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Ein Auftragskiller macht Jagd auf Kommissar Jennerwein. Der neue Roman von Nr.1-Bestseller-Autor Jörg Maurer. Kaum zu glauben, Kommissar Jennerwein macht Urlaub! In einem Sporthotel! Beim Wassertreten, Bouldern und Kräuterwandern soll er sich erholen – und ahnt nicht, dass er sich in höchster Gefahr befindet. Ein Auftragskiller, gemeinschaftlich engagiert von allen Schwerverbrechern, die der Kommissar im Lauf der Zeit hinter Gitter gebracht hat, ist auf ihn angesetzt. Während er eher zufällig dem ersten Mordanschlag entgeht, entlarvt er nebenbei Betrüger und kratzt verdächtige Schwefelrückstände von einer Kirchenwand. Schließlich bekommt er auch noch ein unwiderstehliches Angebot von einem undurchsichtigen Mitarbeiter eines auf künstliche Intelligenz spezialisierten Großkonzerns: Jennerwein soll helfen, einen spurlos verschwundenen Manager zu finden - eine Suche, auf der er in den vollautomatisierten Werkhallen des Konzerns in einen Hexenkessel aus Bosheit, Verrat und Eifersucht gerät. Obendrein ist ihm weiterhin der Auftragskiller auf den Fersen. Die Lunten sind gezündet, die Gewehrläufe gespannt – es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Jennerwein mit heiler Haut davonkommt. Der fünfzehnte Fall für Kommissar Jennerwein – abgründig gut. "Ich liebe die Romane von Jörg Maurer." Denis Scheck
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Seitenzahl: 398
Jörg Maurer
Roman
Der fünfzehnte Fall für Kommissar Jennerwein
Kaum zu glauben, Kommissar Jennerwein macht Urlaub! In einem Sporthotel! Beim Wassertreten, Bouldern und Kräuterwandern soll er sich erholen – und ahnt nicht, dass er sich in höchster Gefahr befindet. Ein Auftragskiller, gemeinschaftlich engagiert von allen Schwerverbrechern, die der Kommissar im Lauf der Zeit hinter Gitter gebracht hat, ist auf ihn angesetzt.
Während er eher zufällig dem ersten Mordanschlag entgeht, entlarvt er nebenbei Betrüger und kratzt verdächtige Schwefelrückstände von einer Kirchenwand. Schließlich bekommt er auch noch ein unwiderstehliches Angebot von einem undurchsichtigen Mitarbeiter eines auf künstliche Intelligenz spezialisierten Großkonzerns: Jennerwein soll helfen, einen spurlos verschwundenen Manager zu finden - eine Suche, auf der er in den vollautomatisierten Werkhallen des Konzerns in einen Hexenkessel aus Bosheit, Verrat und Eifersucht gerät. Obendrein ist ihm weiterhin der Auftragskiller auf den Fersen. Die Lunten sind gezündet, die Gewehrläufe gespannt – es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Jennerwein mit heiler Haut davonkommt.
Weitere Romane von Jörg Maurer:
›Föhnlage‹, ›Hochsaison‹, ›Niedertracht‹, ›Oberwasser‹, ›Unterholz‹, ›Felsenfest‹, ›Der Tod greift nicht daneben‹, ›Schwindelfrei ist nur der Tod‹, ›Im Grab schaust du nach oben‹, ›Stille Nacht allerseits‹, ›Am Abgrund lässt man gern den Vortritt‹, ›Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt‹, ›Am Tatort bleibt man ungern liegen‹, ›Den letzten Gang serviert der Tod‹, ›Bei Föhn brummt selbst dem Tod der Schädel‹ und ›Shorty‹
Die Webseite des Autors: www.joergmaurer.de
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Jörg Maurer liebt es, seine Leserinnen und Leser zu überraschen. Er führt sie auf anspielungsreiche Entdeckungsreisen und verstößt dabei genussvoll gegen die üblichen erzählerischen Regeln. In seinen Romanen machen hintergründiger Witz und unerwartete Wendungen die Musik zur Spannungshandlung.
All dies hat Jörg Maurer auch schon auf der Bühne unter Beweis gestellt. Als Kabarettist feierte er mit seinen musikalisch-parodistischen Programmen große Erfolge und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine inzwischen fünfzehn Jennerwein-Romane sind allesamt Bestseller. Sein Roman »Shorty« war ebenfalls erfolgreich.
Jörg Maurer lebt zwischen Buchdeckeln, auf Kinositzen und in Theaterrängen, überwiegend in Süddeutschland.
»Kommissar Jennerwein muss sterben«, sagte der Typ mit dem Gipsarm leise zu einem großen, spindeldürren Mann, der sich in dem kleinen Raum fast bücken musste.
»Unbedingt«, murmelte der Dürre. »Auf jeden Fall muss er sterben.«
»Und ich habe auch schon eine Idee, wie wir es machen«, fuhr der Gipsarm fort.
Er sprach nicht weiter. Der Dürre hatte den Finger auf den Mund gelegt und ihm ein kurzes, hastiges Zeichen gegeben, die Unterhaltung schriftlich weiterzuführen. Der Gipsarm griff hinter sich ins Regal und zog ein Buch hervor, das er aus der Gefängnisbibliothek geliehen hatte. Er riss eine Seite heraus und skizzierte mit einem Bleistiftstummel Namen, Ortsangaben und die Art und Weise des Angriffs. Der Dürre blickte ihm dabei über die Schulter.
»Mannomann, das wird aber bestimmt nicht billig!«
»Wir legen alle zusammen,«
»Wie: alle – es gibt also noch mehrere, die eingeweiht sind?«
Der Gipsarm nickte.
»Eine richtige Verschwörung«, sagte er und deutete auf seine Notizen. »Wie sie im Buche steht.«
Der elektrische Gong rief zur Frühstücksausgabe, der Gipsarm bewegte sich in Richtung Speisesaal. Der Dürre verharrte noch eine Weile in einer Nische, um sich die Eckdaten des Plans einzuprägen, dann steckte er die bekritzelte Buchseite in den Mund und verschluckte sie. Auf dem Hof trafen sich später beide wieder.
»Ich bin dabei«, sagte der Dürre mit einem aufgeregten Tremolo in der Stimme, für die Jungs vom Wachturm legte er hingegen sein fröhlichstes und unbeschwertestes Gesicht auf, das er im Grimassensortiment finden konnte. Die beiden hatten sich erst vor ein paar Monaten im Speisesaal der JVA kennengelernt, im Gespräch waren sie darauf gekommen, dass sie absolut nichts gemeinsam hatten, von einer Ausnahme abgesehen: Sie waren von demselben Polizisten gefasst und hinter Gitter gebracht worden. In beiden Fällen war es der berüchtigte und in der gesamten Szene verhasste Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein. Ihr Pech war es gewesen, dass sie genau an ihn geraten waren. Auch der Gipsarm schnitt jetzt ein Gesicht, das er für unverdächtig hielt.
»Du kannst dir vorstellen, dass wir nicht die Einzigen sind, denen Jennerwein das Leben versaut hat«, sagte er knurrend und lächelnd zugleich, was eine ungute, süßsaure Mischung ergab. »Ich recherchiere das seit Jahren, und nun habe ich eine genaue Liste der Fälle zusammengestellt, die KJ bearbeitet hat.« Er sprach die Kürzel von Kommissar Jennerwein wie ›KeiTschei‹ aus. Und er sprach es angeekelt aus, wie wenn er etwas in den Mund bekommen hatte, das er gleich ausspucken wollte. »Ich bin auf zwölf Opfer gekommen. Manche sitzen noch im Knast, die meisten davon lebenslänglich wie wir, andere sind schon draußen und können keinen Schritt alleine machen, ohne dass ihnen nicht ein Psycho oder Sozio oder Wasweißich auf die Nerven geht. Wieder andere sind über den Jordan, gestorben durch die Hand von KJ – in diesen Fällen nehmen die Verwandten, Freunde oder Interessenvertreter unserer Branche sozusagen ihre Rechte wahr.«
Der Gipsarm senkte die Stimme und nannte die Namen. Einen nach dem anderen. Alle zwölf.
»Was? Der ist auch dabei?«, entfuhr es dem Dürren mehrmals.
Der Himmel war ganz und gar wolkenlos, hinter den Gefängnismauern ging nun die Sonne auf, auf dem Hof machten sich die ersten stickigen Hitzeschwaden breit. Alle Knackis hielten sich im Schatten der Mauern auf, nur die beiden Verschwörer standen in der Mitte.
»Und wer wird ihn erledigen?«, fragte der Dürre.
Gipsarm senkte die Stimme.
»Der Isländer.«
Der Dürre schnalzte mit der Zunge. In seinen aufgerissenen Augen spiegelte sich überschäumende Bewunderung.
»Der Isländer! Alle Achtung! Darunter geht’s wohl nicht. Ich habe mal von seinen Gagen gehört –«
»Das ist ja unser Vorteil. Wir sind zu zwölft. Wir legen zusammen. Der Isländer ist so teuer, den könnte sich niemand von uns alleine leisten. Wie allgemein bekannt ist, hinterlässt er bei seinen perfekt durchgeführten Aufträgen eine Visitenkarte. Niemand wird auf die Idee kommen, dass jemand von uns etwas mit der Sache zu tun hat.«
»Gibt’s da nicht einen Film, wo zwölf oder dreizehn Leute gemeinsam so ein Ding drehen? Alle haben ein Hühnchen mit dem Typen zu rupfen. Und jeder sticht einmal zu!«
»Inzwischen gibt es von allem Möglichen einen Film.«
Der Mann mit dem Gipsarm hatte ein schorfiges, versoffenes Gesicht. Aus einer kleinen Rasierwunde am Kinn tropfte Blut. Der Dürre wandte sich angeekelt ab.
Einen weit angenehmeren Anblick bot die junge Frau, die am Frühstückstisch des Wellness- und Sporthotels Relax saß. Ihre Lippen waren flauschig wie Blütenblätter, die Haare flossen ihr über die schneeweißen Schultern wie süßer Honig. Sie hatte ihre nackten Beine keck übereinandergeschlagen, lasziv wippte sie einen halb abgestreiften Schuh mit den Zehenspitzen, ihre Blicke waren wie Schüsse aus einer doppelläufigen Winchester. Der Frühstückskellner schenkte Kaffee ein. Er war ein erfahrener Kellner, ein Garçon alten Schlages, der schon viel gesehen hatte in seinem Kellnerleben, doch als er in ihre Nähe kam, zitterte er leicht und musste sich anstrengen, die Tasse ohne Kleckern zu füllen. Die junge Frau warf betont nachlässig und wie nebenbei ihr Haar zurück, einige Gäste im Frühstücksraum hielten den Atem an. Kaum jemand schaffte es, den Blick sofort wieder von dem außergewöhnlichen Liebreiz dieser namenlosen Erscheinung loszureißen. Jetzt ließ sie ein helles, perlendes Lachen vernehmen, sie straffte ihren Körper, reckte sich ausnehmend, um sich bald darauf aufs Anmutigste zu entspannen.
Es ist wirklich jammerschade, dass diese junge Frau in der Geschichte, die hier erzählt werden soll, überhaupt keine Rolle mehr spielen wird, nicht einmal eine Nebenrolle. Arme namenlose Hüterin des Ebenmaßes, das war dein letzter Auftritt in diesen dramatischen Ereignissen! Nur so viel sei noch gesagt: Sie stellte den schieren Gegensatz zu dem stillen, einzeln sitzenden Herrn am Nebentisch dar, dessen hervorstechendste Eigenschaft seine legendäre Unauffälligkeit war. Kommissar Jennerwein, um den es sich handelte, war ein gutaussehender Mann mit vollem, dunklen Haar und wachen Augen, der, je älter er wurde, immer mehr Ähnlichkeit mit dem britischen Schauspieler Hugh Grant aufwies. Ein oder zwei Gäste hatten sich schon angestoßen: Ist das nicht …? Jennerwein massierte gerade wieder einmal seine Schläfen mit Daumen und Mittelfinger, dann wurde er sich dieser verräterischen Angewohnheit bewusst. Er ließ die Hand sinken und nippte unkonzentriert an seinem Kaffee. Jennerwein versuchte sich zu entspannen.
»Eine Frage!«, rief ein korpulenter Herr an dem besagten Tisch, an dem auch die Strahlende saß. Er wedelte dem Kellner mit einer Landkarte vor dem Gesicht herum. »Teufelsgasse, Höllenwiese, Satansfeld … Warum ist in dieser Gegend so viel vom Leibhaftigen die Rede?«
Der Kellner, der die Tischdecke gerade mit einem eleganten Krümelentferner von Croissantbröselchen zu befreien versuchte, hielt inne. Jennerwein lauschte unauffällig. Auch ihm war schon die Dichte der lokalen Teufelsanspielungen aufgefallen. Auf Schritt und Tritt stieß man auf den Satan und seine Brut. Ein Hexenbad lud zur erquicklichen Erfrischung, das Schwefelstübchen zum fröhlichen Umtrunk ein, die Höllenapotheke bot 1a-Mephisto-Drops feil, und so weiter.
»Nach einer alten Legende soll der Teufel diese Gegend besucht haben, um sich ein wenig von seinen Untaten auszuruhen.« Der Kellner vollführte eine kreisend unbestimmte, fast beschwörende Bewegung mit dem Bröselschaber. Seine Augen verengten sich zu schmalen, unergründlichen Schlitzen. »Er wollte sich hier nach einer Bleibe umschauen und ist, um sich einen Überblick zu verschaffen, auf ein Baugerüst gestiegen.«
»Auf ein Baugerüst!«, warf die korpulente Dame ein, die neben dem korpulenten Herrn saß.
»Ja, und dort ist er eingedöst«, fuhr der Kellner leise fort, wie um den Leibhaftigen, den er beschworen hatte, nicht zu wecken. »Beim Aufwachen hat er das Gleichgewicht verloren und ist ein paar Meter hinuntergestürzt, auf ein Vordach. Man sagt, dass sein sprichwörtliches Hinken von diesem Missgeschick herrührt, und nicht etwa von einem Pferde- oder Ziegenfuß. Fluchend stolperte er jetzt durch die Baustelle, überall verstellten ihm Mörteltröge und Ziegelhaufen den Weg. Endlich fand er ein unverschlossenes Tor. In der Annahme, dass das der Ausgang ins Freie war, durchschritt er es, doch er fand sich in einer zwielichtigen, düsteren Halle wieder. Der penetrante Geruch nach verbrannten Gewürzen nahm ihm fast den Atem. Als er schließlich den Kopf hob, fiel sein Blick auf – ein Kreuz. Und auf ein zweites. Und ein drittes. Ihm wurde übel. Er befand sich mitten in einem Kirchenschiff. Panisch blickte er sich nach Fluchtmöglichkeiten um.« Der Frühstückskellner versuchte, die geduckte, verängstigte Haltung des Teufels anzunehmen. »Doch er sieht keinen Ausweg. Überall Kreuze. Seine gelb funkelnden Augen irren ziellos umher. Er stöhnt, er ächzt, er weiß, dass er das nicht mehr länger aushält – aber da: eine schief in den Angeln hängende Holztür! Er reißt sie auf und nichts wie rein in den dunklen, beengten Raum. Geschafft. Gerettet. Wenigstens fürs Erste. Er kauert sich auf die schmale Bank –« Der Kellner ließ sich auf einen der freien Stühle am Tisch nieder. »Er schnuppert, er versucht, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Vor ihm eine vergitterte Öffnung, er rüttelt daran – und mit maßlosem Entsetzen muss er feststellen, dass er vom Regen in die Traufe gekommen ist. Denn jetzt saß der Teufel in einem Beichtstuhl fest!«
Der Kellner verstummte. Man hätte sich nicht gewundert, wenn ein dunkelroter Samtvorhang vor ihm gefallen wäre. Auch die anderen Frühstücksgäste hatten ihre Unterhaltungen unterbrochen, um der Geschichte zu lauschen. Mitten in die wohlgesetzte Kunstpause platzte eine laute, kehlige Stimme.
»Zweimal gekochte Eier fünfeinhalb und einmal viereinhalb – fertig! Aber dalli, dalli!«
Das schnoddrige Gebrüll war aus der Küche gekommen, die an den Frühstücksraum grenzte. Seufzend richtete sich der Kellner auf und nestelte an seiner Hose, wie um sich den Staub des Beichtstuhls wegzuwischen. Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an sein Publikum.
»Sie haben es gehört: Die Eier sind fertig. Den Rest der Geschichte erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.«
Rasch entfernte er sich mit seinem schiefen, alten Kellnergang und ließ die Frühstücksgäste des Hotels Relax mit dem Teufel im Beichtstuhl alleine. Eng war es an den Tischen geworden. Man glaubte, Weihrauch und Myrrhe, wenn nicht sogar ein wenig Schwefel zu riechen. Kommissar Jennerwein tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. Die nächste Anwendung begann erst in drei Stunden: Wassertreten bei Herrn Koschattke. Bis dahin konnte er sich nach dem Frühstück die Gegend, die der Teufel vor langer Zeit für seinen Urlaub ausgesucht hatte, noch ein wenig ansehen.
Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein hatte sich von seinem Team davon überzeugen lassen, ein paar Tage in einem Wellness- und Sporthotel zu verbringen. Er hatte hochheilig versprechen müssen, auf alles, was mit polizeilichen Ermittlungen zu tun hatte, zu verzichten und einen großen Bogen um sämtliche Dinge zu schlagen, die mit Schlussfolgerungen, Verdachtsmomenten, heißen Spuren und wasserdichten Indizien zu tun hatten. Auch sein Hausarzt hatte ihm dringend geraten, kürzer zu treten, da die Akinetopsie-Anfälle in letzter Zeit wieder häufiger geworden waren. Jennerwein, der bisher der Meinung gewesen war, nur angespannte Ermittlungen böten wohltuende Entspannung, hatte sich eines Besseren belehren lassen. Er musste sich umstellen. Dazu war er hier. Und es hatte auch schon ganz gut geklappt, fühlte er sich doch nach der ersten Nacht schon ein klein wenig erholt. Vor dem Frühstück ein Waldlauf, das hatte er schon lange nicht mehr gemacht. Jennerwein biss in ein Brötchen. Von seinem Platz aus hatte er einen guten Blick in die Küche, in der gerade Hochbetrieb herrschte. Die gekochten Eier zweimal fünfeinhalb und einmal viereinhalb waren längst draußen. Jennerwein hatte schon mehrmals in Restaurants und Hotels ermittelt, deshalb wusste er, dass die Frühstücksküche eine der härtesten gastronomischen Übungen überhaupt war. Hundert Umbestellungen, tausend Sonderwünsche – ihm taten all die Leute leid, die zum Frühstücksdienst verdonnert worden waren. In dem hektischen Gewusel fiel ihm ein Mitarbeiter besonders auf. Der Schweiß lief ihm herab, sein Gesicht war krebsrot, seine Haltung verkrampft. Das musste der Küchenspringer oder Tournant sein, das Mädchen für alles, oft bekam er einen Spitznamen mit Zischlaut verpasst, wie Felix oder Hasso, damit man ihn besser rufen und herumscheuchen konnte. Der Springer war das ärmste Schwein des Universums. Er musste mit allen Tricks und Geheimnissen der Kochkunst vertraut sein, doch seine Genialität im Improvisieren verdampfte loblos in der Dunstabzugshaube. Kaum jemand ließ sich freiwillig zu solch einer Arbeit herab, Küchenspringer wurden meist aus dem Heer der Schwarzarbeiter ohne Deutschkenntnisse und Zertifikate rekrutiert. Und genauso ein armes Schwein stand jetzt dort in der Küche am überquellenden Herd. Traurige Augen, hängende Wangen, Haarsträhnen im Gesicht, alles hing an ihm, auch der Blick hing ihm mehr in die Pfanne, als dass er hineinsah, er hätte mit diesem Blick das Omelett umrühren können. Jennerwein beugte sich vor. Für einen Junkie war er zu wenig ausgezehrt, für einen Nicht-EU-Ausländer sah er zu Düsseldorferisch aus, Jennerwein tippte auf Kündigung, Scheidung und Privatinsolvenz, ein Dreierpack, den das Schicksal für all die bereithielt, die sich einmal allzu sicher gewesen waren. Jennerwein riss seinen Blick von dem bedauernswerten Tropf los. Schon wieder war er ins Analysieren und Ermitteln verfallen, das musste schnellstens aufhören. Er war schließlich hierhergekommen, um sich davon zu befreien.
Der Lärmpegel im Frühstücksraum stieg. Denn nun strömte ein größerer Pulk von emsig diskutierenden Menschen herein, alle im gleichen dunkelblau-zweckmäßigen Businesslook gekleidet, was Seriosität und Solidität ausstrahlen sollte. Es mussten Mitarbeiter einer Firma sein, die sich wohl zum Working Breakfast trafen, das in einem Nebenraum stehend eingenommen wurde. Nachdem sich der geschäftige Strom an Jennerwein vorbeigeschoben hatte, fiel ihm eine Dame in den Dreißigern ins Auge, feinster Zwirn, Handy am Ohr, halb aufgeklapptes Notebook auf dem Unterarm, zielstrebig, emsig, stark, zwingend, unglaublich wichtig. Als sie auf seiner Höhe war, bekam Jennerwein mit, wie sie etwas in einer sehr fremden Sprache ins Handy flüsterte. Als Jennerwein noch in der Abteilung Betrug gearbeitet hatte, hatte er den Begriff des Buffetschmarotzers das erste Mal gehört. Es war kein übermäßig großes Delikt, handelte es sich doch eigentlich nur um minderschweren Diebstahl, doch gab es eine stattliche Anzahl polizeibekannter Buffetschmarotzer, die sich auf diese Weise gratis um die Welt fraßen. Ihre Arbeitskleidung war die der heiteren Businesspeople, so fuhren sie auch im Taxi vor, schnippten beim Aussteigen ein Stäubchen vom Revers, drückten dem Fahrer einen Schein in die Hand. Letzteres genügte dem Hotelportier meist, um nicht misstrauisch zu werden. Zielstrebig schritten sie an ihm vorbei, hinein in das Foyer des Luxushotels, selbstverständlich telefonierend, aber natürlich nicht übertrieben, sondern leise und zurückhaltend. Grundkenntnisse in Englisch und Französisch waren gut, einige Schlagworte aus Vertrieb und Marketing genügten vollständig für eine Konversation. Wo genau das Buffet stattfand, war meist angeschrieben. Der fortgeschrittene Buffetschmarotzer sah im WLAN nach, wusste dann schon, dass zum Beispiel die Swisscom im Hotel tagte. Jennerwein setzte sich unauffällig auf einen anderen Stuhl, um besser sehen zu können. Etwa vier Dutzend Männer und Frauen um die Dreißig strömten jetzt zum Buffet. Und bei der Frau im Edelzwirn konnte es sich durchaus um eine solche Schmarotzerin handeln. Sie mischte sich unter die anderen, einer sprach sie an, Jennerwein glaubte so etwas wie –
»In welcher Abteilung arbeiten Sie? Ich habe Sie ehrlich gesagt noch gar nicht –«
– gehört zu haben, doch die mutmaßliche Diebin bat um einen Moment Geduld und griff sofort wieder zum Handy, um einen Anruf anzunehmen. Und dann – täuschte er sich, oder sprach sie jetzt nicht sogar Arabisch? Er beherrschte diese Sprache nicht, aber der ganze Sprachduktus, die märchenhafte Melodieführung und das Getrommel der Konsonanten stach aus dem sonstigen Einheitsbrei der mitteleuropäischen Gesprächsfetzen richtiggehend heraus. Doch bevor er noch genauer hinhören konnte, drehte sie sich um und sprach mit dem Rücken zu ihm weiter. Ja, das konnte durchaus eine Betrügerin in dieser Sportart sein.
Aber was ging es ihn schon an. Er war nicht im Dienst. Er hatte Urlaub. Und außerdem: Die paar Lachshäppchen, die sie abzweigen würde, was spielte das schon für eine Rolle! Doch halt, jetzt drehte sie sich weg von der Gruppe und nahm wie selbstverständlich eine einsam daliegende Handtasche vom Tisch. War sie nicht vorher ohne Handtasche gekommen? Ganz sicher war sich Jennerwein nicht – und jetzt verschwand die Frau aus seinem Sichtfeld. Jennerwein wandte den Kopf ab. Vermutlich irrte er sich. Aber er war nun einmal mit dem professionellen Blick geschlagen. Und er bildete sich auch noch ein, dass dieser Blick unauffällig war. Einmal hatte er auf der Terrasse eines Cafés gesessen, um auf irgendeinen polizeilichen Informanten zu warten, so wie jetzt: allein und eigentlich drauf und dran, sich ein wenig auszuruhen. Dann hatte er am übernächsten Tisch eine Gruppe von leise flüsternden Männern bemerkt. Besonders von einem ging etwas Planendes, Coupmäßiges, vielleicht sogar Attentäterisches aus. Sofort hatte er seinen Blick abgewandt und sie aus den Augenwinkeln weiter beobachtet. Nichts war geschehen, bis der Ober zu ihm getreten war:
»Der Herr aus der Gruppe dort drüben bittet Sie, nicht dauernd so herüberzustarren.«
Jennerwein hatte seinen Meister gefunden. Und der Informant war nach zwei Stunden Warten auch nicht erschienen. Er hatte dann trotzdem im Revier den Computer bemüht. Dort stellte sich heraus, dass der Herr, der ihm aufgefallen war, einer der gesuchtesten Terroristen Europas gewesen war. Er hätte damals einen großen Fang gemacht.
Plötzlich stand ein bulliger Mann vor Jennerwein. Abgearbeitet, verschwitzt, mit schmutziger Küchenschürze und hochrotem Gesicht. Der Springer. Der Tournant. Er war aus der Küche getreten, er hatte sich eher herausgeschleppt, jetzt verneigte er sich leicht linkisch und ungeschickt, aber ehrerbietig vor Jennerwein.
»Hallo, Kommissar, schön, dass Sie Gast in unserem Hotel sind.«
Jennerwein sah ihn freundlich an. Der Mann hatte ihn wahrscheinlich bei einer Ermittlung kennengelernt. Aber das Gesicht sagte ihm momentan gar nichts.
»Darf ich fragen, woher wir uns kennen?«
»Man kennt Sie eben, Kommissar, zum Beispiel aus der Zeitung. Letzthin habe ich Sie sogar im Fernsehen gesehen, bei Jauch. Schade, dass nichts aus der Million geworden ist.«
»Und wer sind Sie?«
»Ich bin der Hoteldirektor. Habe heute bloß beim Frühstück als Springer ausgeholfen. Ja, so ist das eben in der Gastronomie. Wenn Not am Mann ist, muss jeder mit anpacken. Auch die Nummer eins.« Mit bitterer Ironie fügte er hinzu: »Die sogenannte Nummer eins.«
Jennerwein hatte sich also schwer getäuscht. Er hatte seinen unfehlbaren Blick anscheinend verloren. Der Urlaub hatte endlich begonnen. Glaubte Jennerwein.
Der Mann mit dem hochroten Gesicht, seines Zeichens Chef des beliebten Sporthotels Relax, verabschiedete sich von seinem Gast. Er müsse dann mal wieder in die Küche. Als echter Springer oder Tournant hätte er dort einen mächtigen Einlauf verpasst bekommen. Wegen unerlaubten Entfernens vom Schlachtfeld. Aber in seinem Fall traute sich natürlich niemand etwas zu sagen. Jennerwein sah auf die Uhr. Bis zum Wassertreten blieb ihm noch etwas Zeit. Kurz dachte er daran, in was für Extremsituationen er bei den zurückliegenden Fällen schon geraten war. Von einem waghalsigen Sprung in eine reißende Klamm bis hin zur aussichtslosen Gefangenschaft in einer schwindelerregend hohen Felsnische war alles dabei gewesen. Und jetzt Wassertreten unter der Leitung von Bademeister Koschattke.
Auf seinem Zimmer blätterte er ein wenig im Hotelprospekt. Dort erfuhr er, wie die Geschichte vom Teufel im Beichtstuhl weiterging. Diesem Text fehlte natürlich die bühnenreife Interpretation des Frühstückskellners, der mit dem Tischkrümelentferner in die Luft gestochen hatte wie mit einer Höllenforke. Trotzdem waren die Qualen des unachtsamen Fürsten der Finsternis plastisch beschrieben. Was hatte er nicht alles auszuhalten gehabt: einlullende Orgelmusik von quälender Harmonie, betäubender Weihrauchgeruch, linientreue Nonnengesänge – es musste gleichsam die Hölle für den Teufel gewesen sein. Tage vergingen, ohne dass er sich herausgewagt hätte. Als die Renovierung des Gotteshauses abgeschlossen war und der Kirchenbetrieb langsam wieder zur Normalität zurückkehrte, bekam er auch das erste Mal in seinem Leben zwangsweise eine vollständige Messe zu hören, mit inbrünstig gesungenen Glorias, Agnus Deis und Hallelujas. Ingrimmig fluchend legte er das Gelübde ab, im Fall seiner Befreiung eine schrecklich misstönende Missa diavola zu schreiben, bei der alle Regeln der Liturgie und des guten Kirchenmusikgeschmacks auf den Kopf gestellt werden sollten. Jennerwein legte den Hotelprospekt beiseite. Der Zimmerservice klopfte, fragte durch die Tür, ob Jennerwein etwas bräuchte. Nein, bräuchte er nicht. Vor dem Wassertreten bei Herrn Koschattke wollte er noch ein wenig spazierengehen, um die Umgebung des Hotels zu erkunden. Die bewusste Kirche lag ja angeblich nur ein paar Minuten entfernt. Als er ins Freie trat, schnupperte er frische, würzige Sommerluft. Federwolken flogen, Blumen dufteten, ein Vogel tirilierte. Er schaltete sein Handy an und stellte per Gesangserkennungs-App fest, dass es die Gemeine Haubenmeise war. Sie sang schöner, als ihr Name vermuten ließ. Heiße Gerüche nach saftigem, frisch geschnittenem Gras umflossen ihn, als er die kleine Straße, die zur Kirche führte, entlangschlenderte. Sie war mäßig belebt. Niemand grüßte, niemand beachtete ihn. All das fand Jennerwein äußerst angenehm. Der Urlaub hatte endgültig begonnen.
Doch ganz konnte er seinem Beruf nicht entfliehen. Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass sein Blick an Dingen hängenblieb, die aus dem Rahmen fielen. Verhielt sich der von einem Fuß auf den anderen tretende und wie ein Wanderer gekleidete Mann dort drüben nicht wie ein Taschendieb, der nach locker sitzenden Geldbörsen Ausschau hielt? Verdeckten die beiden älteren Herren mit den ölpfützenfarbenen Seidenhalstüchern nicht ihren Mund mit den Händen, wie Wirtschaftsganoven, die einen neuen Cum-Cum-Kuhhandel ausheckten? Sie warfen jedenfalls verstohlene Blicke zu Jennerwein her, gingen schließlich rasch weiter, wie wenn sie sich von ihm ertappt fühlten. Und die beiden Knirpse, die gerade schnaufend hinter einer Bretterwand hervortraten, sah es nicht ganz so aus, als ob sie Crack geraucht oder Gewaltvideos geguckt hätten? Er schüttelte sich. Alles Einbildung, alles Folge der Überarbeitung. Dem Hammer ist alles Nagel, dem Polizisten ist alles Schuft. Er hatte gelesen, dass das Sporthotel Relax die Dienste eines Psychologen anbot, die man in Anspruch nehmen konnte wie die des Physiotherapeuten. Heute Abend hielt Dr. Ungeheuer einen Vortrag über Sucht und Abhängigkeit. War das eine Sucht, an der er litt? Die Sucht, hinter jeder Erscheinung die Verderbtheit und Abschüssigkeit der Welt zu wittern? Er beschleunigte seine Schritte, verfiel in einen leichten Trab, konnte die grüblerischen Gedanken schließlich abschütteln, wurde wieder ruhiger. Und ein- und ausatmen. Jennerwein spürte durch die Laufbewegungen tatsächlich so etwas wie Harmonie in sich. Das Gelände wurde grüner, er kam durch einen kleinen Stadtpark. Und ein und aus. Er erhöhte das Lauftempo noch einmal um ein paar Takte. In der Ferne löste sich der fette, faule Heliumsack namens Sonne aus dem Pappelgewirr und erhob sich in den wolkenlosen Himmel.
Gerade als er sich gut eingelaufen hatte, rumpelte sein Handy. Es war kein Anruf, es war die Push-Benachrichtigung einer App, die ihm Hansjochen Becker von der Spurensicherung draufgespielt hatte. Er hatte vergessen, sie auszuschalten. Die Nachricht zeigte an, dass sich im Umkreis von fünfzehn Metern ein Computer oder ein Handy befinden musste, auf dem paarige Zeichenkolonnen in außergewöhnlich hoher Geschwindigkeit nebeneinander herrasten, um miteinander verglichen zu werden. Dies war ein fast untrügliches Kennzeichen dafür, dass nach Kennwörtern und Zugangscodes gesucht wurde, was wiederum auf einen Hackerangriff schließen ließ, entweder passiv oder aktiv. Die zwei jungen Leute auf der Bank, an denen er gerade vorbeigelaufen war und die mit glühenden Köpfen über ihre Notebooks gebeugt waren, sahen allerdings nicht aus wie Hacker. Aber wie sahen Hacker schon aus? Wie Bademode: jede Saison anders. Vielleicht war es umgekehrt, und einer ihrer Computer wurde gerade ausgekundschaftet. Jennerwein zögerte kurz. Sollte er sie warnen? Aber wozu eigentlich? Es war ihm momentan herzlich egal, wer in welchen Computern herumschnüffelte. Es würde schon nicht gerade das Pentagon sein, in das sie versuchten, einzudringen. Oder umgekehrt. Jennerwein schaltete die App ab. Er entschloss sich, durch den Wald zu laufen, der inmitten des kleinen Stadtparks lag. Es war eher eine Ansammlung von ein paar verwachsenen Bäumchen, die sich momentan unschlüssig im Wind wiegten. Er schüttelte den Gedanken ab, dass er durch diesen Waldlauf sicherstellen wollte, dass ihn niemand verfolgte. Wer um alles in der Welt sollte ihn hier verfolgen? Er blieb stehen. Der Baumbestand war dichter geworden. Es war still hier und schattig. Die Sonne brach nur selten durch einige Ritzen im Geäst. Als er langsam weiterging, fiel er fast über eine Frau, die auf einem Bein im Gebüsch stand, um sich umzuziehen. Ein T-Shirt über dem Kopf, eine Hand an eine verschrumpelte Kiefer gestützt, verlor sie kurz das Gleichgewicht und wäre um ein Haar auf den Boden geknallt, wenn Jennerwein sie nicht gehalten hätte.
»Passen Sie doch auf, Sie Idiot!«, rief sie ärgerlich. »Was wollen Sie überhaupt hier? Verschwinden Sie, ich ziehe mich gerade um.«
»Das sehe ich«, erwiderte Jennerwein ruhig.
Er blickte ihr ins Gesicht. Es war die Buffetschmarotzerin, die sich hier ihrer Businesskluft entledigte und einen abgeschabten Trainingsanzug überstreifte. Gute Tarnung, das musste er ihr lassen.
»Geben Sie wenigstens die Handtasche zurück«, sagte Jennerwein und wies auf das offensichtliche Gucci-Designer-Teil.
»Die Papiere habe ich sowieso drinne gelassen«, sagte sie kleinlaut. »Sind Sie denn ein Kollege? Und sind Sie an Ausweisen interessiert?«
»Ich war jedenfalls mal in dem Geschäft«, entgegnete Jennerwein lächelnd. »Aber momentan bin ich im Urlaub.«
»Ihr Aussehen möchte ich haben«, sagte sie.
Jennerwein schüttelte verwundert den Kopf.
»Weswegen das denn?«
»So eine unauffällige Erscheinung! Ich habe Sie im Hotel schon sitzen sehen. Mutterseelenalleine am Tisch. Ich bilde mir ein, ich habe den Blick. Erst dachte ich schon, Sie sind der Hoteldetektiv, weil sie während des Frühstückens mehrmals den Stuhl gewechselt haben, vielleicht, um besser zu uns hersehen zu können. Aber ich habe Sie als harmlos klassifiziert. Hier, nehmen Sie die Tasche, Kollege, ich habe mich in Ihnen getäuscht. Das Geld hab ich rausgenommen, die Ausweislappen interessieren mich nicht.«
Sie hatte sich vollständig angekleidet, befand sich jetzt im Jogger-Outfit, hatte einen Shopper umgehängt, in dem wohl ihre Diebesbeute steckte. Sehr professionell: Diebesgut nie fest am Körper tragen, das war eine Grundregel von Jennerweins Vater Dirschbiegel gewesen. Man muss verfängliche Ware jederzeit abwerfen können, hatte er gesagt. Dirschbiegel war ein Meisterdieb. Und Jennerwein hatte viel von ihm gelernt. Schade, dass sein Vater nicht auf derselben Seite des Gesetzes stand wie er. Jennerwein verabschiedete sich von der diebischen Schmarotzerin. Doch als er ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich nochmals um und fragte:
»Habe ich da im Frühstücksraum wirklich Arabisch von Ihnen gehört? Beherrschen Sie die Sprache denn?«
Die Schmarotzerin kam ihm ein paar Schritte entgegen und lächelte verschmitzt.
»Natürlich nicht. Ich habe sogar einmal versucht, die Sprache zu lernen, ohne Erfolg. Aber ich habe bemerkt, dass ich den Tonfall ganz gut treffe.«
Sie gab eine Kostprobe. Die paar Sätze klangen wirklich echt und überzeugend.
»Wie finden Sie mein Phantasie-Arabisch?«
»Und das ist immer gutgegangen?«
Sie zuckte die Schultern.
»Einmal hat mich ein Mann mit dunklem Teint voller Begeisterung angesprochen. Auf Arabisch. Das war weniger lustig – aber ich muss jetzt los, Kollege.«
Mit einer Damenhandtasche unter dem Arm trabte Jennerwein weiter. Er blickte noch einmal zurück. Die Schmarotzerin hatte sich in Luft aufgelöst. Hinter den Bäumen tauchte die Spitze eines Kirchturms auf. Dorthin waren es sicher nur ein paar Minuten.
In der Kirche war es kühl. Jennerwein sah sich um. Unwillkürlich schnupperte er, so, wie auch der Teufel in der Legende geschnuppert haben musste. Aber wo war der Beichtstuhl, in dem er sich versteckt hatte? Jennerwein schritt das Kirchenschiff ab. Nichts. Vielleicht hatten sie den Teufel in seiner Falle ja eingemauert. Legenden endeten oft so. Der Satan ist jahrhundertelang irgendwo gefangen, die Geschichte wird vergessen, und plötzlich, bei einem Umbau, beim Verlegen von Glasfaserkabeln setzt die Telekom den Teufel frei. Jemand legte Jennerwein die Hand auf die Schulter. Ein bisschen erschrak der Kommissar dann doch. Langsam drehte er sich um. Vor ihm stand ein junger Mann mit weißem Kragen, die Wangen gerötet vom Eifer der Gottessuche.
»Ich bin der Seelsorger der Kirche«, sagte er. »Wie mir scheint, interessieren Sie sich für sakrale Architektur.« Er trat einen Schritt zurück und musterte Jennerwein von oben bis unten. »Ich tippe schwer darauf, dass Sie Kunstgeschichtler sind.«
Na prima, dachte Jennerwein. Erst wurde er für einen Dieb gehalten, jetzt für einen Kunstgeschichtler.
»Wollen Sie eine Führung?«, fragte der Seelsorger.
Jennerwein lächelte.
»Danke, ich habe nur eine Frage an Sie. Wo befindet sich denn der Beichtstuhl?«
Der Rosige prustete los.
»Mein Gott, Sie sind mir vielleicht einer! Das hier ist eine reformierte Kirche. Wir lehnen die Einzelbeichte als nichtbiblisch ab. Und deshalb gibt es bei uns auch keinen Beichtstuhl.«
»Tut mir leid, das wusste ich nicht.«
»Aber Sie suchen sicher nach dem legendären Teufelsbeichtstuhl! Die katholische Kirche ist nicht weit entfernt von hier. Raus mit Ihnen, Sie Ketzer, und immer die Hauptstraße entlang. Und dort wird Ihnen vielleicht klarwerden, warum wir die Beichte ablehnen.«
Jennerwein bedankte sich.
»Aber es ist eine tolle Geschichte!«, rief ihm der Pastor nach. »Der katholische Pfarrer wird Ihnen alles genau erklären. Ich hoffe, Sie haben heute nichts mehr vor! Er ist sehr eloquent!«
Als Jennerwein wieder ins Freie kam, trat ihm eine elegante Gestalt in den Weg. Der Mann lüpfte seinen Hut und vollführte eine entschuldigende Handbewegung. Vielleicht hatte sich Jennerwein vorher doch nicht getäuscht, als er das Gefühl gehabt hatte, dass ihn jemand verfolgte. Dieser Herr sah genauso aus, als wäre er ihm nachgestiegen und hätte ihn hier abgepasst. Ein kurzer Blick auf dessen Schuhwerk: Tatsächlich waren Laubreste zu sehen, die auf einen Waldspaziergang hindeuteten.
»Kommissar Jennerwein?«
»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Mein Name ist Lim. Darf ich Sie kurz sprechen? Nur zwei Minuten.«
»Um was geht es, Herr Lim?«
Irgendetwas störte ihn an dem Mann. Er hätte jedoch nicht sagen können, was. Er strahlte etwas Falsches, nicht ganz Stimmiges aus. Aber nach dem Erlebnis mit dem vorgeblichen Springer, der sich dann als Chef entpuppte, hielt Jennerwein sich mit schnellen Beurteilungen doch etwas zurück. Er musterte den Mann. Herr Lim war außerordentlich gut gekleidet, nicht nach der neuesten Mode, nicht aus dem Katalog, aber geschmackvoll, alle Farben aufeinander abgestimmt. Vielleicht war der Anzug sogar maßgeschneidert. Er war glattrasiert, die Frisur saß perfekt. Jennerwein war schon nach den ersten Worten aufgefallen, dass er mit einem kaum merklichen Akzent sprach, aber auch in dieser Beziehung hätte er auf die Schnelle nicht sagen können, um was für einen es sich handelte. Ein fernöstlicher Hintergrund war jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, die typischerweise nur partiell ausgebildete Oberlidfalte legte diese Vermutung nahe. Herr Lim hatte in etwa die Größe von Jennerwein, war vielleicht eine Spur drahtiger und muskulöser, ohne dass er das jedoch zur Schau stellte. Er mochte auch im selben Alter sein, obwohl er wesentlich ausgeruhter, erholter als der Kommissar wirkte. Vielleicht hatte er ja seinen Urlaub schon hinter sich. Seine Augen glänzten unergründlich, sein Blick war durchdringend, auf seinem Mienenspiel lag ein winzigkleines Lächeln. Doch Jennerwein meinte zu erkennen, dass dieses Lächeln etwas überdeckte. Er musste herausfinden, was. Doch andererseits: Warum zum Kuckuck musste er eigentlich etwas herausfinden! Dieser Tourist war ihm vermutlich in den Weg getreten, um ihn zu fragen, ob hier der berühmte Teufelsbeichtstuhl zu finden war. Warum musste Jennerwein solch einen harmlosen Globetrotter, angereist aus fernen Landen, wissbegierig und neugierig allem Sonderbaren und Ungewöhnlichen gegenüber, auch noch bezüglich seiner Bonität und Unverdächtigkeit analysieren?
Die beiden standen sich eine Weile stumm gegenüber, wie zwei Schachfiguren, die nicht so recht wussten, wie sie ziehen sollten, weil ihre jeweiligen Spieler aufgestanden waren und die Partie unterbrochen hatten.
»Jetzt sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen«, begann Jennerwein schließlich. Der Satz geriet ihm etwas unwirscher, als er das beabsichtigt hatte.
»Ich bin Mitarbeiter eines großen multinationalen Konzerns«, antwortete Herr Lim höflich und mit einer leichten, eigenartig unsymmetrischen Verbeugung.
»Das freut mich. Gehören Sie zu der Firma, deren Mitarbeiter heute Morgen am Frühstücksbuffet angestanden haben?«
Herr Lim schüttelte den Kopf. Er senkte den Blick und ließ seinen Hut in den Händen rotieren.
»Nein, ich bin ganz alleine hier. Sie müssen mich verwechseln. Aber mir ist bewusst, dass ich ein Dutzendgesicht habe.«
»So habe ich es nicht gemeint. Was stellt Ihre Firma her, wenn ich fragen darf?«
Lim seufzte und blickte Jennerwein wieder ins Gesicht.
»Ich bin fast versucht zu antworten: alles. Jedenfalls so ziemlich alles. Unser Geschäftsportfolio bietet eine breite Produktpalette: Verkehrsmittel, Unterhaltungselektronik, Baumaschinen … Wir stellen zwar alles her, was andere auch herstellen. Aber wie wir es machen, das ist das Besondere an unserem Unternehmen. Wir sind auf vollautomatisierte Fertigungswege spezialisiert. Unsere Fabrikhallen sind deshalb so gut wie menschenleer.«
Jennerwein verspürte Ungeduld. Doch er zögerte, die Unterhaltung abzubrechen. Irgendetwas hielt ihn an diesem Mann. Oder Herr Lim wusste einfach, wie man Jennerweins Interesse weckte.
»Robotik, Mechatronik, Prozessoptimierung, ja, sicher«, sagte Jennerwein. »Ist mir bekannt. Das gibt es inzwischen in allen Bereichen. Um welche Firma geht es denn?«
Lim reichte Jennerwein eine Visitenkarte. Den Firmennamen World Wide Real Mikado Solutions hatte er noch nie gehört. Firmensitz USA, Aktiengesellschaft, Gründungsjahr 1998. Herr Lim hielt Jennerwein zusätzlich seinen Personalausweis entgegen.
»Bloß damit Sie sehen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.«
Jennerwein besah sich den Pass. Es war mehr ein in langen Jahren erworbener polizeilicher Reflex als das wirkliche Bedürfnis, das amtliche Dokument zu kontrollieren.
»Sie heißen Goyó Lim, sind gebürtiger Südkoreaner, haben aber auch die chinesische Staatsbürgerschaft, und Ihr Hauptwohnsitz befindet sich auf Taiwan. Ja, gut, das weiß ich jetzt. Aber ich weiß immer noch nicht, was Sie von mir wollen.«
»Meine Vorgesetzten haben mir den Auftrag erteilt, Sie ausfindig zu machen, Herr Kommissar, und Sie zu bitten, bei der Aufklärung eines unerklärlichen Vorfalls in meiner Firma zu helfen.«
Leichte Andeutung einer Verbeugung mit auf den Boden gerichteten Augen, dann aber wieder ein fast entwaffnend unschuldiges Lächeln. Jennerwein gab den Ausweis mit einem Schulterzucken zurück.
»Wieso wendet sich Ihre Firma gerade an mich?«
»Sie haben das, was man bei uns Nungwa-son nennt. Die wörtliche Übersetzung dieses Begriffs lautet: das Auge, das eine Hand hat. Damit wird der Blick bezeichnet, der das Wesen der Dinge erfasst, indem er sie sozusagen in die Hand nimmt, um sie von allen Seiten zu betrachten. Meine verehrten Vorgesetzten haben von diesem Ihrem Blick gehört und mich gebeten, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
Jennerweins Fähigkeit, aus einem Wust von Unwichtigem das Wesentliche herauszufiltern, war legendär. Doch dass diese Fähigkeit auf der anderen Seite der Erde Nungwa-son genannt wurde, war ihm neu.
»Ich fühle mich geschmeichelt. Aber Sie werden verstehen, dass ich Ihrer Bitte nicht nachkommen werde. Ich kann Ihnen weder helfen noch will ich das. Zurzeit bin ich außer Dienst. Ich mache Urlaub.«
»Wir setzen große Hoffnungen auf Sie. Wir sind der Meinung, dass eine Koryphäe wie Sie den Vorfall in allerkürzester Zeit aufklären wird.«
»Warum wenden Sie sich nicht an die Polizeikräfte vor Ort?«
Herr Lim seufzte.
»Die haben sich natürlich schon mit dem Fall befasst. Sie mussten ihre gewissenhaften Nachforschungen allerdings mangels brauchbarer Ergebnisse einstellen. Die Akten wurden geschlossen. Das ist nach einem halben Jahr auch nicht anders zu erwarten.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Lim, aber ich bin Beamter. Ich kann nicht einfach mit Privatermittlungen beginnen, noch dazu, wenn sich der Vorfall im Ausland zugetragen hat.«
Unwillkürlich waren beide ein paar Schritte gegangen, in Richtung des Friedhofs, der an das Kirchgebäude grenzte. Als sie an einem frisch angelegten Grab vorbeikamen, blieb Lim stehen.
»Sie sagten, dass Sie momentan nicht im Dienst seien.«
»So ist es.«
»In Paragraph 163 der deutschen Strafprozessordnung heißt es, dass ein Beamter, der Kenntnis von einem justiziablen Vorfall erhält, nicht gänzlich untätig bleiben darf, auch wenn er gerade nicht im Dienst ist. Ich verweise auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts. Der Beamte kann sich nicht darauf herausreden, dass er auch sein Privatleben hat. Er muss sich in solchen Fällen selbst in Dienst versetzen und entsprechend handeln.«
Jennerwein sah Lim verwundert an.
»Das Urteil kenne ich auch. Nach dem Polizeiaufgabengesetz muss er Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergreifen, ist aber nicht verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten. So steht es im Artikel – die genaue Stelle weiß ich jetzt auch nicht.«
»Wie dem auch sei, von Ermittlungen kann hier ohnehin nicht die Rede sein. Wir wollen lediglich Ihr Urteil zu dem Fall hören. Ihre Einschätzung ist uns sehr viel wert.«
Jennerwein lachte kurz auf.
»Schmeicheleien verfangen bei mir nicht.«
Über Lims Gesichtsausdruck huschte ein bekümmerter Schatten.
»Das ist schade. Das ist wirklich sehr schade.«
Sie waren jetzt in der Mitte des überschaubaren Friedhofs angelangt, weit und breit war kein Mensch zu sehen, sie standen vor dem schiefen Grabstein eines Familiengrabes. Die Namen der Familie waren nicht zu erkennen, denn der wild wuchernde Rosenbusch verdeckte die Inschrift.
»Na schön, ich gebe Ihnen eine Minute«, sagte Jennerwein.
Herr Lim bedankte sich und verbrauchte dabei genau genommen schon die Hälfte der Minute.
»Es geht um einen Mitarbeiter namens Florian Rossi«, begann er schließlich, »der in unserer Firma im Qualitätsmanagement gearbeitet hat. Nun ist Florian Rossi verschwunden, spurlos verschwunden, wie man so sagt. Er hatte Zugang zu vertraulichen innerbetrieblichen Informationen, die allerdings bisher nicht in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind. Noch nicht.«
Jennerwein stieß hörbar entrüstet Luft aus.
»Es handelt sich also um einen vagen Verdacht auf simplen Datenklau, wie er alle Tage vorkommt!« Jennerwein sah dem Koreaner prüfend ins Gesicht. »Und deswegen haben Sie die weite Reise unternommen?«
»Es geht nebenbei gesagt um hochbrisante Informationen«, sagte der Koreaner, und er zeigte dabei wieder diese bekümmerte Miene, die Jennerwein schon kannte. »Aber die möglichen materiellen Schäden stehen für uns auch gar nicht so im Vordergrund. Es geht uns zuallererst einmal um die körperliche Unversehrtheit des verehrten Herrn Rossi. Er wurde zuletzt vor sechs Monaten in einer der vielen Fertigungshallen der Firma gesehen, für sein Verschwinden gibt es überhaupt keine Erklärung.«
»Warum haben Sie sich nicht an private Ermittler vor Ort gewandt?«
»Herr Rossi stammt aus dem deutschsprachigen Raum, er ist einer der wenigen Mitteleuropäer in einer ansonsten weitgehend asiatisch geprägten Firma.«
»Auch wenn das so ist: Es gibt sicherlich noch andere deutsche Ermittler.«
»Wir finden, dass Sie nun einmal der Beste sind. Sie haben die Augen mit der Hand. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass nur Sie das Problem zu lösen vermögen. Bezüglich ihrer Entlohnung –«
Ein verärgerter Zug erschien auf Jennerweins Gesicht.
»Ich bin an Nebeneinkünften solcher Art nicht interessiert«, sagte er schroff. »Und ich darf auch gar nichts annehmen, das müssten Sie doch wissen, wenn Sie sich so gut vorbereitet haben.«
Jennerwein ließ Lim stehen und ging weiter. Der Kies knirschte in die sommerliche Stille hinein, sonst war nichts zu hören. Selbst die Friedhofskrähen auf den Pappelzweigen schwiegen. Lim kam ihm nach und holte ihn schließlich ein.
»Ich bedaure, Sie beleidigt zu haben. Ich mache Ihnen ein Angebot.«
»Nein.«
»Mikado Solutions stellt einen gewissen Geldbetrag zur Verfügung.«
Jennerwein blickte ihm scharf ins Gesicht.
»Habe ich mich so undeutlich ausgedrückt? Ich sagte: nein!«
»Nicht Ihnen, sondern einer wohltätigen Institution oder einer wie auch immer gearteten Einrichtung, die Ihnen sinnvoll erscheint. Sie wählen den Empfänger aus, wir spenden. Es handelt sich um eine Summe in etwa folgender Höhe.«
Lim zog einen Zettel aus der Jackentasche, kritzelte eine Zahl darauf und hielt ihn Jennerwein hin. Als dieser die Summe sah, erfasste ihn, der schon einige Zahlen in seiner Laufbahn vor sich gesehen hatte, ein leichter Schwindel.
»Ich sehe, dass Sie zögern«, fuhr der Koreaner fort. »Wir können das Angebot noch etwas erhöhen. Wenn wir den Fall durch einen entscheidenden Hinweis von Ihnen lösen, überweisen wir die Summe an die Einrichtung, die Sie uns nennen. Ihr Name bleibt hundertprozentig aus dem Spiel. Sie sitzen mit Ihrer Frau beim Frühstück, erfahren aus der Zeitung von der Spende und sagen zu ihr: ›Schatz, sieh mal: Es gibt noch wahrhaftige Menschenfreunde.‹«
Jennerwein sah Lim amüsiert an.
»Ich nenne meine Frau nicht Schatz. Alles, nur nicht das. Und woher wissen Sie überhaupt von meiner Frau?«, fügte er irritiert hinzu.
»Sie sind doch seit kurzem verheiratet, Herr Kommissar? Soviel ich weiß, schon seit ein paar Monaten.«
Das entsprach in der Tat der Wahrheit. Niemand aus Jennerweins Umgebung hatte es zunächst fassen können, dass Jennerwein diesen radikalen Schritt gegangen war. Und vor allem nicht mit dieser Frau. Und diese Frau vor allem nicht mit ihm. Das zarte Flämmchen der heimlichen Leidenschaft hatte schon jahrelang geflackert, und dann war es eines Tages geschehen, so wie ein wackeliges Bild von der Wand fällt und kein Mensch weiß, warum gerade jetzt und nicht schon viel früher. Aber es war nun einmal geschehen, und jetzt trug Jennerwein einen schmalen, aber güldenen Ring am Finger.
»Daran kann ich mich am allerwenigsten gewöhnen«, hatte der ehemalige Hauptkommissar Ludwig Stengele gesagt. »Dass Sie auch noch einen Ehering tragen.«
»Ich bekomme ihn nicht mehr ab«, hatte Jennerwein scherzhaft geantwortet. Jennerweins Gattin war es auch, die ihn letztlich davon überzeugt hatte, diesen momentanen Erholungsurlaub anzutreten. Trotz seines Dagegenhaltens hatte sie zudem darauf bestanden, dass er die Ruhepause ganz alleine genießen sollte, fernab von allen Kriminalfällen und Ermittlungen. Und mit ihr zusammen wäre er zwangsläufig wieder bei diesbezüglichen und innerbetrieblichen Themen gelandet.
»Ich gratuliere Ihnen zu dieser Hochzeit«, fuhr Lim fort. »Sie hätten keine bessere Verbindung eingehen können.«
»Das spielt nun momentan wirklich keine Rolle«, gab Jennerwein zurück.
»Entschuldigen Sie meine Indiskretion«, entgegnete Lim mit einer Verbeugung, die Jennerwein nicht recht deuten konnte. Es war keine einfache Verbeugung, sie war verbunden mit einer leichten Drehung nach außen. Es war mehr eine Schraube als eine Verbeugung. »Aber ich habe mich auf dieses Treffen genauestens vorbereitet. Das sind Sie uns wert.«
Jennerwein schwieg. Die Summe auf dem kleinen Zettel war wirklich enorm, und er hätte auch schon einen Adressaten für das Geld gehabt, eine Organisation, die ihm sehr am Herzen lag, weil sie viel soziales Engagement zeigte. Der Verein konnte jeden Groschen dringend gebrauchen. Darüber hinaus hätte sich dadurch für ihn auch die Gelegenheit geboten, eine peinliche Scharte auszuwetzen. Jennerwein war vor einiger Zeit zum Kriminalisten-Special bei Günther Jauch eingeladen worden, er hatte auch teilgenommen, war aber leider schon an der 8000-Euro-Hürde gescheitert. Eine Sportfrage hatte ihn ins Straucheln gebracht, eine Modefrage hatte ihm einen Tiefschlag versetzt, und eine Adelsfrage hatte ihm das Genick gebrochen. So war die wohltätige Spende in bescheidenem Rahmen geblieben. Jetzt aber …
Sie schritten weiter schweigend durch den Friedhof. Da er hier in der Gegend niemanden kannte, entzündete sich lediglich Jennerweins Vorstellungskraft an den Namen auf den Grabsteinen. Grövenhorst, Stephan, 1946–1999 … Und schon wieder ratterte seine unermüdliche Polizistenphantasie. Er stellte sich hinter jedem Sterbedatum eine Todesart vor, selbstredend eine unnatürliche. Laut einer nicht offiziell anerkannten Statistik soll jeder dritte Todesfall unnatürliche oder zumindest zweifelhafte Ursachen haben. Die Dunkelziffer bei Gewaltverbrechen mit Todesfolge war enorm. Wenn man sich das vor Augen hielt, waren die paar Fälle, die er aufgeklärt hatte, wirklich lächerlich. Jennerwein wandte sich wieder an Herrn Lim.
»Wie stellen Sie sich die Zusammenarbeit überhaupt vor?«, fragte er. »Nur mal so theoretisch.«
Ein feines Lächeln huschte über das Gesicht des Koreaners.
»Florian Rossi hat einen Abschiedsbrief zurückgelassen. Wir bitten Sie, sich die Zeilen in aller Ruhe anzusehen und Ihre Meinung dazu kundzutun. Unsere Spezialisten haben ihn natürlich schon nach allen Regeln der Kunst analysiert, aber er ist nun einmal in deutscher Sprache verfasst, und vielleicht haben sie gerade dadurch etwas übersehen. Es geht also um keinen Auslandseinsatz, wie Sie befürchtet haben, Sie können sich die paar Seiten zwischen zwei Ihrer medizinischen Anwendungen ansehen.«
»Ein handschriftlicher Abschiedsbrief?«
»So ist es.«
»Haben Sie ihn dabei?«
»Ich lasse Ihnen eine Kopie zukommen. Aber wenn Sie das Original –«
»Nein, eine Kopie genügt. Ich lese ihn mir durch, dann entscheide ich, ob ich mich weiter mit der Sache befasse oder nicht.«
Lim sah Jennerwein ernst an.
»Das freut mich außerordentlich, Herr Jennerwein. Mehr wollen wir gar nicht.«
»Darf ich den Standort der Fertigungshalle erfahren, in der Florian Rossi zuletzt gearbeitet hat?«
Herr Lim zögerte und ließ das Kiesknirschen das einzige Geräusch an diesem Sommermorgen sein. Sein Schweigen hielt an.
»Vielleicht wenigstens das Land?«
Wieder antwortete Lim nicht.
»Oder zumindest den Erdteil? Den Planeten? Die Galaxie?«
Schließlich sagte Lim:
»Wir stehen in scharfem Wettbewerb zu unseren Konkurrenten. Unser Hauptsitz befindet sich in den USA, die Produktionsstätten allerdings sind über die ganze Welt verstreut. Einige Abteilungen arbeiten an derart hochsensiblen Daten und Materialien, dass ihr Standort nicht bekannt gegeben wird. Nicht einmal ich kenne ihn.«
»Ich verstehe«, sagte Jennerwein. Wer’s glaubt, dachte er.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich ganz offen zu Ihnen spreche, Herr Kommissar, aber es ist völlig unwichtig, wo auf der Welt die Fertigungshallen von Mikado Solutions genau stehen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das ganze Werk, jeden noch so kleinen Winkel per Videoübertragung ansehen, quasi von Ihrem Hotelzimmer aus. Ich stelle Ihnen eine Augmented-Reality-Datenbrille und die entsprechenden technischen Geräte gerne zur Verfügung. Und ich werde zusätzlich dafür sorgen, dass Sie für den Rest des Urlaubs Ihre Ruhe haben. Aber Sie sollten zuerst –«
»– den Brief lesen, ja, ich verstehe.«
Sie hatten den kleinen Friedhof jetzt ganz durchschritten und machten sich wieder auf den Rückweg.
»Dann lassen Sie mich bitte Ihre Entscheidung wissen, wenn Sie den Brief gelesen haben?«
Jennerwein machte noch einen letzten Versuch.
»Ich nehme mal an, der Standort dieser bewussten Fertigungshalle liegt im asiatischen Raum?«
Herr Lim machte eine unbestimmte, ausweichende, fast flatterhafte Bewegung. Er glich einem Vogel, der sich nicht so recht dazu entschließen konnte, wegzufliegen.
»Es ist unwichtig, glauben Sie mir.«
»Nichts ist unwichtig«, sagte Jennerwein.
»Schön, dass Sie anrufen, meine Liebe. Ich muss allerdings gleich zum Wassertreten.«
»Wassertreten? Haben Sie jetzt wirklich Wassertreten gesagt, Kommissar? Wie beim alten Kneipp?«
»Hier heißt es natürlich water treading. Genauso wie ich heute vor dem Frühstück nicht beim Waldlauf, sondern beim high impact cardio run war. Ein pensionierter Sportlehrer, ein richtiger Schinder, hat uns eine geschlagene Stunde über Stock und Stein gehetzt, es war ganz schön anstrengend. Herrlich war das!«
»Aber Sie werden sich doch auch ein wenig ausruhen, nicht wahr?«
»Natürlich. Ich habe mich fünf Sekunden auf dem Bett ausgestreckt, da hat schon das Telefon geklingelt. Aus war’s mit dem Ausruhen.«
»Also geht es dir gut?«
»Ich fühle mich hier pudelwohl. Und dir?«
»Ohne dich ist es ein bisschen langweilig. Aber sonst alles o.k.«
»Dann bis heute Abend.«
»Bis heute Abend.«
Jennerwein legte auf. An das Duzen mussten sich beide erst noch gewöhnen. Sie hatten sich mehr als ein Jahrzehnt lang gesiezt, da fiel die Umstellung in diese neue Sozialdisziplin der Nähe und Vertrautheit noch sehr schwer. Aber manchmal rutschte das Ehepaar Jennerwein eben in die gemeinsame Vergangenheit zurück. Damit waren sie in bester Gesellschaft. Sogar in erlesener. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac und seine Gattin Madame Bernadette hatten sich gesiezt, genauso wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. So nannte die Frau, die gerade angerufen hatte, ihren Gatten immer noch ›Kommissar‹. Und er sie wiederum –