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Beschreibung

Die Gesellschaft ist in eine Phase zugespitzter Infrastrukturkonflikte eingetreten. Die Beiträger*innen erörtern aus politökonomischer und diskursanalytischer Perspektive, was diese Konflikte in den Bereichen Wohnen, Gesundheitsversorgung und saubere Luft kennzeichnet und wie der Staat auf sie reagiert. Im Mittelpunkt steht die Frage, mit welchen Herausforderungen, Perspektiven und Konflikten derzeit bei der Versorgung mit öffentlichen Gütern gerungen wird und welche Rolle schwache Interessen in diesen Aushandlungsprozessen spielen. Es wird deutlich: Die öffentliche Kritik der Unter- und Fehlversorgung adressiert jeweils den Staat, der diese Kritik oft zurückweist, mitunter aber auch auf kommunaler Ebene aufnimmt.

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Johanna Betz, Hans-Jürgen Bieling, Andrea Futterer, Matthias Möhring-Hesse, Melanie Nagel (Hg.)

Konflikte um Infrastrukturen

Öffentliche Debatten und politische Konzepte

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Johanna Betz, Hans-Jürgen Bieling, Andrea Futterer, Matthias Möhring-Hesse, Melanie Nagel (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839467428

Print-ISBN: 978-3-8376-6742-4

PDF-ISBN: 978-3-8394-6742-8

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6742-4

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

 

 

Vorwort

Einleitung: Infrastrukturkonflikte

Aussichten auf die Gesellschaft von morgen

Hans-Jürgen Bieling und Matthias Möhring-Hesse

I Politisierung

Diskursive Resonanzen auf die Rückkehr der Wohnungsfrage

Johanna Betz

Auf dem Weg zu einer kommunalen Gewährleistungsverantwortung für die ambulante medizinische Versorgung

Andrea Futterer

Divergierende Interessen

Der Kampf um saubere Luft in den Städten

Melanie Nagel

II Transformation und (strategische) Innovation

Staatliche Strategien gegen Wohnungsnot

Johanna Betz

Die voraussetzungsvolle lokale Bekämpfung des ›Landarztmangels‹

Andrea Futterer

Allianzen und Strategien für saubere Luft in den Städten

Melanie Nagel

III Perspektiven staatlicher Gewährleistung

Doppelt benachteiligt?

Versorgungsmängel und schwache Interessen im Gewährleistungsstaat

Mara Buchstab, Matthias Helf und Jan Ruck

Infrastrukturen für ›Gemeinwohl-relevante öffentliche Güter‹

Handlungsbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten des lokalen Gewährleistungsstaats

Hans-Jürgen Bieling und Matthias Möhring-Hesse

Anhang

Autor:innenverzeichnis

Vorwort

Die Diskussion über öffentliche Infrastrukturen hat in den vergangenen Jahren wieder Fahrt aufgenommen. In den Parlamenten und Regierungen wird über Brücken, über Wohnen oder über die Energieversorgung gestritten; in der Öffentlichkeit kritisieren Initiativen und Bewegungen eine mangelhafte Versorgung und drängen auf Verbesserungen. Es werden infrastrukturpolitisch ausgerichtete Kommissionen eingesetzt, Berichte werden verfasst oder Bücher und Schwerpunkthefte veröffentlicht. Aber nicht nur Politik und Wissenschaft, auch der Alltag der Menschen und die mediale Berichterstattung stehen vermehrt im Zeichen infrastrukturpolitischer Probleme, Krisen und Herausforderungen.

Im Rahmen unseres Forschungsprojektes haben wir uns in den letzten drei Jahren intensiv mit Infrastrukturen und den politischen Auseinandersetzungen darüber beschäftigt. Wir haben uns natürlich des Öfteren gefragt, in welchem Maße unsere Sensibilität für infrastrukturpolitische Konflikte durch unsere Forschung und unser Erkenntnisinteresse erst generiert wurde. Derartige Effekte einer selektiven Wahrnehmung sind schwer von der Hand zu weisen. Doch stößt – in Gesprächen mit Kolleg:innen, Freund:innen und Interviewpartner:innen – die These einer neuen Relevanz und Brisanz infrastrukturpolitischer Konflikte fast einhellig auf Zustimmung. Wir dürfen also davon ausgehen, dass wir keineswegs einer selbst erzeugten Chimäre hinterherlaufen.

In dem vorliegenden Band geht es uns darum, die Prozesse, die für die Genese und den Verlauf infrastrukturpolitischer Konflikte charakteristisch sind, empirisch fundiert zu rekonstruieren. Der Blick richtete sich vor allem auf die Politisierung und Problemlösung in drei ausgewählten Handlungsfeldern, in der Wohnungs-, der Umwelt- und der Gesundheitspolitik. In diesen Feldern wird jeweils auf spezifische Art und Weise der Staat in Anspruch genommen, um auf dem Wege infrastrukturpolitischer Gewährleistung spezifische öffentliche Güter – ›bezahlbares Wohnen‹, ›saubere Luft‹ und ›ambulante Versorgung‹ – bereitzustellen.

Die präsentierten Befunde entstammen dabei dem Forschungsprojekt ›Gemeinwohl-relevante öffentliche Güter. Die politische Organisation von Infrastrukturaufgaben im Gewährleistungsstaat‹ (GroeG), das von 2020–23 am Forschungsinstitut Arbeit Technik und Kultur (F.A.T.K.) an der Universität Tübingen durchgeführt, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell gefördert und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) als Projektträger (DLR) operativ begleitet wird.

Wir möchten all diesen Institutionen, insbesondere dem BMBF, für die finanzielle und organisatorische Unterstützung danken. Der Aufbau einer eigenen Forschungsinfrastruktur war zweifelsohne grundlegend. Darüber hinaus bedanken wir uns bei all jenen, die in unterschiedlichsten Diskussionsformaten in den letzten Jahren daran mitgewirkt haben, die empirische Forschung weiterzutreiben und zu reflektieren. Es würde zu weit führen, sie alle hier namentlich zu erwähnen. Einige Personen sind jedoch explizit zu nennen: So haben sich Richard Bärnthaler, Matthias Bernt, Thomas Gerlinger, Tanja Klenk und Annette Elisabeth Töller als Expert:innen mit einem Blick ›von außen‹ in einen Workshop eingebracht, der am 16./17. Februar 2023 in Tübingen stattfand und auf dem erste Textfassungen diskutiert worden sind. Die einzelnen Beiträge wie der Band insgesamt haben von den kritisch-produktiven Kommentaren sehr profitiert. Allen Workshop-Teilnehmer:innen sind wir für die tatkräftige Unterstützung zu großem Dank verpflichtet. Weiterhin möchten wir uns bei den Interviewpartner:innen und Kooperationspartner:innen bedanken. Auch möchten wir Patrizia Pinzl danken, die das Endmanuskript nochmals Korrektur gelesen und in eine für den Verlag akzeptable Form gebracht hat. Für alle verbleibenden Probleme und offenen Fragen sind, dies steht außer Frage, allein wir selbst verantwortlich.

 

Tübingen im Juni 2023

Hans-Jürgen Bieling und Matthias Möhring-Hesse

Einleitung: Infrastrukturkonflikte

Aussichten auf die Gesellschaft von morgen

Hans-Jürgen Bieling und Matthias Möhring-Hesse

1Versorgungsmängel und die Politisierung von Infrastrukturen

Solange alles reibungslos läuft, sind Infrastrukturen politisch nahezu unsichtbar: In Krankenhäusern wird geheilt und gepflegt, in Praxen werden Erkrankungen erkannt und therapiert, ohne dass man in den politischen Arenen darüber spricht. Gleiches gilt für Zahlungssysteme, in denen Tag für Tag Geld zum Kaufen und Verkaufen oder zur Aufnahme und Tilgung von Schulden hin- und hergeschoben wird. Omnibusse und Straßenbahnen fahren, auch die Bahn bringt Menschen nah und fern an ihre Ziele, ohne dass dies politisch thematisiert wird. Trinkwasser strömt aus den Wasserhähnen, das Abwasser wird irgendwo außerhalb der Stadt gereinigt, ›der Strom kommt aus der Steckdose‹ – und politisch ist das alles ›kein Thema‹.

Selbstverständlich wissen alle Beteiligten, nicht zuletzt die Nutzer:innen, dass all die Infrastrukturen, die ihnen ihren Alltag ermöglichen, nicht ›vom Himmel‹ gefallen oder ›von Natur aus‹ immer schon da sind. Sie müssen vielmehr – anders als viele andere Güter, die privatwirtschaftlich produziert und angeboten werden – durch öffentliche Investitionen und staatliche Vorgaben initiiert und fortwährend erhalten werden. Infrastrukturen haben also einen politischen Ursprung – und einen ihnen inhärent politischen Charakter. In ihnen ›stecken‹ politisch ausgehandelte Übereinkünfte, aber auch erstrittene Entscheidungen – und damit politischer Wille. Doch in der alltäglichen Praxis tritt der politische Charakter von Infrastrukturen gewöhnlich in den Hintergrund. Einmal eingerichtet, gehören die Infrastrukturen und die über sie bereitgestellten Leistungen zum Alltag der Menschen und sind in der Gesellschaft, für die sie eingerichtet wurden, selbstverständlich. Infrastrukturen werden zu einer Art ›zweiten Natur‹ (vgl. Foundational Economy Collective 2019).

Dies gilt aber nur so lange, wie es mit den Infrastrukturen wie geschmiert läuft, wie die von dort her erwarteten Leistungen für alle Beteiligten erreichbar sind und sie die erwartete Qualität haben, also solange, wie Infrastrukturen nicht auf die Tagesordnung der (›großen‹) Politik gesetzt werden. Genau dies ist seit einiger Zeit aber der Fall: Wie auch andere Gesellschaften, befindet sich die deutsche in einer Konstellation vermehrter Infrastrukturkonflikte. Diese Konflikte betreffen – im Zeichen gestörter Lieferketten – nicht nur die zahlreichen ›Infrastrukturen der Globalisierung‹, also den Straßen-, Luft-, Schienen- und Schiffsverkehr, die Energieversorgung durch Pipelines, LNG-Terminals, Stromnetze und erneuerbare Energien oder auch das Internet, Mobilfunkstandards (5G) und den internationalen Zahlungsverkehr (SWIFT) (vgl. Abels/Bieling 2023; Leonard 2021). Sie erfassen auch viele ›soziale Infrastrukturen‹1 wie Kindergärten, Schulen und Hochschulen, den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), die lokalen Kulturangebote (Kinos, Theater, Bibliotheken, Jugendzentren), Sportanlagen und Schwimmbäder, die ambulante und stationäre Pflege- und Gesundheitsversorgung oder auch die Bereitstellung von Wohnraum. Durch politische Entscheidungen in der Vergangenheit, Spar- und Privatisierungsprogramme sowie durch knappe öffentliche Haushalte und jüngere Krisenprozesse, nicht zuletzt die Covid 19-Pandemie und den Krieg Russlands gegen die Ukraine, haben sich die Probleme einer ausreichenden Bereitstellung von Infrastrukturen gemehrt – bis dahin, dass bei einigen Infrastrukturen die Kontroll- und Versorgungsdefizite als ›systemisch‹ oder ›kritisch‹ angesehen werden (vgl. Folkers 2014).

Ob damit die angesprochenen Probleme für den Fortbestand der Gesellschaft übertrieben werden, das mag hier dahingestellt sein. Für uns sind die vermehrte Thematisierung einer unzureichenden oder prekären Versorgung und der Streit hierüber in erster Linie ein Hinweis darauf, dass wir in eine neue Phase der Infrastrukturpolitik eingetreten sind. Die gegenwärtige Phase scheint sich von den infrastrukturpolitischen Konflikten der letzten Phase in den 1980er und 1990er Jahren deutlich zu unterscheiden. Damals ging es über die verschiedenen Politikfelder hinweg hauptsächlich um die Finanzierung von Infrastrukturen sowie um die Art und Weise ihrer staatlichen Gewährleistung. Gestritten wurde darüber, ob die Infrastrukturen den öffentlichen Haushalten zu teuer kommen, ob sie wirtschaftlicher betrieben, wie sie ›modernisiert‹ und aus verkrusteten Strukturen befreit werden können, ob sie stärker wettbewerblich oder sogar privatwirtschaftlich organisiert, dazu privatisiert werden müssen (vgl. Bieling et al. 2008). Nicht in allen, aber in den meisten Fällen hat sich die markt- und wettbewerbsorientierte, auf Deregulierung setzende Ansicht durchgesetzt; diese wurde – mal mehr und mal weniger konsequent – politisch umgesetzt. Im Vergleich dazu werden gegenwärtig Infrastrukturkonflikte – wiederum über die verschiedenen Politikfelder hinweg – durch Versorgungsmängel oder genauer: durch die öffentliche Skandalisierung von Versorgungsmängeln ausgelöst. Bezogen auf unterschiedliche Infrastrukturen wird eine mangelhafte Versorgung behauptet und das bestehende Angebot als unzureichend, das heißt als ›zu wenig‹ oder ›zu schlecht‹ beurteilt. Infrastrukturelle Leistungen werden also nicht in einem ausreichenden Umfang, vor allem nicht flächendeckend und nicht für alle sozialen Gruppen und Regionen gleichermaßen angeboten. Zugleich mangelt es an einer akzeptablen Qualität, wovon in einigen Fällen alle gleichermaßen und in anderen Fällen bestimmte Gruppen und Regionen besonders betroffen sind. Mit diesen Mängeln werden Infrastrukturen wieder auf die Tagesordnung politischer Auseinandersetzungen gesetzt und damit politisiert.

2Infrastrukturen und öffentliche Güter

Ungeachtet ihrer zentralen gesellschaftlichen Bedeutung, waren und sind Infrastrukturen in den Sozialwissenschaften ein eher randständiges Thema. Dort, wo man sich mit ihnen beschäftigt, bestehen unterschiedliche Vorstellungen von dem, was man mit dem Begriff ›Infrastrukturen‹ bezeichnet. Immerhin stimmt man weitgehend darin überein, dass sich Infrastrukturen nicht auf ihre physischen und technischen Komponenten, also nicht auf die Formen ihrer unmittelbaren Materialität reduzieren lassen. Weit mehr als das Materielle, aus dem sie bestehen, sind Infrastrukturen »sozio-technische Systeme« (Mayntz 1988), die gesellschaftlich finanziert, produziert, reguliert und genutzt werden. Vor allem deren Nutzung weist darauf hin, dass durch die Bereitstellung von Infrastrukturen – der Begriff setzt sich aus den beiden lateinischen Wörtern ›infra‹ (dt.: ›unterhalb‹) und ›structura‹ (dt.: ›Zusammenführung‹) zusammen – unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsräume, aber auch soziale Gruppen und die in einer Gesellschaft gemeinsam lebenden Menschen miteinander verbunden, verknüpft oder vernetzt werden. Brian Larkin (2013: 328) schreibt in diesem Sinne:

»Infrastructures are built networks that facilitate the flow of goods, people, or ideas and allow for their exchange over space. As physical forms they shape the nature of a network, the speed and direction of its movement, its temporalities, and its vulnerability to breakdown. They comprise the architecture for circulation, literally providing the undergirding of modern societies, and they generate the ambient environment of everyday life.«

Je nach Beschaffenheit und Reichweite der Infrastrukturen, vernetzen sie nationale, regionale oder lokale, aber auch transnationale oder gar globale Handlungsräume. Welche Akteure – Individuen, Familien, Unternehmen oder soziale Bewegungen – die Infrastrukturen jeweils nutzen, ist maßgeblich durch ihren spezifischen Zweck und ihre Verfügbarkeit bestimmt. Infrastrukturen ergänzen oder überlagern sich vielfach: Schiffsrouten schließen an den Bahnverkehr an und dieser wiederum an Straßennetze, die von Speditionen genutzt werden; und der ÖPNV macht es Menschen ohne Auto möglich, die Infrastrukturangebote – Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser – in den Nachbarorten zu nutzen. Das Internet informiert über die konkreten Nutzungsbedingungen oder stellt spezifische Dienstleistungen – Online-Unterricht, Telemedizin, elektronische Bezahlung – bereit, durch die sich die Operationsweise anderer Infrastrukturen verändert.

Im Zuge dieser infrastrukturellen Vernetzung werden die gesellschaftlichen Verhältnisse – Eva Barlösius (2019) spricht von Infrastrukturen als »sozialen Ordnungsdiensten« – geformt, stabilisiert und modernisiert. Doch nicht nur dies. Die sozialen Interaktionsmuster bleiben durch die Nutzung von Infrastrukturen lebendig, werden am Laufen gehalten. Als »Lebensadern unserer Gesellschaft« (van Laak 2018) besorgen Infrastrukturen eine ›tiefe‹, das heißt sich zumeist hinter dem Rücken der Akteure vollziehende Vergesellschaftung – und dies in den verschiedenen Dimensionen des mit ›Vergesellschaftung‹ gemeinten Verhältnisses: Sie binden die einzelnen in gesellschaftliche Verhältnisse ein und prägen die Art ihrer Einbindung und Zugehörigkeit. Sie sorgen zugleich dafür, dass gesellschaftlich notwendige Leistungen erbracht und – im Gegenzug – in Anspruch genommen werden können. Sie sorgen nicht zuletzt für Akzeptanz und Loyalität. Sie ermöglichen Zugänge zu den gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen und verteilen Lebenschancen. Kurzum, sie sichern die materielle, kommunikative und kulturelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Infrastrukturen sind nicht die ›ganze‹ Vergesellschaftung, aber sie tragen wesentlich zu dieser bei.

Infrastrukturen können daher auch zu einem politischen Problem werden. Sie können defizitär sein, Mängel auslösen oder die mit ihnen verbundenen Nutzungsversprechen nicht einlösen. Sie können Produktions- und Lebensweisen aufdrängen oder – mehr noch – mit solchen verknüpft sein, die von zunehmend mehr Menschen als Problem gesehen oder abgelehnt werden. In diesem Sinn werden die Systeme der Energieversorgung oder die Straßen- und Verkehrswege für klimaschädliche Emissionen verantwortlich gemacht und als Hindernisse für die notwendigen sozial-ökologischen Transformationen gesehen. Werden Infrastrukturen mit solcher oder ähnlicher Kritik angesprochen, dann geht es nicht allein um diese Infrastrukturen, sondern – darüber weit hinaus – um Kritik an der Gesellschaft, für die sie stehen.

Eine positive Perspektive auf die Beschaffenheit und Operationsweise von Infrastrukturen liegt hingegen dann nahe, wenn diese als Vehikel zur Bereitstellung ›öffentlicher Güter‹ angesehen werden. Der Begriff ›öffentliche Güter‹ signalisiert, dass Infrastrukturen auch das gesellschaftliche Gemeinwohl stärken können, wenn man sich im öffentlichen Raum zuvor auf sie verständigt hat und sie – bei Vermeidung eines Ausschlusses sozialer Gruppen – möglichst umfassend und für alle verfügbar bereitgestellt werden. Durch die implizite Bezugnahme auf Fragen des Gemeinwohls ist die Konzeption der öffentlichen Güter mithin normativ aufgeladen, obgleich sie ursprünglich wirtschaftswissenschaftlich begründet und durch zwei Kriterien definiert wurde (vgl. Samuelson 1954): Das erste Kriterium besagt dabei, dass öffentliche Güter – im Gegensatz zu privaten Gütern – dadurch gekennzeichnet sind, dass sie allen zur Verfügung stehen, also niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden kann (Prinzip der Nicht-Ausschließbarkeit). Gemäß dem zweiten Kriterium werden die öffentlichen Güter – wiederum im Gegensatz zu privaten Gütern, aber auch im Unterschied zu sogenannten Allmende-Gütern – im Zuge ihrer Nutzung oder Inanspruchnahme nicht aufgebraucht, andere Nutzer:innen demzufolge nicht beeinträchtigt (Prinzip der Nicht-Rivalität).

Tatsächlich werden diese beiden Kriterien, wenn überhaupt, nur von wenigen Gütern – etwa von der Luft oder der Sonne – erfüllt. Bei vielen Dienstleistungen, die als öffentliche Güter gelten, gibt es Bedingungen und Verfahren eines geregelten oder ungeregelten Zugangs, mithin auch Formen des Ausschlusses. Man denke an fehlende Kindergartenplätze, an Zugangsbeschränkungen für bestimmte Studiengänge, oder überfüllte Züge und Busse. Auch werden die materiellen Voraussetzungen für zahlreiche öffentliche Güter – etwa Bildung, Mobilität, Gesundheitsversorgung – im Zuge ihrer Inanspruchnahme vernutzt. So müssen Brücken, Bahnstrecken oder Gebäude (Schulen, Universitäten, Krankenhäuser) fortwährend repariert oder modernisiert und öffentliche Dienstleister ausgebildet werden. Zudem stören sich auf überfüllten Autobahnen die Autofahrer:innen gegenseitig – und verringern den Nutzen der gemeinsam genutzten Autobahn durch den gemeinsam erzeugten Stau. Dies verdeutlicht: Nicht-Ausschließung und Nicht-Rivalität sind keine Beschreibungen; es handelt sich vielmehr um normative Ansprüche an öffentliche Güter. Erfüllt werden diese Ansprüche, wenn öffentliche Güter so produziert, organisiert und bereitgestellt werden, dass sie in ausreichender Menge und ausreichender Qualität zur Verfügung stehen und dabei so genutzt werden können, dass sich die Nutzer:innen nicht gegenseitig in der Nutzung behindern. Maßgeblich dafür ist, dass adäquate Infrastrukturen eingerichtet werden und diese für alle zugänglich sind.

Für die in diesem Band betrachteten Güter ›saubere Luft‹, ›bezahlbares Wohnen‹ und ›ambulante Versorgung‹ bedeutet dies: bessere, dabei weniger Feinstaub erzeugende Verkehrs- und Energiesysteme; ein preisgünstiges Wohnungsangebot, das durch öffentliche Vorgaben, durch öffentliche Förderung und durch Unterstützungsleistungen erzeugt wird; und genügend gut ausgebildete Mediziner:innen, die durch Anreize und Vorgaben dazu gebracht werden, die dezentrale medizinische Versorgung im ländlichen Raum aufrechtzuerhalten. Dies lässt erkennen: Die normativen Ansprüche, die mit den Kriterien der Nicht-Ausschließung und Nicht-Rivalität verbunden sind, treffen vielfach auf eine ›schlechte‹ Realität. Entsprechend wird ein besseres Angebot an öffentlichen Gütern und ein besseres Infrastrukturangebot gefordert, damit die beiden Kriterien erfüllt werden. Für die in diesem Band betrachteten Güter heißt dies: Es wird über saubere Luft für alle Stadtbewohner:innen und damit auch für diejenigen diskutiert, die in belasteten Stadtvierteln und an Ausfallstraßen wohnen müssen. Es wird über bezahlbaren Wohnraum für alle und damit insbesondere für die Menschen mit geringen Einkommen verhandelt. Und es wird über eine ambulante Versorgung überall im Land und damit auch in den ländlichen Regionen räsonniert, in denen sich oft nicht genügend Hausärzt:innen niederlassen.

Sind – wie in der gegenwärtigen Phase der Infrastrukturkonflikte – die Bereitstellung öffentlicher Infrastrukturen und die Zugänge zu diesen umkämpft, dann prallen unterschiedliche Interessen und normative Orientierungen aufeinander. Zuweilen ergänzen sich diese auch. Die Interessenlagen und Gestaltungslogiken der Infrastrukturen stehen untereinander in Spannung (vgl. Bieling/Futterer 2021: 20): Die ökonomische Gestaltungslogik zielt auf eine möglichst günstige, zumindest effiziente Bereitstellung, also Finanzierung und Produktion, der Infrastrukturen; sofern privatkapitalistische Akteure beteiligt sind, geht es auch um die Generierung und Realisierung von Profiten. Einen anderen Fokus hat die sozialintegrative Gestaltungslogik. Dieser zufolge sollen Infrastrukturen dazu beitragen, gleichwertige Lebensverhältnisse für alle zu gewährleisten und eine umfassende aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu realisieren, was nicht selten auch Formen einer direkten oder demokratischen Kontrolle durch die Betroffenen miteinschließt. Im Zuge der Klimakrise ist die ökologische Gestaltungslogik bedeutsamer geworden. Vermehrt werden Infrastrukturvorhaben mit Blick auf ihre energetische und klimatische Bilanz konzipiert. Und schließlich stehen Infrastrukturen, vorrangig die der Globalisierung, vor dem Hintergrund global veränderter Kräfteverhältnisse im Zeichen einer geoökonomischen oder geopolitischen Gestaltungslogik, die eine räumliche – zum Teil eher indirekte – Kontrolle der nationalen, aber auch entlegenen Handlungsräume anstrebt.

3Krise der staatlichen Gewährleistung

Die Bereitstellung von öffentlichen Gütern ist auf Infrastrukturen angewiesen, die gesellschaftlich – materiell, politisch und diskursiv – fortwährend, vor allem aber in Phasen der Politisierung, neu ausgehandelt werden. In den politischen Auseinandersetzungen sind die unterschiedlichen Elemente der jeweiligen Infrastrukturen – von der Finanzierung und Produktion über die Bedingungen ihrer Bereitstellung bis zu den Formen ihrer Nutzung – umkämpft. Einen, wenn nicht den zentralen Referenzpunkt der infrastrukturpolitischen Konflikte bildet der Staat (vgl. hierzu auch Bieling/Möhring-Hesse 2020). Wann immer es um öffentliche Infrastrukturen, um deren Umfang und Qualität geht, wird dieser – auf unterschiedlichen Ebenen, also auf der nationalen, regionalen, nicht selten auch auf der kommunalen, zum Teil sogar auf der europäischen Ebene – von Parteien, Verbänden, Gewerkschaften oder Bürgerinitiativen und engagierten Personen adressiert.

Entsprechend wurde der Staat in eine Gewährleistungsverantwortung gesetzt – und wird fortlaufend in dieser Verantwortung gehalten. Über die klassischen Staatsaufgaben, wie die äußere und innere Sicherheit, hinaus hat sich damit die Gewährleistung öffentlicher Güter und der dafür notwendigen Infrastrukturen zu einer Staatsaufgabe verdichtet (vgl. Kaufmann 1994). Im Gegenzug werden die Infrastrukturen und die darüber verfügbar gemachten öffentlichen Güter staatsbedürftig (vgl. Vogel 2007). Der Staat ist unbedingt notwendig, um die ausreichende Verfügbarkeit und Qualität dieser Güter zu organisieren und das dafür erforderliche Infrastrukturangebot sicherzustellen. In Infrastrukturkonflikten werden sowohl die staatliche Gewährleistungsverantwortung als auch die Staatsbedürftigkeit der Infrastrukturen politisch manifest.

Wie der Staat seiner Gewährleistungsverantwortung entspricht oder entsprechen soll, ist noch nicht dadurch festgelegt, dass ihm diese Verantwortung zugesprochen wird. Staatliche Institutionen können sie auf unterschiedlichen Wegen erfüllen (vgl. Schuppert 2001: 401–2):

•Sie können Infrastrukturen – von der Finanzierung über die Produktion bis zu den Möglichkeiten der Nutzung, auch in der Fläche – in Eigenregie erbringen und gesellschaftlich verfügbar machen. Ist dies die dominante Form der Gewährleistung, wird häufig vom Produktions- oder Leistungsstaat gesprochen, der eine Erfüllungsverantwortung übernimmt.

•Staatliche Institutionen können Bereiche des Infrastrukturangebots privaten oder gemeinnützigen Akteure übertragen: etwa durch deren Beauftragung, die Vergabe von Konzessionen oder Verfahren der subsidiären Kooperation. Rücken diese Formen der indirekten Gewährleistungsverantwortung in den Vordergrund, wird oft vom ›Regulierungs-‹ oder ›Gewährleistungsstaat‹ gesprochen, der infrastrukturelle Leistungen in Auftrag gibt und die auftragsgemäße Erfüllung überwacht und kontrolliert.

•Schließlich können staatliche Institutionen das Infrastrukturangebot dem privatwirtschaftlichen oder sozialwirtschaftlichen Bereich überlassen – und dann in eine Auffangverantwortung treten, wenn Defizite offenkundig werden und diese interventionistisch und ad hoc bearbeitet werden müssen.

Die verschiedenen Formen und Modalitäten der Gewährleistungsverantwortung verdeutlichen, dass wir den Begriff ›staatliche Gewährleistung‹ und ›Gewährleistungsstaat‹ weiter fassen, als dies in den sozialwissenschaftlichen und politischen Debatten häufig der Fall ist. Während sich diese auf die zweite Modalität fokussieren und im ›Gewährleistungsstaat‹ vorrangig eine Programmformel sehen, die in den 1990er Jahren mit Hilfe sozial- und infrastrukturpolitischer Reformen den Umbau des Wohlfahrtsstaates anleitete (vgl. Bieling 2009: 238–9), sehen wir auch in der Wahrnehmung der Erfüllungs- und Auffangverantwortung spezifische Modalitäten der staatlichen Gewährleistung, die nicht ignoriert werden sollten. Dass sich dadurch der Begriff verdoppelt, ›Gewährleistung‹ einmal als Oberbegriff für staatliches Handeln und einmal als untergeordneter Spezialbegriff für eine besondere Form staatlichen Handelns benutzt wird, mag irritieren. Wir halten es jedoch für wichtig, dass den staatlichen Institutionen bei der Gewährleistung öffentlicher Güter und Infrastrukturen ein breites Arsenal an Instrumenten zur Verfügung steht und dass dieses breite Arsenal gesellschaftlich immer wieder anders eingefordert wird (vgl. Möhring-Hesse 2022).

Die weite Konzeptualisierung des Gewährleistungsstaates – jenseits des programmatischen Leitbildes – bringt zwei weitere Vorteile mit sich. Sie sensibilisiert zum einen dafür, den Staat zu disaggregieren. Der Staat als Gewährleistungsstaat ist – in beiden Bedeutungen – das Ergebnis einer begrifflichen Abstraktion. Gewährleistend aktiv wird nicht ›der‹ Staat, sondern werden staatliche Institutionen und Akteure; und diese gewährleisten nicht ›die‹ gesellschaftliche Infrastruktur, sondern besondere Infrastrukturen. Sie tun dies im Zusammenspiel oder im Zusammenwirken mit anderen staatlichen Institutionen und mit – selbstverständlich – nicht-staatlichen Einrichtungen. Wie dies genau erfolgt, stellt sich mit Blick auf die möglichen Instrumente staatlicher Gewährleistung und die involvierten Institutionen und Akteure vermutlich unterschiedlich dar. Zur Analyse von Infrastrukturkonflikten ist es daher notwendig, den Gewährleistungsstaat in seine unterschiedlichen Komponenten zu zerlegen, ohne deswegen aber die Aggregate aus ihrem Zusammenhang zu lösen und ohne ihr Zusammenwirken zu vernachlässigen.

Die Disaggregation schließt mit ein, die föderalen Ebenen staatlicher Gewährleistung zu beachten. Bezüglich der verschiedenen Infrastrukturen wurde die Gewährleistungsverantwortung auf die unterschiedlichen Ebenen ›verteilt‹ und dort institutionalisiert. Weil die Versorgungsmängel ›vor Ort‹ spezifisch wahrgenommen und relevant werden, findet deren Politisierung auch auf der kommunalen oder regionalen Ebene statt – und dies auch dann, wenn diese Ebene bei der gegebenen Aufgabenteilung nicht zuständig ist. Akteure des kommunalen Staats geraten mit Akteuren in Konflikt, die auf anderen Ebenen ›unterwegs‹ sind – und haben es mit Institutionen der staatlichen Gewährleistung auf der Landes- oder der bundesstaatlichen Ebene, zum Teil – wie im Handlungsfeld saubere Luft – auch mit Institutionen der Europäischen Union zu tun.

Da auf den unterschiedlichen föderalen Handlungsebenen unterschiedliche infrastrukturelle Lösungen möglich sind, kommt es zwischen den gewährleistungsstaatlichen Institutionen zuweilen zu Problemzuweisungen und Kompetenzstreitigkeiten. Nicht selten wird die Gewährleistungsverantwortung zwischen den staatlichen Institutionen hin und her geschoben, dabei wechselseitig abgewehrt. All dies zeigt: Die politische Artikulation von Versorgungsdefiziten und deren konflikthafte Bearbeitung ist in hohem Maße durch das spezifische institutionelle Setting geprägt, das den Gewährleistungsstaat in den jeweiligen Handlungsfeldern ausmacht.

Zum anderen macht es die weite Konzeptualisierung staatlicher Gewährleistung möglich, die Prozesse, über die sich infrastrukturelle Versorgungsdefizite kumulieren, gesellschaftlich wahrgenommen und thematisiert und schließlich – mit Fokussierung auf den Staat – konfliktiv bearbeitet werden, empirisch genauer zu erfassen. Es rücken die Mechanismen ins Blickfeld, über die sich Versorgungsmängel – durch ihre Politisierung – in Infrastrukturkonflikte übersetzen, und diese – sofern es schwerfällt, tragfähige Lösungen zu finden, – handlungsfeldspezifische Krisen des Gewährleistungsstaates generieren.

Werden staatliche Institutionen in die Verantwortung gesetzt, öffentliche Güter und die dazu erforderlichen Infrastrukturen zu gewährleisten, schlagen Mängel in der Versorgung spätestens dann auf die staatlichen Institutionen zurück, wenn sie in politischen Auseinandersetzungen skandalisiert werden. Dann wird aus der mangelhaften Versorgung mit öffentlichen Gütern und aus maroden, überforderten oder unzureichenden Infrastrukturen weit mehr als das, nämlich ›Staatsversagen‹. Entsprechend empfänglich sind staatliche Institutionen und Akteure für Infrastrukturkonflikte – und reagieren auf die dort angezeigten Mängel und die sich daraus ergebenden Schuldzuschreibungen. Wie sie reagieren, ist Gegenstand der Untersuchung. Dass wir ›den Staat‹ von vornherein auf verschiedene Institutionen und Akteure auf unterschiedlichen Ebenen zerlegen, hat auch damit zu tun, dass wir damit rechnen, dass die staatlichen Institutionen und Akteure auf dieselben Mängel und auf das darin enthaltene ›Staatsversagen‹ unterschiedlich und nicht zuletzt mit wechselseitigen Schuldzuschreibungen an jeweils andere Teile des Staats reagieren. Es ist zu erwarten, dass ›der Staat‹ hierdurch auch Krisen der staatlichen Gewährleistung und sein ›Staatsversagen‹ kleinarbeiten und abwehren kann.

4Handlungsfelder, Diskurse und Akteursnetzwerke

In diesem Band fokussieren wir uns auf drei Handlungs- oder Politikfelder, die für die Organisation gleichwertiger Lebensverhältnisse (GG Art. 72; Böhnke et al. 2015; Clifton et al. 2016) besonders bedeutsam sind und öffentlich intensiv diskutiert werden. Nicht nur von gesellschaftlichen, auch von staatlichen Akteuren wird der Anspruch formuliert, über entsprechende Infrastrukturen diese öffentlichen Güter zu gewährleisten: das bezahlbare Wohnen, eine ambulante medizinische Versorgung und saubere Luft. Diese Güter und die dafür erforderlichen Infrastrukturen sind – die Ausführungen zum Gewährleistungsstaat haben dies deutlich gemacht – durch spezifische Problemstellungen, Akteurskonstellationen und politische Kommunikationsräume gekennzeichnet. Dies gilt umso mehr, als es sich bei der Gewährleistung einer flächendeckenden ambulanten Gesundheitsversorgung um eine Aufgabe der Gesundheitspolitik (vgl. Bandelow et al. 2019; Gerlinger/Sauerland 2018), bei der Bereitstellung von städtischem Wohnraum um eine Aufgabe der Wohnungs(markt)politik (vgl. Schönig et al. 2017; Gluns 2019) und bei der Gewährleistung von ›sauberer Luft‹ um eine verkehrs- und umweltpolitische Aufgabe handelt (vgl. Schwedes et al. 2016; Töller 2019). Diese Politikfelder verweisen nämlich nicht nur auf unterschiedliche Problemlagen und europäische Einflussmomente, sondern auch auf einen spezifischen Mix von Gestaltungselementen – korporatistisch, regulativ und intervenierend – und ein jeweils besonderes Zusammenspiel unterschiedlicher politischer Aushandlungsebenen: Bund, Bundesländer und ländliche Regionen (ambulante Gesundheitsversorgung), Metropolen und Universitätsstädte (Bereitstellung städtischen Wohnraums) und Kommunen, Bundesländer, Bund und Europa (Verminderung der Luftbelastung).

Jenseits dieser institutionellen Besonderheiten gibt es in diesen Politik- und Handlungsfeldern übergreifend, wie auch in anderen Bereichen der Infrastrukturpolitik, beträchtliche Versorgungsmängel – zumindest werden diese von gesellschaftlichen Akteuren behauptet. Die Problemlagen stellen sich räumlich und zeitlich unterschiedlich dar: Der fehlende bezahlbare Wohnraum besteht in Städten, insbesondere in Ballungsräumen, und in den Universitätsstädten. Ebenfalls wird in Städten ein Mangel an ›sauberer Luft‹ politisiert. Bei der unzureichenden ambulanten medizinischen Versorgung geht es hingegen um ländliche Räume – und dabei hauptsächlich um die Regionen, die von größeren Städten weit entfernt sind.

Zeitlich betrachtet sind die Versorgungsdefizite beim Wohnraum und bei der sauberen Luft in der Gegenwart angesiedelt, mithin akut. Zum Teil trifft dies auch bereits auf die ambulante medizinische Versorgung zu. Allerdings gehen die meisten Prognosen davon aus, dass sich hier die Probleme in der (nahen) Zukunft weiter zuspitzen werden. Zugleich haben die politisch besprochenen Versorgungsmängel unterschiedliche Vergangenheiten: Bei der ambulanten medizinischen Versorgung ›auf dem Land‹ kann von einer – historisch allerdings kurzen – Vergangenheit ausreichender, mehr noch: guter Versorgung ausgegangen werden (vgl. Futterer 2020). Beim Wohnen gibt es hingegen einen langfristigen negativen Trend, das heißt eine Abkehr von den ›goldenen Zeiten‹ des Sozialen Wohnungsbaus (vgl. Betz 2021). Etwas anders stellt sich die langfristige Entwicklung der Luftreinhaltung dar. Hier gibt es, was Rußpartikel und andere, schwerindustriell erzeugte Schadstoffe betrifft, durchaus Verbesserungen, nicht aber mit Bezug auf den unsichtbaren Feinstaub (vgl. Nagel 2020). Die Versorgungsmängel werden zudem nicht so sehr im Kontrast zu einer sauberen Vergangenheit, sondern mit Blick auf die ökologische Krise diskutiert, die sich auch in einer defizitären Luftreinhaltung manifestiert.

Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Debatten und Aushandlungsprozesse in den genannten infrastrukturpolitischen Handlungsfeldern durch eine Mehrzahl an Faktoren bestimmt: durch die Art und Dringlichkeit der bestehenden Versorgungsdefizite, durch die Möglichkeiten ihrer Politisierung, durch die gewährleistungsstaatlichen Instrumente und Ressourcen, nicht zuletzt durch die spezifischen Akteursnetzwerke und Diskurskoalitionen, die sich in den infrastrukturpolitischen Konflikten herausbilden und – in der Vermittlung gesellschaftlicher und gewährleistungsstaatlicher Perspektiven – den Verlauf der Debatten und der Problembearbeitung maßgeblich prägen. Die empirischen Analysen dieses Bandes wenden sich, angeleitet durch die skizzierte theoretisch-konzeptionelle Perspektive, vorrangig drei Leitfragen zu:

•Erstens wird danach gefragt, ob und mit welchen Ansprüchen der Gewährleistung – und deren Begründung – gesellschaftliche Akteure in den jeweiligen infrastrukturpolitischen Handlungsfeldern an den Staat herantreten, ihn gleichsam in die Verantwortung nehmen, um öffentliche Güter wie bezahlbares Wohnen, ambulante medizinische Versorgung und saubere Luft in ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen.

•Zweitens interessiert insbesondere, ob es spezifische Probleme oder Hindernisse – Formen des Marktversagens oder der staatlichen Verantwortungsabwehr – gibt, die einer gestärkten und versorgungsadäquaten Infrastruktur entgegenstehen und ob sich, sofern die bisherigen gewährleistungsstaatlichen Bearbeitungsmodi versagen, neue Gestaltungsoptionen ergeben haben.

•Drittens wollen wir analysieren, inwiefern in der Politisierung und Aushandlung öffentlicher Infrastrukturen auch ›schwache Interessen‹ eine Rolle spielen, ob und wie diese aufgegriffen werden und unter welchen Bedingungen es Gruppen mit ›schwachen Interessen‹ gelingt, auf die infrastrukturelle Versorgungslage politisch Einfluss zu nehmen.

Um diese Fragen bearbeiten zu können, richtet sich der Blick nicht nur, aber doch maßgeblich auf die Akteursnetzwerke und Diskurskoalitionen, die die Debatten und Aushandlungsprozesse in den unterschiedlichen Handlungsfeldern prägen. Die Formen der identifizierten Allianzen und ihr Charakter variieren zum Teil erheblich: Sie können stärker inklusiv oder exklusiv, resonanzfähig oder abwehrend und vorübergehend oder beständig angelegt sein (vgl. Leifeld 2017). Die Netzwerke und Koalitionen bringen jeweils spezifische analytische und normative Argumente in die Diskussion ein, beeinflussen und dynamisieren also den politischen Prozess, obgleich ihre formalen Kompetenzen häufig recht begrenzt sind (vgl. Hajer 2002; Münch 2015).

Um die Einflüsse, Dynamiken und Argumentations- und Rechtfertigungsmuster zu erfassen, sind in den unterschiedlichen Handlungsfeldern jeweils fünf bis sechs Fallstudien durchgeführt worden. Die Fallauswahl war nicht nur dadurch bestimmt, dass in den Städten oder Regionen infrastrukturelle Versorgungsdefizite erkennbar waren. Mindestens ebenso wichtig war, dass die Defizite politisiert, also durch öffentliche Diskussions- und Aushandlungsprozesse problematisiert und bearbeitet werden. In der Verbindung dieser beiden Aspekte – Versorgungsdefizite und Politisierung – wurde aufschlussreiches empirisches Material erhoben und ausgewertet.

Die empirische Forschung umfasste mehrere Schritte: Der erste Schritt bestand, gestützt auf die Aufarbeitung des Forschungsstandes und der bereits verfügbaren empirischen Daten, in der Fallauswahl. Dann wurden für die Fälle mit Hilfe einer Diskursnetzwerkanalyse die jeweils besonderen Problemlagen, Interessen und Diskurse identifiziert. Die auszuwertende Datengrundlage bildete die Berichterstattung in der lokalen Tagespresse. Der dritte Schritt bestand darin, die Hintergründe der Diskussionen und die Sichtweisen der beteiligten Akteure durch die Auswertung von Dokumenten und leitfadengestützten Interviews zu vertiefen, bevor die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse nochmals überprüft und zu den bisherigen Befunden und den wissenschaftlichen Diskussionen in Beziehung gesetzt wurden.

Die Rolle, die ›schwache Interessen‹ in Infrastrukturkonflikten einnehmen, ist nicht leicht zu erfassen. Dies liegt zum einen an der mehrdeutigen Bestimmung dessen, was ›schwache Interessen‹ im Kontrast zu starken Interessen – es handelt sich um ein relationales Konzept – genau ausmacht. Bei allen Kontroversen dürfte der kleinste gemeinsame Nenner wohl darin bestehen, dass ›schwache Interessen‹ in politischen Auseinandersetzungen benachteiligt sind, da sie über geringe finanzielle, soziale und kulturelle Ressourcen verfügen und dadurch weniger mobilisierungs-, artikulations- und durchsetzungsfähig sind (vgl. Willems/Winter 2000; Rieger 2012). Unklar ist hingegen, inwiefern dies – im Sinne von ›schwachen Interessengruppen‹ – auch die Organisationen miteinschließt, in denen sich ›schwache Interessen‹ zusammenfinden, also etwa Mietervereine, Patientenvertretungen oder spontan gegründete Bürgerinitiativen. Dafür spricht sicherlich, dass es diese Organisationen – im Verhältnis zu starken, finanziell bestens ausgestatteten und als etabliert betrachteten Verbänden – in den politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen häufig schwer haben, sich Gehör und Einfluss zu verschaffen. Es sollte auch nicht übersehen werden, dass die advokatorische Vertretung, mithin die Repräsentation von ›schwachen Interessen‹ durch starke Organisationen, dazu beitragen kann, öffentliche Ignoranz, politische Benachteiligung und Einflusslosigkeit zu reproduzieren. Dies gilt zumindest dann, wenn advokatorisch engagierte Organisationen nicht zur Aktivierung und Ermächtigung der von ihnen vertretenen Gruppen beitragen, sondern deren Ausschluss aus öffentlichen Diskussionen durch Praktiken einer paternalistischen Bevormundung verstetigen (vgl. Linden/Thaa 2009; Cress 2019).

›Schwache Interessen‹, so konzeptualisiert, sind empirisch nicht leicht – auch nicht in den in diesem Band diskutierten Fallstudien – zu erfassen. Schon die erste Stufe der relativen Marginalisierung von Organisationen und Initiativen in den diskursiven Aushandlungs- und politischen Entscheidungsprozessen kann bedingt durch den institutionellen und rechtlichen Kontext und die politische Dynamik der Infrastrukturkonflikte variieren. Noch komplexer stellt sich die zweite Stufe der öffentlichen Repräsentation dar, setzt deren empirische Erfassung doch voraus, das Verhältnis von Repräsentierenden und Repräsentierten zu untersuchen und auch die alltagsweltliche Selbstwahrnehmung der subalternen Akteure in die Betrachtung einzubeziehen. An dieser Stelle stoßen die Fallstudien dieses Bandes an ihre Grenzen. Gleichwohl können wir davon ausgehen – und gewisse Facetten bestätigen diesen Eindruck –, dass sich ›schwache Interessen‹ in – vielfach expertokratisch geführten – Infrastrukturkonflikten nicht gleichberechtigt und zumeist nicht selbst vertreten können; ein Strukturproblem, das sich – vermittelt über die Prozesse der konflikthaften Aushandlung – letztlich auch in den Infrastrukturen materialisiert.

5Aussichten auf die Gesellschaft von morgen – zum Aufbau des Bandes

Wir gehen davon aus, dass durch die Verfügbarkeit, Beschaffenheit und Operationsweise von Infrastrukturen gesellschaftliche Verhältnisse strukturiert und in gewisser Weise auf Dauer gestellt werden. Infrastrukturkonflikte sind daher nicht nur aktuell bedeutsam. Sie weisen einerseits zurück in die Vergangenheit: Was in gegenwärtigen Infrastrukturkonflikten als Mängel und als Probleme besprochen wird, sind – nicht immer intendierte – Wirkungen vergangener infrastrukturpolitischer Entscheidungen. Mithin wird in gegenwärtigen Infrastrukturkonflikten – wenigstens implizit – notwendigerweise über die Ergebnisse vergangener Infrastrukturkonflikte geurteilt, möglicherweise auch aus den Wirkungen und Folgen vergangener Entscheidungen ›gelernt‹. Infrastrukturkonflikte sind aber auch über die Gegenwart hinaus für die Zukunft bedeutsam: Verhandelt werden Erwartungen, Hoffnungen und Versprechungen darüber, wie der gesellschaftliche Alltag der kommenden Generationen – die Mobilität von Gütern, die Formen der Kommunikation oder die Versorgung mit sozialen Diensten – organisiert, wie in der Zukunft gelebt und wie man miteinander in welcher Gesellschaft leben wird. Dies gilt für die technisch-materiellen genauso wie für die sozialen Infrastrukturen, die sich beide durch Trägheit auszeichnen und daher eine mittel- und langfristige Wirkung haben. In diesem Sinne wird in gegenwärtigen Infrastrukturkonflikten über die Gesellschaft von morgen entschieden, weswegen man durch Einsichten in diese Konflikte Aussichten auf eben jene haben kann. Diese Zukunftsorientierung ist in der Diskussion der oben entwickelten Leitfragen mitzudenken.

Diese Leitfragen strukturieren den Aufbau dieses Bandes. Der Frage nach der diskursiven Artikulation der Versorgungsdefizite und an den Staat herangetragenen Gewährleistungsansprüche widmen sich die Beiträge im nachfolgenden, mit ›Politisierung‹ überschriebenen Teil. In diesem wird mit Blick auf das ›bezahlbare Wohnen‹ diskutiert, warum sich die Wohnungsfrage in deutschen Groß- und Universitätsstädten derart zugespitzt hat und welche Akteure und Allianzen welche spezifischen Narrative in die öffentlichen Auseinandersetzungen einbringen. Ähnlich wird mit Bezug auf die ambulante medizinische Versorgung rekonstruiert, wie die vom ›Landarztmangel‹ betroffenen Landkreise die Unterversorgung thematisieren und wie sich Organisationen und kommunale Akteure – so etwa die Bürgermeister:innen – für die Aufrechterhaltung des Angebots engagieren, indessen sich gewährleistungsstaatliche Akteure, etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), ihrer Verantwortung zu entziehen versuchen. Der dritte Beitrag in diesem ersten Teil befasst sich mit der ›sauberen Luft‹ in Großstädten. In Vergleich zu den anderen beiden Handlungsfeldern gibt es zwei Besonderheiten: Zum einen kommt der EU-Ebene der Gewährleistungsstaatlichkeit eine gewichtige Rolle zu, und zum anderen gibt es mit der Deutschen Umwelthilfe (DUH) eine einflussreiche Repräsentation von ›schwachen Interessen‹, die die institutionellen und rechtlichen Bedingungen für eine verbesserte Luftreinhaltung effektiv zu nutzen vermag.

Im zweiten Teil des Bandes, der den Titel ›Transformation und (strategische) Innovation‹ trägt, geht es dann um die Reaktion der gewährleistungsstaatlichen Institutionen und dabei vor allem um Lernprozesse, neue infrastrukturpolitische Lösungsvorschläge und Instrumente. So scheint sich bei der Bearbeitung der Wohnungsfrage das Arsenal der politischen Instrumente zu erweitern, wobei die gewährleistungsstaatliche Verantwortung derzeit bestimmte Probleme nicht zu lösen vermag: etwa die Entwicklung der Bodenpreise oder die Explosion der Bau- und Energiekosten. Auch bei der Sicherung der ambulanten Versorgung werden – oft durch engagierte Bürgermeister:innen angetrieben – neue Wege gegangen, die von regionalen Gesundheitskonferenzen, über die aktiven Anwerbung von Landärzt:innen und die Einrichtung medizinischer Versorgungszentren bis hin zur Nutzung der Telemedizin reichen. Trotz all dieser Aktivitäten bleiben die tradierten Formen der gewährleistungsstaatlichen Verantwortung nahezu unverändert, weshalb mit Blick auf die demografische Entwicklung – viele Hausärzt:innen gehen in den nächsten 10–15 Jahren in Rente – schon jetzt absehbar ist, dass sich die medizinische Unterversorgung auf dem Land weiter zuspitzen wird. Positiver stellt sich im Vergleich hierzu die Luftreinhaltung dar. Durch die Einschränkung von Dieselfahrzeugen und neue Mobilitätskonzepte, aber auch – dieser Faktor schlägt sich auch in den Messdaten nieder – durch die reduzierte Mobilität in der Covid 19-Pandemie hat sich die Situation in vielen, allerdings nicht allen deutschen Großstädten verbessert. Dennoch ist die Diskussion noch längst nicht vorbei, da sich die Kriterien der Luftreinhaltung – angesichts veränderter Schwellenwerte und der Sensibilität für kleinste Partikel – zuletzt verändert haben.

Der dritte Teil ›Schwache Interessen und die Perspektiven der Infrastrukturpolitik im Gewährleistungsstaat‹ thematisiert die Frage nach der Rolle schwacher Interessengruppen explizit. Es wird diskutiert, wie die diversen Organisationen, die sich als Repräsentanten von ›schwachen Interessen‹ verstehen, dazu in der Lage sind, die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Klientel nicht nur aufzugreifen, sondern diese auch politisch zu aktivieren, ist die eigene Operationsweise doch in besonderem Maße durch Formen der institutionellen Einbindung in die jeweiligen politischen Handlungsfelder bestimmt. Den Abschluss bildet ein Auswertungskapitel, in dem in einer übergreifenden, zum Teil vergleichend angelegten Zusammenfassung und Reflexion der empirischen Befunde, auffällige Merkmale im Verlauf der Infrastrukturkonflikte wie auch des Wandels der gewährleistungsstaatlichen Institutionen und Praktiken herausgearbeitet werden.

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