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Eine Frau und eine große Liebe. Ein Tod und ein Neuanfang. Koffer voller Briefe haben sie gefunden, erklären zwei Polizisten dem erstaunten Elias. Alle an ihn gerichtet. Geschrieben jeden Tag seit dreißig Jahren von einer Frau, die ihn liebte. Und die gestorben ist, ohne ihn je wiedergesehen zu haben, nachdem er sie als Achtzehnjähriger nach einer kurzen Beziehung verlassen hatte. Elias begibt sich auf die Suche nach dem Leben dieser Frau, und damit auch auf die Suche nach sich selbst.
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Seitenzahl: 231
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IMPRESSUM
AUTORIN:
Stefanie Gregg
LEKTORAT:
Mathias Scherer
TITELFOTO & GESTALTUNG:
Jonas Zauels
SATZ:
Karina Lotz
DRUCK & BINDUNG:Gugler GmbH, Melk, Österreich
VERLAG:
edition federleicht, Frankfurt am Main
www.edition-federleicht.de
1. Auflage 2023
© edition federleicht
ISBN 978-3-946112-88-4
E-BOOK ISBN 978-3-946112-99-0
Stefanie Gregg
Roman
Für Kim Alexander
oder
Für jenen, der mir diese Geschichte erzählte,die seine und wahr ist
KOFFER VOLLER BRIEFE
Bohème
BISHER ERSCHIENEN IM VERLAG
SCHREIBTISCH. Literarisches Journal
Mein geliebter Elias,
wenn Du die drei Worte schreibst, dann fliegen die Schmetterlinge in meinem Bauch, wie beim ersten Mal. Ist das nicht verrückt?
Erst einmal muss ich Dir etwas erzählen, das Dich zum Lachen bringen wird. Ich bin heute von einem Baum gefallen.
Als ich mit Momo durch den Wald spazieren ging, bellte er plötzlich einen Baum an, obwohl ich ihn mehrfach zurückrief. Verwundert sah ich nach und entdeckte ganz oben auf einer uralten, riesigen Eiche ein winziges Babykätzchen. Ich vermute, dass es sich vor Momo so erschreckt hatte, dass es in Panik diesen Baum bis ganz oben erkletterte. Als ich Momo zur Ruhe rief, begann das Kätzchen kläglich zu maunzen. Ich spazierte erst einmal weiter. Eine Stunde später kamen wir wieder zurück, und stell Dir vor, die kleine Katze saß noch immer laut miauend dort oben. Offenbar wagte sie sich nicht mehr nach unten. Es dämmerte schon, und mir war klar, dass nach mir heute Abend keiner mehr hier durch den Wald lief. Momo war diesmal ganz leise, legte den Kopf schief und sah mich an, als ob er mir sagen wollte, wir können das kleine Baby doch nicht dort oben lassen. Was also sollte ich tun?
Du kennst mich ja, ich konnte nicht gehen. Also ließ ich meine Tasche unten und begann den Baum hinaufzuklettern. Am ersten Ast, der recht hoch oben war, hing ich vermutlich minutenlang wie ein nasser Sack, bis es mir endlich gelang, meine Beine hinaufzuschwingen. Gut, dass mir keiner zusah! Ich probierte Ast für Ast, ob er mich tragen konnte. Sah dabei auf keinen Fall nach unten. Versuchte nur an das Kätzchen zu denken. Vier Meter war ich bestimmt schon oben, da hörte ich einen Ruf: „Minka!“. Das Kätzchen begann wie verrückt die Krallen in den Baum zu haken und lief den Stamm hinunter, nahm meinen Kopf als letzte Stütze und sprang auf den Boden. Seine Krallen in meiner Stirn ließen mich aufzucken, ich verlor den Halt und fiel hinunter. Ab und an federte mich ein Ast ab und ich spürte mich plötzlich auf dem Waldboden liegen. Mühsam rappelte ich mich hoch, meine Schulter brannte wie Feuer. Vor mir stand eine Frau, das Kätzchen im Arm, die immer nur wiederholte: „Minka, Minka“. Dann drehte sie sich um und ging.
Momo leckte mir über das blutige Gesicht, ich rappelte mich mühsam auf, sah ihr hinterher und sagte: „Gern geschehen“.
Ich vermute fast, das war die Frau aus dem Geranienhaus, die nicht einmal grüßt, wenn man vorbeigeht. Das ist bei uns auf dem Land nicht üblich, wie Du weißt. Bisher habe ich es immer lächelnd hingenommen, ich bin doch selbst auch etwas menschenscheu und wäre in der Großstadt wohl der Typ, der gar keinem je ins Gesicht sieht. Aber auch und vielleicht gerade bei uns auf dem Land gibt es schon viele Eigenbrötler. Ich versuche immerhin, meine Schüchternheit zu überwinden und zu jedem freundlich zu sein. Grantler sagt man hier bei uns. Nun, jedenfalls werde ich bei dem Geranienhaus eher daran denken, welche miesepetrigen Menschen da hinter den Gardinen stecken.
Jetzt pflege ich erstmal meine Wunden, lese mir die drei wundervollen Worte aus Deinem letzten Brief an mich vor und versuche, damit die Schmerzen in Armen, Beinen und an der Stirn zu vergessen.
Ich liebe Dich auch.
Deine lädierte Isabella
„Sie heißen Elias Brand?“
„Ja, das sehen Sie ja, ich habe Ihnen doch gerade meinen Ausweis vorgelegt.“ Ein Lichtstrahl kämpfte sich durch die schon länger nicht mehr geputzten Fenster und traf ihn ins Auge. Er rückte ein wenig zur Seite.
„Geboren am 28. Januar 1972. Sie sind also 48 Jahre alt.“
Elias verwies nur mit den Händen auf den Ausweis und sah ein wenig verzweifelt hoch zur leicht angegrauten Decke des Polizeipräsidiums.
„Wohnhaft in München.“
„Ja.“
„Wo lebten Sie 1990?“
Nun blickte er verwundert den Polizisten an. „90. Warten Sie, das war das Jahr, in dem ich Abitur machte. Da lebte ich noch in Bruckmühl, im tiefsten Oberbayern.“ Er setzte sich aufrecht hin. „Könnten Sie mir nicht bitte erst einmal sagen, warum ich hierher bestellt worden bin?“
„Das können Sie sich nicht vorstellen?“ Der Polizist sah ihn kritisch an.
„Nein.“ Elias wurde wütend. Was sollte das hier alles. Er hatte die erste Hälfte der Nacht mit einer sehr hübschen, jungen Blondine verbracht, bevor er nach Hause gefahren war, und hatte noch nicht viel Schlaf gehabt, als er morgens auf das Präsidium in der Ettstraße beordert worden war. Das alte Gemäuer mit den zwei riesigen steinernen Löwen am Eingang erschien ihm schon beim Eintreten furchteinflößend. Kurz war ihm da auch die Frage durch den Kopf gegangen, warum er nicht auf die Polizeiinspektion 13 bei sich in Schwabing einbestellt worden war.
„Sie haben also nicht vom Tod von Isabella Faber gehört?“
„Wer ist das?“
„Sie kennen sie nicht?“
Elias schüttelte den Kopf. „Was soll das? Sagen Sie mir doch bitte, warum ich hier bin.“
„Sie ist“, der Polizist zögerte, bis sein Kollege, der mit verschränkten Armen, kobramäßig ruhig und den tödlichen Biss abwartend neben ihm saß, einfiel: „… eines unnatürlichen Todes gestorben.“
Elias schluckte. Das war ein Verhör hier, wurde ihm langsam klar. Kein Verkehrsdelikt für die Polizeiinspektion Schwabing, irgendetwas anderes, etwas Größeres. Zwei Polizisten ihm gegenüber, getrennt durch einen kalt grauen Schreibtisch. Die automatisch gesperrte Tür war vorhin hinter ihm ins Schloss gefallen. Ein unnatürlicher Tod hatten sie gerade gesagt. Er war nicht gerufen worden als Zeuge eines Verkehrsunfalls, was seine einzige Vermutung gewesen war. Unnatürlicher Tod. War das ein Mord?
„Sie sagen nichts. Sie wussten also davon?“ Der Good-Guy-Polizist versuchte seine Stimme freundlich klingen zu lassen, während der Bad-Guy-Kobra-Polizist versteinert blieb.
„Ich verstehe jetzt einfach gar nichts mehr. Wollen Sie mich wegen des Todes dieser Frau befragen?“
„Das haben wir keinesfalls so gesagt.“
„Wenn Sie mir jetzt nicht sofort sagen, warum ich hier bin, werde ich gar nichts mehr sagen.“
„Aha“, sagte der eine Polizist, während er auf Elias’ Ausweis blickte, als habe er bereits den Täter gefasst. Der andere rührte sich nicht, hielt die Arme verschränkt und sah ihn weiterhin bewegungslos an.
Umständlich kramte der sprechende Polizist etwas hervor, es war ein kopiertes Foto. Elias nahm das ihm hingereichte Papier entgegen. Ein junger Mann, ein kurzärmeliges weißes Hemd, vielleicht ein Knopf zu viel offen, eine ebenso weiße Hose, ein wenig zu weit geschnitten, 80er eben. Attraktiv, selbstbewusst, ein wenig forsch, fast schnöselhaft.
„Das bin ich“, sagte Elias. „Woher haben Sie dieses Foto?“
„Dieses Foto stand auf dem Nachtkästchen von Isabella Faber.“
„Ich kenne die nicht!“ Elias war aufgesprungen. Er schwitzte. Er war irritiert.
„Hier ist ein Foto von ihr.“ Wieder reichte der Polizist ihm ein kopiertes Bild. Elias setzte sich wieder und nahm das Blatt entgegen. Eine blonde Frau. Ein Sommerkleid fiel über ihre schmalen Hüften. Vermutlich zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Die eine Hand war unsicher hinter dem Rücken versteckt, während die andere sich in einer seltsamen Bewegung nach vorne streckte, als ob sie den Fotografen abwehren wollte. Ein schmales Lächeln. Sehr schmal.
„Ich habe Ihnen das jetzt mehrfach gesagt, ich kenne diese Frau nicht. Was wollen Sie denn eigentlich von mir?“
Wieder vom Good-Guy ein mühsames Kramen in seinen Unterlagen.
In Elias’ Kopf ratterte es. Sein Freund Oliver war Jurist. „Nie etwas sagen!“, das war die oft von ihm wiederholte Devise für alles. Ob man von einem Polizisten beim Überholen in der Verbotszone erwischt wurde oder als Jugendlicher bei zu lauten Partys. „Nichts zugeben! Nie etwas sagen!“
Aber er konnte hier sagen, was er wollte, dies war irgendeine seltsame Verwechslung.
„So sah sie mit achtzehn aus.“
Zum dritten Mal nahm Elias ein ihm vorgehaltenes Papier. Diesmal sah er länger darauf. Zuerst nur eine Ahnung, irgendetwas kam ihm bekannt vor. Die dauerwellengelockten Haare, ein Blouson mit Schulterpolstern, ein schüchternes Lachen. Ein zweiter Blick. Der Mund. „Das ist Isi.“
„Tja, Isabella Faber.“
„Ich kann mich an ihren Nachnamen gar nicht mehr erinnern.“
„In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr?“
Elias sah erst jetzt von dem alten Foto auf. „In gar keinem.“ Diesmal sagte er es langsam und zögernd. „Aber ich stand mal in einem Verhältnis zu ihr.“ Er dachte nach. „Wir gingen miteinander. So sagte man das damals. Ich glaube, ich war achtzehn. Ja, klar, es war im Abiturjahrgang. Sie war mit mir im Geschichte-Kurs. Aber, ich glaube, nur ein paar Monate ging das mit uns.“
Plötzlich überschwemmte ihn eine Erinnerung. Eine scheußliche, er sah, was er auf einen Briefumschlag gekritzelt hatte, einen Brief von ihr an ihn.
„Herr Brand?“
„Ja?“
Der Polizeibeamte hatte wohl etwas zu ihm gesagt.
„Wann Sie sie das letzte Mal gesehen haben, habe ich gefragt.“
Wieder besah Elias sich das Foto, den schönen, schmalen Mund, den er gerne geküsst hatte. Isi war also tot, eines unnatürlichen Todes gestorben. Der Brief, die Briefe, es schnürte ihm die Kehle zu.
„Herr Brand!“ Der Ton des Uniformierten war nun ungeduldig.
„Ja. Also, später nochmal.“
Wieder sah der Beamte ihn an, als ob für ihn alles klar sei.
„Beim Abiturtreffen, beim fünfundzwanzigsten, vor fünf Jahren.“
„Nein, ich glaube, beim zehnten auch. Ich ging nur selten zu den Klassentreffen, eher zu den großen mit den runden Zahlen. Man fährt ja doch fast eine Stunde nach Bruckmühl. Meine Eltern sind schon gestorben. Also, ich hänge nicht besonders an meiner Heimatstadt.“ Was redete er denn nun schon wieder? Vermutlich interessierte das die beiden kein bisschen. „Ich war wahrscheinlich nur vier- oder fünfmal bei Abiturtreffen. Beim letzten war sie da, da bin ich mir sicher. Vorher vielleicht auch. Ich weiß es nicht.“ Er stützte seinen Kopf auf beide Arme und betrachtete das alte Bild seiner damaligen Freundin. Dann zog er das neue hinzu. Eigentlich das gleiche Gesicht. Ein wenig faltiger, ein wenig älter eben. Hübsch, in einer unauffälligen Art. Vielleicht ein paar Kilo mehr, die dennoch nicht zu viel waren. Sie war jetzt tot.
„Danach hielten Sie Kontakt?“
„Wonach?“ Elias war weiterhin desorientiert.
Der Polizist sah ihn genervt an, als ob Elias ein Spiel mit ihm spielen wollte.
„Nein, ich habe Schluss gemacht. Sie hat damals noch ein paar Mal bei mir geklingelt, dann haben wir uns nicht mehr gesehen. Also bis auf das Abiturtreffen.“
„Und danach?“ Die Stimme machte klar, dass dies die ganze Zeit die Frage gewesen war.
„Nach dem Abiturtreffen? Nein. Wir haben dort kein Wort miteinander gewechselt.“
Nun bewegte sich zum ersten Mal der Kobra-Polizist neben dem Sprechenden. Er entfaltete seine Hände vom etwas zu dicken Bauch und schob ihm ein weiteres Papier zu. Dies jedoch mit einer aggressiven Handbewegung. Elias griff danach.
„Das ist ihr Todesbild.“
Elias ließ es wieder auf den Tisch gleiten, doch seine Augen blieben daran hängen. Isi. Aber tot. Selbst als Leiche hübsch, dezent geschminkt. Nur eben tot. Elias sagte nichts mehr, er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Wollen Sie uns irgendetwas dazu mitteilen?“ Der nun erst sprechende Polizist hatte sich jetzt vorgebeugt, als ob die Schlange gleich herabsaust und zubeißt.
„Was soll ich dazu denn sagen? Es tut mir leid. Aber es ist eben sehr lange her, als ich sie kannte. Würden Sie mir bitte jetzt erklären, um was es hier geht. Wie ist sie gestorben? Und was soll ich hier?“
Der Kobra-Polizist, der offenbar der Ranghöhere war, wie Elias nun klar wurde, machte dem anderen eine Kopfbewegung, ihm zu folgen und brummte nur. „Einen Moment.“
Die Tür fiel hinter den beiden zu, und Elias legte die drei Bilder nebeneinander vor sich. Isi, die hübsche Isi. Er hatte sie in der Theatergruppe kennengelernt. Da war man freitagabends zusammen und konnte danach miteinander ausgehen. Sie hatte ihm gefallen. Gerade in ihrer Schüchternheit. Wieder dachte er daran, dass er sie gerne geküsst hatte. Ganz scheu hatte sie dann immer den Kopf zurückgelegt. An ihrem leichten Erschrecken erkannte er sofort, dass es der erste Zungenkuss ihres Lebens war. Noch an mehr erinnerte er sich. Dass alles für sie neu war. Dass sie sich immer zögernd, unsicher ihm hingegeben hatte. Dass er genau dies genossen hatte. Er fühlte sich als so erfahren, so verwegen bei ihr, die noch von nichts wusste.
Irgendwann war sie ihm wohl langweilig geworden, sicher wusste er nur noch, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte. Er war damals nie sonderlich lange bei einem Mädchen hängengeblieben, war auch nicht nötig, lieber öfter mal etwas Neues ausprobieren. Du meine Güte, er war achtzehn.
Aber sie war danach mehrfach zu ihm nach Hause gekommen, wollte eine Aussprache, was ihn genervt hatte, denn er hatte ihr ja doch nichts zu sagen. „Kein Bock mehr“ war auch keine gute Begründung für das Ende einer Beziehung für ein achtzehnjähriges Mädchen.
Warum hatte er beim Abiturtreffen eigentlich kein Wort mit ihr gewechselt? – Kein Interesse? Oder Angst, dass noch immer Vorwürfe kommen könnten? Elias hatte keine Ahnung, im Moment von gar nichts. Er nahm wieder das Totenbild zur Hand. ‚Leiche’, das Wort sauste in seinem Kopf. Unnatürlicher Tod. Nun, dem hübschen Gesicht sah man das nicht an. ‚Eine schöne Leich’, sagte man hier in Bayern, wenn die Beerdigung gut gelungen war, mit vielen Trauergästen und einem guten Leichenschmaus. ‚Eine schöne Leich‘. Was für ein unmöglicher Gedanke.
Die Briefe, die er hatte zurückgehen lassen. Die schöne Isi. Welches Mädchen war eigentlich danach gekommen?
Die Tür ging auf. Die beiden setzten sich wieder ihm gegenüber.
„Herr Brand. Frau Faber wurde tot aufgefunden. Möglicherweise Suizid. Aber das kann erst sicher festgestellt werden, wenn andere Tatmöglichkeiten oder anderweitige Einwirkungen auf sie ausgeschlossen werden können. Das Bild von Ihnen stand auf Frau Fabers Nachttisch. Und wir haben Briefe gefunden.“
Die Briefe, die er nicht mehr angenommen hatte.
„Briefe von Frau Faber an Sie. Jeder beginnt mit ‚Mein geliebter Elias‘.“
Mein geliebter Elias. Briefe. Jene Briefe.
„Ja. Ich habe die Briefe von ihr an sie zurückgehen lassen. Ich war achtzehn! Ich hatte Schluss gemacht, und das war es eben. Ich verstehe immer noch nicht, was ich hier soll.“
„Es waren viele Briefe.“
„Drei oder vier. Ich weiß es nicht mehr.“
„Koffer voller Briefe.“
Sie sahen ihn an.
„Seit dreißig Jahren hat Frau Faber Ihnen jeden Tag einen Brief geschrieben. Aber nicht abgeschickt. Jeden Tag.“
Er lief und lief und lief. Straßen zogen an ihm vorbei. Straßenlaternen. Er hatte das nie zuvor wahrge-nommen, aber es gab unterschiedliche. An den meisten Hauptstraßen diese großen länglichen mit ihrem harten, kalt ausleuchtenden Licht. Und dann diese an alte vergangene Zeiten erinnernden geschwungenen Leuchten, die nur scheinbar idyllische Stadt illuminierend. Die größte Kleinstadt der Welt nennen die Münchner liebevoll ihre Stadt. Nun in der Nacht schien sie ihm nicht heimelig, nicht warm, sondern unpersönlich und groß. Er wusste nicht mehr, in welchem Stadtviertel er war, er war von der Ettstraße einfach losgelaufen. Altstadt, Prinzregentenstraße, Eisbach, Englischer Garten. War er nun in Haidhausen oder Bogenhausen? Die alten Münchner Villen erhoben sich links und rechts neben ihm, sie schienen ihn zu erdrücken. Planlos lief er von einer Straße zur anderen, in beliebige Richtungen. Er blickte einfach nur von Straßenleuchte zu Straßenleuchte. Als ob sie ihn retten könnten. Länglich-hart, gebogen-sanft, länglich-hart, gebogen-sanft, immer abwechselnd. Eigentlich lächerlich, waren nicht die länglich-harten die ehrlicheren, die gebogensentimentalen die nur scheinbar Trost bringenden, drogenartig berauschend, doch nur die harte Ernüchterung nach sich ziehend?
Eine Frau hatte sich umgebracht wegen ihm.
Nicht eine Frau.
Isi.
Wegen ihm.
Unsinn, das konnte doch nicht wegen ihm gewesen sein, da war mehr.
Wegen ihm. Jeden Tag einen Brief geschrieben. Seit dreißig Jahren. Jeden Tag einen Brief an ihn. Den er nie gelesen hatte.
Sowas war krank. Die hatte sich nicht umgebracht wegen ihm. Die war krank. Gerade Lichter. Kalt. Brutal kalt. Geschwungene Lichter. Nur vermeintlich schön. So bürgerlich.
Ob er sie hätte heiraten sollen, eine Familie gründen, damals in Bruckmühl?
Irrsinn! Das hätte er nie durchgehalten!
War das ihr Wunsch gewesen? Er hatte keine Ahnung, einfach keine Ahnung. Er wusste nur, dass er nicht nach Hause konnte. Er lief weiter und weiter.
Mein geliebter Elias,
die Sonne schickte ihre Strahlen auf den Schnee, der zu glitzern begann wie ein Diamantenfeld. Wenn Momo hindurchstob, wirbelte er die Schneekristalle auf, die um ihn herumsprangen wie ein kleines weißes Feuerwerk und sich auf sein dickes Winterfell legten. Er liebt den Winter, Bernhardiner eben.
Ein wundervoller Tag heute! Momo und ich sind durch den Schnee getollt. Du kennst ihn ja, wie er quer durch die Felder im Schnee hüpft wie ein Hase, und seine Schlappohren klappen dabei auf und nieder. Er verbreitet eine solche Lebensfreude! In solchen Momenten bin ich so dankbar, dass Du mir zugeraten hast, den Hund aufzunehmen. Ich hatte ja doch ein wenig Angst, weil ich ganz unerfahren mit Hunden war. Doch Du hast mir in die Augen gesehen, meine Hände genommen und gesagt: „Isabella, Du bist so oft alleine, wenn ich reisen muss. Ein Hund wird dann immer bei Dir sein. Und er wird Dich beschützen, wenn ich nicht bei Dir sein kann. Er wird Dir guttun.“ Und wie er das tut, mein geliebter Elias. Er bringt mich an die frische Luft, ich treffe viele nette Menschen, mit denen ich, mal mehr, mal weniger, intensiv rede. Ich komme öfter aus meiner Abgeschlossenheit heraus. Vor allem aber, Momo steckt mich mit seiner Lebenslust, mit seiner Unbeschwertheit und mit seiner Offenheit an. Wie er auf jeden anderen Hund und auch auf jeden anderen Menschen zugeht. Und genauso offen kommen die Menschen dann auch auf mich zu. Das ist wunderschön. Vor allem aber schenkt er mir jeden Tag seine Liebe. Genau wie Du. Ja, er macht mich glücklich.
Ich wünschte, Du hättest heute dabei sein können! Momo raste durch den Schnee und rannte dann wieder zu mir und sprang an meinen Hosenbeinen hoch. Ich weiß, Du wirst nun den Kopf schütteln und Dir denken, das darf er doch nicht, sie sollte ihn ein wenig besser erziehen. Aber ich weiß ebenso, wie sehr Du Dich über unser beider Spaß gefreut hättest und Momo ja doch auch selbst nicht zurechtweisen hättest können!
Ich versuche mir vorzustellen, wie es bei Dir ist. Fast dreißig Grad hat es heute in Ägypten, habe ich gelesen. Du schwitzt sicher. Ich hoffe sehr, Du musst nicht zu viel arbeiten und hast noch ein wenig Zeit, Dich umzusehen. Ich weiß, dass Du vor den Pyramiden von Gizeh stehen und den Duft der alten Zeiten einatmen wirst. Weißt Du noch, wie wir vor Göbekli Tepe in der Türkei standen? Ein mystischer Ort, sagtest Du. Ein uralter Ort, vielleicht der älteste der Welt. Der älteste Kulturort der Welt. Jeder Stein des Bergheiligtums erzählte Dir von den Anfängen der Kultur. Durch Dich und Deine Begeisterung konnte ich die Mystik dieses Ortes spüren.
Das Alte, das Ursprüngliche, das Ehrliche, Sagenumwobene dieser uralten Orte, die Du mir gezeigt und erklärt hast, haben mir sehr viel gegeben, mir innere Sicherheit und Tiefe vermittelt. Jedes Lebensjahr mehr.
So viele Orte hast Du mich erst erfahren lassen, weil Du ihre Bedeutung erspürst. Wenn ich Dir trotz unserer räumlichen Entfernung nahe sein will, dann denke ich an solche Momente, denn dann bist Du so nahe bei mir, wie es nur gehen kann.
Du blicktest auf den Wunschbaum in Göbekli Tepe, an den die Menschen Zettel mit ihren Wünschen hängten. Sie flatterten im Wind und der knorrige Baum versprach Erfüllung. Dann küsstest Du mich. So wie nur Du küssen kannst. Wir versanken in unserer Unendlichkeit.
So wirst Du nun vor den Pyramiden von Gizeh stehen, die in den Himmel hinaufragen. Gedanklich erzählst Du mir ihre Geschichte, so wie Du es immer an diesen Orten tust. „Tausende von Jahren vor Christus“, würdest Du mit Deiner wundervollen Erzählstimme anheben, „begruben hier die Ägypter ihre Pharaonen.“ Leben und Tod kamen hier zusammen. „Du darfst dir nicht vorstellen, dass diese Begräbnisse so traurig waren wie bei uns. Denn man begleitete die Herrscher ja nur in ihr unendliches Glück, für das sie natürlich auch gut vorsorgten.“ Hier würdest Du mich mit Deinem lächelnden Blick ansehen.
Dann setze ich mich einfach in den Sand und höre Dir zu. Und ich wüsste nicht, ob lieber Deinen Geschichten oder lieber Deiner Stimme.
Ich vermisse Dich, lass Dich in Gedanken küssen.
Isabella
Elias blickte auf die Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch. Normalerweise überkam ihn ein Gefühl von Freude, wenn er sich über seine Arbeiten machte. Sprachen andere von den Mühen ihrer Arbeit, dem Unwillen, am Montag ins Büro zu gehen, konnte er nur innerlich den Kopf schütteln. Er liebte seine Arbeit und konnte sich gar nicht vorstellen, jeden Tag ungerne seine Aufgaben zu erledigen. Selbst am Wochenende wie heute nahm er sich gerne zumindest zwei Stunden Zeit, in denen die Kinder ihre Hausaufgaben erledigten, um an seinen Schreibtisch zu gehen.
Eine Erinnerung überkam ihn. „Mein Drei-Gesichter-Mann“ hatte ihn Sabrina oft spielerisch genannt. Der wilde, ungestüme Mann, der sich früher in immer wieder neue Frauen verliebt hatte, war das erste Gesicht. Sabrina hatte das gewusst, als sie sich begegnet waren. Als ungeplant das erste Kind unterwegs war, hatte er seine wilden Liebesgefühle auf dieses Kind konzentriert, und auf Sabrina. Sie hatte nie etwas dazu gesagt, aber er wusste, dass sie darüber froh und erleichtert gewesen waren. Das war das zweite Gesicht: der Familienvater.
Er seufzte. Ob er es durchgehalten hätte? Ein Jahr nach Sabrinas Tod war er wieder in sein altes Schema verfallen. Frauen, vielleicht mal eine kurze Liebe, meist nur ein Begehren. Frauen, die ihn trösteten, mal ein paar Wochen lang, mal nur eine Nacht. Dennoch hatte er versucht, diese Eskapaden nicht auf Kosten seiner Kinder gehen zu lassen. Mal ein längerer Abend im Büro. Mal eine berufliche Reise, die er nicht alleine unternahm. Sobald die Frau sich zu sehr an ihn klammerte, floh er. Das erste Gesicht war wieder da, wenn auch vor den Kindern verborgen. Sabrina hatte es nie benannt, aber sie wussten beide, dass es seine Unstetigkeit und Wildheit war, die sie damit meinte, vielleicht auch seine Rücksichtslosigkeit, gestand er sich plötzlich ein.
Sein drittes Gesicht war das, was Sabrina „mein wahnsinniger Einstein“ genannt hatte. Wenn er die Zeit über seinen Dokumenten vergaß, fieberhaft las, exzerpierte, formulierte, Thesen aufschrieb und versuchte sie nachzuweisen, hatte er den früheren Lebens- und Frauenwahnsinn in seine Forschung verlegt. Seine Publikationen waren in Fachzeitschriften und vor allem Sachzeitungen für ein breiteres Publikum sehr beliebt. Er konnte seine Faszination für alte Zeiten, Brauchtümer und Lebensweisen offenbar in seine Schriften übertragen. Auch wenn ihm das bei den Professoren oft etwas verächtlich hochgezogene Augenbrauen einbrachte, kleine spitze Bemerkungen. Für die Universitäten war er zu wenig sachlichvorsichtig theoretisierend. Emotionen und Faszination wollten die anderen nicht sehen. Ihm war das egal. Dem strikt universitären Leben hatte er sich entzogen und galt nun eher als Fachjournalist.
Wenn Sabrina ihn dann zum dritten Mal zum Essen rief und irgendwann verärgert seine Tür öffnete, musste sie oft doch über ihn lachen. „Mein wahnsinniger Einstein“, lächelte sie dann. Der verrückte Forscher, das war sein drittes Gesicht.
Er blickte wieder auf die Dokumente. Er hatte in der Bibliothek der Aristoteles Universität in Thessaloniki alte Dokumente über Begegnungen zwischen Rom und Konstantinopel in der Spätantike entdeckt, tief verborgen in unendlichen Gängen mit historischen Schriften. Ihm war die Idee gekommen, diese mit dem Apostolischen Vikariat Griechenlands der heutigen Zeit zu vergleichen. Das frühe Christentum in seinen Parallelen zu heutigen Katholiken. Das war mit Sicherheit eine brisante Theorie, die nicht nur die Fachzeitschriften, sondern auch ein breiteres Publikum interessieren würde. Eine großartige These.
Normalerweise wäre nun diese Konzentration über ihn gekommen, und zugleich das Interesse, die Faszination, was er aus diesen Dokumenten herausfinden würde. Er öffnete einen Ordner. Die ersten Worte schienen ihm nichts zu sagen, er schloss ihn wieder.
Seine Hand griff nach dem nächsten Papier, doch sie stockte.
Es interessierte ihn nicht. Es schien ihm plötzlich belanglos. Isis Gesicht schob sich zwischen ihn und die Papiere. Statt fiebriger Faszination spürte er eine traurige Müdigkeit.
„Papa!“
Elias sah auf den Spielplatz, aber er konnte Leo nicht entdecken. Wie oft hatte sein Sohn ihn eigentlich schon gerufen?
„Papa“, mit einem vorwurfsvollen Ton sprach ihn nun auch Anne an, die mit ihren fünfzehn Jahren selbstverständlich viel zu alt war, um auf den Spielplatz zu gehen. Obwohl er genau wusste, dass sie manchmal im Dunkeln zum Spielplatz hinter ihrem Haus lief und sich auf die Schaukel setzte. Aber nicht mehr am Tag.
„Papa!“
„Ja?“
„Du bist wie damals. Seit Tagen.“
„Wann damals?“ Das war eine dämliche Frage. Er wusste es genauso gut wie Anne, die dementsprechend nur ihre Augenbraue hochzog. Genau wie Sabrina. Je älter sie wurde, desto öfter erinnerte sie ihn an ihre Mutter. Wenn er diese kleinen Gesten sah, die ihn an Sabrina denken ließen, die gleich hochgezogene linke Augenbraue, manchmal sogar den gleichen Tonfall, wenn sie Leo zurechtwies. Genau wie Sabrina. Jedes Mal gab dies Elias einen Stich ins Herz, eine seltsame Mischung aus schmerzlichem Erinnertwerden, wie sehr er Sabrina vermisste. Und das Glück, Sabrina in ihrer gemeinsamen Tochter weiterleben zu sehen.
Als Sabrina vor drei Jahren gestorben war, hatte Anne deren Rolle eingenommen. Die Verantwortung auf sich genommen, für Leo gesorgt. Von einem Tag auf den anderen war sie erwachsen geworden. Elias wusste nicht mal, ob sie damals beim Tod ihrer Mutter geweint hatte. Er hatte es täglich, er war zusammengebrochen wie ein kleines Kind, war wochenlang nicht mehr in die Arbeit gegangen. Bis Anne ihm das angedrohte Kündigungsschreiben des wichtigsten Fachjournals, für das er regelmäßig schrieb, vor die Füße geschmissen und ihn angeschrien hatte. „Willst du uns verhungern lassen? Steh endlich auf und arbeite!“
Was er dann einfach tat. Sie regelte alles zuhause, so wie es zuvor Sabrina getan hatte. Sie war zwölf damals, und doch erwachsen. Er ließ es geschehen, weil er auch gar nicht wusste, was er dagegen hätte tun können.
Und nun sagte sie ihm also, er sei wie damals. Es war ja kein Wunder. Eine Frau hatte er an diese verdammte Krankheit verloren. Und eine andere Frau hatte sich nun wegen ihm umgebracht. Brachte er Unglück? War er schuld? Sollte er sich nicht am besten auflösen?
„Papa.“ Diesmal sagte sie es ganz ruhig, als ob sie sich fragte, ob er überhaupt noch reagieren würde. „Leo steckt fest. Und wenn du ihn nicht bald herausholst, wird er erfrieren.“
Elias blickte auf und sah seinen Knirps, der für seine elf Jahre mit 1 Meter 40 nicht zu den ganz großen gehörte. Elias selbst war in seine 1 Meter 90 auch erst spät hineingewachsen. Leo steckte in einem Schneeberg fest. Anne hatte ihn aufgefordert, an diesem Wochenende mit ihnen in die Berge zu gehen. Sie waren mit der Hausbergbahn auf den Gipfel gefahren und hinuntergerodelt. Beide Kinder saßen auf Elias’ Schlitten und schrien vor Freude, so sehr ihnen der Schnee auch ins Gesicht peitschte. Auch Elias hatte endlich wieder einmal gelacht. Zudem musste er sich so konzentrieren, dass sie bei ihrem hohen Tempo nicht auf eisigen Stellen aus der Spur rasten. Endlich mal konnte er nicht denken. Es hatte sich herrlich angefühlt.