Komponist zwischen den Welten - Ulrike Klakow - E-Book

Komponist zwischen den Welten E-Book

Ulrike Klakow

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Beschreibung

"Ein Stück über gegenseitige Toleranz und Verständnis sowie die Brüderlichkeit aller Menschen", so beschreibt Kurt Weills bester Freund, der Dramatiker und Pulitzer Preisträger Maxwell Anderson ihre Zusammenarbeit für das Broadway Musical Lost in the Stars. Als Komponist arbeitet Kurt Weill eng mit Schriftstellern, die diese Maxime mit ihm teilen. Als Ehemann zeigt er viel Verständnis für die zahlreichen Affären seiner Frau, der Schauspielerin Lotte Lenya. In ihrem Roman entführt die Autorin den Leser mit viel Einfühlungsvermögen in die außergewöhnliche Welt des berühmten Tonschöpfers. An die Orte seiner Triumphe und Niederlagen in Deutschland wie auch den USA seiner neuen Heimat. Dabei gibt sie intime Einblicke in die Künstlerseele und das Who is Who der damaligen Theater- und Filmszene, von den Anfängen im Berlin der wilden 20er Jahre, bis zu seinem jähen Tod 1950 in New York.

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Über die Autorin

Ulrike Klakow wurde 1968 in Nürnberg geboren. Studierte an der Musikhochschule München Gesang und ist seit 1996 Mitglied der Bayerischen Staatsoper. In ihren musikalisch-rezitatorischen Programmen mit Werken Kurt Weills setzt sie sich intensiv mit dem Leben des Komponisten auseinander.

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Europa

GRÜNHEIDE 1924

BERLIN CHARLOTTENBURG 1925

DRESDEN 1926

BADEN-BADEN 1927

LEIPZIG 1928

SAINT CYR-SUR-MER 1929

LEIPZIG 1930

BERLIN- KLEINMACHNOW 1931

WIEN 1932

PARIS 1933

LOUVECIENNES 1934

LONDON 1935

Amerika

MANHATTAN 1935/1936

PINE BROOK 1936

HOLLYWOOD 1937

QUER DURCH AMERIKA 1938

WELTAUSSTELLUNG NEW YORK 1939

NEW CITY 1940

BROOK HOUSE 1941

HIGH TOR 1942

BROADWAY 1943

BEVERLY HILLS 1944

NEW YORK 1945

HARLEM 1946

PALÄSTINA 1947

DOWN IN THE VALLEY 1948

LOST IN THE STARS 1949

HAVERSTRAW 1950

NACHWORT

DANKSAGUNG

Europa

GRÜNHEIDE 1924

»Vielen Dank, wir melden uns bei Ihnen.«

Als Lotte nach ihrem Vorsprechen den Raum verließ, war ihr klar, dass sich niemand melden würde. Sie nahm ihren alten karierten Mantel vom Stuhl und ging in die kühle Mainacht des Jahres 1924 hinaus.

Normalerweise liebte sie es, durch das Berliner Nachtleben zu streunen, aber heute wollte sie nur in ihr kleines dunkles Zimmer und sich in ihrem Bett verkriechen. Mit schnellen Schritten lief sie an all den Kneipen, Bars und Nachtklubs vorbei, in denen sie versuchte, Kontakte jeglicher Art zu knüpfen, oder eventuell auf eine warme Mahlzeit eingeladen zu werden, und wo sie sich sonst die Zeit vertrieb, um nicht wieder in ihre schäbige, dunkle Bleibe zu müssen.

Die Stadt war ein ausgeschüttetes Füllhorn von blutjungen Mädchen, die, auf die Straßen Berlins gestreut, zu allem bereit waren, um Schauspielerinnen zu werden. Lotte war gewiss auch kein Kind von Traurigkeit und widmete sich mit vollem Körpereinsatz ihrer Karriere. Doch die Konkurrenz war enorm und sie selbst entsprach in keiner Weise dem gängigen Schönheitsideal; rothaarig, zierlich und mit einem starken Überbiss. Und so hatte sie wieder einmal eine Absage erhalten.

»Sie haben eine interessante Ausstrahlung für so eine kleine, zarte Person«, sagten die Einen.

»Wild und sehr viel Temperament, aber nicht das, was wir suchen«, sagten die Anderen.

Nun dachte sie doch ernsthaft über das Angebot Georg Kaisers nach, den Sommer bei seiner Familie zu verbringen und seine Frau beim Haushalt und bei der Erziehung der Kinder zu unterstützen. Auf diese Weise könnte sie vielleicht der dann hitzeglühenden Metropole und ihrer permanenten Geldnot für eine Weile entfliehen.

Seit ihrem Umzug von Zürich nach Berlin, wo sie gehofft hatte, in der nach dem Krieg wieder aufblühenden Stadt ihren Durchbruch zu erleben, war ihr Leben ein einziges Suchen nach Arbeit. Bis auf ein paar kleine Engagements an Hinterhofbühnen konnte sie jedoch noch nichts Bedeutendes vorweisen.

Doch sie war nicht die Einzige, die auf Erfolg hoffte, und genau das machte es so spannend: Viele aufstrebende Talente wie Komponisten, Schriftsteller, Maler, Musiker, Schauspieler, Sänger strömten nach Berlin und ließen mit ihrer Kreativität die Stadt förmlich explodieren. Der preußische Mief wurde abgeschüttelt und Einflüsse aus der ganzen Welt konnten Einzug halten. Auch Lotte wurde von dieser Woge mitgerissen worden. Sie verbrachte ihre Zeit in den Cafés, wo sich die jungen Wilden trafen und glaubte unerschütterlich an ihren Erfolg.

Immerhin hatte sie durch ihren Schauspiellehrer und derzeitigen Liebhaber Richard Revy den Dramatiker Georg Kaiser kennengelernt. Vor ein paar Tagen hatte dieser sie zum Essen eingeladen und ihr beiläufig erzählt, dass seine Frau eine Haushaltshilfe gebrauchen könnte: »Lenya, könnten Sie sich so etwas vorübergehend vorstellen? Sie wären erst einmal sorgenfrei und bekämen von mir auch genügend Zeit, sich Ihrer Schauspielerei zu widmen. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Sie wären bei mir in Grünheide gut aufgehoben.«

In ihrer Kammer angekommen, stand ihr Entschluss fest: Sie würde zusagen!

Und schon am Wochenende stand sie vor der Villa Alexander, die der Kaiser für sich und seine Familie gemietet hatte. Margarethe Kaiser, eine große und stattliche Frau in den Vierzigern, hatte sie aus dem Stadtzentrum von Berlin abgeholt, und bei der Autofahrt aufs Land entstand eine gegenseitige Sympathie. Auch der Dramatiker empfing sie herzlich in seinem Kaiserreich, wie er es nannte, und Margarethe zeigte ihr das Haus und die kleine Dachstube, in der sie die nächsten Wochen wohnen würde.

»Wenn Sie sich hier eingerichtet haben, kommen Sie doch bitte ins Speisezimmer. Wir werden dort zusammen das Abendbrot einnehmen.«

Ihre paar Habseligkeiten hatte sie schnell aufgeräumt, ließ sich aber dennoch Zeit, ehe sie hinunterging. Auf dem Bett sitzend grübelte sie darüber nach, ob es wirklich die richtige Entscheidung war aus Berlin mit all den Möglichkeiten, die sich dort boten, wegzugehen. Das ganze Leben hatte sie sich auf ihre Intuition verlassen können. War es auch diesmal der Fall?

Sie gab sich einen Ruck und lief die Treppe hinunter. Ein kleines Mädchen in einem geblümten Sommerkleid kam gerade aus einem der oberen Zimmer und nahm sie vertrauensvoll bei der Hand.

»Sind Sie das neue Kindermädchen? Mein Name ist Sybille«, stellte sie sich keck vor und in diesem Moment waren bei Lotte alle Zweifel verflogen und sie wusste, dass sie in dieser warmherzigen Familie eine gute Zeit haben würde.

Die Villa lag direkt am Peetzsee und vom Speisezimmer, wo sie jetzt die ganze Familie antraf, hatte man einen herrlichen Blick aufs Wasser. Beim Anleger am Grundstück sah sie eine ganze Flotte verschiedenster Boote liegen und von der Terrasse führte ein Weg über eine satte, grüne Wiese dorthin.

Die ersten Tage vergingen wie im Flug und auch mit den beiden Jungen Anselm und Laurenz kam Lotte wunderbar zu recht. Der Größere war schon ein recht passionierter Ruderer und so machten sie ausgiebige Bootspartien zu einer Insel mitten im See, wo man gemeinsam Cowboy und Indianer spielte. Sie hatte viel Spaß daran, den Kindern immer wieder neue Rollen in ihrem Spiel zu geben und auf gemeinsamen Familienausflügen übers Land verband sie mit Margarethe bald eine herzliche Freundschaft. So war das Kindermädchen fast zu einer Tochter geworden.

Abends ging Lotte dann oft noch alleine zum See hinunter und schwamm ein paar Runden. Wenn sie sich dann im Sonnenuntergang trocknen ließ, kam meist der Kaiser dazu, setzte sich neben sie ins Gras und fragte sie nach ihrer Meinung zu Themen, die er in seinen Stücken zu behandeln gedachte.

Er genoss die Gegenwart dieser jungen lebenshungrigen Frau und ihren untrüglichen Sinn dafür, was gut und was schlecht beim Publikum ankommen würde.

Gestern hatte er ihr von seiner Arbeit an einem neuen Text zu einer Oper erzählt. Er fand es spannend, aus seinem Stück Der Protagonist ein Libretto anzufertigen, obwohl er bisher der Meinung war, dass seine Texte keine Musik bräuchten.

Der junge, unbekannte Komponist, den ihm Fritz Busch, der Generalmusikdirektor der Semperoper, für diesen Auftrag empfohlen hatte, gefiel ihm aber auf Anhieb so gut, dass er sich darauf einließ.

»Könntest du Herrn Weill abholen?«, fragte er sie am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück. »Er kommt gleich am Bahnhof an, damit wir dieses Wochenende endlich mit der Arbeit beginnen können.«

»Woran erkenne ich ihn denn?«

»Na, wie so ein Komponist eben aussieht!«, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln.

Rasch streifte Lotte sich ihre leichte Strickjacke über, kämmte noch einmal ihre roten Haare und zog ihren Lippenstift nach. Kurzentschlossen setzte sie sich in eins der Ruderboote und nahm den direkten Weg übers Wasser. Denn zu Fuß den ganzen Peetzsee zu umrunden, hatte sie heute keine Lust. Zudem war es vom Steg am anderen Ufer nur noch ein Katzensprung durch den Wald bis zum Bahnhof Fangschleuse.

Als sie dort anlangte, sah sie schon einen kleinen Mann hilfesuchend auf sie zukommen. Er trug einen blauen Anzug, hatte einen hochmodischen Borsalino auf dem Kopf und unter dem Arm eine Notenmappe geklemmt. Fast wirkte er in dieser Aufmachung mit runder Pennälerbrille wie ein jüdischer Junge, der eben seine Bar-Mizwa beging.

»Sie müssen Herr Weill sein, richtig? Ich bin Lenya und soll Sie abholen.«

»Sehr angenehm.« Dabei lüpfte der junge Mann galant seinen Hut.

Nach einem kurzen Fußmarsch und einem Plausch über die herrliche Gegend erreichten sie wieder den Steg am See und Lotte zeigte lachend auf das Ruderboot, das dort angebunden lag.

»Würden Sie sich bitte in mein Transportmittel begeben?«, forderte sie den verdutzten Komponisten auf. Sorgsam darauf bedacht, dass seine Notenmappe nicht nass wurde, stieg er in den schwankenden Kahn. Dann setzte sich Lotte breitbeinig auf die Ruderbank und legte sich ordentlich in die Riemen.

Ihm gefiel diese, in ihrem weißen Batist Kleid auf den ersten Blick unschuldig wirkende junge Frau, wie sie so kräftig ruderte. Als sie ihn mit ihrem leicht rauchigen, österreichischen Akzent neugierig ausfragte, erkannte er plötzlich die Stimme wieder, die er vor circa zwei Jahren aus dem Orchestergraben bei einem Vorsingen begleitet hatte.

»Wissen Sie, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«, fragte der Fahrgast mit gespieltem Gleichmut. Sie schaute ihn perplex an. »Ich habe Sie zwar nur gehört und wir sind uns auch sonst nicht so nahegekommen wie jetzt. Sie standen auf der Bühne und haben gesungen und wohl auch getanzt. Ich habe Sie ja nur aus dem Orchestergraben begleitet. Ihre Stimme blieb mir jedenfalls für immer im Gedächtnis. Nun sehe ich endlich den Körper dazu und was ich sehe, gefällt mir ausnehmend gut.« Der junge Mann betrachtete sie dabei spitzbübisch durch seine dicken Brillengläser.

Sie lachte bei der Erinnerung an dieses verunglückte Vorsingen laut auf und sah sich ihr Gegenüber jetzt noch genauer an. Seine sinnlich vollen Lippen verführten sie, die so gerne küsste, auf unwiderstehliche Weise.

.

»Darf ich Ihre Brille abnehmen und Ihnen dafür einen Kuss geben?«, fragte sie frech und rutschte von ihrer Bank zu ihm an den Bug, immer darauf bedacht, das Boot nicht zum Kentern zu bringen. Doch Kurt, der sich von ihr genauso angezogen fühlte, hatte seine Brille schon selbst abgenommen und kam ihr rasch mit einem innigen Kuss zuvor.

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich Lotte wieder an die Ruder und ein paar Paddelschläge später legten sie am Steg an. Sie half Kurt mit seiner Notenmappe aus dem Boot, wobei sie wie zufällig noch einmal seine Hand mit den großen, schlanken Fingern streifte.

Auf der Terrasse der Villa stand der Kaiser, die Hände in den Hosentaschen, und erwartete seinen Besuch.

»Ihr habt euch schon näher bekannt gemacht, wie ich gesehen habe.« Mit seinen blauen Augen zwinkerte er die beiden an. Lotte verabschiedete sich mit einem koketten Knicks und überließ den Komponisten dem Hausherrn.

Am Abend brachte sie Herrn Weill auf demselben Weg zurück zum Bahnhof. Von nun an kam er jedes Wochenende nach Grünheide.

Es wurde in jeder Hinsicht ein erfolgreicher und folgenreicher Sommer. So wie die Oper, nahm auch die Beziehung zwischen Lotte und Kurt Kontur an. Wenn der Kaiser und er nicht am Arbeiten waren, fuhren Kurt und die Frau seiner Träume auf den Fahrrädern um den See und suchten intime Plätze, um gemeinsam schwimmen zu gehen oder auch manch anderes auszuprobieren.

Sie waren beide exzellente Schwimmer und Kurt mühte sich in Anbetracht der sportlichen jungen Dame sehr mit ihr mitzuhalten. Auch sonst entdeckten sie viele Gemeinsamkeiten, wie die Leidenschaft für gute Literatur und das neue spannende Medium Film.

In den Lichtspielhäusern, die gerade wie Pilze aus der Erde schossen, konnte man für ein paar Pfennige die großen Schauspieler aus Amerika bewundern und sie träumten davon, eines Tages gemeinsam dorthin zu reisen.

An einem Spätsommerabend bat Kurt den Kaiser um eine Flasche Bordeaux, weil er sich von Lotte für längere Zeit verabschieden musste. Aus der Küche hatte er noch zwei Gläser organisiert und so gingen sie gemeinsam zum Steg hinunter. Lotte zog ihre Schuhe aus und ließ ihre nackten Füße in den See baumeln. Die gefüllten Gläser in den Händen, genossen sie eine Zeit lang schweigend die Abenddämmerung.

»Ich werde in den nächsten Wochen nicht mehr nach Grünheide kommen. Es ist an der Zeit, dass ich mich wieder mehr um meine übrigen Werke kümmere. Ich bin es mir und meinem verehrten Lehrer Busoni schuldig. Sein plötzlicher Tod hat mich schwer getroffen, denn er hat aus mir den gemacht, der ich jetzt bin.«

Zärtlich legte er den Arm um Lotte, als wollte er das, was jetzt kommen musste, abmildern.

»Lenya, wie soll ich es dir sagen. … weißt du, ich kann mich im Augenblick gewissermaßen nicht verzetteln, sondern muss meine ganz Kraft auf meine Musik bündeln. Denn ich spüre, dass ich an einem Wendepunkt meines Lebens stehe, auch durch den Tod meines Mentors verursacht. Es tut mir unendlich leid, dass ich dich hier in Grünheide erst einmal zurücklassen muss. Ich schwöre, ich werde dich wieder besuchen, sobald ich etwas mehr Zeit habe«, unterbrach er die Stille.

»Ach, …du verzettelst dich mit mir. So nennt man das also! Ich dachte, du wolltest mich heiraten, jedenfalls hast du das letzte Woche noch großspurig verkündet«, sagte sie beleidigt und ihr Ton wurde hart. »Du hast mich den ganzen Sommer über angelogen, wie all die anderen! Und ich hatte allen Ernstes geglaubt, dass du anders bist. Was für ein Irrtum!«

»Nein…, missversteh mich nicht, …lass es mich erklären, bitte…«, flehte er. »Ich möchte doch für dich sorgen und zu dir gehören, aber meine Gefühle für die Musik sind so überwältigend, dass da nicht viel Platz für noch andere Empfindungen ist. Verstehest du…? Aber es war alles echt. Ich muss…,« Seine leise Stimme verstummte ganz.

Lotte spürte einen unbändigen Zorn in sich hochsteigen und sich wie einen dicken Kloß in ihrem Hals festsetzen.

Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War sie nicht überzeugt gewesen, in ihm endlich einen ebenbürtigen Mann gefunden zu haben? Einen, der nicht die Spiele von Macht und Verehrung mit ihr spielte. Dem sie nicht ständig gefallen musste, um für sich daraus ihre Vorteile zu ziehen. Andererseits hatte sie so bis jetzt nicht immer gute damit gelebt und es geschafft, die Karoline Blamauer aus dem Wiener Vorstadt Milieu abzulegen und zur Schauspielerin Lotte Lenya zu werden?

Kurt hatte sie alles sagen können, was sie wirklich dachte. Er nahm sie als Mensch ernst, nicht nur als Objekt seiner Begierde. Bei ihm spürte sie, dass sich seine Zuneigung zu ihr in etwas Tieferem ausdrückte, als durch Schmuck und Pelze. Hatte sie sich in Kurt so täuschen können?

»Schon gut, ich verstehe. Ich habe mich wieder mal von meinen Gefühlen leiten lassen und geheiratet werden will ich eh nicht!«, rief sie empört. »Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Sie bei mir in eine Falle tappen und für mich sorgen müssen. So eine bin ich nicht. Ich bin nämlich emanzipiert«, fügte sie trotzig hinzu, trank mit einem kräftigen Schluck das Weinglas leer, zog hastig ihre Schuhe an und lief ohne ein weiteres Wort hinauf zur Villa.

Was sie hinter ihrem Rücken nicht sehen konnte, war, dass er ein Papier aus der Jacke zog, schnell ein paar Notenzeilen kritzelte und eine Melodie notierte. Er konnte nicht anders, als seine Empfindungen sofort in Musik verwandeln zu müssen. So blieb er noch eine ganze Weile am Steg sitzen, leerte alleine die Flasche Wein und sah dem Spiel der Wellen, die gegen die Boote schlugen und die sich dabei sanft auf und ab bewegten zu.

BERLIN CHARLOTTENBURG 1925

Das Zimmer, das Kurt mit Lotte bewohnte, war ein langer Schlauch, vollgestellt mit Möbeln. Wenn man zur Tür hereinkam, stand zur Linken ein Bett, gegenüber an der Wand eine Kommode und darauf ein kleines Radio. Dazwischen gerade so viel Platz, dass man hindurchgehen konnte. Am Fenster ein Tisch mit einem kleinen Vorratsschränkchen darauf und zwei Stühlen. Der dunkle Eichenkleiderschrank schluckte fast alles Licht, das in den Raum fiel. Geblümte Vorhänge, Bilder, all die Noten, Bücher und Notizen verliehen dem Raum dennoch eine wohnliche Note. Vom Fenster aus hatte man eine prächtige Aussicht auf das üppige Grün des Charlottenburger Schlossparks. In einem zweiten Zimmer stand ein Flügel und ein Schreibtisch an denen sich Kurt stundenlang in seine Arbeit vertiefen konnte.

Den beengten Verhältnissen konnten die jungen Liebenden durch ausgedehnte Spaziergänge im Park, der seit dem Untergang des preußischen Kaiserreiches der Öffentlichkeit zugänglich war, entkommen. Oder sie verbrachten die Abende in den Cafés, Theatern und Kinos am KuDamm, um sich dort mit Freunden zu treffen.

Lotte genoss es wieder in Berlin zu leben. So schön es in Grünheide gewesen war, es war Zeit wieder an ihre Zukunft zu denken.

Auch diesmal war es die Großzügigkeit des Kaisers, die diesen Umzug ermöglichte: Mama und Papa, wie sie nun im Scherz liebevoll von Lotte und Kurt genannt wurden, überließen ihnen zwei Zimmer ihrer Berliner Wohnung und seit nunmehr drei Monaten lebten sie hier als Paar zusammen.

An diesem Morgen lagen sie beide auf dem schmalen Bett und sie hielt sich an ihm fest wie an einem Anker, um nicht herauszufallen. Als sie merkte, dass er aufwachte und gleich aus dem Bett springen würde, liebkoste sie ihn zärtlich mit ihrer freien Hand.

»Nein, Linnerl, lass!... Ich muss arbeiten…« Lächelnd wand er sich dabei aus ihrer Umklammerung. »Ich verspreche dir, dass wir heute Abend in den neuen Chaplin Film gehen.«

Sie hatte noch einmal sehr offensiv versucht, ihn zu sich ins Bett zu ziehen, aber er hatte sich schon seine Hausschuhe geangelt, die ordentlich auf dem Teppich standen.

»Du bist wirklich ein unersättliches Pümmilein. Ich war doch heute Nacht schon dein Lustknabe!«, flüsterte er und schenkt ihr noch einmal einen begehrlichen Blick, griff nach seinem Morgenmantel, drehte sich dann abrupt um und verschwand. Einen Moment später hörte sie aus dem Nebenzimmer, wie Kurt sich etwas, das wie ein Tango klang, auf dem Flügel ausdachte.

Heute hatte sie einmal mehr den Kampf gegen seine Arbeit verloren, aber es war zu einem morgendlichen Spiel für beide geworden und enttäuschte sie nicht mehr allzu sehr, wenn sie, wie gewöhnlich, verlor. Wenigstens hatte sie jetzt das Bett für sich allein und so blieb sie noch eine ganze Weile liegen und lauschte den entstehenden Melodien.

Im Winter, es war kurz vor Weihnachten gewesen, hatten sie einen heftigen Streit über das immer selbe Thema, das seit der lauen Sommernacht zwischen ihnen stand, gehabt.

»Du liebst nur deine Musik! Du kannst gar keinen Menschen lieben! Das Gerede von Liebe und dem ganzen Schmarrn ist doch alles gelogen! Aber du hast recht, dass wir uns ähnlich sind. Ich habe nämlich auch keine Gefühle für dich. Und überhaupt, was ist das schon: Gefühle!« Lotte hatte verächtlich gelacht. »Vor dir hatte ich bessere Liebhaber und werde mir jetzt auch wieder einen suchen, der groß ist und gut aussieht! Ich brauch dich nicht, du kleiner…, kleiner…. Leb‘ wohl, du… Kammerkomponist!«, hatte sie ihn angeschrien und die Tür seines Zimmers, wo sie ihn in Berlin besucht hatte, so heftig zugeknallt, dass Kurt fassungslos zurückblieb.

Sie hatte den nächsten Zug zurück nach Grünheide genommen, um dort bei Margarethe Zuflucht zu suchen und auf einem langen Spaziergang um den zugefrorenen Peetzsee hatte sie ihr vertrauensvoll das Herz ausgeschüttet.

»Es macht mich soooo wütend, wenn er mit seiner ruhigen Art immer fragt, ob er mich glücklich gemacht hat. Zugegeben, er möchte mir alles geben, was er hat. Aber das ist eben nicht gerade viel. Nur seine Musik, und auf die bin ich allerdings wirklich eifersüchtig, und dann vielleicht noch seine Hoffnung, irgendwann einmal ein berühmter Komponist zu werden. Dann soll ich wohl sein stolzes Anhängsel sein. Ach, Margarethe, mit einer anderen Frau nehme ich gerne den Kampf auf, aber gegenüber seiner nicht greifbaren, inneren Sendung fühle ich mich so verloren. Dann fängt er wieder an über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen, und wie schön es wäre, ganz für mich da zu sein und für mich zu sorgen.... Und im nächsten Augenblick springt er auf, geht ans Klavier und ist schon wieder ganz woanders. Das treibt mich in den Wahnsinn.«

Lotte hatte sich bei ihr untergehakt und so waren sie eine Zeit lang durch die still daliegende Winterlandschaft gegangen.

»Weißt du Linnerl, das mit der Ehe ist gar nicht so einfach und du bist zunächst auch gar nicht der Typ dafür. Aber ihr habt eine wunderbare Grundlage: Freundschaft und den gleichen Humor. Irgendwann kommt ohnehin der Punkt, wo die Reize der Jugend nachlassen. Und ich spreche aus Erfahrung, mein Mädchen.«

»Aber meine Reize und die Schauspielerei sind doch mein Kapital. Da fühl ich mich sicher. Wo ich Vertrauen zu mir selber habe. Wo ich weiß, wie ich mich geben muss. Ach, das Leben ist manchmal so kompliziert«, hatte sie geseufzt. »Auf der anderen Seite liebe ich ja seine Musik. Er bezieht mich auch immer mit ein. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn er mich um meine Meinung fragt und ich lerne dadurch auch so wahnsinnig viel. Hab‘ so viel Neues durch ihn entdeckt. Aber wenn er in einer Schaffensphase ist, bin ich für ihn quasi nicht existent und ich bin ganz bestimmt keine Frau, die zu Hause sitzt, den Haushalt macht und auf ihn wartet. Mami, was soll ich denn tun?«

»Das kannst nur du selbst entscheiden. Georg fragt mich auch nach meiner Meinung zu dem, was er schreibt und nennt mich dann seinen Freund. In dem Moment finde ich das viel schöner als seine Ehefrau zu sein. Denn so bin ich ihm ebenbürtig und nicht jemand, der seine Kinder großzieht und den Laden hier zusammenhält. Aber einfach ist und war es nie. Ich denke, vielleicht tut euch etwas Abstand gut. Er ist doch eh mit dem Konzert im Januar beschäftigt. Lass uns erstmal zusammen Sylvester feiern und sehen, was das neue Jahr bringt.«

»Danke, du bist immer so weise. Ich glaub, ich bleib die nächsten Wochen hier bei euch, wenn ich darf. Ich werde ihm trotzdem noch einen Brief schreiben, damit er weiß, woran er mit mir ist. Dann kann er sich von mir aus ganz und gar seiner Musik hingeben.«

In ihr hatte immer noch der Zorn über seine stets demütige Zurückhaltung getobt, die ihr keine Angriffsfläche bot. Sie konnte mit ihm einfach nicht streiten und das hatte sie noch wütender gemacht. Wenn sie hochemotional wurde, wurde er immer ruhiger und überlegter. Die einzige Möglichkeit, die sie damals für sich gesehen hatte, war mit ihm zu brechen.

Doch nach der erfolgreichen Uraufführung seiner Orchesterlieder in der Berliner Philharmonie – sie hatte trotz ihres Zerwürfnisses natürlich alle Kritiken gelesen – kam er wieder nach Grünheide, um den Protagonisten mit Georg zu beenden.

Anfangs hatte sie sich jedes Mal, wenn er kam, aus dem Staub gemacht und mit Margarethe und den Kindern etwas unternommen.

Aber die Kaisers waren auf Kurts Seite und wünschten sich, dass die beiden sich wieder versöhnten und so arrangierten sie zur glücklichen Fertigstellung der Oper eine kleine Feier. Kurt kam mit einem Glas Champagner zu Lotte und reichte es ihr.

»Bitte, lassen Sie uns wieder gut sein. Ich möchte mit Ihnen wieder auf ein erneutes Du anstoßen. Tobili, bitte!« Kurt sah ihr dabei tief in die Augen, während sie schweigend mit ihm anstieß.

»Ich habe extra eine Arbeit als Redakteur bei der Deutschen Rundfunk Zeitung angenommen, damit ich ein regelmäßiges Einkommen habe und für dich sorgen kann. Ich weiß ja selber, dass meine Musik gerade so für mich was abwirft. Aber ich verspreche dir…nein, ich weiß auch…, dass wir bald davon leben können. Ich brauch dich. Bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang. Du bist mir Himmel und Erde. Sei ein Spiegelbild meiner selbst. Lass mich in dir aufgehen und wenn ich ertrinken muss.« Er blickte sie mit ernstem Gesicht an.

»Lass uns lieber trinken als ertrinken«, hatte sie versucht ihrer Stimme noch eine gewisse Kälte zu geben, aber dann konnte sie sich vor Lachen über Kurts unbeholfenes Liebesgestammel nicht mehr halten. Sie hatte ja selbst gemerkt, dass ihre Gefühle für ihn immer noch stark waren und endlich das Eis gebrochen war.

»Ich liebe es, wenn du so komisch pathetisch bist, und ich liebe deine Musik, deinen Humor und … dich! Obwohl du manchmal kaum auszuhalten bist.«

»Ja, ich weiß, und deswegen habe ich auch lange an der Formulierung gefeilt«, antwortete Kurt selbstsicher.

An all das musste sie jetzt denken als sie eingerollt, wie eine Katze, im Bett lag und sich die Frühsommersonne aufs Gesicht scheinen ließ, während sie nebenan Kurt am Klavier hörte.

Sie war froh, dass er so beharrlich geblieben war und nicht von seiner Überzeugung wich, dass er der Richtige für sie wäre. Aber nun war es Zeit aufzustehen.

Sie zog sich etwas über und machte ihre morgendlichen Dehnübungen, die sie sich seit ihrer Ballettausbildung als tägliches Pflichtprogramm auferlegt hatte. Auch wenn sie im Augenblick kein Engagement zu erfüllen hatte, gab es keinen Grund nachlässig zu sein. Zum Glück war da Kurts Disziplin ansteckend, der schon wieder über einer Partitur saß, die er für die Kantate heute noch fertigstellen wollte.

Nachdem sie sich gewaschen, frisiert und ihr hübsches Sommerkleid angezogen hatte, kam Kurt zum Frühstück aus seinem Arbeitszimmer, um ihr, wie immer nur kurz, Gesellschaft zu leisten.

»Kleene, wat machste heut´?«

»Na, ick werd wohl ufem Ku´Damm jehen und kieken.«

»Na dann kieke mal. Wollen wir uns dann um fünf im Romanischen Cafe treffen. Bis dahin müsste ich mit allem fertig sein. Wenn Ivan da ist, kann ich noch kurz ein paar Sachen wegen des Neuen Orpheus besprechen. Der wird richtig gut, sag ick dir. Und dann gehen wir zusammen ins Kino. Is dat wat?«, rasch gab er ihr einen Kuss, aß sein letzten Bissen Brot und war auch schon wieder verschwunden. Sie deckte den Tisch ab und räumte alles auf, machte das Bett und verließ die gemeinsame Wohnung. Der Klang seines Klavierspiels, der durch das offene Fenster drang, begleitete sie noch lange die Straße hinunter.

Natürlich hatte sie ihm nicht erzählt, dass sie sich schon vorher mit Claire treffen wollte.

Vor ein paar Wochen hatten sie bei einem Konzert der Philharmoniker das Ehepaar Goll kennengelernt und Kurt bewunderte den französischen Schriftsteller, seit er einige Werke von ihm gelesen hatte. Sie waren gleich derart in ein Gespräch über ihre Arbeiten vertieft gewesen, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich ihre beiden Frauen auch zueinander hingezogen fühlten.

Nun war Lotte also auf dem Weg zu Claires Wohnung in der Nähe der Lützow Strasse. Die große, schlanke, schwarzhaarige Frau öffnete ihr die Tür und räkelte sich lasziv in ihrem leicht geöffneten japanischen Morgenmantel im Türrahmen.

»Hallo, meine Süße, hast du deinen kleinen Gnom bei seiner Arbeit zurückgelassen?«, dabei hob sie Lottes Kinn und küsste sie zur Begrüßung auf die Lippen.

»Komm herein und liebe mich. Danach gehen wir ins KaDeWe. Ich brauch nämlich dringend ein neues Kleid, das ich dann gleich unseren süßen, naiven Männern bei ihrem Treffen präsentieren kann. Ivan habe ich nämlich erzählt, dass ich den ganzen Vormittag bei der Schneiderin bin. Aber ein schnell gekauftes Kleid von der Stange erfüllt auch seine Zwecke. Hauptsache, ich habe ein gutes Alibi.«

Die direkte, unverfrorene und dabei kapriziöse Art Claires reizte Lotte am Anfang ungemein und sie hatten viel Spaß miteinander. Doch inzwischen fand Lotte es nur noch platt und anstrengend. Beim Aufstehen hatte sie, als sie so neben Kurt lag, schon beschlossen, ihm und auch sich das nicht weiter anzutun.

Ihr schlechtes Gewissen ihm gegenüber, der immer so liebevoll und bemüht um sie war, wurde zu groß.

»Lass uns gleich losziehen. Das fände ich besser. Claire sei mir nicht böse, aber ich glaube es ist an der Zeit, unsere morgendlichen Treffen zu beenden.« Sie sah ihr dabei direkt in die Augen.

»Gut…«, sagte Claire gedehnt mit gespieltem Lächeln. »Ich zieh mir nur noch was an.« Mit wehendem Morgenmantel rauschte sie ins Schlafzimmer.

»Es war ein wunderbarer Zeitvertreib«, rief sie noch, bevor sie die Tür etwas zu heftig hinter sich schloss.

»Ja, das sehe ich auch so!«, kam es leise von Lotte, die froh war, so leicht aus der Geschichte herausgekommen zu sein, ohne dass Claire einen ihrer berüchtigten dramatischen Anfälle aufführte.

Nach einer viertel Stunde erschien sie in einem tief dekolletierten Sommerkleid aus fliederblauer Seide und Lotte fühlte noch einmal die starke Anziehungskraft dieser attraktiven Frau. Zusammen verließen sie die Wohnung und schlenderten Arm in Arm in Richtung KaDeWe.

Als sie später durch die Türen des Romanische Cafés eintraten, zogen sie alle Blicke auf sich. Zielstrebig gingen sie in den sogenannten ‚Schwimmer‘ Bereich, wo Freunde und Kollegen saßen.

Sie suchten sich einen, der freien kleinen Marmortisch aus und bestellten ein Glas Wasser. Das war ohnehin nur ein Vorwand, um die nächsten zwei Stunden hier sitzen zu können und schnell gesellte sich Lion Feuchtwanger zu ihnen, mit dem Claire gleich heftig zu flirten begann.

Ah, daher weht der Wind, dachte sich Lotte. Deswegen war sie vorhin so gelassen. Sie hat schon den nächsten Fisch am Haken.

Als ihre beiden Männer kamen, grüßten diese sie nur kurz und ließen sich am Nachbartisch nieder, um miteinander die letzten Details für den Neuen Orpheus zu besprechen.

»Danke Ivan, für heute ist Feierabend. Unsere Frauen haben auch ein Recht, etwas Zeit mit ihren Männern zu verbringen. Wenn du nicht aufpasst, verbringt deine womöglich mit jemand anderem ihre Zeit«, verabschiedete Kurt sich Augen-zwinkernd von seinem Librettisten.

»Jetzt geht es ins Kino, mein Blümchen. Nun ist nur noch Vergnügen angesagt. Das wird kolossal!«

Er reichte Lotte galant den Arm und so verließen sie gemeinsam das Café in Richtung Union Palast, wo heute Chaplins Goldrausch zu sehen war.

Als sie nach der Vorführung mit einer Traube von Menschen in die laue Sommernacht hinaustraten, waren sie noch ganz berauscht. Kurt zündete sich erst einmal eine Zigarette an und versuchte den Film noch einmal an seinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen, wobei Lotte ihn mit ihrer ansteckenden Begeisterung unterstützte.

»Diese Körperbeherrschung! Einfach phänomenal, wie Chaplin sich so eingefroren in das kleine Haus schleppen lässt und diese Akrobatik, die er mit dem Goldgräber da in der wackelnden Hütte vollführt. Ich hab’ mich schlapp gelacht. Sie war auch sehr gut. Aber das Beste war wohl der Tanz mit den Brötchen«, sprudelte es aus Lotte heraus. »Schau, ich hab’ mir fast jeden Schritt gemerkt. Sie hatten ihn ja auch ein zweites Mal gezeigt, nachdem der Saal komplett aus dem Häuschen war«, lachte sie und fing am Bürgersteig an, eine kleine Ballettvorstellung zu geben.

»Du tanzt viel besser als Chaplin, Tütchen.«

»Und du bist ein tausendmal besserer Komponist.«

»Na, das will ich auch meinen, aber er macht das schon gut. Er ist ein Perfektionist wie ich und will alles in seiner Hand behalten. Es muss seine Komposition dazu gespielt werden und nicht die üblichen Verdächtigen aus der Untermalungsmusik. Kannst du dich noch an diesen miesen Film erinnern, wo Handlung und Musik überhaupt nicht zusammengepasst haben? Den Titel hab’ ich schon komplett verdrängt. Ich glaube, so wie Chaplin es macht, müsste die Zukunft der Filmmusik sein: Der Rhythmus der Musik soll den Film zum Höhepunkt geleiten.«

»Du bist so schlau mein Weillli! Immer das Hauptaugenmerk auf der Musik.«

»Ob ich auch mal Filmmusik schreiben sollte? Ein guter Film könnte eine neue Kunstform sein. Da braucht es doch auch wertvolle Musik dazu.«

Plötzlich schien er vollkommen in seine Gedanken versunken. Sie spürte förmlich, wie er ihr entglitt. Nur ab und an zog er sich seine Hose, die immer leicht rutschte, mit angewinkelten Ellenbogen hoch. Eine drollige Angewohnheit, die er sich wohl durch das Notizen machen zugelegt hatte. So hatte er immer die Hände frei und konnte während des Laufens, wenn er gerade einen Gedanken hatte, diesen schnell zu Papier bringen. Sie kannte das inzwischen zur Genüge und so gingen sie still nebeneinander nach Hause.

DRESDEN 1926

Immer mehr Besucher strömten in großer Robe in die festlich erleuchtete Semperoper zur Uraufführung von Der Protagonist. Wie immer bei solchen Anlässen, erfüllte eine nervöse Spannung das Foyer, in dem Sehen und gesehen werden am heutigen Abend von besonderer Bedeutung war.

»Generalmusikdirektor Busch hat ja einen ziemlichen Mut, das Erstlingswerk eines so jungen Komponisten aufzuführen. Wie hieß er noch mal gleich?«, fragte ein ältlicher, kleiner Mann in Frack und Zylinder.

»Ich habe es dir doch gerade gesagt. Kurt Weill. Er ist ein Schüler von Busoni, dessen Dr. Faustus hat uns doch letztes Jahr sehr gut gefallen. Weißt du nicht mehr? Es war modern, aber nicht abstoßend. Also ich bin schon sehr gespannt«, hörte man seine dicke Gattin energisch ihn erinnern.

Kurt und Lotte standen mit dem Ehepaar Kaiser etwas abseits im Eingangsbereich und erwarteten die Eltern Weill, die extra aus Leipzig angereist waren, um an diesem besonderen Abend teilzunehmen.

»Junge, wir sind ja so aufgeregt. Deine erste Oper und dann gleich in diesem Haus«, kam seine Mutter, eine kleine temperamentvolle Frau strahlend auf Kurt zu und drückte ihn in aller Öffentlichkeit an sich, was Kurt sichtlich peinlich war.

»Und das ist also deine Gattin.« Sie gab Lotte kühl die Hand und sein Vater folgte wie immer ihrem Beispiel.

Kurt nahm seine Mutter beiseite und raunte ihr zu: »Sei bitte lieb zu Lenya. Sie ist die klügste und humorvollste Frau, die ich je kennengelernt habe. Sonst hätte ich sie sicher nicht geheiratet. Du wirst sie schon mögen, das versichere ich dir. Und es tut mir so leid, dass wir keine große Sache aus unserer Heirat gemacht haben. Ich weiß, dass es Vater getroffen hat, dass sie keine Jüdin ist. Aber alles, was zählt, ist die Verbindung von zwei künstlerischen Geistern. Und die Liebe natürlich. In jedem Falle nicht die Religion. Und ich weiß, dass er das bald verstehen wird. Vielleicht schon nach dem heutigen Abend. Jetzt aber solltet ihr alle mal rein gehen. Georg und ich werden noch ein Gläschen gegen die Nervosität trinken.«

Seine Mutter lief mit energischem Schritt neben Lotte durch den Haupteingang und er blickte beiden noch hinterher. Das grüne Popeline Kleid, das er seiner Gattin eben noch im Seidenhaus Schneider auf dem Altmarkt gekauft hatte, unterstrich ihre erotische Ausstrahlung. Er wollte, dass sie heute die schönste Frau im Saal war. Er selbst begnügte sich mit einem geliehenen Frack.

Vorgestern, bei der Generalprobe war alles so weit gut verlaufen und Kurt hatte nur noch ein paar beinahe unmerkliche, für ihn aber bedeutsame Änderungen vorgenommen, um seinem Stück den letzten Schliff zu geben. Unter anderem hatte er der Pauke einige Takte gestrichen, da sie ihm zu dominant erschien. Lotte war so oder so begeistert, aber vor allem gerührt, dass er ihr dieses Werk gewidmet hatte und der Heldentenor Curt Taucher sang die Rolle bravourös und war auch von seiner Statur die perfekte Verkörperung des Protagonisten. Es konnte nur ein Erfolg werden.

»Nichts wie weg aus dem Trubel! Lass uns gleich hier gegenüber in Helbigs Etablissement gehen«, riss der Kaiser ihn aus seinen Gedanken.

»Ja, lass uns was trinken. Das beruhigt die Nerven. Ich kann jetzt eh nicht mehr eingreifen.«

Sie überquerten den Opernplatz und gingen durch die Eingangstüre des neobarocken Baus. An der langgestreckten Fensterfront mit Blick auf die Elbe suchten sie sich einen Platz.

»Wie herrlich dieser Blick auf das Wasser. Fast wie bei euch zu Hause. Weißt du noch, wie alles anfing?«

»Natürlich, mein lieber Kurt, mit einem Ruderboot, das sogar eine Ehe gestiftet haben soll …! Und nun sitzt dieses so eigenwillig freiheitsliebende Wesen im Saal neben meiner Gattin, um uns aus erster Hand von der Stimmung im Publikum zu berichten.«

»Aber das meine ich doch nicht. Nein, wie unsere gemeinsame künstlerische Zusammenarbeit anfing und das Werk entstand, das heute zum ersten Mal vor offiziellem Publikum erklingen wird. Wie ich merkte, als wir mit der Pantomime nicht mehr weiterkamen, dass ich einfach nur deine Worte direkt mit Musik verbinden musste. Ich wollte deine genialen Texte lieber singen lassen, als dass sie mir nur die Rahmenhandlung für eine Ballettmusik abgeben würden. Und wie wir uns eben nicht versteift haben…. sondern dadurch eine ganz neue Gattung von Musikdrama entwickeln konnten«, sagte Kurt leise, aber voller Enthusiasmus.

»Wir sind ja nicht von gestern. Direktor Busch hat das ja auch sofort gemerkt, dass er was Großes von uns bekommt und nun… bitte setze dich endlich. …Herr Ober, zwei Glas vom Meißner Gewürztraminer! …Wir haben eben Visionen, die uns in Gleichklang bringen. Ist es nicht faszinierend, wie wir durch Wort und Musik das Einzelschicksal eines Menschen ausschließlich durch diese Mittel zum Ausdruck bringen können. Sich mit dem menschlichen Dasein in einem Schauspiel auseinander zu setzen, war ja immer meine Idee. Durch deine Musik bekommt es dann die noch fehlende Sprengkraft. Ich hoffe, die Zuhörer werden es auch so empfinden wie wir.«

»Auf die Premiere und auf das Schicksal, das uns zusammengeführt hat! Und unter uns gesagt: ein kleiner Skandal wäre dem Ganzen auch zuträglich. Ein voller Erfolg gerät schnell wieder in Vergessenheit. Die Leute müssen ja noch lange was zu tratschen haben. Andererseits schmeichelt es einem schon, wenn man gefeiert wird.«

»Ja, dass meine Texte, zugegeben dank deiner, einmal in einem führenden Opernhaus gespielt werden, hätte ich nicht für möglich gehalten. Wobei ich mir damals beim Schreiben des Schauspiels schon immer einen Tenor als Protagonisten vorgestellt hatte. Und die Tantiemen, die ein solch arrivierter Betrieb zu zahlen imstande ist, können wir hinterher in Spirituelles ummünzen, mein Lieber! Ach was…, lass uns gleich damit anfangen. …Herr Ober, noch einen Schoppen!«, rief Georg fröhlich. »Es reicht ja, wenn wir den Schluss mitbekommen und, sieh mal, wie herrlich leer es hier ist, alle in der Oper …«

»Tja, selber schuld, mir gefällt‘s hier auch besser, aber wir Künstler können ebenso wenig ohne Publikum wie sie ohne uns, so ist das eine fruchtbare Liebe, nicht wahr!? Kommt mir irgendwie bekannt vor«, blinzelte Kurt den Kaiser schelmisch über sein Glas an.

»Furchtbar meinst du! Wir wollen uns doch von der mitlaufenden Masse befreien. Erst wenn wir alles Hemmende hinter uns lassen, können wir wirklich Schaffende werden. Vor allem müssen wir einen Ruhepunkt finden, von dem aus wir alles, was um uns geschieht, beobachten können. Dann sind wir zu Großem fähig«, philosophierte der Kaiser.

»Ich denke, dass ich meinen Ruhepunkt schon gefunden habe. Und das ist kein Ort. Das ist eine wunderbare Seele von Mensch. Wenn ich sie um mich habe, gelingt mir alles.«

»Lenya ist aber auch eine selbstbewusste, eigensinnige Frau. Vergiss das nicht.«

»Ja, daran erinnert sie mich jeden Tag. Das ist nicht zu übersehen. Prosit, Papi! Auf das Leben, die Liebe und eine hoffentlich gerade gelingende Uraufführung!«

Währenddessen nimmt auf der Bühne die Tragödie ihren Lauf: Der Protagonist kann das Schauspiel, in dem er nur ein Darsteller ist, nicht mehr vom wahren Leben unterscheiden und bringt im Wahn seine Schwester um. Die letzten Akkorde erklingen. Der Vorhang fällt. Sekunden der Stille. Dann bricht ein Beifallssturm hervor. Am Inspizientenpult bricht Hektik aus.

»Herr Taucher, Sie nehmen mit den anderen Sängern den ersten Applaus entgegen. Dann der Herr Generalmusikdirektor und Sie, Herr Gielen, und danach Herr Weill und Herr Kaiser. Verdammt, wo sind die beiden nur? Noch immer im Zuschauerraum? Gehen Sie rasch und suchen Sie sie!«

Pflichtergeben auf dem Weg in den Zuschauerraum begegnete der Regieassistent Lotte, die ebenfalls zu Kurt wollte.

»Wo ist Ihr Mann?«, fragt dieser sie aufgeregt.

»Ist er nicht hinter der Bühne? Er kann doch diesen Triumph nicht verpassen. Suchen Sie ihn, aber schnell. Vielleicht sind sie noch bei Helbigs.«

Jetzt rennt der der junge Mann los. Außer Atem stürmt er durch die Tür des Etablissements und findet die beiden Herren gemütlich bei ihrem Wein sitzend vor.

»Kommen Sie, kommen Sie! Das Haus tobt! Sie müssen sich verbeugen…«, stammelt er außer Atem.

»Ach herrjeh, Kurt! Wir haben die Zeit vergessen.«

Einen Moment später sah man zwei Männer mit flatternden Frackschößen über den Platz zum Künstlereingang hasten, dann die Treppen hinauf und auf die Bühne: Auf der Stelle prasselt tosender Applaus auf die beiden ein.

Erst in den frühen Morgenstunden verließen die letzten Feiernden das Opernhaus. Todmüde machten sich Kurt und Lotte zu Fuß auf den Weg zum Hauptbahnhof, um den ersten Zug nach Berlin zu erreichen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und so gingen beide durch die noch leeren Straßen Dresdens. Sie hatten heute Nacht bei der Premierenfeier so viel reden müssen, dass die Stille und die frische Luft ein Segen waren.

»Ich bin fix und alle. Meinst du nicht, dass wir ein wenig Urlaub machen sollten? Oder willst du in diesem D-Zug Tempo weiter machen?«

»Nein, meine Kleene. Und ich habe auch schon darüber nachgedacht. Was hältst du von einer nachgeholten Hochzeitsreise durch Italien? Wir könnten über Zürich fahren, dort noch mein Violinkonzert anhören und dann weiter in den Süden. Wie wäre das?«

Sie umarmte und küsste ihn überschwänglich. So blieben beide noch einige Zeit im Schatten der imposanten Frauenkirche stehen.

Neu belebt legten sie das letzte Stück zum Hauptbahnhof zurück. Der Zug stand schon am Bahnsteig bereit und sie ließen sich in die Polster ihres Abteils fallen.

»Wenn wir in Berlin ankommen, werde ich ein Berühmti sein. Stell dir mal vor, 46 Vorhänge! So viel hatte Berg bei seinem Wozzeck nicht. Siehst du, ich hab‘ dir doch versprochen, dass ich mit meiner Musik für uns Geld verdienen kann. …Ob ich jetzt ein Enfant terrible der neuen Musik bin, Linnnerl?«

Erst da bemerkte er, dass Lotte, zusammengerollt auf ihrem Platz schon tief und fest schlief. Ihm war nicht nach Schlaf zumute. Das Adrenalin des Abends pulsierte immer noch in seinen Adern. Neue Ideen entsponnen sich in seinem Kopf, während die Landschaft in der aufgehenden Sonne an ihm vorüberzog.

BADEN-BADEN 1927

Das Radio stand bereit. Die Sendefrequenz war eingestellt. Kurt sollte heute Abend für die Programmzeitschrift des Deutschen Rundfunks eine Kritik über Bertolt Brechts Hörspiel Mann ist Mann schreiben. Es durfte ihm nicht noch einmal passieren, dass er über etwas schrieb, das er gar nicht angehört hatte.

Letzte Woche kritisierte er, da er stattdessen mit Lotte in Fritz Langs Metropolis gegangen war, einfach irgendetwas zur angekündigten Sendung. Leider gab es, ohne das er es wusste, eine kurzfristige Programmänderung, so dass er über etwas geschrieben hatte, was gar nicht gesendet worden war. Postwendend wurde zum Chef zitiert, um sich anzuhören, was ihm einfalle Fantasiekritiken zu schreiben. Beim nächsten Mal flöge er hochkant.

Nun saß er Pfeife rauchend mit Lotte brav vor dem Rundfunkempfänger und beide lauschten dem Schauspiel.

»Dies war ein Sendespiel von der Bühne des Vox Hauses Berlin. Vielen Dank für Ihr Zuhören. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Nachtruhe«, beendete der sanfte Klang des Ansagesprechers die Übertragung. Kurt schaltete das Radio aus und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale.

»Linnerl, das war das Beeindruckendste, was ich bisher gehört habe. Es war so packend. …Ich muss das alles erstmal wirken lassen, bevor ich was dazu schreibe. Wie hast du es empfunden?«

»Die kurzen Sätze und direkten Aussagen machen es extrem spannend. Mir fehlte die Optik einer Bühne überhaupt nicht und doch bin ich erstaunt, dass es hier in Berlin noch in keinem Theater aufgeführt wurde. Ich glaube, Brecht ist ein Mann mit einem zielsicheren Gespür fürs Richtige. Ein Erneuerer.«

»Ja, es ist ein Kunstwerk für den Rundfunk geworden. Er hat mit kühnem Griff das Schauspiel in ein Hörspiel verwandelt. All die Geräusche und sonstigen akustischen Untermalungen, die er eingebaut hat, um das Stück auch ohne die visuellen Eindrücke spannend zu halten. Ich glaube, er hat so wie ich erkannt, dass das Radio ein großes, neues Medium ist, um Werke zu verbreiten. Man kann damit viel mehr Menschen erreichen als im Theater. Ich würde mich unheimlich gern mal mit ihm treffen.«

»Kurti, dann lass uns doch nächste Woche mal zu Max Schlichter in sein Stammlokal gehen. Da sitzt er wohl die meiste Zeit mit Leuten aus der Novembergruppe zusammen und sie diskutieren sich die Köpfe heiß, hab´ ich gehört.«

»Primi, meine Kleene. Gut, dass du immer so umtriebig bist und weißt, wo was los ist, während ich hier meinem Einsiedlerdasein verfalle. So, und schon wieder muss ich mich in Klausur begeben, um zu schreiben. Der Nachtbriefkasten wird gegen Zwei geleert. Bis dahin muss ich fertig sein, damit der Text morgen früh in der Redaktion ist. Ich wünsch dir eine gute Nacht, mein Träubi.« Er gab ihr einen Kuss und ging in sein Arbeitszimmer.

Lotte nahm sich hingegen das Textbuch, das sie gerade studierte als Lektüre mit ins Schlafzimmer.

Als Kurt spät in der Nacht ins Bett gekrochen kam, war sie darüber eingeschlafen. Vorsichtig zog er ihr das Büchlein aus den Händen, legte es beiseite und knipste das Licht aus.

Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte: die ersten Strahlen der aufgehenden Frühlingssonne oder das Klingeln des Telefons. Jedenfalls schlüpfte er in seine Pantoffeln, zog sich den Morgenmantel an und eilte zum Telefon.

»Weill am Apparat«, meldete er sich mit müder Stimme.

»Guten Morgen, hier Hindemith, Paul. Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber ich habe ein dringendes Anliegen. Ich habe gestern Abend an etwas Neuem für die Deutsche Kammermusik in Baden-Baden gearbeitet. Und ich hatte die Idee, diesmal ein Programm mit Kammeropern von verschiedenen Komponisten zu machen«, kam es im breitesten Hessisch aus dem Hörer. »Drei bis vier sollen zur Aufführung kommen. Kleine Besetzung im Orchester und maximal fünf Sänger. Ich wollte Sie spontan fragen, ob Sie mit dabei sind. Ich werde natürlich auch etwas dazu beitragen. Hätten Sie Interesse und könnten Sie in der doch recht kurzen Zeit etwas komponieren? Ich weiß, es ist sehr kurzfristig. Ich muss das Programm aber bis Ende des Monats fixieren und einreichen.«

Als Kurt nicht sofort antwortete, war eine lebhaft, aufgeregte Stimme aus dem Telefon zu vernehmen.

»Hallo, Fräulein haben Sie mich aus der Leitung geschmissen? Sind Sie noch dran Herr Weill?«

»Ja…Oh, da ließe sich sicher was finden«, antwortete Kurt langsam und noch ganz verschlafen. »Aber lassen sie uns doch nach dem Wochenende ein Treffen vereinbaren. Meine Frau und ich fahren heute aufs Land. Ich werde über alles nachdenken und kann ihnen dann eine konkrete Antwort geben. Ach, und herzlichen Glückwunsch zu ihrer Berufung an die Hochschule. Es hat mich sehr gefreut, als ich es hörte. Da haben sie endlich mal den Richtigen installiert.«

»Danke sehr, und gut, dann melde ich mich Anfang nächster Woche bei Ihnen. Und entschuldigen Sie nochmal die frühe Störung, aber ich wollte es unbedingt loswerden und würde mich sehr über Ihre Mitarbeit freuen.«

Kurt legte den Hörer auf die Gabel und setzte sich auf den kleinen Hocker neben dem Telefon. Er musste erst einmal seine Gedanken ordnen.

Könnte das Mahagonny Projekt nun plötzlich in eine ganz andere Richtung gehen? Oder sollte er lieber gleich etwas Neues schreiben? König Lear zu vertonen, den er vor kurzem gelesen hatte, würde ihm gut gefallen. Doch hatte er im Augenblick überhaupt Zeit für eine weitere Komposition?

Heute Nachmittag wollte er erst einmal mit Lotte nach Grünheide. Die zweite Oper mit dem Kaiser hatte für ihn oberste Priorität. Nach ihrem Erfolg in Dresden wollten beide gleich noch einen nachlegen. So waren die Wochenenden bei Mami und Papi zu einer liebgewonnenen Gewohnheit der Entspannung und Arbeit geworden.

Nein, eigentlich passt es mir gar nicht in den Kram! Aber vielleicht ließen sich die Gesänge, die er für Brecht gleich nach ihrem ersten Treffen vertont hatte, für Hindemith verwenden, schoss es ihm dann durch den Kopf. Er müsste nicht allzu viel Neues schreiben, sondern nur eine Orchesterpartitur aus den vorhandenen Liedern herstellen. Bevor er also ein Treffen mit Hindemith vereinbarte, müsste er dringend mit Brecht reden, ob er dabei wäre und eine verbindende Handlung liefert. Gestern hatten sie ja eh darüber gesprochen, dass sie so bald als möglich eine Oper konzipieren möchten. Oder doch ein anderes Stück bearbeiten?

In seinem Kopf schwirrten noch allerlei Szenarien, als er zurück ins Schlafzimmer ging. Er küsste die noch schlafende Lotte zärtlich auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Blümchen! Ich muss mich beeilen. Ich habe eventuell einen neuen Kompositionsauftrag und gehe jetzt zu Brecht, um mit ihm einiges zu besprechen. Der wird Augen machen, wenn er sieht, was für ein gefragter Mann ich bin. Im Grunde ist es mir ein bisschen zu viel, was dann an Arbeit auf mich wartet und ich bin mit Papi gerade in einer so tollen Phase unseres Werkes, dass es mich eigentlich nur stört. Aber Aufträge ablehnen wäre momentan ein fataler Fehler, nicht wahr mein Blümchen?! Und ich habe schon ein paar Ideen, wie ich ohne viel Aufwand etwas fürs Festival liefern könnte. Die muss ich Brecht nur gut als seine eigenen verkaufen. Aber Diplomatie ist ja meine Stärke, wie du weißt. Schlaf nur ruhig aus. Bis später! Wir treffen uns dann am Bahnhof.«

»Ja, alles bestens, Buster«, gab eine ganz verschlafene Stimme zur Antwort. Lotte sah ihrem Mann mit halb geschlossenen Augen beim Anziehen zu und schlief schon wieder, als er die Wohnung verließ.

Eine dunkle und irgendwie kindliche Stimme mit leichtem Tremolo, aber intonationsrein, erfüllte den Raum. Kurt saß am Flügel und sah seine Frau liebevoll an.

»Ich spiel dir noch einmal die Melodie vor. Dann hast du es gleich.«

»Aber ist es nicht einfacher, wenn du mir das Notenlesen beibringst? Dann brauchst du dich mit mir nicht so abmühen.«

»Nein, Tüti, das ist mir doch keine Mühe, sondern reine Freude, für dich was zu schreiben und anschließend mit dir einzustudieren! Du bist wunderbar musikalisch. Schau, ich spiel es dir vor und du kannst es gleich nachsingen. Das Notenlesen würde dich nur hemmen. So kannst du dich voll und ganz auf die Diktion konzentrieren. Weißt du, in Whisky Bar schwingt bei dir gleich die ganze Atmosphäre mit.«

»Ok, let`s do it.« Sie liebte es, ihre paar Brocken Englisch zu benutzen und stellte sich hinter Kurt, um den Text vom Notenblatt lesen zu können. Dabei legte sie die Hand auf seine Schulter. Als sie geendet hatten, sagte er ruhig: »Das ist es! Ich hatte schon immer geahnt, dass du singen kannst. Du brauchst bloß die richtigen Stücke. Und die werde ich dir schreiben.«

Zärtlich hauchte sie ihm einen Kuss auf seine licht werdende Stirn.

»Ich versteh dich langsam immer mehr. Zusammen Musik zu machen, kann etwas sehr Sinnliches sein. Ja, das gefällt mir!« Mit ihrem breiten Lächeln strahlte sie ihn an.

»Und morgen können wir es Brecht vorführen. Ich möchte unbedingt, dass du in der Besetzung für Baden-Baden dabei bist. Mal sehen, wie er das findet. Vielleicht will er, dass ich auch für eine seiner Weiber schreibe!? Aber die anderen Partien werde ich in jedem Fall für Opernsänger konzipieren. Soll ja schließlich eine Kammeroper und kein Schauspiel werden«, sagte er verschmitzt. Lotte liebte ihn für diese raffinierte Art, sich für sie stark zu machen.

»Oh mein Gott, ich muss ins Theater!«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Begleitest du mich?«

»Es ist mir eine Ehre, Frau Weill, heute Abend Ihr Flaschenträger zu sein.« Dabei holte er die letzte Bouteille französischen Rotweins aus dem Schrank.

Am Bühneneingang überreichte er ihr die Flasche feierlich: »Der Ehrenpreis des heutigen Abends geht bereits vorab an eine großartige Schauspielerin, die dank ihres kongenialen Gatten bald auch als Sängerin Ruhm erlangen wird. Und immer schön anständig bleiben, Frau Weill.«