sowohl hier als auch in Wien und auch in Nizza! Mein Hauptwohnsitz ist zwar hier in Bukarest, durch meine ehemalige intensive Export-Reisetätigkeit bin ich quasi ein… Weltenbummler, wie man auf Deutsch zu sagen pflegt, oder?“

Jovenborg als erfahrener Osthandels-Kaufmann konnte sich zwar nicht vorstellen, was das Land Rumänien denn so viel exportieren sollte! Aber er nickte nur kurz zu dieser Frage seines Gegenübers und Pavlu fuhr fort:

„Ich meine, mit meiner bescheidenen Mithilfe werden Sie rasch zu Ihrem Geld kommen, mein Herr! Und wenn Sie an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert sind, sollten sie mir in kurzen Zügen Einblick in dieses eben mit Ihrem Gesprächspartner erläuterte Geschäft geben!“

Jovenborg überlegte: Diese knapp 400.000 Euro an offenen Rechnungen, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten und die sein Geschäftspartner unter keinen Umständen bezahlen wollte oder auch nicht bezahlen konnte, brauchte er bereits dringend auf seinem Konto in Österreich! Ohne fremde Hilfe würde er nie zu seinem Geld kommen! Er gab sich einen Ruck und klärte Pavlu auf:

„Jovenborrg mein Name, Dieterr Jovenborrg! Und hierr geht es um mehrrerre Grroß-Bestellungen fürr KFZ-Errsatzteile, die wirr gelieferrt, jedoch nie bezahlt bekommen haben! Jedes Mal, wenn wirr die Betrräge einmahnen, hörren wir neue Schauerrgeschichten, wie zum Beispiel Prrobleme bei derr Zollabwicklung, Einbrruch im Lagerr unserres Kunden, Verrsicherrungen zahlen nicht, Prrobleme mit derr Imporrtgenehmigung, etc. etc.! Dass all dies nurr errstunken und errlogen ist, wissen wirr durrch unserre kommerrziellen Verrbindungen hierr in Rrumänien! Aber wie wirr zu unserrem Geld kommen, ist mirr leiderr noch schleierrhaft!“

Damit lehnte er sich erschöpft und mit zusammengepressten Lippen zurück, die Angelegenheit belastete ihn sichtlich! Pavlu wartete gezielt noch etwa eine halbe Minute ab, dann zog er seine Mundwinkel weit nach unten, wiegte bedächtig seinen Kopf hin und her und meinte:

„Wenn Sie den geforderten Betrag innerhalb zwei Wochen auf Ihrem Konto haben, wäre Ihnen das 15% als Provision wert?“

Pavlu schwieg und sah Jovenborg direkt in die Augen. Dieser erwiderte den Blick und es entstand eine spannende Minute des Abtastens: Sie waren wie Hunde, zwei Hunde, die sich vorerst einmal beriechen mussten!

„Wie zum Teufel können Sie das denn…“ begann Jovenborg, aber Pavlu unterbrach ihn sofort, indem er beide Hände abwehrend hob:

„Hey, hey, lieber Jovenborg! Keine Fragen, ok? Geht das nun in Ordnung, das mit den 15%, dann sagen Sie einfach ja! Und ich bin schon fort und arbeite bereits heute Abend an Ihrem Projekt! Ich bin der Meinung, Ihr Geld sollten Sie doch bald bekommen, oder?“

„Ich bin einverrstanden, Herr Pavlu!“ antwortete Jovenborg nach einer kurzen Pause und gab Pavlu die wichtigsten Daten dieses unerledigten Geschäftes bekannt.

Nikolai Pavlu fuhr nicht direkt in sein Büro: Er rief von einer öffentlichen Telefonzelle eine Nummer in Ploesti an. Dort meldete sich eine Frauenstimme mit einem Standard-Satz:

„Giorgu Kirsch, wie können wir Ihnen helfen?“

Nikolai grüßte nicht einmal, sondern sprach langsam, zum Mitschreiben für seine Gesprächspartnerin:

„Code: Nikolai! Techimpex, Vertragsnummer 223997765-10/440, Ersatzteil-Lieferung, Lieferant: Fa. Dieter Jovenborg-Wien, Bank: Handels- und Exportbank Wien, Konto-Nr. EXP 4492/1010. Empfänger Autopart-Bukarest, seit Wochen offen und nicht bezahlt sind genau 421.554 Euro. Provision: 5%.“

Es dauerte einige Sekunden, dann antwortete die Dame:

„Besten Dank! Bestätige wie folgt:“

Sie wiederholte langsam sämtliche Daten, Pavlu nickte begleitend still vor sich hin und sagte am Schluss:

„Ok, passt so! Bitte innert 10 Tagen zu überweisen! Provisionsübergabe wie gehabt!“

Damit hängte er ein und verließ die Telefonzelle. Zwei Tage später las man in der Zeitung, dass der Chef einer Bukarester Auto-Ersatzteil-Firma sowie dessen Ehegattin von Unbekannten brutal zusammengeschlagen worden waren.

Dreizehn Tage später sah Jovenborg auf dem Kontoauszug seiner Bank den Eingang des offenen Betrages aus Rumänien! Die vereinbarten 15% Provision waren bereits abgezogen worden.

Und damit begann eine mehrere Jahre andauernde, höchst profitable Cooperation zwischen den beiden Männern! Diese endete jedoch damit, dass Pavlu eines Tages mit einem Geschäft anrückte, welches Jovenborg äußerst gefährlich erschien! Nicht das Illegale daran störte ihn, nein: Es war ein mit höchstem Risiko behaftetes Hazard-Geschäft mit einem russischen Importeur! Er gab seinem Partner bekannt, dass er solch ein Geschäft für zu gefährlich hielt und nicht dabei sein wollte! Daraufhin brach Pavlu, ohne böse zu sein, ihre jahrelange Verbindung ohne weitere Diskussion darüber ab!

Einige Monate später war dieser Deal aufgeflogen, Pavlu wurde nur kurz in den Gazetten erwähnt, da man ihm jedoch direkte Partizipation nicht nachweisen konnte und er auch beste Verbindungen zur russischen Justiz pflegte, schlief die Sache ein.

Jovenborg sah sich in seiner Entscheidung bestätigt und war heilfroh, nicht in dieses Projekt verwickelt gewesen zu sein!

** 6 **

Wien

„Lena! Wenn Herr Pavlu eintrrifft, bitte soforrt zu mirr, ja?“

„Natürlich, Herr Jovenborg!“ antwortet die Sekretärin.

Fast zeitgleich läutet es an der Eingangstür, Lena erhebt sich, eilt hinaus und öffnet.

„Guten Tag, Herr Pavlu!“ grüßt sie lächelnd „Herr Jovenborg erwartet Sie bereits!“

Pavlu tritt ein, übergibt Mantel und Hut der Sekretärin und wendet sich zu dem Flur, welcher zu Jovenborgs Büro führt. Er kennt den Hausbrauch schon, an der Tür zum Chefbüro allerdings hält er an, wartet und klopft zweimal dezent an.

„Ja, bitte!“ hört man Jovenborg rufen.

Pavlu, mit einem unechten Lächeln auf den schmalen Lippen, tritt ein. Jovenborg wuchtet seinen Körper aus dem Sessel und kommt Pavlu entgegen. Sie umarmen und drücken sich kurz, daraufhin deutet Jovenborg auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch:

„Bitte, Nikolai, nimm Platz! Einen Drrink? Einen Kaffee?“

Pavlu wehrt ab:

„Nein, danke vielmals, Dieter, eben komme ich vom Café Stadtpark. Du weißt, ich sitze gerne im Kaffeehaus und studiere die Zeitungen!“

Jovenborg zuckt mit den Schultern, nimmt in seinem Sessel Platz und fragt unvermittelt mit ernstem Gesicht:

„Hörr zu, alterr Frreund: Was ich dirr jetzt erzähle, ist wahrr, einhunderrt Prro! Da warrtet ein Haufen Kohle auf uns, lieberr Nikolai! Und alles unverrdächtig, nicht nachvollziehbarr und unverrsteuerrt!“

Nikolai Pavlu hat in seinem langen und ereignisreichen Gaunerleben schon zu viel Ideen-Mist vernommen, als dass er nun gleich in Begeisterung verfallen wäre! Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, den Kopf hält er leicht schief, eine Haltung, die seinem Gesprächspartner eigentlich Unglaubwürdigkeit zuschreibt! Seine Hände liegen verschränkt in seinem Schoß. Nachdem Jovenborg erkannt hat, dass er seinem Freund nicht gleich imponieren kann, fährt er fort:

„Du hast doch schon gehörrt von solchen Orrgantrransplantationen? Wenn ich dirr jetzt verrrate, was Menschen berreit sind zu bezahlen, wenn sie ein lebensrrettendes Orrgan eingesetzt bekommen, das glaubst du nicht, Nikolai! Das glaubst du einfach nicht!“

Er sieht seinen Freund beifallheischend an, da er jedoch keinerlei Reaktion auf seine Information von diesem erhält, fährt er fort:

„Den Spenderrn wirrd verrsprrochen, dass sie gegen Spende einerr ihrrer Nierren einen grrößerren Geldbetrrag errhalten. Natürrlich sagen sie zu. Schon am gleichen Tag - damit sie nichts verrraten können an Frreunde oderr an Bekannte - werrden sie in eine Klinik geflogen. Und schon am selben Abend werrden ihnen ihrre weltweit gesuchten Orrgane entnommen.“

Er lehnt sich zurück und wartet Pavlus Antwort ab. Dieser blickt ihn noch immer ausdruckslos an, seiner Miene allerdings kann man entnehmen, dass es hinter seiner coolen Fassade intensiv arbeitet! Nikolai Pavlus Verstand arbeitet extrem schnell: Er bleibt unbeweglich, indem er fragt:

„Habe ich richtig verstanden, lieber Dieter? Sagtest du Organe und nicht ein Organ?“

Dieter nickt mit ausdruckslosem Gesicht:

„Rrichtig, lieberr Nikolai! Ich sagte Orrgane, mehrrerre Orrgane!“

„Und habe ich das auch richtig verstanden, Dieter: Man spricht mit dem Spender über eine seiner Nieren, schlussendlich aber werden ihm mehr Organe entnommen als vereinbart? Das heißt, du verkaufst dieser Klinik Menschen, die zwar gewollt ein Organ spenden werden, nach der Operation aber leider das Pech haben, nicht mehr aufzuwachen, hmm?“

Nun hat er fragend seine Augenbrauen hochgezogen und wartet auf Dieters Antwort. Dieser zieht seine Mundwinkel nach unten und nickt anerkennend:

„Mein alterr Kumpel Nikolai! Jawohl, lieberr Frreund, du hast es errfasst! Und prro angelieferrtem Körrper kassierrst du …naja sagen wir einmal so ca. 5.000 Eurro, lieberr Nikolai! Und das drreimal prro Woche! Ist nicht schwerr auszurrechnen, was dirr das monatlich einbrringen wirrd, oderr?“

Nikolai Pavlu hat sich inzwischen zurückgelehnt und betrachtet seinen alten Kumpel eingehend: Er ist ein alter Fuchs in Geschäften und er kann sehr gut Kopfrechnen! Langsam zieht er nun die Luft ein, beugt sich vor, wartet einige Sekunden und meint nickend:

„Das wären nach Adam Ries...sechzigtausend Euro pro Monat? Nun, das hört sich ganz annehmbar an, lieber Dieter! Und was, denkst du, wird dabei meine Aufgabe sein?“

„Du, mein lieberr Frreund,“ antwortet Jovenborg leise „wirrst fürr die Rrekrrutierrung derr Mitarrbeiterr verrantworrtlich zeichnen: Also, du musst dich kümmerrn um die Rrekrrutierrung von…nun sagen wirr…frreiwilligen Spenderrn, und du musst dich auch darrum kümmerrn, wie wirr die Spenderr nach derr Orrganentnahme…sagen wirr einmal…ohne Rrückstände entsorrgen!“

„Gibt es eventuell schon Ideen, woher ich diese Spender nehmen soll? Oder muss ich ganz eigenen Ideen nachgehen? Wöchentlich nämlich drei Spender anzuliefern, also das wird Probleme geben, Dieter! Da haben wir die Behörden am Hintern kleben wie die Kletten am Hund und das Ganze wird schneller aus sein als wir glauben!“

Jovenborg lächelt, sieht seinen Freund einige Zeit an und gibt ihm bekannt:

„Nun halte dich fest, mein Frreund: Alle Spenderr wirrst du vom Zentrral-Auffanglagerr fürr Flüchtlinge in Parris rrekrrutierren können! Und wie das ablaufen soll, darrüber musst du dirr deinen Kopf zerrbrechen!“

Nikolai nickt anerkennend, die Idee gefällt ihm sehr! Er überlegt eine Minute, Jovenborg lässt ihm jede Menge Zeit und dann meint Nikolai mit leicht erhobenem rechten Zeigefinger:

„Und warum gerade Paris?“

„Den Grrund dafürr, lieberr Nikolai, kann auch ich nurr soweit sagen, dass derr dorrtige Abteilungschef im Innenministerrium leicht zu haben sein wirrd! Einzelheiten krriege ich noch herrein! Und das mit Parris, das würrde mirr sehr passen, denke ich hierr doch an einen alten Kommilitonen, der Chirrurrg ist irrgendwo in Frrankrreich, den ich zurr Mitarrbeit gewinnen möchte, ok?“

„Wer ist dieser Freund?“ fragt Nikolai interessiert „Unter Umständen kann ich sehr schnell etwas herausfinden über ihn: Ich habe da wirklich ausgezeichnete Verbindungen nach Frankreich in die Spitals-Szene! Kann vielleicht hilfreich sein, was meinst du?“

Jovenborg überlegt kurz und entschließt sich, Nikolai mit einzubeziehen:

„Ich danke dirr, lieberr Frreund, ich werrde dirr, so wie ich die Daten meines Studienkollegen habe, Bescheid geben, also Namen, Adrresse, etc.! Und dann noch etwas, Nikolai: Denke überr Geld einfach nicht nach, ja? Dieses bekommen wirr perr Boten aus derr Schweiz, und zwarr soviel wirr fürr den Aufbau derr Orrganisation eben brrauchen werrden, verrstehst du, mein Frreund?“

Nikolai nickt einige Male mit herunter gezogenen Mundwinkeln und meint:

„Ich verstehe, lieber Dieter, ich verstehe ganz gut! Ich werde alle meine Verbindungen spielen lassen müssen! Und wie du weißt, mit meinen Leuten kommt man schon um einiges weiter als ohne sie! Sag mir nur, wann ich mit meinen Recherchen beginnen soll, ok?“

Dieter hebt kurz die Hand und meint:

„Ich bin sicherr, bis Ende nächsterr Woche alle Inforrmationen beisammen zu haben, Nikolai! Natürrlich bekommst du dann gleich Bescheid, ok?“

„Schon geritzt, Dieter!“ sagt Nikolai, „Dann höre ich ja bald von dir, oder?“

Jovenborg nickt leicht, beide lächeln und erheben sich:

Es ist wirrklich wie in alten Zeiten! denkt Jovenborg, Ich habe ein gutes Gefühl bei diesem rrumänischen Halsabschneiderr!

Sie umarmen sich wie gerade vorhin und Jovenborg bringt Pavlu bis an die Eingangstüre. Dieser spricht kein Wort, legt sich seinen Mantel um die Schultern, setzt seinen Hut auf und begibt sich den Gang hinüber zum Lift. Dort angekommen, drückt er die Ruftaste, legt kurz seinen rechten Zeigefinger an die Schläfe, macht kehrt und kommt zu Jovenborg zurück, bevor dieser noch die Türe schließen kann. Jovenborg blickt seinen Freund mit fragendem Gesichtsausdruck an:

„Na, Nikolai, gibt´s noch etwas?“

Nikolai drängt Dieter sanft zurück in den Vorraum und flüstert ihm ins Ohr:

„Du kennst mich, Dieter: Wenn ich loslege, dann kannst du in kürzester Zeit mit Erfolg rechnen, oder?“ Er wartet Dieters Antwort nicht ab und fährt fort: „Wie du es bereits angeschnitten hattest: So wie ich das schnell überschlagen kann, werden wir ca. einhundertzwanzig- bis einhundertfünfzigtausend Schweizer Franken als „Hilfsgelder“ brauchen! Bis wann kannst du die aufstellen?“

Dieter nickt kurz, die genannte Summe überrascht ihn nicht: Nikolai hat noch nie, seit er mit ihm Geschäfte macht, unrichtige oder überzogene Beträge genannt! Er überlegt einige Sekunden und meint:

„Ich kann nicht genau sagen, wann derr Geldbote nach Wien kommen wirrd, aberr ich schätze, dass du das Geld in ca. zehn Tagen hierr bei mirr im Bürro abholen kannst, ok?“

Nikolai hebt zum Einverständnis kurz die linke Hand, begibt sich zum Lift und fährt hinunter. Jovenborg schließt leise die Türe und geht nachdenklich in sein Büro zurück. Er nimmt Platz und beginnt, den neuen Auftrag in Gedanken abzuwickeln. Dann ruft er Lena herein und sagt:

„Hörren Sie, Lena! Das ist jetzt ganz wichtig, was ich Ihnen auftrragen werrde: Forrschen Sie bitte nach einem gewissen Drr. Davide Amarrca. Soweit ich weiß, arrbeitet err als Chirrurrg irrgendwo in Frrankrreich, wenn ich mich nicht sehrr täusche, in Südfrrankrreich! Ich brrauche sämtliche Kontakt-Daten von ihm! Das alles ist nicht eilig, nehmen Sie sich genügend Zeit und lassen Sie keine Möglichkeit aus, ihn zu finden, ok?“

Lena nickt dienstbeflissen: Das ist endlich einmal eine Aufgabe, die sie interessiert und sie hoffentlich voll und ganz in Anspruch nehmen wird! Die letzten Monate hier bei Jovenborg waren ja nicht gerade von Arbeitshektitk begleitet: Die paar Express-Bestellungen auf Spezial-Ersatzteile abzuwickeln, fordern Lena eigentlich überhaupt nicht! Die Transportpapiere aus- und die Pakete bereitzustellen und sie zur Spedition zu bringen, das alles ist für sie tägliches Brot! Und die übrige Zeit im Büro war eigentlich nur mehr totzuschlagen! Würde Jovenborg ihr für ihre Anwesenheit nicht ein so fürstliches Gehalt zahlen, Lena wäre längst über alle Berge! Sofort nach Jovenborgs Auftrag ist sie draußen an ihrem Schreibtisch und nimmt einen Block für Notizen zur Hand.

Nikolai Pavlu hat von Jovenborg alle Daten über dessen Studienkollegen Dr. Amarca erhalten. Schon einige Tage später erhält Jovenborg Nikolais Anruf, indem der ihm unglaubliche Details über Dr. Amarcas finanzielle Situation mitteilt! Jovenborg ist verblüfft wie ein Anwalt, dessen Klient ihm knapp vor der Verhandlung im Gericht beichtet, dass er noch zwei zusätzliche Überfälle auf dem Kerbholz hat: Wie zum Teufel, arbeitet dieser Nikolai? Bis wie weit hinauf denn reichen seine unglaublichen Verbindungen noch?

** 7 **

Südfrankreich

Der Ort St. Martin-du-Var liegt ca. 20 km nördlich von Nizza an der Landstraße nach Puget-Théniers. Am Ende des Dorfes, von Nizza kommend, zweigt eine schmale, gut asphaltierte Straße nach rechts ab. An beiden Seiten anfangs dieser Nebenstraße auf rot lackierten Stangen montiert, weisen zwei dunkelblaue Kunststofftafeln mittlerer Größe in hellgrauer, kursiv gehaltener Druckschrift auf die Zufahrt zur Klinik Sanmarca hin. Nach einigen Metern klärt der Text auf einer Tafel die Verkehrsteilnehmer wie folgt auf:

Zufahrt nur mit Berechtigung!Zuwiderhandelnde werden ausnahmslos angezeigt!

steht mit roter Schrift auf einer noch unterhalb dieses Verbotszeichens angebrachten kleineren weißen Zusatztafel. Fährt man nun die Straße weiter, so gelangt man nach ca. 100 m an ein riesiges schmiedeeisernes Gittertor. Dessen zwei Flügel laufen innerhalb des Grundstückes zum Öffnen und Schließen in links und rechts an den Mauersäulen vorbeiführenden Schienen. Diese beiden Mauersäulen bilden den Abschluss einer das komplette Areal umgebenden ca. drei Meter hohen Mauer aus Klinkersteinen.

Vor dem Gittertor gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb des Grundstückes je eine straßenmittig angebrachte Verkehrsinsel. Auf beiden Inseln sind in gemauerten quadratischen Säulen hochempfindliche Videoüberwachungskameras und Gegensprechanlagen montiert. Somit hat jeder Autofahrer auf seiner Fahrerseite die Kommunikationsmöglichkeit mit dem Empfang in der Klinik.

Kommt man über die durch einen gepflegten Park führende Zufahrtsstraße nach ca. 500 Metern nach einer automatischen Schranke an das Klinikgebäude, werden mittels gelber Bodenmarkierungen Lieferanten nach links zur weiter rückwärts gelegenen Verladerampe, alle anderen Gäste, Patienten oder Personal nach rechts zum Parkplatz vor dem Haupteingang eingewiesen. Sowohl am hinteren Ende der Rampe als auch rechter Hand ab dem Gebäudeende verläuft ein höchst stabil wirkendes, drei Meter hohes Metallgitter bis zur Einfriedungsmauer. Somit ist allen Lieferanten nur der Weg bis zum Verladen frei. Allen anderen Ankömmlingen ist kein anderer Eingang als der durch den Empfang möglich.

Die Klinik Sanmarca ist ein ebenerdiger Backstein-Bau mit einer Grundfläche von etwa. 1.300 m2. Das Walmdach ist nach allen Seiten des Gebäudes etwas weiter vorgezogen als üblich. Dies bringt den Vorteil des langwährenden Schattens an den Fenstern und somit praktisch keine spürbar unangenehme Aufwärmung des Inneren durch direkte Sonneneinstrahlung. Trotzdem sind sämtliche Fenster mit sonnenlicht-gesteuerten Außen-Rollläden versehen. Dadurch wird die für das gesamte Gebäude arbeitende zentral gelegene Klimaanlage kostengünstig entlastet.

Durch automatische, gläserne Drehtüren gelangt der Besucher nun in einen weitläufigen Empfangsbereich, d.h. zur Rezeption. Das Empfangspult ist eine gediegene Konstruktion, und zwar eine interessante Melange aus modernem Alu-Holz-Design und einigen gewagten Farbideen an Front- und Seitenteilen. Im Hintergrund verläuft über die gesamte Rückseite des Empfangsraumes eine in leichtem Konkav-Bogen installierte Milchglaswand, in welche drei Türen mit Zugangs-Hinweisen eingelassen sind. Diese Hinweise sind in dunkelblauer Druckschrift in hellgraue, ovale Kunststofftafeln eingeätzt.

Die Türe linker Hand der Rezeption - vom Eingang aus gesehen - trägt die Aufschrift

S1 SANMARCA Dr. Davide Amarca/Diagnose

Eine etwas schmälere Türe hinter dem Empfangspult trägt die Aufschrift

S2 PERSONAL

Rechts von der Rezeption trägt eine Türe die Aufschrift

S3 BEAUTY HEAVEN Dr. Beatrice Amarca/Diagnose

Unter den Hinweisen S1 und S3 ist jeweils die Aufschrift zu lesen:

Eintritt nur nach Aufruf!

Alles in diesem Empfangsraum strahlt Gediegenheit, Erfahrung und Ruhe aus. Ein neu ankommender Patient muss sich hier sofort wohl fühlen! Drei riesige Rhododendron-Bäume stehen geschickt verteilt in der ca. 10 x 8 m großen Halle. Dezente Drucke bekannter Künstler zieren die Wände zwischen den Fenstern und den Türen sowie oberhalb einer rechts vom Eingang platzierten ausladenden, weißen ledernen Sitzgarnitur. Indirekte, warme Beleuchtung zaubert wohlige Atmosphäre in den Raum.

Den Bewohnern von St. Martin-du-Var ist nur so viel bekannt, dass es sich um eine Klinik handelt, welche sich vorwiegend mit Schönheitsoperationen beschäftigt. Solche Kliniken gibt es in Frankreich natürlich zu hunderten, die meisten mit aus verständlichen Gründen diskret durch winzige Ortschaften führende Anfahrtswege. In der Klinik sind keine Bewohner von St. Martin-du-Var angestellt. Alle Angestellten kommen aus der näheren Umgebung und reisen mit eigenen PKWs an.

Ein Geheimnis umgibt diese Klinik: Sie firmiert unter dem Namen Sanmarca und als Besitzer sind im Firmen-Buch in Nizza eine gewisse Dr. Beatrice Amarca sowie ein Dr. Davide Amarca eingetragen. Madame Amarca kennt man im Dorf, sie macht regelmäßig kleinere Besorgungen in den Läden dort. Niemand im Dorf jedoch hat jemals weder Dr. Amarca, noch eine seiner Patientinnen oder jemanden von seinem Personal zu Gesicht bekommen. Sämtliche geschäftlichen juristischen oder wirtschaftlichen Belange werden über eine kleine Wirtschaftskanzlei in Nizza abgewickelt.

Natürlich lässt die Landbevölkerung in solchen Dingen nicht locker. Und Madame Amarca wurde früher einige Male direkt angesprochen, womit man sich in der Klinik Sanmarca eigentlich beschäftige? Madame Amarca gab jedes Mal gerne lächelnd Auskunft:

„Ich behandle in erster Linie Patientinnen, die große Probleme mit ihrer Gesichtshaut haben. Inklusive Nachbehandlung, auch stationär. Und viele Frauen sind sehr, sehr glücklich, wenn ich ihnen helfen kann!“

Prompt kam dann die nächste Frage nach Herrn Dr. Amarca:

„Und Ihr Herr Gemahl? Macht er auch solche Behandlungen?“

Madame Amarcas Lächeln blieb freundlich und geduldig antwortete sie:

„Monsieur Amarca ist nicht mein Mann, er ist mein Bruder! Und über seine Tätigkeit kann ich Ihnen leider nichts sagen! Nur so viel, dass es sich um staatliche und daher streng geheime medizinische Forschungsarbeiten handelt!“

Damit war den Fragenden der Wind aus den Segeln genommen und Beatrice Amarca wurde fortan auch nicht mehr belästigt. Im Dorf weiß man, dass Dr. Amarca einen beigefarbenen Bentley Mulsanne mit stark getönten Scheiben fährt. Er kommt nachmittags gegen 17 Uhr in die Klinik und verlässt diese meist erst gegen Mitternacht.

Auch die Lieferanten für diese Klinik können nicht mehr berichten: Alle Liefer-Fahrzeuge müssen vor dem schmiedeeisernen Einfahrtstor halten. Über die Sprechanlage geben sie Namen der Lieferfirma, Namen des Chauffeurs, Angaben über die abzuliefernde Ware sowie das Kennzeichen des Wagens bekannt. Danach fahren sie bis zur Abzweigung vor dem Hauptgebäude nach links Richtung Verladerampe. An einer Lagerhalle mit weißen Außenpaneel-Wänden halten sie längs der Halle an der hier verlaufenden Rampe und laden ihre Güter dort ab. Ihre Lieferscheine werfen sie vor dem Verlassen des Klinik-Areals durch den Schlitz eines neben dem Empfang an der Wand befestigten dunkelgrauen Metallkästchens und sind angehalten, das Areal danach unverzüglich wieder zu verlassen.

Es gibt keinerlei Bestätigung über die Anlieferung der Waren. Erst am nächsten Wochentag erhält die Lieferfirma eine diesbezügliche Mail-Nachricht mit dem Inhalt, dass man die abgelieferte Ware geprüft habe und der Rechnungsbetrag laut vertraglich vereinbarten Zahlungskonditionen überwiesen werde. Nachdem alle Lieferanten auf solch einen guten Kunden nicht verzichten wollen, hat es dort auch nur selten mangelhafte Lieferungen gegeben!

Auch den örtlichen Behörden bleibt dieses geheimnisumwitterte Unternehmen ein Rätsel. Bekannterweise entstehen in Bars, Bistrós und Restaurants immer wieder Gerüchte, wenn sich im Umfeld einer Ortschaft auffällige, neue Firmen oder Personen ansiedeln. Natürlich kamen auch dem Polizeichef von Nizza, Commissaire Francois Darneaux, solche Redereien zu Ohren. Nach seinem überraschenden, offiziellen Besuch in der Klinik Sanmarca, den er dort als Vorstellungs- und Höflichkeits-Besuch titulierte, wusste er auch nicht mehr, als er über die Gerüchtebörse erfahren hatte.

Nun, dachte Darneaux, möglicherweise brauchen uns die hohen Herrschaften eines Tages ja doch noch…

Und er konnte damals wirklich noch nicht ahnen, welche Rolle ihm und seinem Team noch zukommen würde…

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Südfrankreich

Dr. Davide Amarca, in einem federleichten, dunkelgrünen Bademantel, liegt auf einer aus Teakholz gefertigten Sonnenliege mit dicken, beigen Auflagen auf der Terrasse seiner im nördlichen Grüngürtel von Nizza gelegenen Villa. Die warme Frühjahrssonne am azurblauen Himmel ist angenehm, eine leichte Brise bewegt spielerisch die Blätter eines riesigen Oleander-Strauches. Sperber-Männchen trillern sehnsüchtig nach streng auswählenden Weibchen. Bienen, Schmetterlinge tänzeln geschäftig um farbenprächtige Blüten, die ganze Umgebung ist ein einziges Idyll. Davide fühlt sich unglaublich wohl an diesem frühen Mai-Nachmittag. Auf einem kleinen Teakholz-Beistelltischchen liegen neben einem kristallenen, viertelvollen Cognac-Schwenker zusammengefaltet eine Tageszeitung, eine angebrochene Packung Blaue Gitanes sowie ein goldenes Dupont-Feuerzeug.

Luxus pur begleitet seit einigen Jahren sein Leben und trotzdem ist sein Werdegang nicht ungetrübt. Auf Wunsch seines Vaters, einem anerkannten plastischen Chirurgen, studierte Davide Medizin. Als junger Arzt verdingte er sich in Kliniken wie Rouen, Marseille und Lille. Was sein Vater erhofft hatte, nämlich dass sein Sohn ein großer Chirurg werden würde, trat jedoch nicht ein. Im Gegenteil: Davide war praktisch allen Klinikleitungen als nicht unbedingt verlässlicher Arzt aufgefallen. Es lag nicht an der Qualität seiner Arbeit, nein, diese wurde kollegenseitig des Öfteren sogar gelobt. Es war seine eher lockere Einstellung zum Beruf: Laufend mussten Operations-Termine des Dr. Amarca verschoben, Patienten vertröstet und dadurch die OP-Planung neu überarbeitet werden!

Etliche Kliniken verzichteten nach einigen dieser Schlampereien des Dr. Amarca gerne auf seine Mitarbeit. Nur durch Betreiben seines Vaters bekam er dann den Posten eines Chef-Arztes in der Abteilung für Transplantations-Chirurgie im Hospital in Nizza. Mit Ach und Weh kam er dort über die Runden und jedes Mal, wenn ihm wieder einmal eine seiner Termin-Malaisen passiert war und die Klinikleitung ihm seinen Abgang nahelegte, sprang sein Vater ein und konnte die Angelegenheit auf Grund seines Namens und seiner Verbindungen nicht nur aus den Ärztebesprechungen heraushalten sondern auch vollkommen vertuschen.

Unerwartet starb Davides Vater durch einen Segelunfall und schon nach einer Woche legte die Klinik Davide nahe, zu kündigen! Was dieser, der sich ab nun keinerlei väterliche Hilfe mehr erwarten durfte, aus verständlichen Gründen auch tat. Ab dieser Zeit waren Davides Engagements in offiziellen Spitälern Geschichte.

Just im selben Monat erreichte Davide und seine Schwester Beatrice die traurige Nachricht aus Grasse vom Ableben ihrer Großtante, Catherine Amarca. Unverehelicht und kinderlos hinterließ sie ihr beträchtliches Vermögen den beiden Geschwistern. Nach Klärung sämtlicher Formalitäten und etlichen abendlichen, intensiv geführten Gesprächen zwischen den Geschwistern war man sich über die weitere Vorgangsweise einig: