Kommissar Platow, Band 8: Der Rächer aus der Römerstadt - Martin Olden - E-Book

Kommissar Platow, Band 8: Der Rächer aus der Römerstadt E-Book

Martin Olden

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Beschreibung

Im Sommer 1976 war nicht nur die Hitze mörderisch. Im Frankfurter Rotlichtviertel tobte ein Bandenkrieg. Mein Partner Mike und ich untersuchten die grausame Hinrichtung einer türkischen Familie – und Terroristen entführten ein Air France Flugzeug nach Entebbe. An Bord der Maschine war eine Frau, an die ich mein Herz verloren hatte. Für uns alle begannen dramatische Stunden... Die Kommissar Platow-Serie: Frankfurt, Mitte der 70er Jahre. Die Kriminalität boomt. Drogen. Terrorismus. Bandenkriege. Mittendrin: Kommissar Joachim "Joe" Platow. Gemeinsam mit seinem Assistenten Mike Notto und Schutzhündin Abba kämpft er gegen das Verbrechen. Dabei wird Platow immer wieder von seinem persönlichsten Fall eingeholt – seine Ex-Verlobte Petra, die sich der RAF angeschlossen hat ... Die gesamte Serie ist erschienen: Band 1 "Sieben Schüsse im Stadtwald", Band 2 "Das Grab am Kapellenberg", Band 3 "Endstation Hauptwache", Band 4 "Der Westend-Würger", Band 5 "Blutnacht im Brentanopark", Band 6 "Frau Wirtins letzter Gast", Band 7 "Geiselnahme in der Goethestraße", Band 8 "Der Rächer aus der Römerstadt", Band 9 "Geschändet am Frankfurter Kreuz", Band 10 "Abrechnung in Bankfurt", Band 11 "Die Sünderin vom Schaumainkai", Band 12 "Das Phantom aus dem Palmengarten", Band 13: "Zahltag auf der Zeil", Band 14 "Der Kerker im Kettenhofweg" und Band 15 "Letzte Ausfahrt Frankfurt-Süd"

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Die Kommissar Platow-Serie

Frankfurt, Mitte der 70er Jahre. Die Kriminalität boomt. Drogen. Terrorismus. Bandenkriege. Mittendrin: Kommissar Joachim „Joe“ Platow. Gemeinsam mit seinem Assistenten Mike Notto und Schutzhündin Abba kämpft er gegen das Verbrechen. Dabei wird Platow immer wieder von seinem persönlichsten Fall eingeholt – seine Ex-Verlobte Petra, die sich der RAF angeschlossen hat …

Band 8: Der Rächer aus der Römerstadt

Im Sommer 1976 war nicht nur die Hitze mörderisch. Im Frankfurter Rotlichtviertel tobte ein Bandenkrieg. Mein Partner Mike und ich untersuchten die grausame Hinrichtung einer türkischen Familie – und Terroristen entführten ein Air France Flugzeug nach Entebbe. An Bord der Maschine war eine Frau, an die ich mein Herz verloren hatte. Für uns alle begannen dramatische Stunden…

Der Autor

Martin Olden ist das Pseudonym des Journalisten und Kinderbuchautors Marc Rybicki. Er wurde 1975 in Frankfurt am Main geboren und studierte Philosophie und Amerikanistik an der Goethe-Universität. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet Rybicki als Filmkritiker für das Feuilleton der „Frankfurter Neuen Presse“. Ebenso ist er als Werbe- und Hörbuchsprecher tätig.

Bei mainbook erscheint auch Martin Oldens Krimi-Reihe mit Kommissar Steiner: 1. Band: „Gekreuzigt“. 2. Band „Der 7. Patient“. 3. Band „Wo bist du?“. 4. Band „Böses Netz“. 5. Band „Mord am Mikro“. 6. Band „Die Rückkehr des Rippers“. 7. Band "Vergiftetes Land". Im Jahr 2013 veröffentlichte er zudem seinen ersten Thriller „Frankfurt Ripper“.

Weitere Titel von Marc Rybicki sind die Kinderbücher „Mach mich ganz“, „Wer hat den Wald gebaut?“, „Wo ist der Tannenbaum?“ und „Graue Pfote, Schwarze Feder“.

(Autorenwebsite: www.sonnige-sendung.de)

Copyright © 2017 mainbook Verlag, mainebook Gerd Fischer

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-946413-66-0

Lektorat: Gerd Fischer

Layout: Olaf Tischer

Bildrechte Cover: © Olaf Tischer

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de oder

www.mainebook.de

Martin Olden

Kommissar Platow

Band 8:

Der Rächer aus der Römerstadt

Krimi-Serie aus den 70er Jahren

Alle Fälle der „Kommissar Platow“-Serie basieren auf wahrenBegebenheiten und tatsächlichen Fällen.

Inhalt

1 Samstag, 26. Juni 1976

2 Sonntag, 27. Juni 1976

3

4 Dienstag, 29. Juni

5

6 Mittwoch, 30. Juni

7

8

9 Freitag, 02. Juli

10 Samstag, 03. Juli

11

12

13

14

15

16

17 Sonntag, 4. Juli

18 Montag, 5. Juli

19

20 Mittwoch, 7. Juli

1

Samstag, 26. Juni 1976

Die Neonreklame der Frankfurter Diskothek Number One warf ihr giftgrünes Licht auf den Asphalt. Ein Mann lief auf den Tanztempel in der Großen Friedberger Straße zu. An seinem drahtigen Körper klebte ein Rüschenhemd, feucht vor Schweiß. Er wischte sich mit dem Handrücken über die glänzende Stirn. Für einige Sekunden träumte er von einem kühlen Drink. Die Sommernacht war außergewöhnlich schwül. Seine gespannten Nerven brachten ihn zusätzlich in Hitze. Er fühlte, wie sich das Prickeln unter dem Ansatz des kurzen, dunkelbraunen Haarschopfs steigerte und bis in die Fußspitzen ausbreitete, je näher er der Disko kam. So muss ein Tiger empfinden, überlegte Max Bernstein, wenn er sich an eine Antilope heranpirscht. Aus schmalen Augen tastete er die Erker und Balkone der neobarocken Vorkriegshäuser nach verdächtigen Bewegungen ab. In den Schatten war nichts zu erkennen. Kein Empfangskomitee zu seiner Begrüßung. Niemand ahnte, dass er kommen würde. Gut so.

Hinter sich hörte Bernstein das Trippeln kleiner Füße auf dem Asphalt. Er drehte den Kopf. Eine Maus auf der Suche nach einem Mitternachtsimbiss. Ja, lauf nur, dachte er. Am Ende erwischt dich doch die Katze.

Bernsteins Blick streifte drei Schwarze vor dem Eingang zum Number One. Sie trugen Freizeitkleidung, trotzdem erkannte er in ihnen amerikanische Soldaten, anhand der Staturen und Haarschnitte. Das Trio diskutierte mit dem Einlasser an der Kasse. Der langhaarige Studententyp deutete auf das Pappschild über seinem Kopf. „Die Direktion hat das Recht, ohne Angabe von Gründen vom Hausrecht Gebrauch zu machen“, las er betont laut, als ob die Dunkelhäutigen den Sinn der deutschen Worte dadurch besser verstehen könnten. Die GIs zuckten mit den Achseln. Sie waren sich keiner Schuld bewusst.

„Ihr habt keine Clubkarte“, erklärte der Kassierer. „No club card – you understand?“

Einer der Drei zog einen Hundertmarkschein aus seiner Brusttasche. „Okay, let`s buy some cards.“

„Sind aus!“, kam die prompte Antwort. „No more cards left. Sorry. Kommt in einem halben Jahr noch mal! Dann gibt`s wieder welche.“

Max Bernstein wusste, dass der Jungspund Märchen erzählte. Man brauchte überhaupt keine Klubkarte, um in die Diskothek zu kommen. Es war eine billige Ausrede, damit die unbeliebten Schwarzen draußen blieben. Zutritt nur für Weiße – dieses Hinweisschild wäre passender gewesen. Bernstein fühlte sich an eine Zeit in Deutschland erinnert, die seine Eltern mit Glück überlebt hatten. Der Muff von tausend Jahren stank mancherorts noch immer zum Himmel. In jeder anderen Nacht wäre er für die GIs eingetreten. Allein schon deshalb, weil sich unter der Kundschaft seiner „Firma“ viele US-Soldaten tummelten. Vielleicht hätten sich auch diese Boys zu einem Geschäft überreden lassen. Aber Bernsteins Auftrag duldete keine Verzögerung. Mit einem angedeuteten Kopfnicken grüßte er den Kassierer, drückte ihm das Eintrittsgeld in Höhe von 2,50 Mark in die Hand und durfte unbehelligt passieren. Die dröhnende Musik traf seine empfindlichen Ohren mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Die Bellamy Brothers sangen Let Your Love Flow. Zum Rhythmus des Liedes verrenkten entrückt lächelnde Paare ihre Arme und Beine, angestrahlt vom Flackerlicht einer rotierenden Kugel. Bernstein überprüfte die Gesichter auf der Tanzfläche. Kein Treffer. Wo steckte Ferit Yildiz? Dreißig Sekunden später entdeckte er den schmalzlockigen Türken im Halbdunkel einer Nische. Ferit war fünfundzwanzig Jahre alt, 1,80 Meter groß und kräftig. Die Goldkette um seinen Stiernacken hatte er der Tatsache zu verdanken, dass der Yildiz-Clan auch im Hochsommer Schnee schaufelte. Lässig lümmelte der Dealer auf der Polstergarnitur, flankiert von zwei Landsmännern und einer wasserstoffblonden Ingrid-Steeger-Kopie. Sie klemmte zwischen Ferit und seinen Bodyguards wie die Fleischfüllung in einem Fladenbrot. Bernstein ging auf die Gruppe zu.

„Guten Abend!“, rief er, um die Musik zu übertönen. Sein Finger wies auf Yildiz. „Sind Sie Ferit?“

Der Angesprochene wandte seine Aufmerksamkeit vom Ausschnitt der Blondine ab. „Und du?“ Ferits Stimme klang rau. Mürrisch kniff er die buschigen Brauen zusammen. „Was du wollen?“

„Mein Boss hat eine Nachricht für Ihren Vater. Es geht um Friedensverhandlungen.“

„Aha!“ Ferit ging ein Licht auf. „Du Mann von Zappa. Viel Mut, kommen hierher.“ Grinsend strich er über seinen Dreitagebart.

Der Mann an seiner rechten Seite, ein Spargeltarzan mit dünnem Schnurrbart, spuckte auf den Boden. „Scheiß Juden!“

Das blonde Gift blickte zu Yildiz. Aus ihren glasigen Augen sprach Bewunderung. „Du kennst Frank Zappa?“, nuschelte sie. „Wow!“

Bernstein schmunzelte. Das Mädchen hatte offensichtlich einen Trip geschmissen und schwebte fern der Realität über den Wolken.

„Nein, Fräulein“, stellte er richtig. „Das ist nur ein Spitzname, weil mein Boss dem Rockmusiker ähnlich sieht.“ Falls die Kleine den Sinn seiner Worte begriff, wusste sie es gut zu verbergen. Bernstein nahm Yildiz ins Visier und hoffte, bei ihm mehr Verständnis zu finden. „Ihre Familie hat sich in unserer Stadt breitgemacht. Zappa hat nichts dagegen, dass Sie bleiben.“

„Cömert“, lächelte der Türke. „Wie sagt man Deutsch? Großzügig!“

„Allerdings …“, hob Bernstein an, „… wenn Sie vorhaben, weiterhin Ihre Ware in Frankfurt anzubieten, steigen wir als Partner mit ein. Andernfalls gibt es in dem Geschäft keine Zukunft für Burak Yildiz und seine Sippe.“

„Du drohen meine Baba?“ Ferit lächelte noch immer. Daumen und Zeigefinger formten eine Pistole. „Wir keine Angst. Du vergessen wir letzte Woche umlegen einen von euch?“

„Dafür liegt einer Ihrer Freunde auf der Intensivstation der Uniklinik, wenn ich mich nicht täusche.“

Yildiz schürzte die Lippen, während Zappas Unterhändler weitersprach. „Mein Boss möchte weiteres Blutvergießen verhindern. Warum sich gegenseitig das Leben schwer machen, wenn man zusammen Geld machen kann? Er hat ein spezielles Angebot für Ihren Vater ausgearbeitet, das Sie ihm übermitteln sollen. Aber es ist nur für Ihre Ohren bestimmt. In Gegenwart Ihrer Freunde darf ich darüber nicht sprechen“, fügte er mit einem Seitenblick auf die Leibwächter hinzu.

Der Dealer überlegte, nickte langsam und wies in Richtung der Toiletten. Max Bernstein schüttelte den Kopf. „Ist mir zu privat. Gehen wir auf die Tanzfläche. Dort ist es sicherer für uns beide.“

„Ich tanzen mit dir?“, schnaubte Ferit. „Sollen Leute mich halten für Schwuchtel oder was?“

Sein schnurrbärtiger Begleiter lupfte das Batik-Hemd. Der Knauf eines Revolvers wurde sichtbar. „Legen Drecksjuden um, ja?“

„Beweist ihr Türken so eure Männlichkeit, indem ihr auf Unbewaffnete schießt?“, fragte Bernstein herausfordernd und spreizte die Arme vom Körper ab. „Hab keine Kanone dabei. Na los, kommt her und überzeugt euch selbst! Ich bin in friedlicher Absicht gekommen.“

„Lass stecken Ömer!“, sagte Yildiz zu dem Kompagnon. „Du und Halil bleiben bei Anita. Ich gehen mit Falafel-Fresser. Hören Scheiße an.“

Die letzten Takte der Bellamy Brothers verklangen und gingen über in ABBAs Waterloo. Bernstein führte Yildiz mitten unter die Tanzenden, abgeschirmt von den Blicken der Bodyguards. Er ließ die Hüfte kreisen, schnippte mit den Fingern und trippelte dicht auf sein Gegenüber zu. „Wenn du mich anfassen, du tot“, ertönte die sofortige Warnung.

„Gott bewahre, ich fasse Sie nicht an. Hab nur keine Lust zu schreien.“ Er beugte sich zu Yildiz` Ohr. „Im Grunde könnte Zappa egal sein, was Sie und Ihre Familie treiben. Die Nigerianer haben ihn auch nicht gestört. Der Markt ist groß genug für alle. Doch Baba Yildiz verdirbt die Preise. Vor einem Jahr hat unsere Firma pro Gramm einen Spitzenerlös von 1000 Mark erzielt. Und was machen Sie? Verschleudern das Zeug für schlappe 200 Eier. Darüber ist Zappa mächtig sauer.“

„Er verkaufen Hongkong-Rocks. Ist dreckig, nix rein. Wir haben bessere Stoff.“

„Eben. Weißen Schnee. Heroin Nummer 4. Darum sind die Preise …“

„Freie Marktwirtschaft“, fuhr ihm Ferit über den Mund. „Ich gelernt in Almanya. Du verkaufen billig und viel – dann du bekommen mehr Gewinn.“

Das glucksende Lachen widerte Bernstein an. „Hören Sie zu! Das ist Zappas Vorschlag: Sie erhöhen die Preise, wir steuern unseren Vertrieb bei und teilen Fifty-Fifty.“

Ferit zeigte auf seinen Mund. „Du sehen, wie ich lachen? Haha!“

Bernstein grinste schief. „Leider hat mein Boss mit der Ablehnung gerechnet. Er ist sich jedoch sicher, dass Baba Yildiz den Kampf aufgibt, wenn er Sie, seinen ältesten Sohn … begraben muss.“

Ehe Ferit zweimal geblinzelt hatte, krachte Bernsteins rechter Ellbogen an seine Schläfe, die linke Handkante traf das Schulterblatt und ein Knie stieß in die Leistengegend. Die Disko-Gänger waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um der Szene Beachtung zu schenken. Ohnehin hätten sie Bernsteins blitzartige Bewegungen kaum wahrnehmen können, geschweige denn gewusst, dass der Gangster eine israelische Nahkampftechnik namens Krav Maga beherrschte. Der Ungar Imrich Lichtenfeld hatte sie in den 30er Jahren entwickelt, damit sich Juden gegen antisemitische Angriffe verteidigen konnten. Bernstein wendete sie an, weil es Zappas todbringender Auftrag verlangte. Wieselflink wirbelte er um die eigene Achse, schlang den Unterarm um den Hals des stöhnenden Türken und drückte ihm die Luft ab. Ferit öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen. In einem Akt letzter Geistesgegenwart ging er leicht in die Knie und keilte mit der Ferse aus. Der Tritt traf Bernstein zwischen den Beinen. Er schnappte nach Luft. Sein Griff lockerte sich für einen Moment. Ferit ergriff die Gelegenheit, wand sich aus der Umklammerung und riss ein Klappmesser aus der Jeanstasche. Hektisch stach er zu. Bernstein brachte die Arme nicht mehr rechtzeitig zum Schutz vor den Körper. Die Klinge durchbohrte seinen Bauch und die Brust. Zweimal, dreimal, viermal. Während ABBA fröhlich von Napoleons Niederlage sang, gellten Todesschreie durch das Number One. Die Gäste wurden aus ihrer Trance katapultiert. Eine junge Frau sah den blutüberströmten Mann zusammenbrechen. Sie begann wie eine Sirene zu kreischen. Ferit Yildiz stieß türkische Verwünschungen aus und spuckte dem Sterbenden ins Gesicht. Dann hastete er zum Ausgang, wobei er den Freunden in der Nische durch wildes Winken gebot, ihm zu folgen.

Bevor die Polizei eintraf, waren die Rauschgifthändler längst im Frankfurter Häusermeer untergetaucht.

2

Sonntag, 27. Juni 1976

Ich stand auf dem Bockenheimer Friedhof. In dem Grab vor meinen Füßen ruhte ein Mann, der mir ein Freund gewesen war. Er hatte unsere Welt viel zu früh verlassen. Lebhaft erinnerte ich mich an seine Späße und die Herzlichkeit, mit der er mich zu grüßen pflegte, wenn ich seine bescheidene Wohnung in Ginnheim betrat. „Na, da kommt ja mein Meister“, rief er schon im Treppenhaus, gab mir einen Klaps auf die Schulter und strahlte von innen heraus wie die aufgehende Sonne an einem Mai-Morgen. Ich wusste, sein unvergleichliches Lachen würde mir Zeit meines Lebens vor Augen stehen. Zweifellos besaß er auch eine nachdenkliche Seite, aber die bekam ich ganz selten zu Gesicht. Meist saßen wir scherzend am Küchentisch und spielten Rommé bis zum späten Abend. Falls mich etwas beschäftigte, durfte ich von meinen Sorgen erzählen. Ich bekam ein aufmunterndes Wort, manchmal einen Rat, niemals eine Belehrung. Egal, was ich getan hatte, zu diesem Mann konnte ich ohne schlechtes Gewissen gehen, denn er liebte mich, wie ich war. Und ich liebte ihn. Meinen Großvater. Stumm las ich die Inschrift auf dem Grabstein. Albert Platow, 1888 – 1956.

Sehr alt war er nicht geworden. Wenigstens hatte er lange genug gelebt, um seinen vermissten Sohn, meinen Vater, aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehren zu sehen. Ein paar Jährchen später hatte sein großes Herz plötzlich aufgehört zu schlagen. Von Beruf war er Schriftsetzer gewesen bei der 1860 gegründeten Frankfurter Societäts-Druckerei. Dort erschien die damals weltbekannte Frankfurter Zeitung, bis die Nazis das systemkritische Blatt in meinem Geburtsjahr 1943 endgültig verboten. Was Großvater wohl zu dem jüngsten Gesetz unserer Bundesregierung gesagt hätte, dessen Auslegung die Freiheit linksgerichteter Verlage einschränkte? Paragraph 129a Strafgesetzbuch: Terroristische Aktionen verfassungsfeindlich zu befürworten wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet. Im Klartext hatten Bürger zu befürchten, ins Gefängnis zu wandern, wenn sie Schriften verbreiteten, die als Kampfmittel gegen den Staat interpretiert werden konnten. Das Ermitteln und Bestrafen war den Behörden erlaubt, ohne dass ein konkreter Beitrag zu einem Anschlag nachgewiesen sein musste. Unter Federführung des Bundeskriminalamtes gab es Razzien in linken Verlagshäusern und Buchläden, Verhöre von Händlern und Beschlagnahmungen von Zeitschriften. Ein gefundenes Fressen für die alten Falken im BKA, wie meinen Erzfeind Hauptkommissar Seewald, um gegen den politischen Gegner unter dem Deckmantel der Gefahrenabwehr vorzugehen. Britische Zeitungen hatten dafür bereits einen hübschen Titel gefunden. The Hexenjagd in Germany.

„Du fragst dich vielleicht“, sagte ich leise zu dem Grabstein, „wie unser Kanzler Schmidt, ein gestandener Sozialdemokrat, ein Verbot der freien Meinungsäußerung befürworten kann? Ganz einfach, wir haben ein Wahljahr. Und laut Umfragen ist die Unzufriedenheit der Leute über die Bilanz der Regierung im Kampf für Ruhe und Ordnung ziemlich hoch. Also unternimmt man alles, um beim Volk möglichst populär zu sein. Dabei spielen unsere Politiker mit ihrem hysterischen Vorgehen bloß den Extremisten in die Hände.“

Seit Beginn des Schauprozesses in Stammheim gegen die RAF-Spitze und dem übermäßig harten Einsatz der Justiz hatte sich die Summe der Baader-Meinhof-Sympathisanten glatt verzehnfacht. Auf geschätzte 3500 heimliche Genossen kam die verhältnismäßig lächerliche Zahl von 30 Aktiven auf der Fahndungsliste. Wie groß war die Bedrohung tatsächlich, die der brave Bürger angeblich empfand?

Augenwischerei für die Leichtgläubigen, so hatte es meine große Liebe Petra Helm genannt. Ihr Bild sah ich jeden Tag, wenn ich ins Büro kam. Es grüßte mich vom Plakat der meistgesuchten Anarchisten, denen sich meine ehemalige Verlobte aus übersteigertem Weltverbesserungsdenken angeschlossen hatte. Ein Albtraum. Unvorstellbar. Auch unverzeihlich? Ja, sagte mein Polizistenverstand. Nein, schrie meine Christenseele. Die Liebe hält allem stand, hört niemals auf. Petra war an üblen Taten beteiligt, doch kein schlechter Mensch. Bei einem meiner letzten Fälle hatte sie mir sogar entscheidend geholfen und dadurch Leben gerettet. Süß war die Erinnerung an ihren überraschenden Besuch in meiner Wohnung, die Zärtlichkeiten, die wir ausgetauscht hatten, als zwischen uns alles so gewesen war wie am Anfang unserer Beziehung vor sechzehn Jahren.

„Du hättest meine Gefühle für sie verstanden, Großvater“, flüsterte ich, als mich Schritte auf dem Kiesweg aus meinen Gedanken rissen. Ein Mann mit braunen Locken und langen Koteletten näherte sich mir. Mein Partner und Freund Michael „Mike“ Notto.

„Hi, Joe!“

Ich war überrascht, ihn zu sehen. „Hast du dich verlaufen an deinem dienstfreien Tag?“

Er ignorierte die Frage und warf einen flüchtigen Blick auf das Grab. „Mann, wenn ich mir vorstelle, dass ich um ein Haar da unten gelegen hätte!“

Mike und seine Freundin, die Militärpolizistin Janet Wilson, waren vor einigen Tagen knapp einem Bombenattentat auf das US-Hauptquartier im I.G.-Farbenhaus entgangen. Vierzehn Verletzte hatte es gegeben, Gott sei Dank keine Toten. Verantwortlich war eine Brigade Ulrike Meinhof der Revolutionären Zellen. Die Terrorgruppe wollte damit gegen Meinhofs mutmaßliche Ermordung im „Vernichtungslager“ Stammheim protestieren.

„Wäre meine kleine Janet nicht zufällig von einem Militärheini ins oberste Stockwerk gerufen worden, hätte uns deine Petra im Offiziersclub hochgehen lassen!“

„Wer sagt dir, dass sie die Bomben gelegt hat?“

„Hast sie doch selbst ins Haus gehen sehen“, frischte Mike mein Gedächtnis auf.

„Irrtum. Ich habe eine Frau beobachtet, die ihr ähnlich gesehen hat. Laut Aussage eines Wachtpostens ist es diese Dame gewesen, die den Sprengstoff in das Hauptquartier geschmuggelt haben muss, eingewickelt in eine Decke wie ein Baby. Für Petras Beteiligung gibt es keinerlei Beweise.“

„Das sagst du, weil du mit ihr in die Kiste gegangen bist. Steht Extremisten-Sex jetzt eigentlich auch unter Strafe?“ Mike grinste keck. „Jedenfalls kann ich ein Rendezvous mit Janet bis auf Weiteres abschreiben. Der Anschlag hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Die Arme ist zu ihrer Familie nach Milwaukee geflogen.“

„Wie ich dich kenne, wirst du bei einer deiner anderen Bienen Trost finden.“