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Als blinder Passagier auf Güterzügen durch die USA Sie pfeifen auf den amerikanischen Traum und führen ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Getrieben vom Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung fahren die Hobos illegal auf Güterzügen durch das Land. Eine verschworene Subkultur mit eigener Sprache, moralischem Kodex und Liedern, die sich mit dem Bau der transkontinentalen Eisenbahn entwickelte und bis heute im Schatten des neon-grellen Amerika weiterlebt. Dreieinhalb Monate reiste Fredy Gareis mit diesen Überlebenskünstlern, Landstreichern und Vagabunden durch ein Amerika, das die wenigsten kennen, und lernte von einem Hobo-König, wie man sich als blinder Passagier durchschlägt. Er erlebte Zusammenhalt und Großzügigkeit, die Weite aus Licht und Wind, Einsamkeit, Gewalt und Drogen. Geschichten, die tiefe Einblicke in die raue Seele der USA gewähren: über die Kraft des Individuums, über Enttäuschung, Wut und über das Glück, arm, aber frei zu sein.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
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www.piper.de
Für Tuck, Shoestring
ISBN 978-3-492-99014-1
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Redaktion: Fabian Bergmann, München
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Ben Miller/Plainpicture (unten), Fredy Gareis (oben)
Bildteilfotos: Fredy Gareis
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Karte: Cartomedia, Karlsruhe
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Karte
Teil I: Betreten verboten
1 - Es war kurz nach Mitternacht, ...
2 - Anderthalb Wochen zuvor im Mittleren ...
3 - Die Main Avenue schnitt durch ...
4 - Der Hobo war ein Wanderarbeiter ...
5 - Der Dschungel ist ein Lager, ...
6 - Die Hobotage gingen zu Ende. ...
7 - Ein paar Tage später in ...
8 - Vor den diversen Kirchentreppen und ...
9 - Die Tage vergingen in dem ...
10 - Kurz vor Mitternacht im Süden ...
11 - Drei Uhr morgens, und wir ...
12 - Die Bilder und die Geräusche ...
Anmerkungen
Teil II: Blinde Passagiere
1 - Shoestring drückte den Zaun nach ...
2 - An dem Tag, als ich ...
3 - Der Arbeiter mit der Taschenlampe ...
4 - Der Unfall konnte vor nicht ...
5 - Am Morgen war Shoestring guter ...
6 - Traindoc ist eine Ikone der ...
7 - La Junta liegt am westlichen ...
8 - Das Red Dog war eine ...
9 - Der alte Mann namens Myers ...
10 - Denver befindet sich im South ...
11 - Ron brach über uns herein ...
12 - Cheyenne ist also der Ort, ...
13 - Ein Schneesturm fegte ungebremst durch ...
14 - Die von Osten und Westen ...
15 - Wenige Momente im Leben sind ...
16 - Auf der Riverside Avenue, einer ...
17 - »Das soll wohl ein Witz ...
18 - Am nächsten Morgen saß ich ...
Anmerkungen
Teil III: Vielleicht der Himmel, vielleicht die Hölle
1 - Zwischen Hölle und Paradies liegen ...
2 - In seiner braunen Jacke verschmolz ...
3 - Während draußen die Wüste waagrecht ...
4 - Der Himmel graute, und der ...
5 - Morgens im McDonald’s, nach einer ...
6 - Chad raste über die Stadtautobahn ...
7 - Obwohl schwer beladen mit einer ...
8 - Die Zeiten von Chicagos Hobohemia ...
Anmerkungen
Epilog
Dank
Bildteil
There’s a race of men that don’t fit in,
a race that can’t stay still;
So they break the hearts of kith and kin,
and they roam the world at will.
They range the field and they rove the flood,
and they climb the mountain’s crest;
Theirs is the curse of the gypsy blood,
and they don’t know how to rest.
Robert W. Service; The Men That Don’t Fit In
I hate to hear that freight train blow, boo-hoo!
Every time I hear it blowin’, I feel like ridin’ too.
Trixie Smith; Freight Train Blues
Es war kurz nach Mitternacht, als die Polizei die Landstraße entlanggerauscht kam. Die beiden Rentner Tuck und Ricardo fluchten leise und schmissen sich in ein Maisfeld. Schwarze Moskitowolken flogen auf. Der Mais stand schulterhoch, die Erde, auf der wir nun lagen, war feucht. Tuck schob ein paar Maisstangen mit den Händen auseinander. Er blickte hindurch und sagte: »Fuck the police.«
Der Streifenwagen fuhr an uns vorbei, verschwand Richtung Waseca, einer kleinen Stadt mit 10000 Einwohnern im Bundesstaat Minnesota. Die beiden Hobos standen auf und klopften sich schimpfend die Erde von den Hosen. Scheiß auf die Polizei, scheiß auf die Regierung und scheiß auf das System.
Die Landstraße war wieder leer, die Nacht sternenklar. Ruhe. Die Gleise neben der Straße schimmerten silbern im Mondlicht.
Dann zerriss ein dröhnender Pfiff die Stille.
Erst einmal, dann zweimal. Der Güterzug schob sich rumpelnd aus dem Bahngelände in der Stadt. Das Signal strich scharf über das Maisfeld und brach sich erst am Getreidesilo, bevor es von der Lok eingeholt wurde. Vor unseren Füßen vibrierte der Schotter. Die Gleise sangen. Es war ein Lied von Aufbruch und Bewegung, gehört und verstanden von allen Hobos der letzten 150 Jahre. Die Leuchte der Lok schnitt einen runden Tunnel durch die Dunkelheit.
Nichts, aber auch gar nichts, kann dich auf diesen Moment vorbereiten, wenn die lärmende Höllenmaschine auf einmal an dir vorbeidonnert und die Räder Funken auf den Gleisen schlagen. Jetzt herrschte laut der Zug.
Die schulterlangen weißen Haare von Tuck und Ricardo flatterten im Windkanal von 10000 Tonnen Stahl. Ein Wagen nach dem anderen verschwand in Richtung der 60 Meilen[01] nordöstlich gelegenen Kreisstadt New Ulm. Die Waggons rasselten wie an einer gigantischen Kette.
Ricardo spuckte auf den Boden. »Gottverdammte Scheiße. Da fährt sie hin.«
Von der Lampe am Getreidesilo beleuchtet, sagte Tuck: »Komm schon, du Hurensohn, nimm uns verdammt noch mal mit.«
Die beiden Hobos standen mitten in der Nacht, angespannt wie zwei Comanche-Indianer, die im Begriff waren, auf wilde Mustangs zu springen.
Schließlich ein rostiges Kreischen. Es wurde lauter und lauter. Und noch lauter. Fast schon widerwillig kam der Zug zum Stehen. »Gott sei Dank«, sagte Ricardo. Kurzer Schlag auf Tucks Schulter und dann sofort zugabwärts, also weg von der Lok. Ein Hobo will immer so weit wie möglich von der Lok entfernt sein.
Ricardo ging über den Schotter voraus. Rechts von uns stand ein Zug nach Osten, links unser Zug nach Westen. Jeder Waggon etwa 20 Meter lang und fünf Meter hoch. Eine Schlucht aus Stahl, und es war finster in ihr. Die groben Steine knirschten unter unseren dicken Sohlen. In der Kuhle zwischen beiden Gleissträngen hatte sich Brackwasser gesammelt. Es stank.
Hinter mir sagte Tuck: »Nichts Fahrbares! Alles Selbstmord. Fucking motherfucker!«
Ricardo war da bereits 100 Meter weiter gelaufen. Zwischen Zug und Highway befand sich noch eine sandige Zufahrtsstraße, die zum Bahngelände führte. Auf ihr näherte sich plötzlich das Licht von Scheinwerfern. »Runter!«, rief Ricardo und duckte sich dicht an die Räder.
Die Scheinwerfer gehörten zum Wagen, der das Personal aus der Lok holte und zurück zum Bahnhofsbüro fuhr. Hoboarithmetik besagte, dass wir nun ein paar Minuten hatten, bevor er wieder zurückkommen würde.
»Fucking motherfucker«, fluchte Tuck erneut.
»Vielleicht auf der anderen Seite, vielleicht haben wir was übersehen«, meinte Ricardo und kletterte die Leiter eines Getreidewaggons hoch. Manchmal fühlten sich seine Füße an, als würden sie gleich abfallen, hatte er mir zuvor gesagt, aber jetzt setzte er sie elegant wie eine Ballerina auf den Steg, der wie eine überdimensionierte Käsereibe aussah, und stieg auf der anderen Seite wieder runter. Ich machte es genauso, griff aber mit meinen Handschuhen jede Leitersprosse und jede Strebe so fest, dass ich sie fast zum Schmelzen brachte. Adrenalin jagte mir die Wirbelsäule rauf und runter. Mein erster Güterzug.
Tuck keuchte. »Mein Rücken bringt mich um.«
Schließlich waren wir alle drei auf der anderen Zugseite. Ricardo tänzelte voran durch die Dunkelheit. Er ging die Waggons ab und suchte nach einem Ridable, etwas Fahrbarem. Die Landstraße war immer noch leer, sonst hätte jeder im Scheinwerferlicht diese merkwürdigen Gestalten am Güterzug gesehen, vielleicht für Terroristen gehalten und die Polizei gerufen.
»Hey!«, rief Tuck. »Wo zum Teufel läufst du denn hin, Ricardo? Hier sind doch zwei, Rücken an Rücken.«
Es waren ebenfalls Getreidewaggons, Hoppers oder Grainers genannt. Diese beiden hatten zwar keine durchgehende Plattform, waren also im Prinzip auch Selbstmord, weil es über dem Mahlwerk der Räder keine kleine »Veranda« aus Stahl gab. Dafür aber hatte jeder Waggon am Ende zwei runde Löcher, in die man klettern konnte. Das Ganze sah entfernt aus wie das Gesicht einer Eule.
Tuck lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. Legte die Tasche ab, stützte die Hände auf die Knie und spuckte aus. Seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg.
Ricardo ließ kurz seine Taschenlampe aufflammen und leuchtete in eines der Löcher. »Da drin liegt benutztes Klopapier.«
»Ist mir scheißegal. Ich geh keinen Schritt weiter. Das ist mein Baby.«
Während Ricardo noch im Graben neben den Gleisen nach einem Stück Pappe suchte, kletterte Tuck die Leiter hoch, schwang sich durch die kreuz und quer laufenden Stahlstreben des Waggons. Mit den Füßen voran schlüpfte er in eines der etwa 50 Zentimeter großen Löcher, wie sich einst ein Marinematrose durch die Schottöffnungen eines U-Boots schwang. Tucks Loch lag Richtung Fahrtwind, die Hobos sagen dazu ole dirty face.
Vom anderen Ende des Zuges auf einmal das grelle Licht von Scheinwerfern. Der Personalwagen, und er kam schnell näher.
»Rein mit dir«, sagte Ricardo.
Mein Herz pumpte heißes Blut durch die Adern. Ich konnte fast nichts sehen und wusste kaum, was ich tat. Was ich wusste, war: Das ist das letzte waschechte amerikanische Abenteuer.
Ricardo schlug mir auf den Rücken. »Jetzt!«
Anderthalb Wochen zuvor im Mittleren Westen der USA, Bundesstaat Iowa. Kurz nach Sonnenaufgang streckte ich meinen Daumen raus. Links ging es nach Mason City, rechts nach Britt, einem Nest von 2000 Einwohnern. Ich drehte mir gerade die zweite Zigarette, da stieg der Fahrer eines schwarzen Pick-ups in die Bremsen und fuhr nach rechts auf den Standstreifen. Unter den wuchtigen Rädern knirschte es.
Der Fahrer ließ das Fenster runter. Er trug einen breitkrempigen Hut, etwa so groß wie einer seiner Autoreifen. »So früh schon unterwegs?«
Ich nickte.
»Wo soll’s hingehen?«
»Nach Britt, zu den Hobotagen.«
»Zu den Hobotagen?«
»Ja, Sir.«
»Na, jedem, wie’s ihm gefällt. Steig ein.«
Bis nach Britt waren es 30 Meilen, und die Route 18 verläuft durch das spiegelflache Land wie fast alle Straßen in der Kornkammer der USA, gerade wie ein Lineal. Der Fahrer war Farmer und hieß Krieger, hatte deutsche Vorfahren. Stoisch hielt er sich an die vorgegebene Geschwindigkeit von 50 Meilen pro Stunde.
Ich schwieg und schaute aus dem Fenster. Felder um Felder, auf denen Sojabohnen knie- und der Mais schulterhoch wuchsen. Es war Anfang August. Bald würden die gigantischen Farmmaschinen über die Felder dreschen, die Farmer den Mais und die Sojabohnen auf Güterzüge verladen lassen, von denen die Ernte dann in alle Ecken der USA transportiert werden würde. In keinem anderen reichen Land wird so viel Fracht über die Gleise abgewickelt wie hier. Die Schienen sind die Blutbahn der amerikanischen Wirtschaft, und die Güter sind der Sauerstoff, der den Organismus am Leben hält.
Auf der anderen Seite der Landstraße reihten sich Motels an Autohändler an gigantische Supermärkte. Durch die Fensterscheiben der Imbisse sah man bereits die Frühaufsteher ihren Toast buttern. Sie teilten den gebratenen Speck entzwei und wischten sich mit den Servietten die Reste des Spiegeleis aus den Mundwinkeln. Die Bedienung eilte mit einer Kaffeekanne von Tisch zu Tisch – would you like some more, honey? Little bit of cream, sweetheart?
Es ist das Amerika des gut gefüllten Magens, das Amerika der Pick-up-Trucks. Hat man ein Problem mit der Kreditkarte, sagt die freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung, dass alles wieder in Ordnung sei und man doch bitte immer weiter lächeln und die Karte weiter glühen lassen solle.
Hat dieses Land, das Land der Freien, sonst nichts mehr zu sagen? Gibt es diese Freiheit nur noch in den großen alten Erzählungen? In den Zeilen von Herman Melville, Mark Twain, Jack London? Zählt nur noch der Konsum, das Geld? Hören wir nur noch von Trump, den Kardashians? Ist ganz Amerika zu einer hysterischen Realityshow verkommen, in der es nur noch um Oberflächlichkeit, das Höher, Schneller, Weiter geht?
Ich wollte ein anderes Amerika sehen.
In ein paar Wochen würde mich niemand honey oder sweetheart nennen, sondern Abschaum oder nutzloses Stück Scheiße. Die Polizei hielte nach mir und meinen neuen Freunden Ausschau. Und dennoch würde ich freier sein, als ich es vielleicht je war, zu einem exklusiven Klub gehören, den es seit der Zeit gibt, als die Eisenbahn dieses Land endgültig erschlossen hat.
Natürlich wusste ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich wusste nur, dass in Britt einmal im Jahr eine Bande von Außenseitern zusammenkommt, um den König und die Königin der Hobos zu krönen, schon seit 116 Jahren.
Ich hatte dieses Thema bereits seit einigen Jahren auf dem Zettel, seit meinem ersten Buch, um genau zu sein. Ich sage das nicht, um mich selbst zu zitieren, sondern weil ich auf jener Reise einen Exilamerikaner in Budapest kennengelernt hatte, der mir eines Abends bei mehreren Bier von den Hobos und dem legendären »Crew Change Guide« erzählte. Justin berichtete von einer Schattenwelt der Obdachlosen, die auf den Gleisen unterwegs sind und auf den amerikanischen Traum pfeifen. Nicht nur das. Sie sind sogar stolz darauf und verkörpern mit ihrer Unabhängigkeit die uramerikanischen Tugenden des Individualismus und der Selbstbestimmung. Sie suchen das Glück nicht auf Kontoauszügen, sondern auf der Straße. Aber nenn sie bloß nicht Penner. Ein Hobo ist ein Amerikaner, wie er in den alten Büchern steht. Frei, wild, ungezähmt.
Obwohl ich amerikanische Geschichte studiert habe, wusste ich so gut wie nichts von diesen modernen Nomaden. Ich kramte in meinem Gedächtnis und fand schnell alles zur amerikanischen Expansion in den Westen des Kontinents, zur sich ständig verschiebenden Besiedlungsgrenze, die Frontier genannt wurde. Ich erinnerte mich an Huckleberry Finn, diese große Figur der US-Literatur, die symbolisch für den Kampf gegen die sich langsam ausbreitende Zivilisation stand, in jener Zeit, als aus Wildnis erst Territorien und dann Bundesstaaten wurden.
Aber warum wusste ich nichts über die Hobos?
Jetzt im August war ein hervorragender Zeitpunkt, das zu ändern. Ich kam gerade aus einem Bürojob, den ich, entgegen meinen Gewohnheiten, für ein halbes Jahr angenommen hatte, weil die brotlose Kunst eben brotlos blieb. Die Bezahlung war nicht gut, sondern großartig, morgens gab es kostenloses Frühstück, mittags kochte man zusammen.
Nach zwei Wochen wollte ich mich aus dem Fenster stürzen. Jeden Tag die gleiche Scheiße, immer unter Aufsicht, und dann auch noch ein Chef, der wie ein Rumpelstilzchen durch die Büroräume tobte. Ich schlug drei Kreuze, als ich wieder gehen konnte. Die ganze Zeit hatte ich dabei an die Hobos gedacht. Ihr unbändiger Wille nach Freiheit schien mir das perfekte Gegenmittel zu sein.
»Da wären wir«, sagte der Farmer.
»Bitte?«
»Bisschen in Gedanken, was? Wir sind da. Das ist Britt. In all seiner Pracht.«
Ich schaute an seinem Doppelkinn vorbei durch das Fenster. Eine Straße, so breit wie die Elbe, führte in den Ort. Ein paar Autos standen an der Tankstelle des Casey’s General Store, dahinter waren ein Bahnübergang und zwei Getreidesilos zu sehen.
»Danke für die Fahrt. Sehen wir uns vielleicht im Ort? Dann gebe ich Ihnen gerne ein Bier aus.«
Der Farmer grunzte. »Da kriegen mich keine zehn Pferde hin. Ständig sind diese Penner besoffen, schlagen sich durch die Bars, terrorisieren die Bevölkerung, stechen sich gegenseitig ab, und dann stinken sie noch bis zum Himmel. Danke, nein.«
Ich schaute noch mal an seinem Doppelkinn vorbei. Messerstechereien? Die Bevölkerung terrorisieren? Das hörte sich vielversprechend an, sollte man gar nicht meinen bei diesem verschlafenen Örtchen.
»Also, eine Metropole ist Britt aber anscheinend auch nicht gerade.«
»Wem sagst du das. Was glaubst du denn, warum dieses Treffen genau hier stattfindet?«
Ich nickte, ohne zu wissen, warum, stieg aus und holte meinen Rucksack von der Ladefläche. Der Farmer tippte an seinen Hut und drehte mit seinen dicken Fingern die Klimaanlage hoch. Dann fuhr er langsam auf die Straße zurück, nicht ohne noch einen verächtlichen Blick auf das fünf Meter hohe Schild zu werfen, das hinter einer Blautanne in die Luft ragte. Es zeigte die Abbildung eines Hobos mit abgerissenen Schuhen und seiner Habe in einem Bündel sowie in großen fetten Lettern die Ankündigung: »BRITT NATIONAL HOBO CONVENTION11 – 14 August«.
Ich schulterte meinen Rucksack und überquerte die Straße.
Die Main Avenue schnitt durch den Ort wie ein Messer durch warme Butter. Ich ging an der Tankstelle vorbei, kreuzte die Bahngleise und ließ die beiden Getreidesilos hinter mir. Der Wind frischte auf und wirbelte den Sand auf dem Seitenstreifen hoch. Am Heartland Diner hingen im Schaufenster zwei Pappschilder. Auf dem einen stand: »Texas Hobo Mike for Hobo King«. Auf dem anderen: »Vote for Ricardo«. An der Farmers Trust & Savings Bank fuhren die Einwohner von Britt an die Automaten und zogen Geld, ohne das Auto verlassen zu müssen. Die Sonne stieg hoch in den Himmel, die Luft war klar. Die Wettervorhersage versprach Temperaturen um die 30 Grad.
Ich war einen Tag zu früh, aber meiner Erfahrung nach ist es selten schlecht, zu früh aufzutauchen. Wenn Dinge erst mal in Gang sind, kannst du leicht Probleme bekommen, dich in Ruhe zu unterhalten. Und da mein Plan war, jemanden kennenzulernen, um mit ihm (oder ihr) auf Güterzüge zu springen, konnte ich eigentlich nicht früh genug da sein.
Fast alle Gebäude waren einstöckig und aus Backstein. Ich passierte einen Billigladen namens Dollar General, die Bar J & D’s Hobnob und den Baumarkt Swenson’s Do it Best. Die Parkplätze an der Straße waren schräg angeordnet, und wenn einige Bewohner von Britt aus ihren SUVs und ihren Pick-ups stiegen, ächzten die Wagen und richteten sich dann wieder auf.
Ich ging noch ein paar Schritte und fragte mich, wo diese Hobo Convention denn sein sollte. Von der anderen Straßenseite wehte der Geruch von brutzelnden Burgern rüber. Mein Magen grummelte. Gerade, als ich mich zu dem Lokal begeben wollte, hörte ich hinter mir eine Stimme.
»… Ich kann nicht glauben, dass Iowa Blackie nicht mehr unter uns ist. Der Kerl war zwar nichts anderes als ein Höhlenmensch im Overall, das Gesicht meist schwarz wie die Nacht vor lauter Schmutz, aber er konnte Gedichte schreiben, das konnte er. Gedichte schreiben und Güterzüge reiten.«
Ich drehte mich um nach der weiblichen, aber tiefen Stimme. Zwei Frauen saßen auf einer Bank vor dem Hobo Museum im dunklen Schatten des dreieckigen Vordachs. Ich wäre doch fast daran vorbeigelaufen.
»Gott, er war so verliebt in mich … Eines Tages sind wir gemeinsam auf einen Güterzug aufgesprungen, und er hat mich extra in die falsche Richtung bugsiert, damit er mehr Zeit mit mir verbringen konnte. Blackie … ruhe in Frieden.«
Die Frau, die von einem gewissen Iowa Blackie erzählte, war vielleicht in den späten 50ern und feierlich aufgetakelt wie eine Fregatte kurz vor dem Auslaufen beim Hamburger Hafengeburtstag: die Jeansjacke von oben bis unten voller Aufnäher, die Handgelenke voller bunter Armbänder, auf dem Kopf einen Strohhut, um den sie ein rotes Halstuch gewickelt hatte. Die Frau neben ihr war noch ein Mädchen, trug kurze Hosen und strich sich alle paar Sekunden die schwarzen Haare hinter das Ohr. Ich schätzte sie auf 15 oder 16 Jahre.
»Hallo, Fremder«, sagte die Ältere, »kann ich dir helfen?«
»Tja«, fing ich an, »ich bin, wie soll ich sagen, auf der Suche nach Hobos.«
Die Frau schlug sich auf das Knie unter dem Jeansrock. »Hast du das gehört, Angie Dirty Feet? Er sucht Hobos!«
Ich nickte.
»Ich bin Jewel. Minneapolis Jewel. Viermalige Königin der Hobos. Ich würde sagen, du hast sie gefunden.« Jewel klimperte mit ihren Augenlidern. Sie sah aus wie eine Frau, die den Schalk im Nacken hatte. Ganz normal kann man ja wohl nicht sein, wenn man auf Güterzüge springt. Das zumindest war meine Hoffnung.
»Hast du Hunger?«, fragte sie mich.
»Aber wie.«
Jewel wandte sich an Angie Dirty Feet, ihre Enkelin, wie ich später erfahren sollte. »Wir sehen uns später. Ich werde den jungen Mann jetzt mit in den Dschungel nehmen.«
»Dschungel?«
»Du weißt ja gar nichts, mein Lieber. Da gibt’s was zu futtern, und du kannst dir einen Platz zum Schlafen suchen.« Jewel stand auf, und ich folgte ihr.
Angie Dirty Feet blieb auf der Bank sitzen, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf den Knien. Sie hatte ein sehr süßes Lächeln – jung, unschuldig, frisch – und würde sich bald auf verhängnisvolle Weise in einen jungen Hobo verlieben.
Der Hobo war ein Wanderarbeiter und genauso amerikanisch wie der Cowboy. Er tauchte auf der Bühne auf, weil es einen Arbeitsmarkt für ihn gab. Der Begriff leitet sich wohl ab vom Wort hoe für »Hacke« und boy für »Junge«. Manche schreiben über den Hobo, dass Amerika ohne ihn überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Er arbeitete auf den Feldern, in Bergwerken, legte Gleise für die Eisenbahn. War obdachlos und unverheiratet, meistens unterwegs nur mit den Klamotten am Leib und einem kleinen Bündel an einem Stock über der Schulter. Immer gab es einen Job in der Ferne, und wenn nicht, dann machte er sich auf und suchte danach.
Und dafür nutzte er dieses neue Transportmittel, die Eisenbahn, deren Gleise von Immigranten, Chinesen, Schwarzen und den Hobos selbst gelegt worden waren, und reiste als blinder Passagier durchs Land. Die Weite da draußen verwandelte ihn in einen harten, risikofreudigen und radikalen Menschen. Um zu überleben, musste er vielseitig wie ein Schweizer Armeemesser sein. Immer in Bewegung, immer am Improvisieren. Und die Zähmung des galoppierenden Stahlrosses verlieh ihm einen großen Teil seiner Identität. Aus den Hobos wurde eine Bruderschaft, eine der ersten amerikanischen Subkulturen. Sie entwickelten eine eigene Symbolsprache und verschrieben sich sogar einem moralischen Kodex, mit dem sie sich von den Tramps und Bums, den Arbeitslosen und Pennern, abheben wollten. Ein passender Spruch über die Hobos geht so: Wenn es draußen kalt ist, dann nimmt ein Tramp eine Zeitung und stopft sie sich unter die Klamotten. Ein Hobo tut das Gleiche, aber davor liest er die Zeitung noch. Hobos, die Elite des sozialen Kellers.
Mit dem Ende des Bürgerkrieges spülte es Tausende Menschen auf die Straße, nach dem Finanzcrash von 1873 mehrere Millionen. Die Lage beruhigte sich um die Jahrhundertwende, und in den späten 1920ern sah man den Hobo als ein Relikt der Vergangenheit an. Dann brach die Wirtschaft am 24. Oktober 1929, dem Schwarzen Donnerstag, erneut zusammen. Die Große Depression sorgte für Menschenmassen auf den Güterzügen, wie man sie heute aus indischen Vorstädten kennt. Und während der normale Penner an der Straßenecke keine Fürsprecher hatte, wurden die Hobos von großen Namen in Lied und Vers, zwischen Buchseiten und auf Leinwänden verewigt.
Nach Wirtschaftskrise und Weltkrieg wurde der Hobo dann allerdings immer wieder für tot erklärt, und dennoch kam immer wieder eine neue Generation, die dem Wort und dieser Lebensform neue Bedeutung verlieh. In den 1970ern, zum Beispiel, waren es die Vietnamveteranen. Traumatisiert durch den Krieg im Dschungel, konnten sie sich nicht mehr in die Gesellschaft eingliedern und suchten Trost auf den Gleisen, in der Weite der amerikanischen Landschaft und in den Lagern an der Strecke, passenderweise ebenfalls Dschungel genannt, allerdings schon lange zuvor.
Wer bevölkert diese Welt auf und neben den Gleisen heute, fragte ich mich, während ich über die große Wiese wanderte, auf der mich Jewel abgesetzt hatte. Das war also der Dschungel: In der Mitte war eine große Feuerstelle eingerichtet. Dahinter, neben dem Zaun zu den Bahngleisen, stand ein kleiner Schuppen, in dem die Kühlschränke untergebracht waren. Ein paar Meter weiter gegenüber befand sich ein überdachter Aufenthaltsbereich mit Holzbänken und Tischen.
Unter dem Holzpavillon war nichts los, nur ein paar Leute, die eher aussahen, als wären sie auf einem Ausflug mit einem Seniorenheim. Manche von ihnen brauchten fünf Minuten, bis sie sich eine Zigarette aus der Packung gefingert und angezündet hatten.
Auf der anderen Seite der Wiese, direkt neben dem Zaun, der das Gelände von den Gleisen abgrenzte, standen auch noch ein paar Zelte, ein weiteres Feuer brannte, und von einem Dreibein hing ein brodelnder Topf. Drum herum ein kleiner Kreis von Männern, gemischtes Alter. Etwas weiter links auf ein paar Metern Gleisen ein ausrangierter Box Wagon. Dieser geschlossene Güterwaggon, in dem sich die Reiseträume aller Hobos manifestieren, sieht aus wie ein fettes, horizontal liegendes I und hat in der Mitte, oft auf beiden Seiten, eine Schiebetür.
Ich ging hin, grüßte, setzte mich auf einen freien Stuhl und tat erst mal nichts anderes als zuhören. Die Typen hießen Ricardo, Tattooed Slim, K-Bar, Tuck und Aaron.
Tuck hatte einen Zahn unten links und einen unten rechts. Augen so hellblau, dass sie schon fast weiß waren. Ständig eine Zigarette zwischen den Fingern. Ein gefaltetes Halstuch um die Stirn gewickelt.
K-Bars Bauch glich einem Fass. Breite Schultern. Mächtige Bärenpranken.
Tattooed Slim war schmal und aus Arizona. ZZ-Top-Bart. Am Hals stand tätowiert: »Made in America«. Auf der Innenseite der nach oben gebogenen Baseballkappe geschrieben: »I still play with trains«.
Ricardo trug unter seiner Kappe eine getönte Brille, immer lachend, immer entspannt. Geschieden, drei Kinder.
Eins davon war Aaron. Um die 30, schwarzer Walrossschnauzer, dicke Unterarme. Und der sprang nun auf. Wie der Rückkehrer einer erfolgreichen Expedition erzählte er von seinem letzten Ritt, den er mit seinem Vater unternommen hatte.
»Wir saßen also endlich in der Gondel[02] und genossen die Fahrt, aber dann hielt der Zug an einem Bahnübergang und blieb ewig lang stehen. Ewig! Ich schaute raus, Scheiße! Eine alte Frau steht da mit ihrem Pudel und redet mit einem Polizisten. Und was macht sie dabei? Zeigt immer wieder in unsere Richtung! Kacke, ich dachte, jetzt sind wir dran. Q-Tip, der alte Haudegen – Mann, der Kerl stinkt vielleicht, ist total tollpatschig mit seinen Riesenfüßen, aber er hat echt Eier. Der fährt auch gern mal 1000 Meilen, um diesen einen bestimmten Flipper in dieser einen abgeranzten Bar zu spielen. Jedenfalls, Q-Tip krabbelt um den Waggon herum, um zu hören, was da los ist. Und wisst ihr, was Sache war? Die Alte hat sich einfach beschwert, dass der Zug sie davon abhält, in die Stadt zu fahren!«
Gelächter, Schläge auf die Oberschenkel, Husten.
K-Bar räusperte sich in seinen Weihnachtsmannbart und sagte: »Heutzutage muss man da draußen echt vorsichtig sein. All die braven Bürger und ihre Handys und diese verdammte Paranoia seit 9/11.«
Seit dem 11. September grüßt dich der Spruch »see something, say something«schon am Flughafen, begleitet dich in der U-Bahn und verfolgt dich danndurch das ganze Land.
»Ach«, sagte Tuck, »scheiß auf die ›Bürger‹. Dann geht man halt ein paar Tage in den Knast, was soll’s.« Auf dem einen Unterarm ein tätowierter Totenkopf, auf dem anderen eine Dampflok, die aus einem Tunnel schießt. Schmutz unter den langen, breiten Fingernägeln. »Oben in Montana, was war es da kalt. Kälter als das Herz deiner Exfrau. Da haben wir dem Gesetz freiwillig unsere Hände hingehalten und gesagt, los, mach schon, du Drecksack! Three hots ’n’ a cot!« Drei warme Mahlzeiten und ein Klappbett. Tuck lachte dreckig. »Du musst doch eher aufpassen, dass dich nicht irgendein Hurensohn im Schlaf umbringt.«
»So wie Sidetrack«, warf K-Bar ein.
»Ja, genau. Ich kann mich noch an eine Nacht in Vancouver erinnern. Drei Tage lang haben wir uns Crystal Meth reingezogen. Wir mussten unbedingt schlafen und sind in einen Waggon auf dem Güterbahnhof geklettert. Wer hing da rum? Sidetrack. Kam gerade aus Kalifornien und meinte, klar halte ich euch den Rücken frei. Die ganze Nacht saß er da mit einer Machete. Der Pisser hätte uns alle abschlachten können. Hat er aber nicht. Keine Ahnung, warum.«
»Ich glaube«, sagte K-Bar, »man hat ihm viel mehr angehängt, als er tatsächlich verbrochen hat. Nie im Leben hat er 37 Hobos umgebracht.«
»Die Scheißmedien haben sich eben auf alles gestürzt, was mit der FTRA zu tun hatte«, erwiderte Tuck.
Die FTRA war eine Bande von Hobos, die in den späten 1980ern und 1990ern ziemlich berüchtigt war. Die Abkürzung steht für Freight Train Riders of America, manche sagen aber auch, Fuck the Reagan Administration würde genauso passen, denn der damalige Präsident hatte in einem neoliberalen Anfall alle Sozialleistungen gekürzt und einen selbst erklärten Krieg gegen »Schattenmenschen« geführt.
»Morgen kommen sie alle schon wieder und wollen irgendwelche Geschichten hören.« Tuck lachte tief und kehlig, gefolgt von einem kurzen Hustenanfall. Er fingerte eine filterlose Zigarette aus der Packung, zündete sie sich an. Dann wandte er sich unvermittelt an mich. »Du.«
»Ich?«
»Jewel sagt, du gehörst auch zu dem Pack. Bist ein Reporter, was?«
»Schriftsteller.«
»Potato, patata. Ich erzähl dir mal was.« Alle Nebengespräche wurden eingestellt. »Vor ein paar Jahren kam dieser Typ her und wollte etwas über Sidetrack wissen, über meinen Kumpel Dogman Tony, über die FTRA und den ganzen Scheiß. Weißt du, was ich dem Hurensohn gesagt habe?« Tuck schaute mich mit seinen stechenden Augen an.
Ich schüttelte meinen Kopf.
»Ich sagte, okay, das Ganze läuft so: Du gehst in die Stadt und holst mir einen Zwölferpack Bier, und wenn du das erledigt hast, erzähl ich dir was.« Tuck zog so stark an seiner Zigarette, dass sie fast in Flammen aufging. »Der Kerl kam wieder, wie hieß er noch mal? Quakenbush, genau. Jedenfalls hatte er das Bier und meinte, okay, was kannst du mir sagen? Ich nahm mir eine Flasche. Weißt du, was ich dir sagen kann? Verpiss dich! Ich rede nicht mit Reportern, und schon gar nicht mit der gottverdammten Polizei! Mach dich weg, du ruinierst sonst noch meinen Ruf.«
Tuck beugte sich nach vorne und hustete einen Grünen aus der Lunge, den er ins Feuer spuckte, wo der Schleim von Tausenden Zigaretten zischend verbrannte.
Der Dschungel ist ein Lager, üblicherweise in der Nähe zu einem sogenannten Division Point, einem Bahngelände, wo Züge entweder zusammengestellt werden oder halten, um weitere Loks oder neues Personal aufzunehmen. Er sollte nicht zu weit weg von der Stadt und der Lebensmittelversorgung sein, aber weit genug entfernt, damit man Ruhe vor dem Gesetz, seinen Vollstreckern sowie diversen anderen Leuten hat, die glauben, dass Hobos Freiwild sind. Das Lager kann eine windgeschützte Ecke oder aber eine elaborierte Angelegenheit mit ausrangierten Möbeln und mehreren Feuerstellen sein. Um die Jahrhundertwende und bis in die Zeit nach der Großen Depression hinein waren die Dschungel gefüllt mit Dutzenden Hobos auf der Suche nach Arbeit. Von den Bäumen hingen Rasierspiegel, in einem großen Topf wurde Mulligan Stew gekocht – ein Eintopf, in den einfach alles reinkommt, was man hat –, in einem anderen Wäsche gesäubert. Der Dschungel ist Kommunikationszentrale und auch Schule für die Anfänger, in der die essenziellen Techniken für das Überleben auf der Straße von den Älteren vermittelt werden. Das Lager ist sauber zu halten. Müll gehört ins Feuer. Jeder trägt bei, was er kann. In der Stadt holt sich der Hobo die Vorräte, im Dschungel fühlt er sich zu Hause.
Der Dschungel in Britt war von etwas anderer Sorte, aber das Prinzip war das gleiche, und in den nächsten Tagen wurde er immer voller: Hobos, Freunde und Familie sowie sogenannte Hobos at Heart, Menschen, die eine große Sympathie für diesen Lebensstil hegen, aber selbst nie eine kalte Nacht unter einer Brücke verbringen würden. Pünktlich um 18 Uhr gab es Abendessen, dessen Zutaten ein dafür bekannter Hobo aus Mülltonnen organisiert und in einem auseinanderfallenden Auto hierhertransportiert hatte. Kurz darauf fuhr meist ein Güterzug vorbei, und das versammelte Volk spitzte die Ohren wie ein Rudel Hunde, wenn sie irgendwo einen Wolf heulen hören.
Abends dann Geschichten, Gesang und Musik am Lagerfeuer. Man tanzte den Hobo Shuffle. Ein stockdünner Hobo fiel um, bekam keine Luft mehr, und der Krankenwagen musste kommen. Ein paar Jugendliche nisteten sich im Box Wagon ein und hauten sich mit Drogen weg. Zwei Hobos bezichtigten sich wild gestikulierend gegenseitig des Diebstahls. Die Urne des verstorbenen Hobos Stretch wurde auf dem Hobofriedhof beigesetzt. Einer versuchte, mir zu erzählen, dass er, wenn er nicht auf den Gleisen unterwegs war, mit Prince und Pearl Jam auf Tournee ging. Ein anderer sang so wundervoll a cappella, dass ich ihm sofort einen Plattenvertrag angeboten hätte, wäre das mein Beritt. Ein Sommergewitter fegte durch das Lager, die nur lose befestigten Zelte flogen über die Maisfelder.
Ich freundete mich mit K-Bar und einem weiteren Hobo namens Frog an. Frog war schwul und hatte nur noch ein Bein. Das andere hatte er bei einer sehr hässlichen Angelegenheit verloren. Trotzdem machte er mir Avancen, als wir in der Bar im Ort einen trinken waren.
Es war schön, lustig und machte mich langsam fertig. Morgen fände schon die Krönung statt, und ich wusste immer noch nicht, wie es weiterginge, hatte immer noch niemanden, der mich in diese Welt einführen würde. Mein Gefühl sagte mir ganz klar: Tuck. Warum? Weil er nicht wollte. Weil ich ahnte, dass er eine richtig krasse Straßenschule hinter sich und in seinem Leben bestimmt das eine oder andere Ding gedreht hatte. Außerdem hatte mir jemand gesteckt, dass Tuck mit Jewel, seiner Frau, direkt neben den Gleisen wohnte und aktive Hobos bei ihnen ein und aus gingen, sich ausruhten und verproviantierten, bevor sie sich wieder auf die Gleise begaben. Aber jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, fragte er mich bloß zum x-ten Mal, wie ich hieß, und lief dann, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter.
Ich ging für ein paar Stunden ins Museum im Ort, brauchte Ruhe.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert war Chicago der große Eisenbahnknotenpunkt. Von der Metropole am Lake Michigan gingen 40 verschiedene Eisenbahnen aus, alleine innerhalb der Stadtgrenzen lagen zu jener Zeit mehr Gleise als in Deutschland und der Schweiz zusammengenommen. Die Hobos kamen dort zu Hunderttausenden durch. Entweder auf der Suche nach Arbeit bei den zahlreichen Jobagenturen im Hobohemia genannten Viertel in Downtown oder um zu überwintern. Jedenfalls dachten sich daraufhin ein paar clevere Geschäftsmänner in Britt, dass man diese Burschen doch für ihr jährliches Treffen 400 Meilen weiter nach Nordwesten locken könnte, um die verschlafene Kleinstadt endlich auf die Karte zu hieven. Angeblich soll ein gewisses Maß an Freibier bei der Entscheidungsfindung der Hobos eine Rolle gespielt haben. Seitdem stellt die Stadt ihnen das Gelände an den Gleisen zur Verfügung und veranstaltet gleichzeitig einen Jahrmarkt und Konzerte drum herum. Aber die zwei Welten mischen sich eigentlich nicht, die gefühlte Distanz zwischen beiden ist so groß wie die Zahl der Gleiskilometer damals in Chicago.
Zurück im Dschungel, nickte Tuck wieder mal und ging weiter, also beschloss ich, es bei Spike zu probieren. Spike war Grand Head Pipe. Während der König nur zeremonielle Aufgaben hat, regiert der Head Pipe den Dschungel, achtet drauf, dass niemand über die Stränge schlägt, und schlichtet Streitereien.
Spike war ein sogenannter Bridger, konnte sich also damit rühmen, Dampf und Diesel gleichermaßen geritten zu sein. Er kannte hier jeden.
Soso, du willst also auf Güterzüge springen, ich nickte, und er fügte hinzu, tja, es gebe tatsächlich nichts Besseres, als einen Zug zu reiten, die Rückseite von allen Städten zu sehen, die frisch gewaschene Wäsche in den Gärten der Bürger zu riechen. Ein seliger Ausdruck trat auf sein Gesicht. Einen Moment sagte er gar nichts. Dann verschwand dieser selige Ausdruck so schnell, wie er aufgetaucht war. Spike sah mir tief in die Augen und begann einen zehnminütigen Vortrag über die Gefahren auf den Gleisen (Gewalt, Gefängnis und bei mir als Ausländer auch Ausweisung), den er damit abschloss, dass er mir seinen Zeigefinger gegen das Schlüsselbein stieß und sagte: »Ich rate dir in aller Form davon ab.«
Nice talking to you, fügte er hinzu und ging davon, um die Kandidaten für die morgige Königswahl unter die Lupe zu nehmen.
Eine Weile stand ich vor den Porträts des verstorbenen Stretch, die jemand an eine Holzwand genagelt hatte, und überlegte, wie ich nun weiter vorgehen sollte. K-Bar tauchte neben mir auf, schaute sich die Aufnahmen von Stretch ebenfalls an.
»Na«, sagte er, »hat er dir Angst gemacht?«
»Ach was.«
K-Bars Freund, mit dem er oft auf den Gleisen unterwegs gewesen war, war im vergangenen Jahr in einem Dschungel neben den Gleisen in Arizona gestorben. Die Hobos sagen dazu, he has caught the westbound, er hat den Zug nach Westen genommen, und zwar für immer. K-Bars Augen wurden wässrig. So viele Bilder vor dem inneren Auge, so viele gemeinsame Abenteuer.
Schließlich wandte sich der ehemalige Marine ab und sagte zu mir: »Komm, ich will dir was zeigen.«
Wir gingen um den Holzpavillon herum auf einen kleinen Parkplatz. K-Bar öffnete die Schiebetür zu seinem weißen Transporter und rumorte in einem Armeerucksack herum. In ein paar Monaten würde er in Rente gehen, und dann wollte er nur noch eines machen: reisen. Wieder auf Züge springen, so wie früher. Der gottverdammten Regierung in Washington den Stinkefinger zeigen.
Aus den Tiefen seines Rucksacks zog er ein weißes fotokopiertes Buch von 120 Seiten. Ich war kurz sprachlos und nahm es in die Hand. Es war der »Crew Change Guide«, von dem mir Justin in Budapest erzählt hatte. Er listet alle Güterbahnhöfe in den USA (plus Kanada) auf, Bundesstaat für Bundesstaat, wo die Züge abfahren, wie man auf das Bahngelände kommt, wo der Personalwechsel stattfindet und wie lange er dauert. Der Personalwechsel ist das A und O der Güterzugfahrerei. Die Lokführer dürfen nur in Schichten von acht bis zwölf Stunden fahren, dann muss eine andere Besatzung auf den Zug. Bei einer Geschwindigkeit von etwa 110 Stundenkilometern und einer Breite des Landes von 4500 Kilometern kann man sich ungefähr ausrechnen, wie oft es zu Personalwechseln kommen muss. Der CCG ist also eine unheimlich wertvolle Ressource, eine Art »Lonely Planet« für Hobos. Und dessen Autor, Traindoc, ist unter allen, die Güterzüge reiten, nichts weniger als eine lebende Legende. Der Kerl weiß mehr über Güterzüge als die Eisenbahngesellschaften selbst.
Ich blätterte durch das Büchlein und blieb bei Iowa hängen. Britt hatte nur Durchgangsverkehr, der nächste Güterbahnhof war in Mason City: »The YD is 2MNW of DT, off mains. YO is at S throat of YD. Go N on Federal, past ball fields (the green bus will get you close). Cross over the mains and wait in trees.«
Das hörte sich kniffliger an, als ich gedacht hatte. Aber vorne drin war ein Glossar, irgendwann würde ich schon dahintersteigen.
»Danke, Mann, ich fühle mich geehrt.«
»Oh nein«, sagte K-Bar und nahm mir den CCG wieder aus der Hand. Der sei nichts für Anfänger, sondern nur für waschechte Typen mit Erfahrung. Den müsse man sich erarbeiten.
Stattdessen gab er mir, man kann schon sagen in feierlicher Weise, eine Landkarte, auf der alle Güterzugrouten verzeichnet waren. Allerdings musste ich ihm versprechen, nichts Dummes zu machen, nicht besoffen auf einen Zug zu springen und mir im besten Fall einen Mentor zu besorgen.
»Alter, was denkst du eigentlich, was ich hier die ganze Zeit probiere?«
»Tja«, sagte er. »Wärst du letztes Jahr gekommen, hättest du bestimmt mit Stretch fahren können … Traindoc wäre natürlich eine gute Nummer, aber der taucht hier nie auf, ist sicher irgendwo auf den Gleisen unterwegs und aktualisiert den CCG.« K-Bar zuckte mit seinen mächtigen Schultern. »In Britt weiß man nie. Manchmal ist hier ein Dutzend aktiver Hobos, und manchmal gar keiner.«
Die Hobotage gingen zu Ende. Ricardo wurde zum neuen König der Hobos gekrönt, eine Frau namens Sunrise zur Königin. Beide hielten nun Hof und trugen Kronen, die aus dem Aluminium einer Familienpackung Kaffee ausgeschnitten worden waren.
»Jeder, der nicht auf der Straße ist, sitzt im Gefängnis«, sagte einer, bevor er aufbrach. »Nur unterwegs erfährt man die wahren, die richtigen Dinge. Man muss sich schon ins Ungewisse begeben.« Er rückte seine Schiebermütze zurecht und ging los. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch mal um und rief: »Und vergiss nicht, Jesus war der erste Hobo!«
Ricardo fuhr nach Minnesota, K-Bar nach Texas, Tattooed Slim nach Arizona, Frog nach Montana. Nur ich wusste nicht, wohin. Ich hatte die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben, etwas von Tuck zu lernen, aber all meine Annäherungsversuche waren bislang erfolglos geblieben.
Tuck hatte sein Gepäck in einem grünen rostenden Dodge Minivan verstaut, jetzt saß er auf einem Stuhl, einen Fuß auf der Kante, und schnitt sich die Zehennägel. Allerdings hob er jeden einzelnen davon auf, besah ihn kurz und steckte ihn dann in eine durchsichtige Plastiktüte. »Birdman«, sagte er nur, als ich ihn fragend anschaute. »Der Kerl mag merkwürdige Geschenke.«
Birdman wohnte in Indiana und war tatsächlich ganz wild auf Zehennägel, durchtrennte Nabelschnüre, herausgenommene Nierensteine und so weiter. Das Ganze katalogisierte er in seiner Jeffrey Dahmer Body Parts Antiquites Collection, die nach dem von den 1970ern bis in die 1990er mordenden kannibalistischen Serienkiller benannt war, der die Überreste mancher Opfer aufbewahrt hatte.
»Hat mich gefreut«, sagte ich und wollte Tuck viel Glück wünschen.
»Yo, Fredy. Güterzüge reiten ist nicht ohne.« Wieder dieser eisblaue Blick, »Und ich denke, du hast einfach keine Ahnung, was du da machst.«
Ich sah keinen Grund zu widersprechen.
»Schau dich doch einfach mal an.«
Ich schaute mich einfach mal an. »Was meinst du genau?«
»Was zur Hölle soll denn dieser feuerrote Rucksack? Damit sieht dich doch jedes Schwein. Und diese Leuchtstreifen auf der Jacke, die kannst du dir auch gleich überkleben.«
Da hatte er wohl recht. In Europa legt man bei der Outdoorausrüstung ziemlich viel Wert drauf, dass man gesehen wird. In diesem Milieu ist es genau andersrum.
Während ich dumm in der Gegend rumstand, klippte Tuck den letzten Zehennagel, tat ihn in den Beutel und verschloss ihn. Sechs Nägel. Vier seiner Zehen sind bei einem Unfall auf einem Ölfeld in Texas draufgegangen.
»Zeig mir deine Fingernägel«, forderte er mich auf. »Ah«, sagte er, als er sie dicht genug vor den Augen hatte, »richtig schöner Dreck aus Britt. Da wird Birdman im Dreieck tanzen.« Er ließ meine Hand wieder los und reichte mir einen neuen Beutel. »Steck sie hier rein. Schreib was drauf. ›Fingernägeldreck Britt 2016‹ oder so. Und wenn du fertig bist, kommst du mit. Gonna take you to hobo school.«
Ich atmete durch und nahm den Klipper, den er mir hinhielt.
»Hast du eine Frau oder Freundin zu Hause?«
Ich nickte.
»Liebst du sie?«
»Ja, sehr, aber was hat das denn damit zu tun?«
Tuck lachte. Schüttelte den Kopf. »Wenn du erst mal bei 60 Meilen die Stunde aus einem Boxcar gepisst hast, tja, vielleicht hast du dann überhaupt keinen Bock mehr auf dein normales Leben zu Hause. Wärst nicht der Erste.«
Ein paar Tage später in Minneapolis, einer Großstadt am Oberlauf des Mississippi im Bundesstaat Minnesota. An einem der Dutzend Bahnübergänge stand ein Güterzug und brachte den Verkehr zum Erliegen.
Tuck und ich waren unterwegs zu einem Baumarkt, um ein paar Ausrüstungsgegenstände für das Leben auf den Gleisen zu besorgen. Weil Tuck am frühen Morgen zwei Joints geraucht hatte, saß ich hinter dem Steuer seines Wagens. Der Aschenbecher quoll über, hinten lagen Angelausrüstung und Schlafsäcke.
Die Sonne hatte den Zenit erreicht, die Luft flirrte über dem Asphalt. Der Zug stand einfach da, ja, er lag geradezu herum wie eine rostige, fast zwei Kilometer lange Schlange, von der nur der Bauch zu sehen war, und bewegte sich nicht.
Die anderen Fahrer neben, vor und hinter uns begannen zu hupen, ließen ihre Fenster runter und formten Hände und Finger zu obszönen Gesten. Der Einzige, der ruhiger zu werden schien, war Tuck.
Er holte einen Dosenöffner aus dem Handschuhfach, setzte ihn an eine Konserve herzhaften Hühnereintopfs und machte diesen mit ein paar Drehungen auf. Dann führte er die Konserve an die Lippen und trank sie in drei Zügen aus. Eines Tages war er in Spokane, Washington, mit sechs Tallboys auf dem Arm erst aus dem Schnapsladen gestolpert, dann auf dem Weg in den Dschungel über die erste Schiene und danach mit dem Mund auf die zweite gekracht. Die paar übrig gebliebenen Zähne tauchten jedes Mal auf, wenn er über die Tatsache lachte, dass zwar seine Kauleiste gelitten hatte, dafür aber keine einzige der sechs 0,7-Liter-Flaschen Bier zu Bruch gegangen war.
Mit dem tätowierten Unterarm wischte er sich die Reste des kalten Eintopfs aus dem Gesicht und stellte die Dose in den Fußraum auf der Beifahrerseite. Dann fingerte er sich eine filterlose Smoking Joe aus einer verbeulten Packung und zündete sie an.
Der Fahrer nebenan lehnte sich mit schweißfleckiger Achsel aus dem Fenster eines bulligen Pick-ups und rief ihm entrüstet zu: »Was macht dieses Stück Scheiße da?«
»Was heißt hier Stück Scheiße? Ich bin dieses Stück Scheiße geritten.«
»Oh yeah?«
»Yeah, war sogar Hobokönig. Coast to coast on a piece of toast[03]. 25 Jahre lang.«
Der andere Fahrer schaute Tuck kurz ungläubig an, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Zug, und die Hand auf der Hupe verlieh seiner Ungeduld erneut Nachdruck.
»Narr«, sagte Tuck zu mir. »Der Zug fährt, wenn er fährt.« Er zog so stark an der Zigarette, dass sie runterbrannte und die Glut die Härchen auf seinen Fingern versengte. Sein Blick glitt über die Länge des Zuges und tastete die Waggons nach dem Grad ihrer Fahrbarkeit ab: suicide, suicide, ridable, cadillac suicide, dirty face, gondola, almost ridable, impossible.
Tucks Lieblingsstrecke war die Highline, berühmt-berüchtigte Strecke der Hobos zwischen Minneapolis und Seattle. Hundertfach war er sie auf und ab gefahren, wie ein Telegramm die Leitung entlangsummt, hin und her, hin und her, bis sich ihm die Geografie der Gleise, aller Obdachlosenunterkünfte, Schnapsläden, Blutspendestellen, Suppenküchen und Dschungel tief in die Matrix gebrannt hatte. Tuck schaute lang und intensiv auf diesen Zug, der alle anderen Verkehrsteilnehmer langsam zur Verzweiflung brachte, und in seinem Blick lag Sehnsucht.
Ende der Leseprobe