Kommunikologie - Vilém Flusser - E-Book

Kommunikologie E-Book

Vilém Flusser

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Beschreibung

Kommunikologie, so nannte Vilém Flusser seine Theorie menschlicher Kommunikation, die im Mittelpunkt seines Werks steht. Der vorliegende Band enthält zwei grundlegende Texte Flussers zu diesem Problemgebiet: Texte, die zentrale Motive seines Denkens erschließen. Die menschliche Kommunikation ist für Flusser jener Prozeß, durch den Informationen gespeichert, verarbeitet und weitergegeben werden, aber auch stetig neue Information erzeugt wird. Die Kommunikologie beschäftigt sich dabei vor allem mit den Formen und Codes dieser Informationsvermittlungen, deren historische Wandlungen Flusser von der Höhlenmalerei bis zur Kommunikation in Computernetzen verfolgt: Mit seiner Kommunikologie hat Flusser nicht nur eine Theorie, sondern auch eine scharfsinnige Diagnose unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft ausgearbeitet.

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Vilém Flusser

Kommunikologie

Herausgegeben von Stefan Bollmann und Edith Flusser

Fischer e-books

Umbruch der menschlichen Beziehungen?

Was ist Kommunikation?

Die menschliche Kommunikation ist ein künstlicher Vorgang. Sie beruht auf Kunstgriffen, auf Erfindungen, auf Werkzeugen und Instrumenten, nämlich auf zu Codes geordneten Symbolen. Menschen verständigen sich untereinander nicht auf «natürliche» Weise: Beim Sprechen kommen nicht «natürliche» Töne heraus wie beim Vogelgesang, und das Schreiben ist keine «natürliche» Geste wie der Bienentanz. Daher ist die Kommunikationstheorie keine Naturwissenschaft, sondern sie gehört zu jenen Disziplinen, welche mit den unnatürlichen Aspekten des Menschen zu tun haben und einst «Geisteswissenschaften» hießen. Die amerikanische Bezeichnung «humanities» trifft das Wesen solcher Disziplinen genauer. Sie deutet nämlich an, daß der Mensch ein unnatürliches Tier ist.

Nur in diesem Sinn kann man ihn ein geselliges Tier, ein zoon politikon, nennen. Er ist ein Idiot (ursprünglich: eine «Privatperson»), wenn er nicht gelernt hat, sich der Instrumente der Kommunikation (z.B. einer Sprache) zu bedienen. Idiotie, unvollkommenes Mensch-sein, ist Mangel an Kunst. Zwar gibt es auch «natürliche» zwischenmenschliche Beziehungen (etwa zwischen Säugling und Mutter, oder beim Geschlechtsverkehr), und man kann von ihnen behaupten, sie seien die ursprünglichsten und grundlegenden Kommunikationsformen. Aber sie sind nicht charakteristisch für menschliche Kommunikation und zudem weitgehend von Kunstgriffen angesteckt (von «Kultur beeinflußt»).

Der künstliche Charakter der menschlichen Kommunikation – die Tatsache, daß er sich mit anderen Menschen durch Kunstgriffe verständigt – ist dem Menschen nicht immer voll bewußt. Nach Erlernen eines Codes neigen wir dazu, seine Künstlichkeit zu vergessen: Hat man den Code der Gesten gelernt, denkt man nicht mehr daran, daß Kopfnicken nur für jene «Ja» bedeutet, welche sich dieses Codes bedienen. Die Codes (und die Symbole, aus denen sie bestehen) werden zu einer Art zweiter Natur, und die kodifizierte Welt, in der wir leben – die Welt der bedeutenden Phänomene wie Kopfnicken, Verkehrszeichen und Möbel – läßt uns die Welt der «ersten Natur» (die bedeutende Welt) vergessen. In letzter Analyse ist das der Zweck der uns umgebenden kodifizierten Welt: uns vergessen lassen, daß sie ein künstliches Gewebe ist, welches die an und für sich bedeutungslose, unbedeutende Natur unserem Bedürfnis gemäß mit Bedeutung erfüllt. Der Zweck der menschlichen Kommunikation ist, uns den bedeutungslosen Kontext vergessen zu lassen, in dem wir vollständig einsam und incommunicado sind, nämlich jene Welt, in der wir in Einzelhaft und zum Tode verurteilt sitzen: die Welt der «Natur».

Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. Von «Natur» aus ist der Mensch ein einsames Tier, denn er weiß, daß er sterben wird und daß in der Stunde des Todes keine wie immer geartete Gemeinschaft gilt: Jeder muß für sich allein sterben. Und potentiell ist jede Stunde die Stunde des Todes. Selbstredend kann man mit so einem Wissen um die grundlegende Einsamkeit und Sinnlosigkeit nicht leben. Die menschliche Kommunikation webt einen Schleier der kodifizierten Welt, einen Schleier aus Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion um uns und webt ihn immer dichter, damit wir unsere eigene Einsamkeit und unseren Tod, und auch den Tod derer, die wir lieben, vergessen. Kurz, der Mensch kommuniziert mit anderen, ist ein «politisches Tier», nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein einsames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben.

Die Kommunikationstheorie beschäftigt sich mit dem künstlichen Gewebe des Vergessenlassens der Einsamkeit und ist daher eine humanity. Zwar ist hier nicht der Ort, den Unterschied zwischen «Natur» einerseits und «Kunst» (oder «Kultur» oder «Geist») andererseits zu erörtern. Aber die methodologische Folge der Feststellung, daß die Kommunikationstheorie keine Naturwissenschaft ist, muß doch zu Worte kommen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde allgemein angenommen, daß Naturwissenschaften Phänomene erklären, während die «Geisteswissenschaften» sie interpretieren. (Zum Beispiel wird eine Wolke erklärt, wenn man auf ihre Ursachen verweist, und ein Buch wird interpretiert, wenn man auf seine Bedeutung hinweist.) Danach wäre die Kommunikationstheorie eine interpretierende Disziplin: sie hat es mit Bedeutungen zu tun.

Leider haben wir die Naivität verloren zu glauben, daß die Phänomene selbst entweder Erklärung oder Interpretation fordern. Wolken können interpretiert werden (Weissager und manche Psychologen tun dies), und Bücher können erklärt werden (historische Materialisten und manche andere Psychologen tun dies). Es scheint, daß eine Sache zu «Natur» wird, sobald man sie erklärt, und zu «Geist», sobald man sich entscheidet, sie zu interpretieren. Danach wäre für einen Christen überhaupt alles «Kunst» (nämlich Gottes Werk) und für einen aufgeklärten Philosophen des 18. Jahrhunderts überhaupt alles «Natur» (nämlich im Prinzip erklärlich). Der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und «Geisteswissenschaft» wäre demnach nicht auf die Sache, sondern auf die Einstellung des Forschers zurückzuführen.

Aber das entspricht nicht der tatsächlichen Lage der Dinge. Zwar kann man alles «humanisieren» (beispielsweise Wolken lesen) und alles «naturalisieren» (beispielsweise die Ursachen von Büchern aufdecken). Aber man muß sich dabei bewußt sein, daß das untersuchte Phänomen bei jeder dieser beiden Vorgehensweisen andere Aspekte aufweisen wird und es daher wenig Sinn hat, vom «gleichen Phänomen» zu sprechen. Eine gedeutete Wolke ist nicht die Wolke der Meteorologen, und ein erklärtes Buch hat nichts mit Literatur zu tun.

Wendet man das Gesagte auf das Phänomen der menschlichen Kommunikation an, dann erkennt man das methodologische Problem, von dem gesprochen wurde. Versucht man nämlich, die menschliche Kommunikation zu erklären (beispielsweise als Weiterentwicklung der Säugetierkommunikation, als Folge der menschlichen Anatomie oder als Methode, Informationen zu übertragen), dann spricht man von einem anderen Phänomen, als wenn man versucht, sie zu interpretieren (aufzuzeigen, was sie bedeutet). Die vorliegende Arbeit schlägt vor, diese Tatsache im Auge zu behalten. In der Folge wird also «Kommunikationstheorie» als eine interpretative Disziplin verstanden (zum Unterschied beispielsweise von «Informationstheorie» oder «Informatik»), und die menschliche Kommunikation wird als ein bedeutendes und zu deutendes Phänomen angesehen werden.

Das Unnatürliche an diesem Phänomen, das unter dem interpretativen Gesichtspunkt sichtbar wird, ist mit der Künstlichkeit seiner Methoden – der absichtlichen Herstellung von Codes – aber noch nicht vollends erfaßt. Die menschliche Kommunikation ist unnatürlich, ja widernatürlich, weil sie beabsichtigt, erworbene Information zu speichern. Sie ist «negativ entropisch». Man kann behaupten, daß die Übertragung von erworbener Information von Generation zu Generation ein essentieller Aspekt der menschlichen Kommunikation ist und ein Charakteristikum des Menschen überhaupt darstellt: er ist ein Tier, welches Tricks erfunden hat, um erworbene Information anhäufen zu können.

Zwar gibt es auch in der «Natur» solche negentropischen Prozesse. Beispielsweise kann man die biologische Entwicklung als eine Tendenz zu immer komplexeren Formen, zur Akkumulation von Information, betrachten – als einen Prozeß, der zu immer weniger wahrscheinlichen Strukturen führt. Und es läßt sich dann sagen, daß die menschliche Kommunikation ein vorläufig letztes Stadium in diesem Entwicklungsprozeß darstellt – jedenfalls wenn man versucht, das Phänomen der menschlichen Kommunikation zu erklären. Aber man wird dann von einem anderen Phänomen sprechen als von dem hier gemeinten.

Vom naturwissenschaftlichen, erklärenden Standpunkt aus ist das Anhäufen von Information ein Prozeß, der sich sozusagen auf dem Rücken des weit breiteren Prozesses in Richtung Informationsverlust abspielt, um schließlich in diesen zu münden: ein Epizyklus. Zwar ist die Eiche komplexer als die Eichel, sie wird aber schließlich zu Asche, welche weniger komplex ist als die Eichel. Zwar ist die Struktur des Ameisenkörpers komplexer als die Struktur der Amöbe, aber die Erde wird der Sonne näher rücken und der ganze biologische Epizyklus wird schließlich eingeäschert werden, wobei diese Asche wiederum weniger komplex sein wird als die Amöbe. Die Epizyklen der Informationssicherung sind zwar unwahrscheinlich, aber statistisch möglich, müssen allerdings, ebenfalls statistisch, laut des Zweiten Thermodynamischen Prinzips im Wahrscheinlichen münden.

Ganz anders, ja geradezu umgekehrt, erscheint diese negentropische Tendenz der menschlichen Kommunikation, wenn man versucht, sie zu deuten, anstatt sie zu erklären. Dann nämlich wird die Akkumulation von Information nicht als statistisch unwahrscheinlicher, aber möglicher Prozeß, sondern als menschliche Absicht aufgefaßt – nicht also als Folge von Zufall und Notwendigkeit, sondern von Freiheit. Die Speicherung von erworbenen Informationen wird nicht als einer der Ausnahmefälle der Thermodynamik gedeutet (wie dies in der Informatik geschieht), sondern als widernatürliche Absicht des zum Tode verurteilten Menschen, und zwar etwa folgendermaßen:

Die These, die menschliche Kommunikation sei ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode, und die These, sie sei ein Prozeß, der gegen die allgemeine Tendenz der Natur in Richtung Entropie läuft, behaupten beide dasselbe. Die stumpfe Tendenz der Natur zu immer wahrscheinlicheren Zuständen, zum Haufen, zur Asche (zum «Wärmetod»), ist nichts als der objektive Aspekt der subjektiven Erfahrung unserer stupiden Einsamkeit und unserer Verurteilung zum Tode. Sowohl vom existentiellen Standpunkt – als Versuch, gemeinsam mit anderen den Tod zu überwinden – als auch vom formalen Standpunkt – als Versuch, Informationen herzustellen und zu speichern – erscheint unsere Kommunikation als der Versuch, die Natur zu leugnen, und das betrifft nicht nur die «Natur» dort draußen, sondern auch die «Natur» des Menschen.

Deutet man unser Engagement für Kommunikation auf diese Weise, dann werden statistische (und überhaupt quantifizierende) Überlegungen unbedeutend. Die Frage, wie wahrscheinlich es ist, daß Steine und Ziegel sich zu einer Stadt gruppieren und wann sie wieder zu einem Trümmerhaufen zusammenfallen werden, ist dann eine falsche Frage. Die Stadt entsteht dank der Absicht, dem sinnlosen Dasein zum Tod eine Bedeutung zu geben. Die Frage, wieviele Affen wieviele Jahre Schreibmaschinen schlagen müssen, um die Göttliche Komödie «notwendigerweise» zu tippen, ist dann eine bedeutungslose Frage. Dantes Werk soll dann nicht aus seinen Ursachen erklärt, sondern aus seinen Absichten interpretiert werden. Dann läßt sich das menschliche Engagement für Speicherung von Information gegen den Tod auch nicht mit jenen Skalen messen, die die Naturwissenschaftler verwenden. Der Karbontest mißt die natürliche Zeit beispielsweise am Informationsverlust spezifischer radioaktiver Atome. Die künstliche Zeit der menschlichen Freiheit (die «historische Zeit») ist aber nicht durch eine Umkehrung der im Karbontest verwendeten Formel meßbar, als Kumulation von Informationen. Die Kumulation von Information ist dann nicht das Maß der Geschichte, sondern nur sozusagen der tote Abfall der die Geschichte antreibenden Absicht gegen den Tod, also der Freiheit.

Wichtig ist dabei festzuhalten, daß es keinen Widerspruch gibt zwischen der interpretativen und der erklärenden Annäherung an die Kommunikation, zwischen Kommunikationstheorie und Informatik. Ein Phänomen ist kein «Ding an sich», sondern ein Ding, das in einer Betrachtung erscheint, und es hat daher wenig Sinn, bei zwei Betrachtungsarten vom «gleichen Ding» zu sprechen. Von der Informatik her betrachtet ist die Kommunikation ein anderes Phänomen als aus der Sicht dieser Arbeit. In der Informatik ist Kommunikation ein «natürlicher» Vorgang und muß daher objektiv erläutert werden. Hier ist sie ein «widernatürlicher» Vorgang und muß intersubjektiv gedeutet werden. Irgendwo werden sich diese beiden Blickfelder schneiden: Dieses Gemeinsame der beiden Perspektiven läßt sich dann von einer dritten Perspektive aus aufnehmen. Dies liegt jedoch jenseits der Absicht der vorliegenden Arbeit. Ihr Standpunkt ist ein «humanistischer»; denn sie handelt von der menschlichen Kommunikation als Phänomen der Freiheit.

1.Kapitel

1.Einige Kommunikationsstrukturen

Die menschliche Kommunikation, wie sie in diesem Buch verstanden wird, geschieht in der Absicht, die Sinnlosigkeit und Einsamkeit eines Lebens zum Tod vergessen und damit das Leben lebbar zu machen. Diese Absicht versucht die Kommunikation zu erreichen, indem sie eine kodifizierte Welt aufstellt, also eine aus geordneten Symbolen gebaute Welt, in welcher sich erworbene Informationen stauen. Die Frage nach den Codes und ihren Symbolen wird im nächsten Kapitel aufgeworfen werden. Dieses Kapitel hingegen wird sich mit dem Erwerb und der Speicherung von Informationen befassen. Entsprechend der interpretativen Methode, die hier verfolgt wird, soll die leitende Fragestellung so formuliert werden: Wie entscheiden sich Menschen, Informationen herzustellen, und wie, sie zu bewahren?

Schematisch läßt sich darauf folgende Antwort geben: Um Informationen zu erzeugen, tauschen Menschen verschiedene bestehende Informationen aus, in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren. Dies ist die dialogische Kommunikationsform. Um Information zu bewahren, verteilen Menschen bestehende Informationen, in der Hoffnung, daß die so verteilten Informationen der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Dies ist die diskursive Kommunikationsform.

Diese schematische Antwort macht zwei Dinge sofort deutlich: (a) Keine der beiden Kommunikationsformen kann ohne die andere bestehen, und (b) die Unterscheidung zwischen den beiden Formen ist eine Frage des «Abstandes» des Betrachters vom Betrachteten.

(a): Damit ein Dialog entstehen kann, müssen Informationen verfügbar sein, welche in den Beteiligten durch den Empfang vorheriger Diskurse angesammelt wurden. Und damit ein Diskurs entstehen kann, muß der Verteiler der Information (der «Sender») über eine Information verfügen, die in einem vorherigen Dialog hergestellt wurde. Die Frage nach der Präzedenz von Dialog und Diskurs ist daher sinnlos.

(b): Jeder Dialog kann als eine Serie von Diskursen betrachtet werden, die auf Tausch aus sind. Und jeder Diskurs kann als Teil eines Dialogs angesehen werden. Beispielsweise kann ein wissenschaftliches Buch, isoliert betrachtet, als ein Diskurs interpretiert werden. Im Kontext anderer Bücher kann es als Teil eines wissenschaftlichen Dialogs interpretiert werden. Und von einem weiteren Abstand aus kann man es als einen Teil jenes wissenschaftlichen Diskurses ansehen, welcher seit der Renaissance strömt und die westliche Zivilisation kennzeichnet.

Aber obwohl Dialog und Diskurs einander implizieren und obwohl die Unterscheidung zwischen beiden relativ zur Betrachtung ist, handelt es sich um eine wichtige Unterscheidung. Die Teilnahme an einem Diskurs ist eine völlig andere Situation als die an Dialogen. (Eine Frage grundsätzlicher politischer Natur.) Die allgemein bekannte Klage, «man könne nicht kommunizieren», ist hierfür ein gutes Beispiel. Was die Leute meinen, ist selbstredend nicht, daß sie an einem Mangel an Kommunikation leiden. Nie zuvor in der Geschichte hat die Kommunikation so gut, so intensiv und so extensiv funktioniert wie heute. Was die Leute meinen, ist die Schwierigkeit, echte Dialoge herzustellen, das heißt, Informationen im Hinblick auf neue zu tauschen. Und diese Schwierigkeit ist gerade auf das gegenwärtig so perfekte Funktionieren der Kommunikation zurückzuführen, nämlich auf die Allgegenwart hervorragender Diskurse, welche jeden Dialog zugleich unmöglich und unnötig machen.

Tatsächlich läßt sich behaupten, daß die Kommunikation ihre Absicht, die Einsamkeit zu überwinden und dem Leben Bedeutung zu verleihen, nur dann erreichen kann, wenn sich Diskurs und Dialog das Gleichgewicht halten. Wenn, wie heute, der Diskurs vorherrscht, fühlen sich die Menschen trotz ständiger Verbindung mit den sogenannten «Informationsquellen» einsam. Und wenn, wie vor der Kommunikationsrevolution, der dörfliche Dialog gegenüber dem Diskurs vorherrscht, fühlen sich die Menschen trotz Dialog einsam, weil von «der Geschichte abgeschnitten».

Die Unterscheidung zwischen Diskurs und Dialog und der Begriff des Gleichgewichts zwischen beiden erlauben übrigens spezifische Geschichtsperspektiven. Es läßt sich dann zwischen vorwiegend dialogischen (zum Beispiel dem Ancien régime mit seinen tables rondes und assemblées constitutionelles) und vorwiegend diskursiven Perioden (beispielsweise der Romantik mit ihren Volksrednern und ihrer Fortschrittlichkeit) unterscheiden. Und man kann die existentielle Stimmung, welche die Teilnahme am Dialog von der am Diskurs unterscheidet, dank solcher Geschichtskritik zugleich ästhetisch, politisch und epistemologisch zu erfassen versuchen.

Selbstverständlich ist jedoch eine Unterscheidung zwischen Diskurs und Dialog eine viel zu grobe Methode zum Erfassen unserer Lage. Man muß sie etwas verfeinern. Es ist klar, daß der Diskurs, der von der Kinoleinwand ausstrahlt, nicht von der gleichen Art ist wie jener, den die Großmutter beim Erzählen von Märchen sendet. Oder daß der Dialog, den Teenager über das Telefon miteinander führen, nicht demjenigen gleicht, der bei einem philosophischen Symposium vorherrscht. Versucht man deshalb, Diskurse und Dialoge zu klassifizieren, so stellt man fest, daß mindestens zwei Kriterien zur Verfügung stehen: Man kann den Unterschied zwischen dem Kinodiskurs und dem der Großmutter in der «Botschaft» suchen, die jeweils ausgesandt wird (Kriminalgeschichten gegen Märchen) oder in der «Struktur» der Kommunikation: Im Kino sitzt der Empfänger bewegungslos, hingegen können Enkel Fragen an die Großmutter richten. Die verschiedenen Kommunikationsformen lassen sich also zumindest entweder nach «semantischen» oder nach «syntaktischen» Gesichtspunkten klassifizieren.

Nimmt man «semantische» Kriterien, dann wird man die Kommunikationsarten nach der übermittelten Information einteilen, zum Beispiel in die drei Hauptklassen: «faktische» Information (Indikative), «normative» Information (Imperative) und «ästhetische» Information (Optative). Es läßt sich jedoch zeigen, daß «syntaktische» Kriterien, welche die Kommunikationsarten nach ihren Strukturen ordnen, geeignet sind, das Feld für spätere «semantische» Analysen vorzubereiten. Sie bieten sozusagen Landkarten der kommunikologischen Lage, in welche später die semantischen «Inhalte» eingezeichnet werden können. Darum soll in den folgenden Abschnitten ein Katalog der Kommunikationsformen vom strukturalen Standpunkt aus vorgeschlagen werden. Selbstredend soll dabei der intime Zusammenhang zwischen Bedeutung und Struktur, zwischen «Semantik» und «Syntax» nicht geleugnet werden: Die Form wird vom Inhalt bedingt und umgekehrt (wenngleich nicht notwendigerweise «the medium the message» sein muß). Daher wird es erforderlich sein, in den folgenden Abschnitten immer wieder auf den semantischen Aspekt der Kommunikation zurückzugreifen. Und doch wird hier nicht eine semantische Wiedergabe (eine «Fotografie»), sondern eine strukturale Analyse (eine «Landkarte») unserer Lage verfolgt.

 

Der Diskurs ist eine Methode, verfügbare Information zu verteilen, um sie vor der entropischen Wirkung der Natur zu bewahren. Die meisten in dieser Definition enthaltenen Probleme liegen außerhalb des Bereichs der vorliegenden Arbeit – beispielsweise das Problem der Bedeutung des Wortes «Verteilung» bei einem Prozeß, in dem der Sender nichts von der von ihm verteilten Information verliert und jeder Empfänger sie nicht nur als Teil, sondern ganz empfängt; oder das Problem der Bedeutung des Wortes «verfügbar» im Zusammenhang mit einem Prozeß, der mit der Funktion von Gedächtnissen zu tun hat. Kurz, die meisten in der Definition enthaltenen Probleme werden hier ausgeklammert, weil ihre Behandlung die Aufstellung einer vollständigen Kommunikationstheorie erfordern würde, was hier nicht beabsichtigt ist.

Aber zwei der in der Definition enthaltenen Probleme werden angesprochen werden müssen, weil sie mit den verschiedenen Diskursstrukturen zusammenhängen. Das eine lautet, daß Sender von Diskursen bei der Verteilung der Information darauf achten müssen, daß diese nicht deformiert wird – daß keine «Geräusche» in den Verteilungsprozeß eindringen und die Information verändern. Da ein Diskurs mit der Absicht geführt wird, eine Information zu erhalten, muß er, um erfolgreich zu sein, «Treue» zur ursprünglichen Information wahren. Das zweite Problem lautet, daß Sender von Diskursen bei der Verteilung von Information darauf achten müssen, daß die Empfänger die erhaltenen Informationen so im Gedächtnis lagern, daß sie sie später weitersenden können. Der Diskurs muß, um erfolgreich zu sein, seine Empfänger zu zukünftigen Sendern machen, er muß «fortschreiten» können; denn er ist mit der Absicht verbunden, einen «Informationsstrom» herzustellen und dadurch die verfügbare Information zu erhalten.

Diese beiden Aspekte sind problematisch, weil sie einander gewissermaßen widersprechen. «Treue» zur Information und «Fortschritt» der Information sind schwer miteinander zu vereinbaren. Das Problem besteht folglich darin, Diskursstrukturen auszuarbeiten, denen es gelingt, die beiden Forderungen, so gut es geht, unter einen Hut zu bringen. Betrachtet man die Sache von einem «objektiven» Standpunkt aus (zum Beispiel vom Standpunkt der Informatik), dann erscheint das Problem als die Frage nach Input und Output des Diskurses und läßt sich quantifizieren. Betrachtet man es, wie hier, aus einer «intersubjektiven» Perspektive, dann wird es zu einer politischen Frage, zu einer Frage nach Entscheidung und Absicht.

Vier Modelle von Diskursstrukturen werden hier von diesem Standpunkt aus vorgestellt werden. Jedes von ihnen löst das Problem anders. Diese Modelle sind Abstraktionen, die sich in dieser reinen Form in der Praxis nirgends finden. Aber sie sind dennoch nicht willkürlich aufgestellt worden, sondern wurden vom Phänomen der Kommunikation, so wie es uns umgibt, angeregt. Diese Modelle verändern das Phänomen nicht grundlegend, sondern fügen sich darin ein.

(a) Theaterdiskurse lassen sich folgendermaßen darstellen:

Beispiele für diese Struktur sind nicht nur das Theater selbst, sondern auch das Klassenzimmer, der Konzertsaal und vor allem ein bürgerliches Wohnzimmer. In diesen und vielen anderen Beispielen sind die oben angegebenen Strukturelemente zu erkennen (wenn auch nicht immer auf den ersten Blick): eine konkave Wand im Rücken des Senders und Kanäle, welche den Sender mit den im Halbkreis (oder mehreren Halbkreisen) verteilten Empfängern verbinden. (1) Die konkave Wand dient als Schirm gegen äußere Geräusche und als Trichter für die Sendung. (2) Der Sender ist das Gedächtnis, in dem die zu verteilende Information gelagert ist. (3) Die Kanäle sind die materiellen Träger der Codes, in denen die Information verteilt wird (im traditionellen Theater die schalltragende Luft). (4) Die Empfänger sind die Gedächtnisse, in denen die verteilte Information gelagert wird, um später weitergegeben zu werden. Die ganze Struktur hat, schematisch betrachtet, die Form eines antiken Theaters.

Das Charakteristische an dieser Struktur ist die Tatsache, daß darin Sender und Empfänger einander gegenüberstehen. «Treue» zur Information ist durch die konkave Wand gewährleistet, welche das Theater wie eine Muschel gegen die Außenwelt und deren Geräusche abschließt. «Fortschritt» ist gewährleistet, weil jeder Empfänger in der Lage ist, selbst auf die Wand zuzugehen, sich umzudrehen und zu senden, «Revolution» zu machen. Aber gerade diese Öffnung möglichen «Revolutionen» gegenüber beeinträchtigt die Tauglichkeit der Theaterstruktur, «Treue» zu bewahren. Zwar schließt sie relativ gut gegen äußere Geräusche ab, aber sie erlaubt Geräusche im Innern der Struktur, «Kontestationen». Die Empfänger sind innerhalb dieser Struktur imstande, unmittelbar auf die Sendung zu antworten, sie sind in «verantwortlicher» Position. Da der Theaterdiskurs offen für Dialoge ist und immer wieder in Dialoge ausgefaltet werden kann, läuft er ständig Gefahr, daß die ursprüngliche Information von Geräuschen infiziert wird, welche die Gedächtnisse der Empfänger aussenden.

Kurz: Theaterdiskurse sind ausgezeichnete Strukturen, falls die Funktion des Diskurses darin besteht, die Empfänger der verteilten Information für diese Information verantwortlich zu machen und sie zu künftigen Sendern zu formen. Falls jedoch mit dem Diskurs die Absicht verfolgt wird, die verfügbare Information treu zu erhalten, so müssen andere Strukturen gewählt werden.

(b) Pyramidendiskurse folgen in etwa diesem Schema:

Beispiele für diese Struktur finden sich in Armeen, Kirchen, politischen Parteien vom faschistischen und kommunistischen Typ und bei einem bestimmten Typ öffentlicher und privater Verwaltung. Die römische Republik läßt sich als Prototyp dieser Diskursstruktur verstehen. Ihre Elemente sind ein Sender, Kanäle, welche den Sender mit Relais koppeln, die Relais, Kanäle, welche diese Relais mit Empfängern verbinden, und die Empfänger. (1) Der Sender ist das Gedächtnis, in dem die zu verteilende Information gelagert ist und in dem sie ursprünglich «entstanden» ist: er ist der «Autor». (2) Die Kanäle 1, welchen den «Autor» mit den Relais verbinden, sind die Träger der Codes, in denen die Information ausgesandt wird, und der Codes, in denen diese Information von den Relais an den «Autor» zurückgestrahlt wird. (3) Die Relais sind Gedächtnisse, welche die vom «Autor» gesandte Information umkodieren, um sie von Geräuschen zu befreien, und zu Kontrollzwecken an den «Autor» zurücksenden, bevor sie an die Empfänger weitergegeben werden. Es sind «Autoritäten». (4) Die Kanäle 2, welche die «Autoritäten» mit den Empfängern verbinden, und welche, im Unterschied zu den Kanälen 1, keine Rückstrahlung gestatten, sind die Träger von Codes, in denen definitiv die Botschaft ausgesandt wird. In den meisten pyramidalen Diskursen bestehen Kanäle 1 und Kanäle 2 aus Papier. (5) Die Empfänger sind die Gedächtnisse, in denen die verteilte Information gelagert wird. Bei den meisten pyramidalen Strukturen sind zahlreiche Relaisstufen, zahlreiche Hierarchien von Autoritäten vorhanden.

Das Charakteristische an dieser Struktur ist die stufenweise Rekodifizierung der Information mit der Absicht, Geräusche zu entfernen und so die «Treue zur Botschaft» zu bewahren. Dazu wird auf jeder Stufe der Hierarchie mittels der nächsthöheren Stufe die ursprüngliche Information nach Rekodifikation zu Kontrollzwecken an den Autor zurückgesandt. Man kann dies die «religiöse» Funktion des pyramidalen Diskurses nennen (von religare = rückkoppeln). Gleichzeitig erlaubt es, die gereinigte Information mittels der «nächsttieferen» Autorität an den Empfänger weiterzusenden. Man kann dies die «traditionelle» Funktion des pyramidalen Diskurses nennen (von tradire = weitergeben).

Demnach ist der Pyramidendiskurs weit besser als der Theaterdiskurs für die Erhaltung der ursprünglich gesandten Information geeignet; weit schlechter hingegen für das Fortschreiten der Information, für die Umwandlung der Empfänger in Sender. Die Empfänger verfügen über keinen Kanal, der ihnen erlaubte, zu senden, außer sie «steigen» in der Pyramide auf und werden zu Autoritäten. Verantwortung und Revolution sind in der Pyramidenstruktur auf dem Niveau der Empfänger ausgeschlossen. Dieses Niveau ist für Dialoge geschlossen. Und selbst auf den verschiedenen Niveaus der Autoritäten läßt sich eigentlich nicht von Dialog sprechen. Die Kommunikation zwischen Autorität und Autor und zwischen den verschiedenen Stufen der Autorität beschränkt sich auf die Umkodierung der ursprünglichen Botschaft. Die ganze Struktur fußt auf dem Prinzip der Ausschaltung äußerer und innerer Geräusche, was ihren «Informationsstrom» zu einem geschlossenen System macht (zumindest der Theorie nach).

Um die Vorteile des Pyramidendiskurses zu bewahren, aber seine Nachteile zu beheben – das heißt, um die «Treue» zu erhalten, aber den «Fortschritt» zu ermöglichen –, kam es zu strukturellen Veränderungen, welche zu folgender Diskursstruktur führten, nämlich zu

(c) Baumdiskursen:

Die Skizze beabsichtigt zu zeigen, daß das Ersetzen der Autoritäten (Relais) durch Dialoge zu zwei fundamentalen Änderungen der Diskursstruktur führte, nämlich zur Kreuzung der Kanäle und zur Ausschaltung eines endgültigen Empfängers des Diskurses. Deshalb handelt es sich beim Baumdiskurs um eine radikal neue Diskursstruktur. Beispiele dafür sind vor allem der Diskurs der Wissenschaft und der Technik. Viele sogenannte «fortschrittliche», dem Dialog offenstehende Diskurstypen wie gewisse politische Institutionen, Industrieorganisationen, Kunstrichtungen usw. bemühen sich jedoch, diese Diskursstruktur mit kleinerem oder größeren Erfolg zu imitieren.

Die Baumstruktur besteht aus folgenden Elementen: (1) angeblich aus einem Sender irgendeiner in Vergessenheit geratenen Information, einer «Quelle». Diese ist nur durch Extrapolation des Diskurses ersichtlich. (2) Aus Kanälen, welche immer kompliziertere Codes tragen, in denen die Informationen von Dialog zu Dialog übertragen werden (meist sind diese Kanäle Bücher, Zeitschriften und Separata) und (3) aus Dialogen, welche aus Gedächtnissen bestehen, deren Funktion es ist, die empfangenen Informationen zu analysieren, einen Teil davon umzukodieren, mit anderen Informationsbrocken zu neuer Information zu synthetisieren und so an weitere dialogische Kreise weiterzugeben.

Charakteristisch für diese Diskursstruktur ist die fortschreitende Zersetzung und Umkodierung der ursprünglichen Information und die daraus folgende ständige Erzeugung neuer Informationen. Man kann dies die «Tendenz zu progressiver Spezialisierung» nennen. Sie gewährleistet den «Informationsstrom», und zwar auf explosive Weise. Die Information «explodiert» in auseinanderfliegende Brocken, jeder Brocken ist in einem spezifischen Code verschlüsselt, und die Fluchtwege der Brocken kreuzen einander bei dieser zentrifugalen Informationsverteilung. Daher kann der Baumdiskurs als eine geradezu ideale Diskursstruktur angesehen werden, falls das Fortschreiten der Information das Ziel ist. Weniger überzeugend fällt hingegen sein Beitrag zur Lösung des Problems der «Treue zur Information» aus. Dank der ihr eigentümlichen disziplinierten Methode der Übertragung (beispielsweise der wissenschaftlichen Methode) gewährleistet die Baumstruktur zwar die Erhaltung der angeblichen «ursprünglichen Information» und aller übrigen im Diskursverlauf ausgearbeiteten Informationen. Aber das Ausarbeiten ständig neuer Informationen kann andererseits als fortschreitende Verformung der zu verteilenden Information verstanden werden.

Außer der explosionsartigen Fortschrittlichkeit ist auch das Fehlen letztlicher Empfänger für die Baumstruktur charakteristisch. Die Ursache dafür ist nicht so sehr die Zerstückelung der verteilten Information, sondern die Umkodierung der zerstückelten Information in hermetische, schwer zugängliche Codes. Kein menschlicher Empfänger kann alle Codes eines Baumdiskurses entziffern, selbst wenn er sich auf nur einen Hauptzweig dieses Diskurses beschränken wollte. Der Baumdiskurs insbesondere der Wissenschaft und der Technik kann keinen tatsächlichen Empfänger haben, weil er gegenwärtig eine Verzweigung erreicht hat, die die Lagerkapazität menschlicher Gedächtnisse weit überfordert.

Dieser hermetische Aspekt des Baumdiskurses muß zusammen mit seiner explosionsartigen Fortschrittlichkeit gesehen werden, will man sich ein Bild vom Erfolg dieser Diskursstruktur machen. Zwar ist es dieser Struktur auf geradezu wunderbare Weise gelungen, die starre Beschränktheit der Pyramidendiskurse zu durchbrechen, aber der Preis dafür ist die letztliche «Bedeutungslosigkeit» dieser Diskursstruktur: sie hat keinen tatsächlichen Empfänger, und die von ihr verteilte Information kann bestenfalls in künstlichen, kybernetischen Gedächtnissen gespeichert werden. Sie ist «unmenschlich» geworden.

Um der wachsenden Gefahr zu entgehen, daß die hermetische Spezialisierung der Informationsverteilung die eigentliche Absicht der menschlichen Kommunikation verfehlt, welche in der Überwindung der Einsamkeit zum Tod besteht, wird eine vierte Diskursstruktur immer wichtiger und beginnt sogar die Baumdiskurse zu überströmen. Es handelt sich um eine Struktur, die als Ausarbeitung des Theaterdiskurses angesehen werden kann und auch tatsächlich weitgehend diesen Diskurstyp ersetzt, die aber wahrscheinlich schon in der Vorgeschichte der Kommunikation diente.

Gemeint sind

(d) Amphitheaterdiskurse. Ihre Struktur ist folgende:

Die Skizze ist mit der Absicht entstanden, die Grenzenlosigkeit – die «kosmische Offenheit» – eines Theaterdiskurses zu illustrieren, sobald man daraus die konkave Wand entfernt. Beispiele für diese Diskursstruktur sind selbstredend die sogenannten Massenmedien wie Presse, Fernsehen und Plakate, aber ihr Prototyp ist der Zirkus, etwa das römische Kolosseum.

Im Grunde besteht diese Struktur aus nur zwei Elementen: (1) aus einem im leeren Raum schwebenden Sender, in dessen Gedächtnis die zu verteilende Information programmiert ist, und (2) aus ausstrahlenden Kanälen, welche die für diese Struktur spezifisch ausgearbeiteten Codes tragen, in denen die Information verteilt wird. Die Kanäle sind zum Beispiel Zeitungspapier, Hertzwellen oder Filmrollen. Allerdings muß noch ein drittes Element in diese Struktur einbezogen werden, obwohl es gewissermaßen nur staubartig im grenzenlosen Raum der Ausstrahlung herumschwebt, nämlich (3) Empfänger. Es handelt sich um Gedächtnisse, welche wie zufällig auf einen Kanal geeicht sind und daher dessen Information empfangen, um ihrerseits davon programmiert zu werden. Selbstredend ist dieser «Zufall» der Eichung in Wirklichkeit die Absicht dieser Diskursstruktur: Die Strukturlosigkeit der empfangenden Gedächtnisse (der «Masse») ist in den Ausstrahlungen der Amphitheaterdiskurse vorgesehen.

Gekennzeichnet ist diese Struktur dadurch, daß sich die Empfänger am Horizont, und beinahe schon außerhalb des Diskurses befinden. Die Kanäle verbinden im Grunde nicht Sender mit Empfängern – der eine ist für den anderen unsichtbar geworden. Sichtbar für beide sind nur die Kanäle. Infolgedessen erkennen sich innerhalb dieser Struktur die an der Kommunikation beteiligten Menschen untereinander nicht. Es handelt sich um eine für die Erhaltung von Informationen geradezu ideale Diskursform. Die Empfänger («die Masse») werden zu Informationskonserven: sie können nichts als empfangen. Sie sind jeder Rücksendung unfähig: sie verfügen über keine Sendekanäle. Jede Verantwortung und «Revolution» ist in dieser Struktur ausgeschlossen: die Empfänger schweben darin sozusagen im schwerelosen Raum und können sich in dieser Richtungslosigkeit nirgends «hinwenden». Im Feld der amphitheatralischen Ausstrahlung fehlt jede Orientierung, da dieses Feld nur von den Kanälen strukturiert ist. Anstatt über Orientierung verfügen die Empfänger solcher Diskurse über Programme.

Die hermetische und spezialisierte Kodifizierung der Baumdiskurse ist im Amphitheaterdiskurs überwunden: er strahlt seine Information in ganz wenigen, ganz einfachen und ganz uniformen Codes aus, die an Universalität grenzen. Jeder kann diese Codes überall und immer entschlüsseln. Das Problem des «Informationsstroms» hat sich hingegen im Amphitheaterdiskurs verschoben. Es ist nicht mehr nötig (aber auch nicht mehr möglich), Empfänger in künftige Sender umzuformen, denn die Sender sind «unsterblich» und können «ewig» senden. Es sind Komplexe aus Menschen und kybernetischen Gedächtnissen wie Diskotheken, Videotheken, Bibliotheken und Computer. Daher ist der Amphitheaterdiskurs für beide Absichten der Informationsverteilung die weitaus beste Diskursform: er erhält Information, indem er seine Empfänger in Informationskonserven verwandelt, und er garantiert den Informationsstrom, da seine Sender «ewig» funktionieren. Es ist diese Perfektion der Kommunikation, welche in anderen Kontexten mit dem Begriff des «Totalitarismus» versehen wird.

Es ist jedoch unmöglich, die hier vorgestellten vier Diskursstrukturen auf ihren Erfolg hin zu beurteilen und eine Prognose für die nächste Zukunft aufzustellen, ohne zuvor auch den Dialogen Aufmerksamkeit zu schenken.

Der Dialog ist eine Methode, verschiedene vorhandene Informationen zu neuen zu synthetisieren. Wie im Fall der Diskursdefinition müssen auch hier die meisten in dieser Definition enthaltenen Probleme ausgeklammert werden, weil ihre Behandlung eine vollständige Kommunikationstheorie erfordern würde. Dies betrifft bespielsweise das uralte (und hypermoderne) Problem des «Neuen», das heißt der sogenannten «schöpferischen Erzeugung», und auch das Problem der Synthese – also das auch etymologisch im Wort «Dialog» enthaltene Problem der Dialektik. Behandelt werden nur jene Probleme, welche mit der Methode der Synthetisierung verschiedener Informationen zu neuen zusammenhängen.

Selbstredend ist die Zahl solcher Methoden groß, und einige davon befinden sich gegenwärtig im experimentellen Stadium, beispielsweise die Gruppendynamik oder das sogenannte Brainstorming. Es ist aber sonderbar, feststellen zu müssen, daß es im Grunde nur zwei Dialogstrukturen gibt, welche die menschliche Kommunikation entscheidend ordnen. Im Unterschied zu den Diskursen können hier Strukturmodelle nicht aus der Betrachtung einer komplexen Lage herausgefiltert werden. Die beiden dialogischen Modelle werden dem Betrachter sozusagen vom betrachteten Phänomen aufgezwungen, und er kann nichts tun, als sie anzunehmen.

(e) Kreisdialoge lassen sich folgendermaßen darstellen:

Das ist die Struktur der «runden Tische»; Beispiele dafür bieten Komitees, Laboratorien, Kongresse und Parlamente. Das Prinzip dieser Struktur ist einfach: Man finde einen gemeinsamen Nenner aller Informationen, die in den Gedächtnissen der am Dialog Beteiligten gespeichert sind, und erhebe diesen gemeinsamen Nenner in den Rang einer neuen Information. (Rousseau nannte dies die «raison commune», und in ähnlichen Kontexten läßt sich von «Staatsraison» sprechen.) Hinter dieser geometrischen Einfachheit verbirgt sich jedoch eine Komplexität, die jeder Beschreibung spottet. Die am Dialog beteiligten Gedächtnisse unterscheiden sich voneinander nicht nur bezüglich der zu besprechenden Information (des zu entscheidenden Problems), sondern auch hinsichtlich ihrer Kompetenzen (der jeweils verfügbaren Menge von Information), der Codes, in denen sie die Information lagern, und des Bewußtseinsniveaus. Der gesuchte «gemeinsame Nenner» ist daher in Wirklichkeit nicht eine allen Beteiligten schon vor dem Dialog gemeinsame Grundinformation, sondern eine Synthese, also tatsächlich etwas Neues. Das erklärt zugleich, warum Dialoge so schwierige Kommunikationsformen sind und warum die sogenannten «liberalen Demokratien» so schlecht funktionieren: sie beruhen nicht auf Übereinstimmungen, sondern auf Konflikten. Gerade dieser scheinbare Nachteil legitimiert jedoch diese Kommunikationsform.

Aus der Skizze geht hervor, daß eines der Grundprobleme des Kreisdialogs die Anzahl der Beteiligten ist. Kreisdialoge sind geschlossene Schaltungen (closed circuits). Sie sind eine elitäre Kommunikationsform im Sinne einer notwendigen Begrenzung der Anzahl der an ihnen Beteiligten. (Das ist der innere Widerspruch der Wahldemokratien: sie wählen, wer dialogisieren soll, aber leugnen diesen elitären Charakter.) Allem Anschein nach ist die niedrigste mögliche Zahl der am Dialog Beteiligten zwei, und viele halten diese Situation (beispielsweise zwischen Liebenden, zwischen Mutter und Kind, zwischen Meister und bevorzugtem Apostel, ja zwischen Mensch und Gott) für die grundlegende Dialogform. Plato meinte sogar, daß die wahre Schöpfung neuer Information im «inneren Dialog» stattfinde, also in der Begrenzung der Beteiligten auf einen, doch ist diese schizophrene Lage wohl als Aufteilung eines Gedächtnisses, also als Dialog zu zweit, anzusehen. Auf Grund ihres spekulativen Charakters stellt die «Reflexion» als Dialogform jedoch das Synthetisieren von Informationen in Frage und sprengt den Rahmen der hier dargelegten Sichtweise.

Die höchstmögliche Anzahl der am Kreisdialog Beteiligten ist hingegen problematisch und die Lösung dieses Problems von Fall zu Fall eine der wichtigsten politischen Fragen. Wahrscheinlich läßt sich die optimale Anzahl der Beteiligten anhand der Funktion der beabsichtigten neuen Information (der zu fällenden Entscheidung) bestimmen: Im Fall der Erforschung einer wissenschaftlichen Information wird diese Zahl anders lauten als in dem der Ausarbeitung eines neuen Gesetzes. Jedenfalls sollten diejenigen, welche «partizipieren» wollen, konkret angeben können, an welchem Typ von Kreisdialog sie teilnehmen wollen und welche Kompetenz sie für die Ausarbeitung neuer Information besitzen.

Die optimale Anzahl der Beteiligten ist darüber hinaus abhängig vom Grad der Unterschiedlichkeit zwischen den programmierenden Informationen: Je stärker sich diese voneinander unterscheiden, desto kleiner ist die optimale Anzahl der Beteiligten. Die Kehrseite davon ist, daß ein Kreisdialog zu desto reicherer Information führen kann, je größer der Unterschied der Programme der Beteiligten ausfällt. Beispielsweise ist es möglich, Kongresse von Tausenden von amerikanischen Industriellen oder von Millionen von Rotgardisten in China zu veranstalten, aber da deren jeweilige Programme sehr stark koinzidieren, wird die in diesen Kreisdialogen ausgearbeitete neue Information wahrscheinlich nicht sehr reich sein (nicht «überraschen»). Hingegen ist es schwierig, einen Kreisdialog selbst zwischen einem amerikanischen Industriellen und einem chinesischen Rotgardisten durchzuführen. Sollte dies aber gelingen, dann kann er zu reicher neuer Information führen. Kreisdialoge stellen ihre Veranstalter vor strategische Probleme, da es sich um in starkem Maße geschlossene Strukturen handelt, welche andererseits für Geräusche offen sein müssen, um die Herstellung neuer Information zu ermöglichen. Darum sind Kreisdialoge selten erfolgreich. Wenn sie aber dennoch gelingen, dann stellen sie eine der höchsten Kommunikationsformen dar, zu welcher Menschen fähig sind.

(f) Netzdialoge haben folgende Struktur:

Diese diffuse Kommunikationsform bildet das Grundnetz (reseau fondamental), welches alle übrigen menschlichen Kommunikationsformen stützt und letztlich alle von Menschen ausgearbeiteten Informationen in sich aufsaugt. Beispiele dafür sind Gerede, Geschwätz, Plauderei, Verbreitung von Gerüchten. Die Post und die Telefonsysteme stellen die «entwickelteste» Form dieser Kommunikationsstruktur dar. Man kann dabei eigentlich nicht von einer Absicht sprechen, neue Information aus vorhandenen zu synthetisieren. Vielmehr entstehen die neuen Informationen spontan, und zwar als Verformung der verfügbaren Information durch das Eindringen von Geräuschen. Diese sich ständig verändernden neuen Informationen nennt man die «öffentliche Meinung», und sie lassen sich neuerdings teilweise messen.

Im Unterschied zu Kreisdialogen sind Netzdialoge «offene Schaltungen» (open circuits) und in diesem Sinne auf authentische Weise demokratisch. Während Kreisdialoge selten erfolgreich sind und zu neuer Information führen, sind es Netzdialoge immer. Unsere elitäre Tendenz, den «gesunden Menschenverstand» im Vergleich zur «allgemeingültigen menschlichen Vernunft» zu verachten und etwa wie Trotzki zu behaupten, daß die Mehrheit immer unrecht habe, ist daher kein guter Ausgangspunkt zur Untersuchung der Netzdialoge. Aber auch die umgekehrte, ebenso elitäre Tendenz, wie sie etwa in der Vox-populi-vox-Dei-These oder der Erhebung der stillen Mehrheit zur entscheidenden Instanz zum Ausdruck kommt, ist kaum geeignet, die Funktion von Netzdialogen zu erfassen.

Netzdialoge sind das Reservoir, in das letzten Endes alle Informationen, wenn auch manchmal auf komplexen Umwegen, münden. Sie sind der letzte Staudamm, der Informationen vor der entropischen Tendenz der Natur bewahrt: das «kollektive Gedächtnis». Allerdings kommen die Informationen im dialogischen Netz bereits etwas abgeschliffen und vergröbert an (vulgarisiert, popularisiert usw.) und werden im Hin und Her des Dialogs immer weiter vereinfacht und verformt. Angesichts seiner Offenheit für Geräusche ist der Netzdialog selbst weitgehend der Entropie unterworfen, obwohl seine Funktion gerade darin besteht, die Entropie einzudämmen. Dieser innere Widerspruch des Netzdialogs ist im Grunde nichts anderes als eine Manifestation des Widerspruchs der menschlichen Bedingung überhaupt: zugleich in der Welt zu sein und ihr entgegen zu stehen.

Selbstredend waren sich die Menschen seit jeher bewußt, daß die Netzdialoge die Basis aller Kommunikation und damit des menschlichen Engagements gegen den Tod bilden. Darum kann das «politische Engagement», das ja eine Form des Engagements für Kommunikation ist, als ein Engagement für Netzdialoge angesehen werden. Das Ziel der Politik muß im Grunde sein, den Netzdialog zu «informieren», ihn zu «formen» und damit zu neuen Informationen (zum «neuen Menschen») beizutragen. In diesem Sinne ist Demagogie das genaue Gegenteil von politischem Engagement, weil es ihr darauf ankommt, durch Wiederholung bestehender Information (durch Redundanz) das Eindringen neuer Informationen in den Netzdialog und daher eine Veränderung des Menschen zu verhüten.

Aber obwohl sich die Menschen seit jeher der Bedeutung der Netzdialoge bewußt waren, läßt sich doch behaupten, daß tatsächlich erst seit der technischen Ausarbeitung der Amphitheaterdiskurse zu Massenmedien ein methodisch diszipliniertes Bearbeiten der Netzdialoge (der «öffentlichen Meinung») möglich wurde. Dabei ist der seltsame Umstand zu berücksichtigen, daß der technische Fortschritt (der äußere Aspekt der sogenannten «Kommunikationsrevolution») sich beinahe ausschließlich auf den Amphitheaterdiskurs beschränkte und den Netzdialog kaum berührte: Während das Fernsehen ganz anders als der Zirkus funktioniert, schwätzen die Menschen durchs Telefon noch fast genauso wie in der Steinzeit.

Versucht man, die vorgeschlagene strukturelle Ordnung der menschlichen Kommunikationsformen auf die gegenwärtige Lage zu beziehen, dann kann man zu folgendem Urteil gelangen: Theaterdiskurse und Kreisdialoge scheinen nicht mehr richtig funktionieren zu können, sie befinden sich in einer «Krise». Pyramidale Diskurse sind immer noch wichtige Kommunikationsformen, obwohl man vor einer Generation den Eindruck gehabt hat, sie «überwunden» zu haben. Baumdiskurse (vor allem aus Wissenschaft und Technik) scheinen die Szene zu beherrschen, aber es melden sich Vorgänge an, die daran zweifeln lassen. Charakteristisch für unsere Lage ist jedoch vor allem die Synchronisation von technisch hochentwickelten Amphitheaterdiskursen mit archaisch gebliebenen, aber immer besser bearbeitbaren Netzdialogen – eine totalitäre Entpolitisierung bei scheinbar allgemeiner Partizipation. Inwieweit dieses (leicht apokalyptische) Urteil berechtigt ist, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.

2.Wie diese Strukturen funktionieren

Die totalitäre Entpolitisierung – der wahre totalitäre «Staat» – wäre gegeben, wenn beispielsweise Fernsehprogramme und allgemeines Geschwätz darüber so synchronisiert wären, daß alle übrigen Kommunikationsformen abstürben. Das ist aber (noch) nicht unsere Lage: noch gibt es außerhalb von Amphitheaterdiskursen und Netzdialogen andere Kommunikationsstrukturen. Daher muß der vorliegende Abschnitt, will er das für unsere Situation Wesentliche erfassen, diese noch immer verbleibenden Strukturen (diese uns noch immer verbleibende Hoffnung) ins Blickfeld rücken, bevor er sich der Betrachtung des Zentralproblems, der Synchronisation von Amphitheater und Netz, zuwendet.

(a)Theater und Kreis

Diese beiden Strukturen scheinen die «ursprünglichen», gewissermaßen «tribalistischen» Kommunikationsformen darzustellen: Vor dem geistigen Auge tauchen der alte Weise des Stammes auf, der (im Theaterdiskurs) mit dem Rücken zur Höhlenwand die Mythen an die jungen Krieger weitergibt, oder die (im Kreisdialog) um das Lagerfeuer versammelten Jäger, die Entscheidungen über die sich nähernde Ponyherde treffen. Dabei entsteht der Eindruck, daß solche paläolithischen Kommunikationsformen völlig ungeeignet sind, der Kommunikation innerhalb der Milliarden zählenden Menschheit zu dienen, die gegenwärtig moosartig den Erdball bedeckt und sich Richtung Nord-Westen ausdehnt. Theaterdiskurse und Kreisdialoge müßten eigentlich dazu verurteilt sein, in einer Massengesellschaft überwuchert zu werden.

Doch ist diese Betrachtung des Theaters und des Kreises als archaische Kommunikationsformen geradezu hoffnungslos pessimistisch. Denn der Theaterdiskurs ist die einzige uns bekannte Kommunikationsform, die eine verantwortungsvolle Teilnahme an der Erhaltung der Information und ihrer Weitergabe von Geschlecht zu Geschlecht gestattet. Und der Kreisdialog ist die einzige uns bekannte Kommunikationsform, die eine bewußte Teilnahme an der Ausbreitung neuer Informationen und dem Fällen von Entscheidungen gestattet. Daher muß uns die Synchronisation von Theater und Kreis, von Verantwortung mit Entscheidung, geradezu als die einzige Möglichkeit erscheinen, ein menschenwürdiges Leben, nämlich ein Leben in der Freiheit zu führen – es sei denn, man könnte sich eine Lage vorstellen, in welcher ganz andere Kommunikationsverhältnisse als die uns bekannten herrschten. Glaubt man demnach, Theater und Kreis seien unmöglich geworden, so hat man eigentlich jede Hoffnung auf einen Weiterbestand dessen verloren, was man für gewöhnlich «Menschenwürde» nennt.

Viele halten es für unehrlich, den Glauben an die Freiheit (an die verantwortungsvolle Teilnahme an der Geschichte) in einer Lage beibehalten zu wollen, in welcher Massenmedien die einzigen tatsächlich funktionierenden Kommunikationsstrukturen bieten. Unehrlich, weil heuchlerisch. Tatsächlich hat der quantitative Aspekt der gegenwärtigen demographischen Explosion einen Einfluß auf die Kommunikationsstrukturen, der nicht immer voll gewürdigt wird – etwa von denjenigen, welche von der sogenannten «Dritten Welt» Theaterdiskurse wie beispielsweise europäische Volksschulen oder Kreisdialoge wie europäische Parlamente erwarten. Und doch handelt es sich nicht um die erste demographische Explosion, von der wir Kenntnis haben. Bereits nach der ersten Industriellen Revolution ist es in Westeuropa zu einer solchen Explosion gekommen. Eine andere ist etwa auf den Beginn der Metallzeit zu datieren, als die schlammtragenden Ströme kanalisiert wurden. Die wildeste Bevölkerungsexplosion muß sich jedoch abgespielt haben, als der Schritt von der Jagd zum Ackerbau gewagt wurde. Jedesmal scheint es aber sowohl dem Theaterdiskurs als auch dem Kreisdialog gelungen zu sein, sich – wenn auch in veränderter Form – dem flutartigen Steigen der Bevölkerungszahl anzupassen. Lassen wir uns nicht von bloßen Ziffern beeindrucken: Der Anstieg der Bevölkerungszahl der Menschheit von Hunderten von Millionen zu Milliarden ist keine größere Katastrophe als der Anstieg der Bevölkerungszahl von Hunderten zu Tausenden zur Zeit des Mesolithikums. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß sich der Theaterdiskurs – beispielsweise in einer neuen Form der Familie oder Schule – und der Kreisdialog – in einer neuen Form von Video oder Computerisierung – über den Abgrund der gegenwärtigen demographischen Explosion retten und ein menschenwürdiges Dasein auch nach der Überflutung der Erde durch die Massen vorstellbar bleibt.

Es ist aber nicht zu leugnen, daß sich Theaterdiskurse und Kreisdialoge gegenwärtig, unter dem Impakt der Massenmedien und der Bevölkerungsexplosion, in einer schweren Krise befinden, die auf die elitäre Geschlossenheit beider Strukturen zurückzuführen ist. Diese Krise soll hier an zwei Beispielen – am Theaterdiskurs der sogenannten «bürgerlichen Familie» und am Kreisdialog der Laboratorien innerhalb des Baumdiskurses der Wissenschaft – dargestellt werden. Die Hoffnung dabei ist, nicht nur einen Aspekt der gegenwärtigen Krise, sondern auch die Möglichkeit einer Umgestaltung der beiden Strukturen ins Auge zu fassen.

(1) Die sogenannte bürgerliche Familie besteht aus einer sendenden Mutter (oder einer sie vertretenden Angestellten) und den empfangenden Kindern. Die konkave Wand wird von den Wänden des Kinderzimmers oder Salons gebildet. Am Horizont dieser Theaterstruktur gibt es zwar einen periodisch und kometenhaft hereinbrechenden Vater; für den Diskurs ist er aber vernachlässigbar. Dies ist die fundamentale Theaterstruktur im Gefolge der ersten Industriellen Revolution, ungeachtet der Tatsache, daß sie statistisch eher selten vorkommen mag und die weitaus größte Zahl der Kinder der nachindustriellen Periode von anders strukturierten Theaterdiskursen programmiert worden ist – Proletarierkinder haben selten sendende, da arbeitende Mütter, und Bauernkinder leben noch in vorindustriellen, aus drei Generationen bestehenden Familien. Dennoch hat die oben geschilderte «bürgerliche Familie» im Laufe des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Modell für die Übertragung von Information von einer Generation auf die andere gedient, soweit es sich bei den Empfängern um kleine Kinder handelte. Die im Salon sendende Mutter (oder ihr Ersatz) und die im Halbkreis empfangenden Kinder bilden – bis zur Kommunikationsrevolution – das Modell schlechthin für die weitaus größte Zahl der Informationsübertragungen, welche die okzidentale Paideia garantieren. Sie «tragen die Werte».

Die Mutter bildet innerhalb dieses Modell das Gedächtnis, in dem die zu verteilenden Informationen lagern. Dabei handelt es sich vor allem um Mythen (zum Beispiel «Märchen»), die von romantischen Spezialisten vom Typ der Gebrüder Grimm umkodiert wurden und deren Absicht darin bestand, in den empfangenden Kindern spezifische Verhaltensstrukturen zu programmieren. Diese Verhaltensstrukturen («Werte») haben mit der Erhaltung, Vermehrung und «Verschönerung» der im industriellen Prozeß erzeugten Güter zu tun. In unserem Zusammenhang sind vor allem die Codes interessant, innerhalb derer diese Werte verteilt werden. Die romantischen Spezialisten haben die Mythen (und andere Imperative) aus den Codes der gesprochenen Tradition in alphabetische Codes umgeformt: Die Mütter «lesen den Kindern vor», oder aber sie erzählen, was sie selbst gelesen haben.

Das Problem der Codes wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit behandelt werden. An dieser Stelle ist es aber nötig, ein wenig vorzugreifen. Das Alphabet ist ein linearer Code, welcher den Empfänger für eine spezifische Bewußtseinsform programmiert, nämlich für das sogenannte «historische Bewußtsein». Das gedruckte Alphabet hat außerdem die Eigenschaft, für eine spezifische, künstliche Sprache, eine «Nationalsprache» zu programmieren. Akzeptiert man diese beiden Faktoren, die im folgenden hoffentlich noch plausibel werden, dann erscheint die bürgerliche Familie als eine Struktur mit der Absicht, die neue Generation von vornherein für ein nationales historisches Bewußtsein im Dienst des Erhaltung der industriell erzeugten Güter zu programmieren. Das wäre also die Form, in welcher es dem Theaterdiskurs gelungen ist, die demographische Explosion der Industrierevolution zu überleben.

Man muß nun feststellen, daß die «bürgerliche Familie» gegenwärtig diese Funktion nicht mehr erfüllt. Zwar bestehen ihre Überreste weiter, und als Ideologie ist die bürgerliche Familie immer noch intakt und schwebt gewissermaßen wolkengleich über der Szene (und erschwert deren Analyse). Aber die Kommunikationsrevolution hat sie verändert und geradezu ins Gegenteil verkehrt. Die Stelle der Mutter hat nun der Fernsehapparat eingenommt, und das bedeutet für die Struktur der Sendung, daß sie nicht länger theatralisch, sondern amphitheatralisch ist, und für die Struktur der Information, daß sie nicht mehr linear alphabetisch, sondern flächenhaft in Bildern verschlüsselt ist. Die Einführung des Fernsehens hat die Theatermuschel aufgeknackt und dadurch das Kinderzimmer und den Salon in einen jener unzähligen Orte verwandelt, welche den Horizont eines ausstrahlenden Amphitheaters bilden. Das Ersetzen des Alphabets durch die Technobilder des Fernsehschirms hat die Nationalsprachen als wichtige Codes entthront, und die radikal neue Codestruktur dieser Bilder zieht auch eine neue Art von Programmierung nach sich: Die neue Generation wird nicht mehr für Nationalismus und «historisches Bewußtsein» programmiert.

Von diesem Standpunkt aus hat die bürgerliche Familie den Einbruch der Massenmedien nicht überlebt, sondern ist unter dessen Druck auseinandergebrochen. Dies muß aber zu einer neuen Paideia, zu neuen «Werten» führen. Der Theaterdiskurs der bürgerlichen Familie hat bis zur Kommunikationsrevolution nicht nur die Paideia kanalisiert, sondern auch seine Empfänger für darauffolgende Theaterdiskurse (Volks-, Mittel- und Hochschulen) vorprogrammiert. Die gegenwärtige Krise des Schulsystems ist so durch die Krise der Familie mit verursacht worden. Bislang ist es dem Theaterdiskurs allerdings (noch) nicht gelungen, dem Einbruch der Massenmedien eine neue Struktur entgegenzustellen.

(2) Kreisdialoge, runde Tische, Parlamente, «freie Märkte» usw. waren Modelle des Barock und der Aufklärung für «ideale» Kommunikation, und angeblich sollen sie in den bürgerlichen Revolutionen (der amerikanischen und vor allem der französischen) Bedeutung erlangt haben. Betrachtet man jedoch die Lage nach der Industriellen Revolution genauer, so sieht man, daß der Kreisdialog eher als Ideologie und weniger als tatsächliche Kommunikationsstruktur funktionierte. Zwar scheint die «liberale Demokratie» des 19. Jahrhunderts zumindest im Okzident dem Kreisdialog eine vorherrschende Stellung einzuräumen: Überall entstehen parlamentarische Systeme; «offene» Kreisdialoge in Form von politischen, philosophischen und künstlerischen Publikationen scheinen die Szene zu beherrschen und der «offene Markt» den Austausch der Güter zu strukturieren. In Wirklichkeit ist jedoch unter dem ständig zunehmenden Druck der Baumdiskurse der Wissenschaft und Technik jeder nicht «spezialisierte» Kreisdialog als Quelle einer tatsächlich wirksamen neuen Information immer fragwürdiger geworden. Im Augenblick seines Triumphes, also etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wird der Kreisdialog als dominierendes Kommunikationsmodell auf das Streckbett des Diskurses gelegt. Obwohl laut der bürgerlichen Ideologie vor dem Einbruch der faschistoiden Diskurse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Kreisdialog dominierte, hat er die Industrielle Revolution nur als Element der Baumdiskurse überstanden und ist als selbständige Kommunikationsstruktur eigentlich schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Verfall begriffen. Aus dem Vergleich der Skizzen (e) und (c) geht aber hervor, daß es sich für die am Dialog Beteiligten jeweils um zwei völlig verschiedene Kommunikationssituationen handelt. Es ist etwas anderes, sich an einem Dialog vom Typ Laboratorium, Seminar, Symposium oder auch Verwaltungsrat, Gewerkschaftsrat usw. zu beteiligen, als an einem Dialog vom Typ «Jäger um das Lagerfeuer» oder parlamentarische Debatte. Im ersten Fall dient der Dialog einem spezifischen Diskurs; er verfolgt eine übergeordnete Absicht, ist auf sie «gerichtet» und in spezialisierte Codes gekleidet. Im zweiten Fall dient der Dialog der Ausarbeitung einer unvorhersehbaren neuen Information: er ist «entscheidend». Im ersten Fall sind die Dialogisierenden spezialisierte Funktionäre, im zweiten Fall sich frei entscheidende Menschen.

Als Element des Baumdiskurses hat der Kreisdialog die Industrielle Revolution nicht nur überlebt, sondern ist geradezu atemberaubend wirksam geworden: Laboratorien, Symposien, aber auch Verwaltungsräte und Komitees speien ständig zunehmende neue Entscheidungen und Informationen. Aber als unabhängige Kommunikationsstruktur, als freier Austausch von verfügbaren Informationen, hat der Kreisdialog seitdem einen Zopf: er ist eine Art Überbleibsel aus dem Rokoko.

Nach einer möglichen Synchronisation von Theater und Kreis überhaupt nur zu fragen, scheint deswegen in der gegenwärtigen Situation kaum möglich. Unter der Voraussetzung, daß man das Theater als einzige Kommunikationsstruktur betrachtet, welche ein verantwortliches Weitertragen von Werten zuläßt, läßt sich nur sagen, daß der Zusammenbruch der bürgerlichen Familie jede Verantwortlichkeit ausschaltet. Und dasselbe wäre vom Kreis zu sagen: Betrachtet man ihn als einzige Kommunikationsstruktur, welche die Teilnahme an freier Entscheidung gestattet, dann bleibt nur der Schluß, daß die Vereinnahmung der Kreise durch Baumdiskurse und die gegenwärtige Wirkungslosigkeit «loser» Kreise freie Entscheidungen nicht mehr gestatten. Dementsprechend scheint die Möglichkeit einer Synchronisation von Verantwortung und Entscheidung schon seit der Industriellen Revolution nicht mehr gegeben zu sein und auch die gegenwärtige Krise daran nichts ändern zu können. Ein solcher pessimistischer Schluß bleibt jedoch voreilig, solange die übrigen Kommunikationsstrukturen nicht betrachtet worden sind.

(b)Pyramide und Baum

Im Unterschied zu Theater und Kreis kann es sich dabei nicht um «ursprüngliche» Kommunikationsformen handeln. Obwohl die Pyramide sehr alt sein mag, vielleicht älter als der Staat, ist sie eine zusammengesetzte Struktur, da ihre Relais zugleich empfangen und senden. Und was den Baum betrifft, so geht bereits aus der Skizze hervor, daß es sich um eine äußerst raffinierte Kommunikationsstruktur handelt. Vergleicht man die beiden Skizzen jedoch, dann bemerkt man einen Aspekt, der oft nicht genügend beachtet wird: Der Baum ist eine veränderte Pyramide und nicht eine ihr entgegengesetzte Kommunikationsform. Häufig wird betont, daß die moderne Wissenschaft (der typische Baum) im Kampf gegen die Kirche (die typische Pyramide) entstand, aber selten wird gesagt, daß die Wissenschaft strukturell ein Erbe der Kirche ist, nämlich im Grunde die gleiche Struktur aufweist. In der verborgenen Pyramidalität von Wissenschaft und Technik, in ihrem verborgenen autoritären Charakter, liegt jedoch eine der Wurzeln ihrer gegenwärtigen Krise.

Der Ursprung der Pyramide ist durch die Jahrtausende, die uns davon trennen, verdeckt, aber es kann kein Zweifel bestehen, daß die Aufteilung des Diskurses in sendenden Autor, reinigende Autorität und gläubigen Empfänger, wie sie in der Römischen Republik so klar ausgearbeitet ist, schon vor der Errichtung der ersten Staaten durchgeführt wurde. Überraschend dabei ist die Beständigkeit dieser Diskursform. Zwar hat sich die Verwaltung des sumerischen Staates von der gegenwärtigen multinationalen Gesellschaft oder dem Sowjetsystem in vielen Details unterschieden, aber die Struktur und die Dynamik der darin strömenden Informationen ist grundsätzlich die gleiche geblieben. Selbst wenn man einräumen wollte, daß die Pyramide im Begriff ist, vom Baum ersetzt zu werden, läßt sich doch nicht der tiefe Einfluß der Pyramide auf die Struktur unserer Programme leugnen.

Das Grundproblem der Pyramide ist ihr «mythischer» Charakter: Als Autor transzendiert der Sender die Kommunikation, und die Pyramidenspitze liegt sozusagen in den Wolken. Die «höchste Autorität» – jenes Relais, welches strukturell direkt mit dem Autor verbunden ist – bildet die sichtbare Spitze der Pyramide. Die Autoren der zu verteilenden Information waren in den alten Zivilisationen Götter; in Rom war es Romulus, in der Kirche war es Christus, in den verschiedenen Armeen sind es die «souveränen Völker», in den verschiedenen pyramidalen Parteien sind es «Lehren» (zum Beispiel der dialektische Materialismus), in den Großbetrieben ist es der Aktionär usw. Tatsächlich wird die Spitze der Pyramide aber vom König, vom Konsul, vom Papst, vom Feldmarschall, vom Parteisekretär, vom Manager, kurz von der höchsten Autorität besetzt, welche aber nicht «unabhängig» sendet.

Die doppelte Funktion der Relais, nämlich in Rückverbindung mit dem Autor die Information rein zu halten (die religiöse Funktion) und sie stufenweise weiterzugeben (die traditionelle Funktion) ist selbstredend vom mythischen Charakter des Autors beeinflußt. Ständig muß eine Brücke zwischen der höchsten Autorität und dem Autor über den Abgrund der Transzendenz hinweg geschlagen werden, was dem gesamten Diskurs ein «pontifikales Klima» verleiht. Jede Pyramide löst dieses Problem auf ihre Weise: Religion und Tradition des akkadischen Reiches sind nicht identisch mit denjenigen, die im Reiche Exxon vorherrschen. Kein Pyramidaldiskurs aber kann auf diese pontifikale Religiosität und Traditionalität (den «Glauben», ésprit de corps, Engagement usw.) verzichten. Baumdiskurse sind Versuche, dieses pontifikale Klima aus dem Diskurs auszuscheiden, den mythischen Autor zu überwinden und daher die religiösen und traditionellen Aspekte aus dem Diskurs zu vertreiben. Der Diskurs der Wissenschaft und alle übrigen Diskurse, die die Struktur der Wissenschaft als ihr Modell akzeptieren, sind der Versuch, die Pyramide ohne mythischen Autor, also unautoritär (ja angeblich antiautoritär) weiterzuführen. Dieser Versuch schien jahrhundertelang (vom 16. bis tief ins 19. Jahrhundert) äußerst erfolgreich zu sein, und die noch verbliebenen Pyramidendiskurse erschienen als archaische und überwindbare Reste. Aber seither melden sich Zweifel am Erfolg dieses Versuches an und werden immer lauter. Der mythische Autor ist nämlich nicht tatsächlich aus dem Baumdiskurs entfernt worden, sondern er schwebt über ihm als «objektive Wahrheit», «wissenschaftliche Disziplin» oder unter einem ähnlichen Etikett, und die dialogischen Kreise bilden faktisch Autoritäten. Sie funktionieren pontifikal, und halten malgré soi weit mehr als Parteisekretäre und Manager den Glauben der Gegenwart rein und sorgen für dessen Weitergabe.

Die Tatsache, daß man im wissenschaftlichen Diskurs eine mythische Qualität und einen autoritären Charakter wiedererkennen muß, ist aber nicht die einzige Ursache für die gegenwärtige Krise der Wissenschaften. Die beiden anderen Gründe sind die fortschreitende Hermetisierung ihrer Codes und die fortschreitende Spezialisierung ihrer Zweige. Kein menschliches Gedächtnis kann die Information speichern, welche durch diesen Diskurs verteilt wird, denn kein menschliches Gedächtnis kann für die Unzahl der wissenschaftlichen Codes programmiert sein, geschweige denn die beinahe zahllosen Informationsbrocken synthetisieren. Es gibt zwar kybernetische Maschinen, die theoretisch über Gedächtnisse verfügen, welche in Zukunft alle wissenschaftlichen Informationen synthetisieren und auf diese Weise menschliche Philosophen ersetzen könnten, aber es bleibt fraglich, ob solche Gedächtnisse je eine Systemanalyse durch Menschen zulassen werden. Insofern der wissenschaftliche Diskurs aber keine menschlichen Empfänger mehr hat, ist er unmenschlich und grundsätzlich sinnlos geworden: er kann die Intention aller menschlichen Kommunikation, nämlich Information zu erhalten, um dem Leben eine Bedeutung zu geben, nicht mehr erfüllen. Und was für den wissenschaftlichen Diskurs gilt, gilt auch für alle übrigen Baumdiskurse: für die Technik, für die sogenannte «Avantgarde-Kunst», für spezialisierte Philosophie, für baumartig strukturierte Verwaltung. Sie alle sind dem Hermetismus und der Spezialisierung zum Opfer gefallen.

Das Wort «Universität» deutet an, daß die Krise der Wissenschaft dabei ist, unser Schulsystem zu sprengen. Das pädagogische Ideal der Universität ist der uomo universale der Renaissance: ein Gedächtnis, das alle verfügbare Information speichert. Dieses Ideal ist unsinnig geworden, und der Gedanke, die den Baumdiskursen entströmende Informationsinflation in Gedächtnisse zwängen zu wollen («Studenten unterrichten» zu wollen), wird täglich absurder. Die Informationen und ihre Codes überschreiten nicht nur die menschliche Speicherfähigkeit, sondern die Informationen «übersprudeln» einander auch, insofern jeder einzelne Zweig der Baumdiskurse ständig neue Informationen erzeugt, welche die alten «überholen». Dadurch veralten Informationen immer schneller. Da aber menschliche Gedächtnisse im Unterschied zu kybernetischen nicht leicht vergessen – einmal programmierte Informationen lassen sich aus ihnen nicht ohne weiteres durch Auslöschen entfernen –, bilden veraltete Informationen trotz ständiger Bemühung um deren «Rezyklierung» eine Art Müllhalde in menschlichen Gedächtnissen. Die Universitäten erzeugen gegenwärtig geradezu das Gegenteil eines uomo universale: den durch veraltete Informationen immer weniger zu Entscheidungen fähigen Spezialisten. Ein Schulsystem, dessen uneingestandene Absicht es geworden ist, aus Menschen Konkurrenten von kybernetischen Gedächtnissen (anstatt beispielsweise Systemanalytiker) zu machen, ist aber zum Untergang verurteilt.

Ein weiterer Grund für die alles erschütternde Krise der Hochschulsysteme (und damit der Paideia überhaupt) ist folgender: In dem Maße, in dem Informationen in den Baumdiskursen explodieren, entstehen neue Dialogkreise innerhalb des Baumes. Sie haben nicht mehr die Erzeugung von neuer Information, sondern die Struktur der Informationserzeugung zum Thema. (Als ob sich die Zweige des explodierenden Baumes gegen den Stamm wenden wollten.) Zwei dieser «formalen» Dialoge, Logik und Mathematik, sind zwar seit altersher bekannt, aber neuerdings ist eine Reihe anderer, beispielsweise Informatik, Kybernetik, Theorie der Spiele und der Entscheidung, hinzugekommen. Diese neuen Zweige des wissenschaftlichen, technischen, künstlerischen, philosophischen und politischen Baumdiskurses lassen sich jedoch nicht in die herkömmliche Baumstruktur integrieren, wie sie an den Universitäten noch vorherrscht. Universitäten sind nach dem jeweiligen Typ der zu verteilenden Information gegliedert. Informatik und Theorie der Entscheidung müßten aber in naturwissenschaftlichen Fakultäten ebenso gelehrt werden wie in juristischen, an Schulen für Architektur ebenso wie in philologischen und medizinischen Studiengängen. Kein wie immer geartetes Ausmaß an cross education kann ein Hochschulsystem retten, dessen Struktur der gegenwärtigen Struktur der Wissenschaft nicht mehr angepaßt ist.