Komponistinnen - Aliette de Laleu - E-Book

Komponistinnen E-Book

Aliette de Laleu

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In der Geschichte der klassischen Musik spielen Frauen noch immer kaum eine Rolle – dabei gab es bereits in der Antike die ersten Komponistinnen. Aliette de Laleu erzählt in eindringlichen Porträts ihre Geschichten und bringt uns das Schaffen so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie Sappho, Hildegard von Bingen, Clara Schumann, Ethel Smyth oder Kaija Saariaho nahe. Und sie erklärt, warum Komponistinnen oft die ihnen zustehende Anerkennung versagt blieb.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 272

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aliette de Laleu

Komponistinnen

Frauen, Töne & Meisterwerke

Aus dem Französischen übersetzt von Petra Willim

Reclam

Titel der französischen Originalausgabe: Mozart était une femme

Editions Stock, Paris

 

 

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

© Editions Stock, 2022

 

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: Tanja Kischel

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962336-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011470-4

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Noch mehr Musik

1 Namen und Gesichter

Sappho – Muse oder Hure

Kassia, die Rebellin aus Konstantinopel

Hildegard von Bingen, ein historischer Star unter den Komponistinnen

Trobairitz: eine französische Ausnahmeerscheinung

Playlist 1

2 Die Stars des Barock

Die Waisenmädchen von Venedig

Gerüchte, Opern und eine rebellische Nonne

Die Kunst der La Guerre

Im Schatten von Bach: seine Frau

Playlist 2

3 Die Revolutionärinnen der Klassik

Die Französinnen beim Sturm auf die Oper

Ende der Kastraten, Debüt der Divas

Hélène de Montgeroult – eine revolutionäre Pianistin

War Mozart eine Frau?

Playlist 3

4 Die romantischen Kriegerinnen

Die geopferten Musen

Ach, wäre ich ein Mann …

Wie die Frauen in der Oper sterben

Frauen an die Trompete? Frauen an die Trompete!

Playlist 4

5 Die selbstbewussten Modernen

Die Schwestern Boulanger

Legendäre Musikerinnen und tragische Schicksale

An den Taktstock, Französinnen!

Ein langer Weg für schwarze Sängerinnen

Playlist 5

6 Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts

Musikerinnen erobern Orchester

Der Rückgang weiblichen Kunstschaffens

Wer hat die Frauen aus der Musikgeschichte gelöscht?

Playlist 6

Fazit

Anmerkungen der Übersetzerin

Quellen

Literaturverzeichnis

Allgemeine Werke

1 Namen und Gesichter

2 Die Stars des Barock

3 Die Revolutionärinnen der Klassik

4 Die romantischen Kriegerinnen

5 Die selbstbewussten Modernen

6 Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts

Danksagung

Einleitung

Nein, Mozart war keine Frau. Aber dieser Komponist verkörpert wie kaum ein anderer die Vorstellung von der klassischen Musik: ein weißer Mann mit Perücke vor seinem Cembalo, ein Wunderkind, ein etwas verrücktes Genie, ein Schöpfer zeitloser Werke … Und doch lebte eine Frau in seinem Schatten: Maria Anna Mozart. Obwohl ebenso brillant wie ihr Bruder, wurde sie aus der Musikwelt ausgeschlossen, damit sie sich ihren ehelichen Pflichten widmen konnte. Niemand hat ihren Namen im Gedächtnis behalten. Selbst in Miloš Formans Amadeus (1984), einem Film, der das Leben des Komponisten der Zauberflöte nachzeichnet, kommt die Schwester Mozarts nicht vor. Der Wunderknabe spielt dort allein auf seinem Klavier, während in der geschichtlichen Wirklichkeit Maria Anna Mozart stets an seiner Seite war. Sie wurde ebenso wie er für ihre musikalische Begabung gerühmt, bevor sie von der Bühne wie auch – zum Schweigen gesellt sich das Vergessen – aus Büchern, Filmen und der Geschichte verschwand.

Mozart war eben auch eine Frau. Genauso wie Schumann, Mendelssohn, Mahler oder Bach, obgleich uns bei diesen Namen als Erstes Männer einfallen. Und wenn man darüber nachdenkt, so bietet uns das Universum der klassischen Musik insgesamt ein sehr maskulines Bild. Männer komponieren Meisterwerke, diese werden auf CDs zusammengestellt und nehmen in der Programmplanung von Festivals und Konzerten den allergrößten Raum ein. Männer sind die Verfasser der zehn weltweit meistgespielten Opern. Ein Mann steht, den Taktstock in der Hand, vor dem Orchester. Männliche Experten sprechen über klassische Musik, entschlüsseln, analysieren und kritisieren sie. Welche Erzählung gibt man also weiter, wenn man von klassischer Musik spricht? Eine der Männer.

Dabei könnte man es belassen und sich sagen, dass die klassische Musik immer schon von Männern erdacht und erschaffen wurde und dass dieser Themenbereich ihnen gehört. Sicher, es ist beruhigend, immer die gleichen Geschichten zu hören, wie ein Kind, dem man sein Lieblingswiegenlied allabendlich singt. Man zieht es vor, sich an das zu klammern, was man kennt. Aber sich ins Unbekannte vorzuwagen bietet einen sehr viel reicheren Genuss der klassischen Musik. Es ist an der Zeit, unsere Vorstellungen von Grund auf umzustoßen, da sie über Jahrzehnte verhinderten, dass eine andere Erzählung zum Vorschein kommen konnte – die der Frauen.

Dieses Buch geht das Wagnis ein, diese Geschichte zu erzählen. Nicht um die der Männer zu schmälern, sondern um der anderen Seite zur Existenz zu verhelfen, um eine Form der Ausgewogenheit herzustellen und all jenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die es verdient haben, gekannt und anerkannt zu werden. Warum sich mit der x-ten Biographie Beethovens begnügen, wenn man das Schicksal all dieser außergewöhnlichen Persönlichkeiten entdecken kann? Zu jeder Zeit und in jedem Land gab es wagemutige und zaghafte Frauen, Frauen voller Kampfgeist, weibliche Glückskinder, weibliche Strafgefangene, Marquisen, Ehefrauen, Schwestern, Nonnen, Divas, Waisenmädchen, Fromme oder Femmes fatales, die einen Platz in der klassischen Musik eingenommen haben. Manche haben Neuerungen eingeführt wie etwa Élisabeth Jacquet de La Guerre am Cembalo, andere haben, wie Pauline Viardot, Freiräume kreiert, um die Musik lebendig zu halten – wir werden ihnen im Verlauf dieses Buches wiederbegegnen. Sie alle haben dazu beigetragen, die klassische Musik zu dem zu machen, was sie heute ist.

Wie viele haben wie Maria Anna Mozart ihre Begabung oder ihr künstlerisches Schaffen nicht entwickeln können, weil sie Frauen waren? Wie viele wurden aus der Musikwelt ausgeschlossen? Und wie vielen ist es gelungen, sich trotz aller Hindernisse einen Weg zu bahnen, um schließlich doch in Vergessenheit zu geraten? Dieses Buch hat nicht den Anspruch, alle zu erfassen (für einen erschöpfenden Bericht bedürfte es sehr viel mehr als dieser wenigen Seiten); aber es soll daran erinnern, dass in jeder Epoche, von der Antike bis in die Jetztzeit, während des Barock, der Klassik, der Romantik und der Moderne, Frauen stets da waren – und keineswegs nur als Musen. Das ist in der Tat das Bild, das man bis heute präsentiert: Die Frauen, denen in der Geschichte der klassischen Musik die Ehre zuteilwird, zitiert zu werden, dienen einem männlichen Genie als Quellen der Inspiration.

Wenn man die Ehefrauen und Schwestern der großen Komponisten betrachtet, scheint das gar nicht so falsch zu sein: Clara Schumann, Fanny Mendelssohn, Alma Mahler … ihre Namen sind dem breiten Publikum allmählich bekannt. Allerdings sind ihre Schicksale nicht repräsentativ für die Geschichte der weiblichen Kunstschaffenden. Manche haben sich aus der Vormundschaft der Männer befreit wie die britische Komponistin Ethel Smyth. Andere haben, obgleich verheiratet oder Mütter, es geschafft, das Komponieren zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen, wie die Französin Louise Farrenc. Ganz zu schweigen von all jenen, die sich der Musik in ihrem jeweiligen Beruf gewidmet haben. Denn dieses Buch befasst sich auch mit Sängerinnen und Instrumentalistinnen, Mentorinnen und Pädagoginnen, Kopistinnen, Professorinnen, Ensemble-Gründerinnen und Dirigentinnen.

 

Die Musikszene leidet unter Vorurteilen, die manches Mal übertrieben kritisiert werden; häufig aber trifft der Vorwurf der weißen, einer Handvoll privilegierter Personen vorbehaltenen Männerwelt zu. Es handelt sich um eine traditionelle, konservative Welt, in der Frauen lange Zeit unter Ausgrenzung litten. Beispielsweise verbot ihnen im 17. Jahrhundert in Italien die Kirche, auf der Bühne zu singen, was der Auftakt für eine berühmt gewordene, traurige Verstümmelung war: die der Kastraten. Zwei Jahrhunderte später passten bestimmte Musikinstrumente nicht mehr zum weiblichen Geschlecht, weil man sie für unzüchtig hielt. Das war das Aus für das Violoncello, das man zwischen den gespreizten Beinen hält, wie auch das Aus für alle Blasinstrumente, die man in den Mund nimmt. Man denke zudem an den Ausschluss von Frauen aus Orchestern, der in bestimmten Fällen bis in die 1980er Jahre hinein üblich war – aus moralischen und ästhetischen Gründen, aber auch, sagen wir es offen, damit die Männer unter sich bleiben konnten.

Trotz all dieser Verbote haben Frauen als Künstlerinnen existiert. Manchmal mussten sie besondere Strategien anwenden wie jene Komponistinnen, die auf männliche Pseudonyme zurückgriffen, damit ihre Werke gehört werden konnten. Oder wie jene, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausschließlich mit Frauen besetzte und von Frauen dirigierte Musikensembles gründeten – ein Ansporn für künftige Generationen von Dirigentinnen. Instrumentalistinnen ihrerseits umgingen die üblichen Formen, die verbotenen Instrumente zu spielen, indem sie sie anders hielten und etwa das Violoncello oder die Harfe seitlich statt zwischen den Beinen platzierten. Die Geschichte dieser Heroinnen zu erzählen bedeutet, die Fortentwicklung der klassischen Musik zu erzählen. Wenn beispielsweise das Schicksal der Komponistin Hélène de Montgeroult – der ersten Frau, die im 18. Jahrhundert im Konservatorium von Paris zur Professorin für eine männliche Klavierklasse ernannt wurde – und das der Clara Haskil, einer Klaviervirtuosin zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aufeinandertreffen, so kann man daran erkennen, welche Rolle das Klavier in der Geschichte der Frauen spielte. Das betrifft nicht nur die großen Solistinnen, deren Interpretationen von den bedeutendsten Plattenfirmen aufgenommen wurden, die aber trotz ihres Einflusses in Vergessenheit geraten sind, sondern auch einfache Klavieramateurinnen in den bürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts.

Indem man untersucht, wie sich die Stellung der Frau im Zuge der Jahrhunderte entwickelt, begreift man, welchen Höhen, Tiefen, Fort- und Rückschritten diese Geschichte unterworfen ist. In der Musikgeschichte schlägt sich diese Achterbahnfahrt darin nieder, dass einige Pionierinnen in Vergessenheit gerieten – was sich auf die Pianistin und romantische Komponistin Clara Schumann auswirkte, die kurz vor ihrer Ehe in ihr Tagebuch schrieb: »Ich glaubte einmal das Talent des Schaffens zu besitzen, doch von dieser Idee bin ich zurückgekommen, ein Frauenzimmer muß nicht componiren wollen – es konnte noch Keine, sollte ich dazu bestimmt sein?«1

Nun existierten Komponistinnen aber schon seit mehreren Jahrhunderten, manche wurden gar für ihre Arbeit entlohnt, und das seit dem 17. Jahrhundert. Barbara Strozzi, 1619 in Venedig geboren, demnach zwei Jahrhunderte vor Clara Schumann, konnte von ihrer musikalischen Tätigkeit leben, obwohl sie zugleich unverheiratete Mutter von vier Kindern war. Die Musikgeschichte der Frauen kennt tatsächlich einige goldene Zeitalter für Künstlerinnen, etwa das barocke Italien, aber auch das Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, inmitten der Revolution. Komponistinnen machten sich damals die Welt der Oper zu eigen und bemühten sich um Librettistinnen; dies ist die Geburtsstunde einer sehr weiblichen Opernszene mit mehr als 50 von Frauen komponierten Opern innerhalb eines halben Jahrhunderts – Zahlen, die die öffentlichen Spielpläne heutiger großer Opernhäuser blamieren.

Aber dieser Bewegung ging rasch die Luft aus, besonders in der napoleonischen Ära mit ihren Gesetzbüchern, die die Frauen wieder auf »ihren Platz« verwiesen: ins Haus und zu den Kindern. Der Impuls zur Feminisierung der Musik zeigt sich dann erneut ein Jahrhundert später, zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Komponistinnen treten aus dem Schatten hervor – Lili Boulanger ist die erste Frau, die den Grand Prix de Rome, eine renommierte Auszeichnung auf dem Gebiet der Komposition, erhält –, und einige der Notenschriftklassen in den Musikhochschulen nehmen fast so viele Frauen wie Männer auf. Nach den beiden Weltkriegen verblasst das Phänomen wieder. Man muss die Länder wieder bevölkern, Traumata aufarbeiten und sich auf das konzentrieren, was damals wichtig schien: die Familie, die Fürsorge. Die Frauen werden erneut in die häusliche Sphäre verbannt. In der Musik schlägt sich das im Aus für die Frauenorchester nieder, die zuvor überall in der Welt gediehen, und im Ausschluss der Frauen aus den musikalischen Ensembles, damit sie den Männern nicht den Platz wegnehmen. Auch bei den Kompositionsanwärterinnen gehen die Zahlen zurück, aufgrund fehlender Vorbilder und Perspektiven, aber auch, weil sie es schwerhaben, in dieses männliche, konservative und von seiner Überlegenheit überzeugte Milieu aufgenommen zu werden. Im Zuge dieses enormen Rückschritts wird auch die Geschichte der Pionierinnen vergangener Jahrhunderte ausgeblendet – sie werden in den Musiklexika vergessen, man bagatellisiert die Bedeutung ihrer Werke und beschränkt sich darauf, männliche Genies zu feiern.

Bevor diese Einleitung endet, ist es wichtig, sich Gedanken über den Begriff des Genies zu machen. Das Wort fiel schon ein paar Mal. Aber wer entscheidet darüber, wer genial ist? Wer hat Bach, Beethoven und Mozart zu Genies ernannt? Ein Werk kommt nicht als Meisterwerk auf die Welt, es wird dazu. Ein Genie kommt nicht als Genie auf die Welt, es wird dazu. Manchmal reicht es, etwas ans Licht zu bringen, wie es etwa Pablo Casals zu Beginn des 20. Jahrhunderts tat, als er Bachs Suiten für Violoncello aus dem Schatten heraustreten ließ und daraus das machte, was man heute ein Meisterwerk nennt. Dass die Dirigentin Debora Waldman kürzlich die Symphonie der Charlotte Sohy entdeckte, belegt, welche Rolle Künstlerinnen heute spielen, und wirft Fragen zum Geniebegriff auf: Wie viele Werke warten noch darauf, von einem genialen Musiker oder einer genialen Dirigentin wieder zu neuem Leben erweckt zu werden? In der Zwischenzeit sollte man auf die wertvolle Arbeit der Forschenden hoffen, die die Archive durchstöbern, Namen wiederentdecken und diese andere Geschichte der klassischen Musik erzählen – die der Frauen.

Ohne all diese minutiöse Arbeit könnte ein solches Buch nicht existieren. Ohne all diese aufopferungsvollen Geister, die Jahre damit verbracht haben, den Spuren nachzugehen, die Musikerinnen und Komponistinnen seit Jahrhunderten hinterlassen haben, wären die Programmplanungen von heute vollständig männlich geblieben. Ohne diese Forschungen wäre die Musik sehr viel ärmer. Was kann es Aufregenderes und Bewegenderes geben, als ein Lied anzuhören, das von einer griechischen Dichterin in der Antike komponiert wurde? Denn hinter den Namen und Geschichten, hinter der Geschlechterproblematik steht die Musik, um die es diesem Buch geht und die der Ansporn dafür ist. Lange Zeit wurde sie uns zu Unrecht vorenthalten, und zwar aufgrund von Ungerechtigkeiten oder einer langen Reihe von Irrtümern, die es nun endlich zu korrigieren gilt. Dieses Buch leistet einen kleinen Beitrag zu der unermesslichen Aufgabe, die Frauen in der Musik zu rehabilitieren, in der Hoffnung, dass eines Tages diese Frauen nicht mehr vergessen oder ausradiert sein werden, sondern als Wunderkinder, Genies und Schöpferinnen von zeitlosen Meisterwerken gelten.

Noch mehr Musik

Am Ende eines jeden Kapitels begleitet eine Liste mit Musikvorschlägen Ihre Lektüre. Diese Playlist ermöglicht es, den Musikerinnen, denen Sie auf den folgenden Seiten begegnen werden, so nah wie möglich zu kommen; zugleich ist sie eine sehr konkrete Form, dieses lange ausgelöschte weibliche Erbe lebendig werden zu lassen. Von der antiken Musik bis zum 20. Jahrhundert, quer durch die Epochen des Barock, der Klassik und der Romantik, können Sie mit diesen Vorschlägen die Entwicklung der musikalischen Genres akustisch nachvollziehen. Meine Auswahl nimmt natürlich Werke von Komponistinnen in den Blick, aber auch von großen Interpretinnen, Instrumentalistinnen oder Sängerinnen, die gewürdigt werden sollen, sowie sogar von einigen Komponisten!

 

Viel Spaß beim Lesen und Hören.

1 Namen und Gesichter

Wie soll man den ersten Musikerinnen der Geschichte einen Namen und ein Gesicht geben? Gab es denn Pionierinnen? Wie kann man die Stimme oder das Spiel einer Künstlerin beurteilen, wenn uns nur einige dürftige Spuren ihres Werks überliefert wurden? Warum ist es so schwierig, die Namen von Komponistinnen zu benennen und ihre Musik zu hören? Dieses Buch zeigt, in welchem Ausmaß Frauen im Verborgenen blieben oder gar aus der Erinnerung gelöscht wurden. Aber dieses große Verschweigen kennt Ausnahmen, Erzählungen, die beweisen, dass es solche Frauen doch gab, von Anfang an. Einige Namen haben tatsächlich Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende überdauert, um bis zu uns zu gelangen. Und ist das nicht das, worum es geht – einen Fußabdruck in der Geschichte zu hinterlassen? Als Einstieg in dieses Buch begegnen wir zwei außergewöhnlichen Frauen der Antike.

Sappho – Muse oder Hure

Muss man daran erinnern, dass Musik aus dem Griechischen stammt und sich aus dem Wort Muse herleitet? Warum also nicht mit jener beginnen, die der Philosoph Platon die »zehnte Muse« nannte, der Dichterin und Musikerin Sappho? Sie stammte aus einer aristokratischen Familie und wurde in der Stadt Mytilene auf der Insel Lesbos geboren, ca. 600 Jahre vor Christus, in einer Epoche, in der die Musik untrennbar mit der Dichtkunst verwoben war. Die vorgetragenen Texte werden von der Flöte, der Lyra oder dem Klang von Schlaginstrumenten musikalisch begleitet. Musik erklingt überall in der Stadt: zu Ehren der Götter und Göttinnen, für die Reichen wie für das Volk. In der griechischen Tragödie untermalt ein Chor von Männern die Handlung und verleiht dem Stück Rhythmus. Die Kinder erhalten in Musik ebenso Unterricht wie in anderen Disziplinen: der Körperertüchtigung, dem Tanz oder der Schauspielkunst. Vor allem aber wird Musik als eine höhere Kunst angesehen. Die Dichter erzählen von der Schöpfung der Welt. Mit Musik und Gedichten betet man die Gottheiten an. Wir haben es hier mit einer göttlichen Kunst zu tun. Sappho ist nicht einfach eine Künstlerin, sie ist Dichterin und Musikerin – ein Status, mit dem sie zu den am meisten geachteten Personen in der antiken Gesellschaft zählt.

Heute liegen uns nur einige wenige Texte von ihr vor, ohne musikalische Begleitung – von den ursprünglich neun Büchern kennen wir lediglich einige poetische Fragmente sowie zwei vollständige Gedichte, wovon eines, die »Hymne [oder Ode] an Aphrodite«, berühmt geworden ist. Unter den zahlreichen Übersetzungen, die vorgenommen wurden, sticht die von Renée Vivien hervor, einer auf Französisch dichtenden Britin, die die Kunst ihrer griechischen Kollegin brillant überträgt. Renée Viviens Übersetzung wahrt die sapphische Strophe – drei elfsilbige Verse (Hendekasyllabus), gefolgt von einem (fünfsilbigen) adonischen Vers. Die Autorin mit dem Beinamen »Sappho 1900« ging so weit, dass sie sich ein Haus in Mytilene bauen ließ, am Geburtsort ihrer Lieblingsdichterin.

Die Bewunderung der Literatin für Sappho beleuchtet zugleich noch einen weiteren Aspekt: den Lesbianismus. Nicht zufällig stammt das Wort von Lesbos ab, der Geburtsinsel Sapphos. Renée Vivien bekannte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu ihrer Liebe zu Frauen und lenkte den Blick ihrer Zeitgenossinnen auf die einzigartigen Texte Sapphos, die vom Begehren sprechen. Im antiken Griechenland nahm die Homosexualität einen besonderen Platz ein. Der Terminus existierte noch nicht, man sprach eher von Päderastie: Gemeint war eine Einführung männlicher Jugendlicher durch erwachsene Männer in die Erziehung und die Moral, eine Initiation, die manchmal durch Sexualität erfolgte. Bei den Frauen existierten in entsprechenden Schulen ebenfalls Beziehungen zwischen jungen Mädchen und älteren Frauen, aber die sexuelle Komponente ist weniger augenfällig.

In Sapphos Texten verschwimmen die Geschlechter – in Äußerungen, die dem Männlichen oder dem Weiblichen zugeordnet werden können, sowie beim Beschwören leidenschaftlicher Gefühle: Dazu zählen Begehren, Mangel, Leid oder auch philia, jene Beziehung, die zwischen tiefer Freundschaft und Liebe anzusiedeln ist. Vor allem spricht die Dichterin in der ersten Person Singular. Ihre Texte arbeiten mit dem »Ich«: Ich sehe dich, ich flehe, ich fühle, ich werde, ich begehre … Nun waren diese Gedichte aber nicht für ein intimes Tagebuch bestimmt. Sie wurden deklamiert, gelesen und von den jungen Schülerinnen der Dichterin einstudiert.

Die Schule, die Sappho leitete, ein thiasos, wird auch als »Haus der Musen« bezeichnet. Man erlernte dort Musik, Tanz, Gesang und darstellende Kunst … Zu welchem Zweck? Hier gehen die Meinungen der Forschung auseinander: Entweder werden die jungen Mädchen dazu erzogen, zukünftig vorbildliche Ehefrauen zu sein, oder hinter der Suche nach der Schönheit des Körpers und des Geistes steckt die Idee, diese zukünftigen Frauen unabhängiger zu machen. In der griechischen Tradition wird ein thiasos gegründet, um einen Gott zu verehren, und im Fall von Sappho ist der Gott eine Göttin: Aphrodite. Man feiert sie, indem man Sapphos Texte singt, von Musik begleitet, etwa einer Lyra, einem Barbiton (einer Art von Lyra, aber schwerer) oder einem Pektis, einer kleinen Harfe, die man auf dem Oberschenkel hält; es gibt so viele Instrumente, die man in den Schriften der Dichterin findet. Die Elevinnen haben, da sie selbst Musikerinnen und Tänzerinnen sind, die Möglichkeit, sich die Worte Sapphos anzueignen, indem sie ebenfalls von ihren Begierden singen und »ich« sagen. Man stelle sich vor, wie sie jenen leidenschaftlichen Text, Ode an eine geliebte Frau, zu einer Melodie modulieren:

Es scheint mir jener gleich den Göttern

zu sein, der Mann, der gegenüber dir

sitzt und aus direkter Nähe, wie du süß die Stimme ertönen lässt, dir zuhört,

und wie du begehrenswert lachst: Das hat mir ja

das Herz in der Brust zusammenzucken lassen.

Denn sobald ich auf dich blicke, nur kurz, bringe ich unmöglich noch einen Ton hervor,

sondern die Zunge ist gebrochen, ein leichtes

Feuer augenblicklich läuft unter der Haut,

mit den Augen sehe ich rein gar nichts, es sausen die Ohren,

hinab läuft der Schweiß, ein Zittern

packt mich am ganzen Leib, grüner als Gras

bin ich, und fast schon tot erscheine ich mir selbst.

Aber alles kann man ertragen, da auch einen Armen …2

Mit der Künstlerin geht eine große Theoretikerin einher. Der Philosoph Plutarch bezeichnet Sappho in seiner Abhandlung Über die Musik als diejenige, die den mixolydischen Modus erfunden habe. In der Antike wird die Musik nach Modi komponiert, die sich je nach dem unterscheiden, was heraufbeschworen werden soll: Klage, Rausch, Freude, Stärke oder Mut … Jeder Modus folgt einer formgerechten Tonleiter, d. h. einer Abfolge von Noten, die in einer bestimmten Art und Weise gespielt werden. Es gibt einen dorischen, einen phrygischen, einen hypodorischen, einen lydischen Modus etc. Der von Sappho entwickelte mixolydische Modus bringt eher Trauer, Pathos oder Klage zum Ausdruck.

Sappho taucht also in den Schriften zahlreicher Philosophen und Autoren auf, sie zählt zu den angesehensten Künstlerpersönlichkeiten der Antike: Mehr als hundertmal werden ihr Name oder ihr Werk erwähnt. Ihr Ruf überdauert, aber nicht immer erscheint er in sehr schmeichelhaftem Licht. Einige Jahrhunderte nach ihrem Tod versetzt die Freizügigkeit ihrer Texte, die die Liebe, das Begehren und die Leidenschaft heraufbeschwören, zumal jene einer Frau mit Blick auf andere Frauen, das Patriarchat sowie die Kirche in Angst und Schrecken. Der Dichter Ovid nennt sie in seiner ars armatoria (Liebeskunst) eine »obszöne« Frau.

Was also macht man, um die Erinnerung an eine begabte, allerdings vermeintlich unsittliche Künstlerin aufrechtzuerhalten? Man erschafft Mythen rund um ihre Person, indem man sie aufspaltet, in zwei Hälften teilt. Sappho sei verheiratet und Mutter gewesen, habe aber auch Liebhaber und Liebhaberinnen gehabt. Man dichtet ihr sogar eine – unerwiderte – Liebe auf den ersten Blick zu Phaon an, einem für seine große Schönheit berühmten Mann; diese unmögliche Liebe habe die Dichterin dazu getrieben, sich von einem hohen Felsen zu stürzen. Alle Informationen über Sappho sind zwiespältig; sie erschaffen auf der einen Seite das Bild einer gefeierten Dichterin, die ein wohlgeordnetes Familienleben führt, und auf der anderen Seite das einer dämonischen Prostituierten. Diese Unterscheidung zwischen der Künstlerin und der Hure ermöglicht es, die unsittlichen Gedichte, um derentwillen man Sappho anprangert, zu erhalten.

Aber nicht alles wird bewahrt. Im Mittelalter werden zahlreiche von der Poetin verfasste Gedichte zerstört. Heutzutage zeigen die wenigen erhaltenen Texte den Kunstschaffenden einige der schönsten Seiten der antiken Dichtkunst und inspirieren Musikensembles, die jene Musik zu rekonstruieren suchen. Mit geschlossenen Augen diese Musik zu hören, lässt uns in eine Epoche vor 2000 Jahren eintauchen. Man versucht die Instrumente jener alten Zeit zu rekonstruieren, etwa das pectis, das wie eine Gitarre mit ausgeleierten Saiten klingt. In diesen Rückübersetzungen steht die Stimme im Vordergrund; die Instrumente dienen lediglich der Begleitung der Poesie, mal perkussiv, um das Tempo zu unterstreichen, mal melodisch, um den Gesang zu untermalen. Und nicht weit von der Insel Lesbos, einige Jahrhunderte nach dem Ableben Sapphos, hat vielleicht eine andere Musikerin diese Gesänge gehört …

Kassia, die Rebellin aus Konstantinopel

Die reiche, schöne und gebildete Kassia von Konstantinopel wurde zu einem Festakt eingeladen, den der Kaiser Theophilos organisiert hatte, um seine zukünftige Frau ausfindig zu machen – wir werden diesen Vorgeschmack auf den Bachelor3 à la Byzanz nicht weiter kommentieren. Der Chronist Symeon Logothetes (10. Jahrhundert) berichtet die Anekdote. Die »unübertroffene Schönheit« Kassias beeindruckte den Kaiser, der an sie das Wort richtete, indem er sich auf die Erbsünde bezog: »Ach, wie viele Übel sind uns nicht durch die Frauen widerfahren!« Die junge Frau soll, indem sie implizit auf die Jungfrau Maria verwies, erwidert haben: »Aber durch die Frau entsteht auch das Gute.« Es gibt unterschiedliche Überlieferungen, mit welchen Worten sie tatsächlich geantwortet hat, aber für ein heiratsfähiges Mädchen waren es sicher nicht die passenden. Es ziemte sich nicht, Schlagfertigkeit, Geist und Gelehrsamkeit gegenüber dem mächtigsten Mann der Region unter Beweis zu stellen. Theophilos wandte sich von Kassia ab und reichte den goldenen Apfel einer anderen, der zukünftigen Kaiserin Theodora.

Da in Byzanz eine Frau sich entweder verheiratete oder ins Kloster ging, wurde aus Kassia von Konstantinopel keine Kaiserin, sondern eine Higumene: eine orthodoxe Äbtissin. Ihr, die sehr früh schon in der Religion Halt fand, bot nun das Kloster alle Freiheiten, religiöse Hymnen, Texte, Gedichte etc. zu kreieren. Aber im Gegensatz zu jenen Sapphos wurden die Manuskripte ihrer musikalischen Werke aufbewahrt. Entsprechend kann die Musik der Kassia von Konstantinopel heute etwas originalgetreuer interpretiert werden als die der Sappho. Gleichwohl ist es schwierig, sich vorzustellen, wie diese Gesänge und Musikstücke zur damaligen Zeit wirklich geklungen haben, zudem nehmen die Künstlerinnen und Künstler, die sich damit auseinandersetzen, Freiheiten für sich in Anspruch: Dieselbe Melodie kann daher bei einer Tonaufnahme auf sehr unterschiedliche Weise gespielt werden.

Gibt es noch andere Komponistinnen aus der byzantinischen Epoche? Ja, sagt uns die Musikologin Diane Touliatos, aber die meisten Partituren aus dieser Zeit wurden mit einer Funktionsbezeichnung oder dem Entstehungsort versehen, nicht mit einem Eigennamen; Letzteres geschah nur dann, wenn er einer musikalischen Berühmtheit gehörte. So ist man auf die Spuren einer gewissen Hagia Sophia von Konstantinopel gestoßen, die ein Manuskript signierte mit: »von der Tochter des Ioannis Kladas verfasst«, der selbst Musiker war. Kassia hingegen unterzeichnete ihre Werke nicht mit dem Namen ihres Vaters. Diane Touliatos schreibt, sie sei »schön und sehr gebildet« gewesen.4 Sicherlich auch eine der begabtesten Künstlerinnen, denn Kassia ist ebenso für ihre musikalischen Werke wie für ihre Erzählkunst berühmt. In der orthodoxen byzantinischen Tradition gehört beides zusammen, die »Hymnographen« schrieben für ihre Hymnen Musik und Text.

Aber eine virtuose Musik zu schreiben reicht nicht. Dass die Verse der Äbtissin so auserlesen sind, beruht auch auf ihrem Wissen. Man muss sich in Rhetorik auskennen wie auch über profunde Kenntnisse der Bibel und der Heiligenleben verfügen – all dies beherrscht Kassia meisterhaft. Und noch genialer ist, dass die Komponistin sich bestimmte religiöse Texte aneignet und ihnen einen feministischen Anstrich verleiht. In ihrer Hymne I en polles amarties (›Die in viele Sünden verstrickte Frau‹) beispielsweise erzählt die Äbtissin jene Passage aus dem Lukasevangelium nach, in der eine Sünderin die Füße Jesu küsst und mit ihren Tränen benetzt. Statt die Szene aus einer übergeordneten Perspektive zu präsentieren, versetzt sich Kassia in die Gedanken jener Frau und lässt sie in der ersten Person sprechen: »Deine reinen Füße werde ich küssen und sie wieder durch mein Haupthaar reinigen.«5

Die Komponistin ist die einzige Frau, die später (bis ins 16. Jahrhundert hinein) unter den großen Hymnographen der byzantinischen Kirche lobend erwähnt wird. Auch andere Frauen haben komponiert, geschrieben, Werke geschaffen, aber einzig Kassias Texte konnten in die byzantinische Liturgie integriert werden. Manche ihrer Hymnen wurden Männern zugeschrieben, weil man sie für viel zu subtil und zu gut hielt, als dass eine Frau sie hätte verfassen können. Aber die Forschung hat eindeutig bewiesen, dass all das, was man von der Äbtissin wiedergefunden hat, von ihrer Hand und ihrem genialen Geist geschaffen wurde.

Ihre Texte zeugen von einer Freiheit, einem Elan, einer Intelligenz und einem Freimut, der einer Frau würdig ist, die es eines Tages gewagt hatte, den Kaiser zu provozieren. Eine ihrer Hymnen, die man auch heute noch hören kann, verkündet:

Ich hasse den Reichen, der sich beklagt, er sei arm.

Ich hasse jenen, der ohne nachzudenken spricht.

Ich hasse jenen, der ohne Wissen lehrt.

Ich hasse den Untreuen, der den Unzüchtigen verurteilt.

Und das Ganze endet mit dem außerordentlich aktuellen Vers:

Ich hasse das Schweigen, wenn es Zeit ist zu reden.

Hildegard von Bingen, ein historischer Star unter den Komponistinnen

Eine, die kein Blatt vor den Mund nahm, lebte in Rheinhessen. Hildegard von Bingen verbrachte ihre Zeit in dem Kloster, dem sie vorstand, und im Wald, den sie durchstreifte, um dort neue Pflanzen mit Heilkraft zu finden. Manchmal unterbrach sie diese Routine, um vor einer Menschenmenge zu predigen, die eingetroffen war, um sie zu hören. Und wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, zu beten, Champignons zu sammeln, dem Kaiser Ratgeberbriefe zu schreiben, zu zeichnen, den Mond und die Sterne zu studieren oder das Leben in ihrem Kloster zu verwalten, dann komponierte Hildegard von Bingen.

1098 in einer adligen Familie geboren, war sie die Jüngste unter zehn Geschwistern. Mit sieben Jahren verließ das kleine Mädchen die Familie, um zunächst gemeinsam mit einer sechs Jahre älteren benediktinischen Nonne, Jutta von Sponheim, und etwas später von dieser selbst erzogen zu werden. Dieser Weggang war erzwungen, nach der damaligen Tradition mussten kinderreiche Familien mehrere ihrer Nachkommen dem klösterlichen Leben anvertrauen. Hildegard war allerdings ohnehin religiös veranlagt. Bereits mit drei Jahren berichtete sie von ersten Visionen: Sie hörte göttliche Stimmen, hatte ihre Worte und Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle und sah ein großes Licht, bevor sie wieder zu Bewusstsein gelangte. Niemand hörte ihm zu, diesem kleinen Mädchen, und es bedurfte mehr als 40 weiterer Jahre, bevor sie erneut ihren mystischen Visionen in Wort und Bild Ausdruck verlieh – in dem Werk Wisse die Wege – Liber Scivias.

Bis das Kind, das sein ewiges Gelübde ablegte, um mit 14 Jahren ins Kloster zu gehen, zu der Frau wurde, die Bücher schrieb, einer Gemeinschaft vorstand, die Mächtigen der Kirche beriet und alle möglichen Orte bereiste, um dort zu predigen, spielte sich eine komplexe Geschichte ab, die sich schwer auf den Punkt bringen lässt – so stark haben die Interpretationen seither vieles durcheinandergewirbelt. In jedem Fall belegt all das, was von Hildegard von Bingen erhalten ist – ihre Texte, ihre Zeichnungen, ihre Korrespondenz und ihre Musik –, eines: dass sie eine mächtige Frau war. Nach dem Tode Jutta von Sponheims, der Priorin der Klause, in der sich Hildegard seit 1112 befand, wählten die Nonnen sie in das Amt der Magistra. Sie war inzwischen 38 Jahre alt. 14 Jahre später, im Jahr 1150, schuf sie sich eine eigene Gemeinschaft und bezog als Äbtissin das von ihr gegründete Kloster am Rupertsberg – von dem heute keine Spur mehr erhalten ist.

In den Klöstern6, denen sie vorstand, führte Hildegard von Bingen eigenwillige Regeln ein, etwa zur Bekleidung ihrer Ordensschwestern an religiösen Festtagen. Eine andere Klostervorsteherin, die sich über deren luxuriöses und deplatziertes Auftreten beklagte, berichtete, dass die »jungen Frauen an Festtagen beim Psalmengesang mit losen Haaren in der Kirche stehen. Als Schmuck tragen sie glänzendweiße Seidenschleier, die so lang sind, dass sie den Boden berühren; auch haben sie golddurchwirkte Kränze auf dem Haupt, in die beiderseits und hinten Kreuze eingeflochten sind, vorn aber geziemend ein Bild des Lammes eingeprägt ist. Dazu sollen ihre Finger mit goldenen Ringen geschmückt sein […].«7 Auf diese Kritik an ihrer Neigung zum etwas Mondänen antwortete Hildegard von Bingen, dass sich eine Nonne, um sich Christus zu zeigen, so zu schmücken habe wie eine Braut, die sich ihrem Bräutigam präsentiere.

Ihre Eskapaden wie auch ihre Schriften gelangten bis zu dem Kirchenmann und großen Reformator der katholischen Kirche Bernhard von Clairvaux. Er ermunterte sie, von ihren Visionen zu sprechen, und der Papst selbst, Eugen III., gestattete ihr, davon Mitteilung zu machen. Diese allerhöchste Anerkennung erlaubte es ihr, einen immer wichtigeren Platz im religiösen Leben einzunehmen, und gewährte ihr große schöpferische Freiheit. Hildegard von Bingen war nicht nur einfach eine einflussreiche Mystikerin, sondern ebenso eine Heilerin – sie kannte die Pflanzen, die Bäume, die Nahrungsmittel und die Nährstoffe, die wohltuende Wirkung haben. Sie interessierte sich leidenschaftlich für Astronomie, sie zeichnete, schrieb Gedichte … Wenn man, wie bei Sappho, das Leben dieser Mystikerin wiedererfinden müsste, so würde eine Aufspaltung in zwei Hälften nicht ausreichen: Hildegard von Bingen hat tausend Leben gelebt.

Konzentrieren wir uns auf eines dieser Leben, das der Musikerin und Komponistin. Mit der religiösen Musik aufgewachsen, widmet die Äbtissin ihre schriftstellerischen Fähigkeiten und ihre künstlerische Begabung dem Komponieren religiöser Hymnen. In ihrer Gemeinschaft wird jeder Gottesdienst von Musik begleitet, gesanglich wie instrumental. Diese von Kunst getragene Lebensart missfällt einigen strengeren religiösen Instanzen, denen zufolge sich das Gebet in Stille vollziehen muss.

Aber für Hildegard von Bingen muss »Gott mit hellklingenden […] jubelnden Zimbeln« sowie mit Posaune, Harfe, Zither, Pauken, Saitenspiel und Flöte gelobt werden.8 Um also ihren Gott reich zu bedenken, komponiert sie mehr als 70 Werke, die dem Gottesdienst geweiht und in einem Zyklus unter dem Titel Symphonia armonie celestium revelationum (Die Symphonie der Harmonie der göttlichen Erscheinungen) zusammengefasst sind. Sie geht sogar noch weiter und vertont ihren berühmten mystischen Text Scivias, aus dem nun Ordo virtutum wird, eine avantgardistische Partitur – eher ein liturgisches Drama als eine schlichte religiöse Hymne. Die Komponistin inszeniert ihre Visionen, sie schreibt den Text und die Musik zu einer Art Opernvorläufer. In diesem Werk geraten die menschliche Seele, der Teufel und die Tugenden in einen moralischen Kampf miteinander, vermittelt durch Gesänge von großer Virtuosität. Selbstverständlich lässt sich der Notation von damals nicht eindeutig entnehmen, was man in der Abtei auf dem Rupertsberg hat hören können, aber die Experten sind sich darin einig, dass Ordo virtutum den Sängerinnen enorme Fähigkeiten abverlangt, insbesondere was den Ambitus, also den Stimmumfang, anbetrifft, da es von tief unten nach weit oben geht.