Konstantinopel – Istanbul - Malte Fuhrmann - E-Book

Konstantinopel – Istanbul E-Book

Malte Fuhrmann

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Beschreibung

Eine historische Reise durch Istanbul, von Justinian bis Erdoğan: Der Historiker Malte Fuhrmann lebt seit vielen Jahren in der Stadt am Bosporus - hier erzählt er von den Geistern der Stadt, die in den alten Gemäuern allgegenwärtig sind, von aufständischen Janitscharen und plündernden Kreuzrittern, von Hofintrigen und blutig aufgelösten Gewerkschaftsdemonstrationen. Istanbul ist eine Stadt der Vielfalt und der Widersprüche, voller Geschichte und Geschichten. Dort begegnen sich Christentum und Islam, Europa und Asien, aber auch Herrscher und Rebellen, wie 2013 am Gezi-Park. Malte Fuhrmann nimmt dieses Ereignis, das er selbst miterlebt hat, als Ausgangspunkt für seine Reise durch die Zeiten, von Konstantinopel unter Justinian über die Eroberung der Stadt durch Mehmed II. bis hin zu Erdoğan. Wer Istanbul erkunden, wer die Türkei von heute begreifen möchte, für den ist dieses Buch eine Schatzkammer der Entdeckungen. Lebendig und fesselnd wie die Stadt selbst.

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Malte Fuhrmann

Konstantinopel – Istanbul

Stadt der Sultane und Rebellen

FISCHER E-Books

Inhalt

Einführung1. Wie eine Landzunge zur Welthauptstadt wurde2. Die Wiedergeburt Roms3. Die »große Stadt der Römer«4. Das komnenische Jahrhundert5. Wie die Königin der Städte gestürzt wurde6. Auserkoren und von Gott verlassen7. Die »Schwelle zur Glückseligkeit«8. Konfession, Krise, Kaffee9. Krieg den Palästen!10. Friede den Palästen!11. The party is over12. Die Belle Époque am Bosporus13. Der AbsturzIstanbul - Ein Gedicht von Vedat Türkali (1944)14. »In den Händen der Räuber«15. Die Entstehung der Megacity16. Drei Wochen im Park17. Schrecken und (k)ein Ende?DankLiteraturPersonen- und Ortsregister

Einführung

Am Abend des 15. Juni 2013 gegen 21 Uhr wurde der Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul durch die Polizei gewaltsam geräumt. Vierzehn Tage lang war er von einer großen spontanen Volksbewegung besetzt gewesen. An diesem Samstagabend war der Park besonders dicht gefüllt. Niemand hatte mit einer Räumung am Wochenende gerechnet. Ich war an dem Tag in einem abgelegenen Stadtteil unterwegs. Von der Räumung erfuhr ich erst, als ich im Bus zurück eine junge Frau am Telefon zu ihrer Mutter sagen hörte, sie könne heute nicht nach Hause kommen. In der Hand hielt sie eine Zitrone – ein oft benutztes Mittel zur Behandlung von durch Tränengas gereizten Augen. Schließlich bekam der Busfahrer die Weisung, uns ohne Stopp im großen Bogen um den Taksim-Platz herumzufahren. Wir wurden erst drei Kilometer hinter dem Platz herausgelassen. Zu Fuß strömten die Menschen in Richtung Gezi-Park. Als wir die Gegend erreichten, war der Park bereits geräumt, aber auf der Cumhuriyet Caddesi, einer sehr breiten Allee, die auf den Park zuführt, befanden sich Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Menschen. Die meisten schienen spontan und unvorbereitet zur Rettung des Parks herbeigeeilt zu sein. Ich erinnere mich an eine Frau in Abendkleid und Stöckelschuhen, die als Teil einer Menschenkette Pflastersteine für den Bau einer Barrikade weiterreichte. Trotz der Menschenmassen war die Räumung der Allee nur eine Frage der Zeit. Immer wieder schoss die Polizei Tränengas in die Menge, gegen das nur wenige mit Atemmasken geschützt waren. Die wenigsten der dort versammelten Menschen hatten Erfahrung im Straßenkampf, so dass sie vor den übermüdeten und daher aggressiven und gewaltbereiten Polizisten ohne größeren Widerstand zurückwichen.

Tief in der Nacht, nach mehreren Stunden, in denen sich Tränengaseinsätze, Zurückweichen, Barrikadenbau und erneutes Zurückweichen abwechselten, verstreute sich die Menge. Müde und verschwitzt, die Augen vom Tränengas gereizt, beschloss auch ich, in meine nahegelegene Wohnung zu gehen. Trotz der Erschöpfung, der Wut über die Polizeibrutalität und der Sorge um Freundinnen und Freunde in anderen Stadtteilen, die ich wegen der polizeilichen Straßensperren nicht erreichen konnte, hatte ich erstaunlicherweise ein gutes Gefühl. Es war das Gefühl, mit mir, meinen Mitmenschen und der Stadt um mich herum im Reinen zu sein. Es ist eine eigenartige Stimmung, die schwer zu beschreiben ist und die wohl nur in historisch bedeutenden Momenten klar hervortritt. Hier hatten Menschen kreativ, solidarisch und verantwortungsvoll gehandelt und so ihr »Recht auf Stadt« ausgelebt.

Das »Recht auf Stadt« wurde am deutlichsten von Henri Lefebvre in seinem 1968 erschienenen gleichnamigen Buch formuliert. Demnach ist die Stadt mehr als lediglich eine Reservatenkammer an Arbeitskräften, die nach getanem Werk ihre Bedürfnisse durch Massenkonsum befriedigen und ansonsten in schlichten Großwohnanlagen weggeschlossen werden. Stattdessen schwebte Lefebvre die Vision einer Stadt als gelebte Utopie vor, als Ort der Vielfalt, des Austausches und des gemeinsamen Feierns. Der Mehrwert, der dadurch entsteht, dass die Stadtbewohner sich auf unterschiedliche Aufgaben spezialisieren, sollte allen als öffentliches Gut zur Verfügung stehen. Dies meinte Lefebvre nicht nur im Sinne von Geld: Vor allem sollten die kulturelle und intellektuelle Produktion, die soziale Infrastruktur und insbesondere der städtische Raum allen im gleichen Maß zur Verfügung stehen.[1] Ein solches utopisches Fest, bei dem Kreativität, Ressourcen und Aufgaben freigiebig geteilt wurden, hatten die Bewohner Istanbuls im Gezi-Park gerade hinter sich.

Doch nicht nur mit den heutigen Menschen Istanbuls – und mit seinen zahlreichen Straßenkatzen und -hunden, die bei der Verarztung nach den Tränengaseinsätzen nicht vergessen wurden – fühlte ich mich verbunden. Auf eine seltsame Weise fühlte ich mich auch mit dem Geist dieser Stadt im Reinen. Mark Mazower hat in seinem Buch Salonica Thessaloniki als »Stadt der Geister« bezeichnet, als Stadt, in der es bis heute spukt. So sei in den 1930er Jahren der Geist des islamischen Heiligen Musa Baba gesehen worden, wie er in der Nähe seines Grabes in der Oberstadt umherwandert. Noch heute träumen Menschen dort von Kellern voller Janitscharen oder byzantinischen Nekropolen, die unter ihren Häusern liegen. Gerüchte über versteckte Schätze der deportierten Juden oder Geister in den verfallenen Villen am Meer halten sich hartnäckig. Denn die deutschen Besatzer (1941–1944) und der griechische Nationalstaat seit 1913 hatten die multikulturelle Geschichte der Stadt auslöschen wollen und dazu die muslimischen und jüdischen Friedhöfe, die Derwischkonvente und die Synagogen zerstört. Durch den Spuk, so Mazower, kommt zum Ausdruck, dass das Gedenken an die Toten vergangener Jahrhunderte in der heutigen Stadt keinen Ort mehr findet, jedoch ebenso wenig dem Vergessen anheimfällt.[2]

Mit Istanbul verhält es sich anders. Im Jahr 2014 spürte der Filmemacher Ben Hopkins in einem experimentellen Dokumentarfilm den Geistern Istanbuls, der langen Vergangenheit der Stadt, nach. Er durchstreifte mit seinem Kamerateam die Straßen und fand zahlreiche Hinweise auf frühere Zeiten.[3] Zwar wurde durch Fortschrittsglauben, kurzsichtiges Profitstreben, einseitige Erinnerungspolitik und Vernachlässigung sehr viel der alten städtischen Substanz zerstört. Sowohl das Gedächtnis der Menschen weit über die Stadtgrenzen hinaus als auch die zahlreichen Bibliotheken, die Straßen und vor allem der Istanbuler Boden sind jedoch so gesättigt mit Überresten aus der Vergangenheit, dass ihre Geister stets Gehör und einen Ort finden werden. Neben den großen, spektakulären Moscheen, Kirchen und Palästen sind es vor allem die unscheinbaren, kleinen Orte, an denen dies möglich erscheint. So folgte ich vor ein paar Jahren einigen Jugendlichen durch eine einfache Tür, hinter der es abwärts ging, bis wir mehrere Stockwerke unterhalb der Straßen ankamen. Dort spazierten wir durch die gewaltigen Bögen des Verlieses, in das der oströmische Kaiser Alexios I. Komnenos einst den unbotmäßigen General Michael Anemas gesperrt hatte und in dem der abgesetzte Kaiser Andronikos seine letzten Tage verbrachte. Bei anderer Gelegenheit zeigten mir Arbeiter in einer ärmlichen Metallwerkstatt im Stadtteil Galata stolz das zwischen ihren zurechtgeschnittenen Blechen sichtbare Deckengemälde, das offenbar auf die vor Hunderten von Jahren hier residierenden Italiener zurückgeht. Vor allem aber sind es die Friedhöfe der Stadt, die noch heute Zeugnis ablegen vom Leben der vielen vorangegangenen Generationen und von der einstigen religiösen Vielfalt der Stadt. Muslimisch, griechisch-orthodox, bulgarisch-orthodox, rumänisch-orthodox, armenisch-apostolisch, jüdisch-sephardisch, jüdisch-karaimisch, katholisch, evangelisch, anglikanisch – all diese Gemeinden haben noch heute eigene Grabplätze in der Stadt. In meinem Stadtteil Beşiktaş frühstückten Studenten bis vor kurzem in Pandos Café, dessen Familie aus der Gegend des heutigen Bulgariens stammt. Pando selbst hatte als Kind noch den Paschas der letzten Sultane Sahne (kaymak) in ihre Villen geliefert. Und nur wenige Meter von dem inzwischen durch den Hausbesitzer geschlossenen Café entfernt steht eine Backstube, die bis heute »7-8 Hasan Pascha« heißt, nach dem berüchtigten Polizeichef von Sultan Abdülhamid, dem sie im 19. Jahrhundert gehörte.

Mit diesen Geistern, oder besser gesagt: mit dem Geist der Stadt fühlte ich mich nun, nach fünf Jahren in Istanbul, mehr verbunden als je zuvor. Denn wie erst im Nachhinein deutlich wurde, hatten wir in diesen Tagen Ende Mai und Anfang Juni 2013 tatsächlich an einem bedeutenden Ereignis teilgehabt. Es war allerdings in der langen Geschichte dieser Stadt keineswegs einzigartig, sondern stand in einer langen Tradition. Istanbul und zuvor Konstantinopel ist zwar wie keine andere Stadt von Anfang an eine Stadt der Kaiser und Sultane gewesen; gleichzeitig haben sich jedoch zu den unterschiedlichsten Zeiten stets Menschen in der Stadt zusammengefunden, die ihr »Recht auf Stadt« reklamierten und nicht bereit waren, dem Kaiser zu geben, was angeblich des Kaisers ist. Sie versammelten sich auf den Plätzen oder in den Kaffeehäusern, im Stadion oder an den Ufern, um sich den sozialen, infrastrukturellen oder kreativen Mehrwert der Stadt anzueignen oder ihn umzuverteilen. Nicht alle diese Menschen kann man umstandslos als Helden feiern, und vielleicht sind nicht alle Herrschenden, die die Stadt gesehen hat, uneingeschränkt als Tyrannen zu bezeichnen. Doch das Wechselspiel zwischen diesen unterschiedlichen Polen, der Gestaltung der Stadt von oben wie von unten, hat wesentlich zu ihrem facettenreichen Charakter beigetragen.

Diese wechselhafte Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Herrschenden und Widerspenstigen um Konstantinopel-Istanbul, die das Leben in dieser Stadt über die Epochen hinweg geprägt hat, soll auf den folgenden Seiten erzählt werden. Zahlreiche spannende Geschichten gäbe es zu erzählen, denn über viele Jahrhunderte war Istanbul die bevölkerungsreichste, intellektuell produktivste und reichste Stadt in Europa und dem Nahen Osten. Zwar werden auch die Entwicklung der Stadt im Laufe der Jahrhunderte, ihre Geographie und ihre Bauten eine wichtige Rolle spielen. Doch vor allem geht es darum, bestimmte entscheidende Momente, einzelne Personen und Zeiträume genauer in den Blick zu nehmen und zu veranschaulichen, wie die unterschiedlichen Menschen ihre Zeit jeweils sahen und erlebten.

Die Geschichte ist nie nur die der Herrschenden. Sie wäre unvollständig ohne diejenigen, die die Vorgaben der Herrschenden ausführen, sie aufgreifen, um sich hieraus eigene Chancen zu erschließen, die Vorgaben mehr schlecht als recht an ihren Alltag anpassen oder sich offen gegen sie auflehnen. Im Konstantinopler Hippodrom beispielsweise drückte sich die Herrschaft der oströmischen Kaiser aus. Seine Geschichte wäre aber unvollständig, wenn man die Anhänger der Pferderennen vergessen würde, die mit ihrer Begeisterung dem Gebäude erst Leben eingehaucht haben, hier den Kaiser verhöhnten und schließlich grausam massakriert wurden (siehe Kapitel 2). Und so war Istanbul immer wieder Schauplatz von Machtkämpfen zwischen autoritären Herrschern und Marodeuren. Mal als Hort der Schönheit, mal als menschenverachtender Moloch bezeichnet, verstand diese Stadt es über die Zeiten hinweg, sich immer wieder neu zu erfinden und dabei doch sie selbst zu bleiben, während andere, teils weit ältere Städte untergingen, zu provinziellen, musealen Hüllen ihrer selbst verfielen oder bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet wurden.

Konstantinopel-Istanbul war über anderthalb Jahrtausende – wenn auch mit einigen Unterbrechungen – die Hauptstadt eines der größten Reiche des euromediterranen Raums, ob dessen Herrscher nun römische Kaiser oder osmanische Sultane waren. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verlor die Stadt diese Rolle, ist aber mittlerweile wie bereits in der Spätantike eine der bevölkerungsreichsten und durch Handel und Finanzen am stärksten vernetzten Städte der Welt. Einerseits hat Istanbul den euromediterranen Raum geprägt: In der Sophienkathedrale von Kiev findet man genauso Darstellungen Konstantinopels und seiner Herrscher wie in den Kirchen Ravennas. Der Kölner wie der Limburger Domschatz, der Dogenpalast wie der Markusdom in Venedig haben Konstantinopel viel von ihrer Berühmtheit und Pracht zu verdanken, durch rechtmäßigen Erwerb ebenso wie durch Plünderungen. Viele der noch heute erhaltenen Brücken, Bäder oder Moscheen in Orten wie Skopje, Thessaloniki oder Budapest gehen auf die Hofarchitekten Istanbuls zurück. Andererseits wurden die Geschicke Konstantinopels nicht nur von ihren Bewohnern, sondern stets auch von Geschehnissen in weiter Ferne mit beeinflusst. Eine verlorene Schlacht in Armenien, eine neue militant-religiöse Bewegung in Frankreich, die Ausfuhrbestimmungen in China, ein Ernteausfall in Arabien oder eine Epidemie in Ägypten sind nur einige Beispiele für Faktoren, die schon in der Spätantike und im Mittelalter weitgehende Konsequenzen für die Stadt am Bosporus mit sich bringen konnten. Deswegen muss eine Erzählung über die Geschichte dieser Stadt stets ein Stück Imperial- und Globalgeschichte sein.

Nomen est omen? Zur tückischen Frage der richtigen Namen von Stadt und Staat

Das Kapitel »Begriffe und Namens- und Transkriptionsformen« ist meist eine müde Pflichtübung, über die gerne hinweggeblättert wird. Allerdings ist gerade für die Geschichte Istanbuls Sprache ein wichtiger Punkt. Deswegen hier ein paar Worte zu den Namen für die Stadt und für die wechselnden Staaten, die von hier aus regiert wurden.

Auf den ersten Blick scheint alles einfach: Das antike Byzanz, so eine gängige Annahme, wurde durch Kaiser Konstantin 330 in Konstantinopel umbenannt; seit der osmanischen Eroberung 1453 heißt die Stadt Istanbul. Doch ganz so einfach ist es nicht. Zur Zeit Konstantins wurde mit dem Namen der neuen Reichshauptstadt zunächst experimentiert. »Das neue, zweite Rom«, »östliches Rom«, »Alma Roma«, »Byzantias Romi« sind nur einige der Namen, die in dieser Zeit geformt wurden, wobei sich zunächst Neu-Rom (Nova Roma) durchsetzte. Erst in den kommenden Jahrhunderten wurde Konstantinstadt (Konstantinopel oder genau genommen Konstantinoúpolis) die übliche Bezeichnung, während der eine oder andere literarisch versierte Autor gerne immer noch »Byzantion« als Variante einsetzte.

Und obwohl Konstantinopel für die nächsten Jahrhunderte der offizielle Name war, waren doch viele Zeitgenossen zu mundfaul, ihn auszusprechen. Griechischsprachige Bewohner des Reichs nannten sie oft schlicht »i Poli« – die Stadt. Was für eine andere, vergleichbare Stadt konnte es auch neben dieser geben?

Auf dieser griechischen Variante, genauer auf der Variante »stin Poli« (in der Stadt), beruht ebenfalls der türkische Name Istanbul, der nachweislich schon vor 1453 existierte. Allerdings wurde dieser Name jahrhundertelang vor allem umgangssprachlich verwendet, wenngleich er gelegentlich in offiziellen Wendungen und Dokumenten auftritt. Nachdem sie 1453 die Stadt eingenommen hatten, waren die osmanischen Herrscher zunächst damit zufrieden, weiter von Konstantinstadt zu reden, wenn auch in der arabischen Variante (Konstantiniyye). In den kommenden Jahrhunderten kamen einige höchst blumige Namen hinzu: »Hort des Islams« (Islambol) oder »Pforte zur Glückseligkeit« (Dersaadet) zieren offizielle Dokumente des Hofes oder städtische Einrichtungen. Die 1923 gegründete Türkische Republik verstand sich als volkstümlicher, laizistischer und antimonarchistischer Staat, der sowohl die religiös als auch dynastisch geprägten Namensvarianten abschaffte und »Istanbul« als einzig gültigen Namen betrachtete. In Sprachen der christlichen Welt war »Konstantinopel« noch bis ins frühe 20. Jahrhundert die übliche Bezeichnung für die Stadt, doch allmählich setzte sich durch den Druck der neuen Türkischen Republik die umgangssprachliche, halb griechische, halb türkische Bezeichnung Istanbul weltweit durch.

Ungeachtet dessen existierten und existieren in zahlreichen Sprachen – neben den vielen Varianten von »Konstantinstadt« und »(in) die Stadt«, wie beispielsweise dem armenischen »Bolis« oder dem hebräischen »Kuschta« – zum Teil bis heute eigenständige Bezeichnungen für die Stadt, darunter in so unterschiedlichen und fern der Stadt gesprochenen Sprachen wie Urdu, Isländisch und Russisch.[4] Die Stadt hat also viele Namen, und keine Periodisierung oder nationale Zuschreibung der vielen verschiedenen Namen ist so eindeutig, wie man es sich wünschte. Diese Vielfalt soll sich auf den folgenden Seiten widerspiegeln, indem die Stadt nicht mit einem oder zwei, sondern mit vielen verschiedenen Namen genannt wird.

Auch in einem anderen Punkt muss ich mit den im Deutschen üblichen Konventionen brechen. Denn es gab strenggenommen nie ein Byzantinisches Reich. Die Bezeichnung des Herrschers mit Sitz in Konstantinopel war bis 1453 »römischer Kaiser«, und sein Herrschaftsbereich war das »Römische Reich«. Die Untertanen waren »Römer« beziehungsweise »Romäer« (die gräzisierte Form von Römer), gelegentlich auch umgangssprachlich »Griechen«, nie jedoch »Byzantiner«. Diese Bezeichnung erscheint erstmals im 16. Jahrhundert in deutsch- und französischsprachigen Geschichtswerken. Erst mit der Vorherrschaft der westeuropäischen Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert hat sich der Begriff »Byzantinisches Reich« überall durchgesetzt. Er negiert jedoch die Kontinuität zwischen dem Römischen Reich der Antike und Konstantinopel. Denn obwohl das Reich sich im Laufe der Jahrhunderte stark veränderte, gab es nie einen eindeutigen Bruch mit der römischen Vergangenheit. Ganz anders war die Situation in Westeuropa, wo seit der Eroberung Roms 476 kein Herrscher mehr den Titel »römischer Kaiser« führte, bis der Papst mehr als 300 Jahre später aus Machtkalkül diesen Titel dem König der Franken verlieh. Noch einige weitere Jahrhunderte später entstand die Staatsbezeichnung »Heiliges Römisches Reich«, allerdings wie der Titel des »römischen Kaisers« ohne eine organische Beziehung zum Vorgängerstaat. Durch die Bezeichnung »byzantinisch« sollten jedoch die fränkischen beziehungsweise deutschen Herrscher als die einzig wahren Nachfahren Roms inszeniert werden. Es gibt also gute Gründe, nicht von Byzanz, sondern dem eigenen Sprachgebrauch des Reichs folgend vom Römischen Reich zu sprechen. Um dennoch keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, werde ich für 330 bis 1453 vom Oströmischen Reich sprechen.

Der Begriff »Rom« wurde in diesem Sinne auch in den Nachbarstaaten wie Serbien, Bulgarien und unter Arabern, Türken und Persern benutzt. Interessanterweise überlebte dieser Begriff für das ehemals oströmische Territorium sogar den Untergang des Reichs. Nachdem türkisch-muslimische Invasoren im 11. Jahrhundert Teile Kleinasiens erobert hatten, nannten sie dieses Gebiet »Rum« (Rom) und bezeichneten die sich dort etablierende Dynastie der Seldschuken als das Sultanat von Rum. Noch Jahrhunderte später, als es längst kein Oströmisches Reich mehr gab, stand »Rum« in der muslimischen Welt für das Gebiet vom Balkan bis Kleinasien und dessen oft türkische Bewohner.[5]

Viel Verwirrung kommt gelegentlich bei den Begriffen »Türken« und »Türkei« auf, denn beide können etliche verschiedene Bedeutungen haben. Die älteste dieser Bedeutungen bezieht sich auf die Bezeichnung der Sprachfamilie. Neben der Sprache, die wir heute als »Türkisch« bezeichnen, gehören zahlreiche der bis heute von Osteuropa bis Westchina verbreiten Sprachen zu den miteinander verwandten sogenannten Turksprachen – beispielsweise Aserbaidschanisch, Kasachisch und Usbekisch, aber auch zahlreiche weniger bekannte Minderheitensprachen in China, Russland, Afghanistan oder Iran. Seit dem Beginn der sogenannten Völkerwanderung kamen in mehreren Wellen immer wieder turksprachige Völker nach Europa, wie etwa die (ursprünglichen) Bulgaren. Turksprachige Menschen praktizierten und praktizieren in verschiedenen Gebieten so unterschiedliche Religionen wie Christentum, Judentum oder Buddhismus und den Islam. Seit jedoch ab etwa dem Jahr 1000 einige der mächtigsten Fürstentümer im Nahen Osten von muslimischen, Türkisch sprechenden Herrschern begründet wurden, verwenden Quellen aus europäischen christlichen Ländern oft den Begriff »Türken« für alle Muslime, wenngleich sie eigentlich von Arabern, Kurden oder Albanern muslimischen Glaubens handeln. Ebenso werden die von türkischsprachigen Fürsten beherrschten Gebiete auf alten europäischen Karten meist schlicht als »Türkei« bezeichnet. In neuerer Zeit hat sich die genauere sprachliche Differenzierung nach den jeweiligen Dynastien durchgesetzt, von denen zwischen etwa 1000 und 1308 die Rum-Seldschuken und später die Osmanen die mächtigsten waren. Die von Osman (reg. 1299–1323) begründete Dynastie errichtete schließlich das Weltreich, das von Ungarn bis in den Kaukasus sowie von der Krim bis in den Jemen reichte und von Konstantinopel-Istanbul aus regiert wurde.

Genauso wenig wie das Oströmische Reich ein rein griechischsprachiges Reich war, waren das Sultanat der Rum-Seldschuken und das Osmanische Reich rein türkischsprachig. Das Griechische verdrängte im Laufe der Zeit Latein als wichtigste Staatssprache im Oströmischen Reich. Am osmanischen Hofe galten Persisch und Arabisch als die prestigeträchtigeren Sprachen in Dichtung und Theologie. Wichtig war in allen Reichen die leitende Religion, nicht die Sprache. Erst im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen des Nationalismus nach europäischem Vorbild, und vor allem nach der Gründung der Türkischen Republik 1923, setzte sich der Begriff »Türkisch« als Bezeichnung einer angeblich unzweideutigen, auf Sprache und Religionszugehörigkeit basierenden Nationalität durch. Da die Bevölkerung der Türkischen Republik aber de facto die Nachkommenschaft eines multiethnischen Reichs ist, gibt es bis heute Zwist darüber, wer als »Türke« gilt und wer nicht.

Eine kleine Warnung noch bezüglich der Personennamen: Für lange Phasen sowohl innerhalb des Oströmischen als auch des Osmanischen Reichs waren die Bewohner Konstantinopels-Istanbuls alles andere als erfinderisch, wenn es darum ging, ihren Kindern Namen zu geben. Vor allem die Herrscherhäuser bevorzugten Wiederholung statt Originalität. Deswegen werden im Folgenden gelegentlich gleich mehrere Alexios, Irenes, Theodoras oder Ibrahims, Mehmeds, Mustafas zugleich auftreten. Soweit möglich wird diese konfuse Situation durch Namenszusätze aufgelöst.

Die Umschrift griechischer Namen wird hier in etwas vereinfachter Form erfolgen. Türkisch hat eine sehr einfache, überwiegend mit dem Deutschen übereinstimmende Schreibweise. Ausnahmen sind:

c – entspricht »dsch«, wie in Dschungel

ç – entspricht »tsch«, wie in Tscheche

ı – entspricht einem unbetonten e, wie in Tasche

j – wie in Jury

ş – entspricht »sch«, wie in Schach

z – entspricht einem weichen s, wie in Salbei

1. Wie eine Landzunge zur Welthauptstadt wurde

Natürliche Umwelt, Vor- und Frühgeschichte Byzantions

Istanbul ist eine Stadt mit großem Reichtum und ebenso großer Armut. Von ihren über 15 Millionen Einwohnern sind 37 Milliardäre, was der Stadt einen Platz unter den weltweiten Top Ten der Milliardärsstädte einbringt.[6] Gleichzeitig begegnet man auf den Straßen jedoch einer Heerschar von Menschen, die sich mit sehr wenig begnügen müssen: syrischen Bettlerinnen, Recycling-Kleinstunternehmern, die im Müll wühlen und alles Wiederverwertbare in ihre riesigen Karren werfen, oder Rentnerinnen, die Taschentücher an Passanten verkaufen. Vor dem europäischen Bahnhof Sirkeci steht jeden Morgen eine große Traube von Männern, die darauf warten, dass ein Spediteur sie für eine Lkw-Fahrt anheuert. Gelegentlich trifft man auch noch auf Vertreter älterer, fast ausgestorbener Berufe wie Messerschleifer oder Lastenträger im Basarviertel, die Waren auf ihrem Rücken durch die engen Gassen schleppen. Zahlreiche Arbeiter schuften auf Baustellen und Werften sowie in den Fabriken an den Rändern Istanbuls, und unzählige kleine Angestellte, Taxifahrer, Kellner, Verkäufer und Wachleute halten den Betrieb der Stadt aufrecht.

Diese Stadt hat stets Reiche wie Arme angezogen: Seit mehr als 1500 Jahren wächst die Stadt, mit wenigen Unterbrechungen, durch Zuzug. Wieso suchen die Menschen ihr Auskommen ausgerechnet hier, wo stete Überfüllung und Konkurrenz das Leben nicht einfach machen? Denn nicht erst seitdem Istanbul sich global city nennt, sind Wohnraum und Lebensmittel teuer. Man könnte sagen, die Menschen kommen wegen des Meeres. Es ist bis heute steter Begleiter des städtischen Lebens. Doch davon abgesehen kommen Menschen seit Jahrtausenden, um eben hier das Meer zu überqueren. So schufen sie die Grundlagen für die Reichtümer, die sich hier anhäuften. Diese sorgen bis heute dafür, dass die Anziehungskraft der Stadt ungebrochen ist, obwohl die Fortschritte der Verkehrstechnik die Bosporuspassage längst überflüssig gemacht haben.

Trotz aller Versuche gelang es nie, das Meer ganz dem Zugang durch die Bewohner zu entziehen. Die oströmischen Kaiser wie die osmanischen Sultane beschlagnahmten weite Teile des Ufers für ihre Paläste, Marinewerften und Kasernen. Heute kostet eine Wohnung mit Blick aufs Meer (vom Zugang ganz zu schweigen) leicht doppelt so viel wie eine Wohnung, die nur den Blick über die Häuser bietet. Und dennoch ist es von fast jedem Punkt in den Innenstadtbezirken Istanbuls nur ein kurzer bis mittlerer Spaziergang, bis man am Wasser ist: am Marmarameer, am Bosporus oder am Goldenen Horn. Mindestens seit der Zeit des Oströmischen Reichs gilt die Meeresbrise – vor allem in den heißen Sommermonaten – als gesundheitsfördernd. Ein paar Minuten am Ufer zu sitzen ist die angenehmste Möglichkeit, dem Verkehr, dem Gedränge und der Enge in dieser Megastadt zu entkommen. Wenn man den Blick übers Wasser schweifen lässt, den Schiffen und den Möwen zuschaut, spürt man die Weite und die Nähe zur Natur. Dies ist im Istanbuler Alltag sonst schwierig. Laut manchen Berechnungen hat Istanbul die zweitschlimmsten Staus der Welt, noch vor Mexiko-Stadt, Rio de Janeiro und nur noch übertroffen von Moskau.[7] Und doch: Während der Berufsverkehr täglich für mehrere Millionen Menschen Stress bedeutet, die meisten Pendler in Werkbussen dösen, die auf der Stadtautobahn steckengeblieben sind, sich in überfüllte U- und Straßenbahnen quetschen oder als Fußgänger unter Abgasen und Lärm leiden, sitzt ein kleiner Teil von ihnen auf großen Fähren und genießt das Stadtpanorama, trinkt Tee, knabbert Sesamkringel und wirft die Reste den die Schiffe stets begleitenden Möwen zu.

Um eine Stadt zu verstehen, setzen viele zunächst bei der Geographie an. Bei wenigen Städten ist die natürliche Landschaft so eigenartig und bestimmend für die Entwicklungsmöglichkeiten wie bei Istanbul. Denn folgt man den verschiedenen Straßenzügen bis zur größten Bebauungsdichte und in die ältesten Teile der Stadt, wird man nicht wie in anderen älteren Städten auf einen Platz treffen, von dem alle Straßen ausgehen, sondern auf das Meer. Drei Landzungen schieben sich aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu, bleiben aber durch den Bosporus und seine Nebenbucht, das Goldene Horn, voneinander getrennt. Die urbanen Zentren Istanbuls bildeten sich rund um die jeweiligen Buchten, die als natürlich geschützte Häfen dienten und bis heute als Hauptanlegestellen der zwischen den verschiedenen Ufern pendelnden Fähren genutzt werden. Eine der Landzungen ist die asiatische beziehungsweise anatolische, die sich zwischen Schwarzem Meer und dem Golf von İzmit über eine Länge von fast 100 Kilometern erstreckt, weit über das heutige Stadtgebiet hinaus. An ihrer westlichen Spitze liegen die Istanbuler Stadtteile Üsküdar und Kadıköy, von wo aus seit Tausenden von Jahren nach Europa übergesetzt wurde. Auf der europäischen Seite liegt das historische Konstantinopel auf der südlichen der zwei Landzungen, die im Süden zum weitläufigen Marmarameer blickt und im Norden durch eine 7,5 Kilometer lange und bis zu 750 Meter breite Bucht begrenzt ist, das Goldene Horn. Nördlich davon befindet sich eine weitere Halbinsel, auf der die mittelalterliche Stadt Galata liegt und die heute vor allem durch die Stadtbezirke Beyoğlu, Beşiktaş und Şişli gekennzeichnet ist. Was die zwei europäischen Halbinseln von der asiatischen trennt, ist der Bosporus. Die Meeresenge, 30 Kilometer lang und zwischen 700 und 2500 Meter breit, wirkt vom Schiffsdeck aus gesehen fast wie ein norwegischer Fjord, so steil und zerklüftet sind die Ufer. Auf einer Karte sieht der beidseitige Uferverlauf aus, als seien zwei ineinander verschränkte Hände soeben auseinander gezogen worden, so dass man noch erkennt, welche Finger der linken Hand zwischen welchen Fingern der rechten Hand gelegen hatten.

Der Bosporus ist in seiner heutigen Form relativ neuen Datums. In der letzten Eiszeit wurden große Mengen des Wassers der Weltmeere und der großen Seen als Eis gebunden, entsprechend sanken die Meeresspiegel. Das Schwarze Meer wurde zu einem Binnensee mit sehr viel kleinerer Oberfläche als heute, genauso wie das Marmarameer. Als diese großen Eismassen schließlich allmählich wieder abtauten, wurde dem Schwarzen Meer mit seinen zahlreichen Zuflüssen – Wolga, Donau, Don, Dnjepr, Dnjestr – schneller und mehr Wasser zugeführt als dem Marmarameer über Ägäis und Mittelmeer. Das im Schwarzen Meer gestaute Wasser suchte sich seinen Weg durch die dünne, aber gebirgige Landzunge, so dass ein Fluss entstand. Dieser wandelte sich schließlich vermutlich um 7400 v. Chr., als der Abtauprozess weitgehend abgeschlossen war und die Meere wieder annähernd das gleiche Niveau erreicht hatten, in eine Meeresenge, in der bis heute die Strömung an der Oberfläche ins Marmarameer fließt, in der Tiefe jedoch in Richtung Schwarzes Meer.[8]

Seit seiner Entstehung nehmen der Bosporus und die Landzungen zu beiden Seiten für Reisende eine bedeutende Rolle ein. Wer mit dem Schiff aus dem Mittelmeer, der Ägäis oder dem Marmarameer kommend das Schwarze Meer erreichen will, muss durch den Bosporus. Gleichzeitig können über Land aus Süd- oder vor allem Südosteuropa nach Asien Reisende, die keine aufwendige Seereise auf sich nehmen wollen und für die die Steppen nördlich des Schwarzen Meers zu weit ab von ihrer Route liegen, das Meer am einfachsten bei den Dardanellen oder am Bosporus überqueren. Eine Stadt an der Mündung der Meeresenge war deswegen als Hafen und Handelsplatz äußerst geeignet. Schiffe konnten ausgebessert werden, bevor sie die gefährliche Fahrt ins Schwarze Meer fortsetzten, und die Mannschaften konnten sich von den Strapazen der Reise erholen. Am Kreuzungspunkt zwischen der Landroute und der Seeroute kamen alle möglichen Waren zusammen, so dass die Märkte der Stadt von dem Umschlag zwischen ein- und auslaufenden Schiffen als auch vom Austausch mit den Landreisenden gut leben konnten. Mit Holz, Fellen, Metallen und Bernstein, die von den nördlich des Schwarzen Meeres gelegenen Gebieten die Stadt erreichten, wurde ebenso gehandelt wie mit Öl, Getreide, Papyrus und Gewürzen, die über das Mittelmeer und Kleinasien eintrafen.[9]

Archäologische Entdeckungen der letzten Jahre zeigen, dass das heutige Stadtgebiet eine lange Besiedlungsgeschichte hat. Es finden sich 400000 Jahre alte Spuren des Vorläufers der heutigen Menschen, des Homo erectus, ebenso wie eiserne Gottesfiguren der Hetither aus dem 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr. Eine Stadt im eigentlichen Sinne, mit Befestigungen, festen Häusern und komplexerer Arbeitsteilung, entstand laut Plinius dem Älteren schließlich um 1200 bis 1100 v. Chr. auf dem Gebiet des späteren Konstantinopels. Diese Stadt wurde von Thrakern begründet und laut Plinius Lygos genannt. Auf der asiatischen Seite entstand im Gebiet des heutigen Stadtteils Kadıköy eine phönizische Stadt, was man vor allem am phönizischen Ursprung des Namens Chalkedon festmachen kann, den die später an dieser Stelle entstandene griechische Siedlung trug.

Ab der griechischen Besiedlung der Region wissen wir mehr über ihre Geschichte. Im 7. Jahrhundert v. Chr. kam es im Zuge der Stadtneugründungen durch griechische Siedler rund ums Mittelmeer zum Ausgreifen Richtung Schwarzes Meer und zu Niederlassungen zu beiden Seiten des südlichen Endes des Bosporus. Chalkedon wurde 685 v. Chr. von Griechen aus Megara besiedelt, 667 v. Chr. ließen sich Zuwanderer aus Megara, Argos und Korinth in Lygos nieder, das künftig Byzantion genannt wurde. Antike Quellen spotteten über Chalkedon und lobten Byzantion: Für Schiffe, die aus Griechenland kamen und das Schwarze Meer ansteuerten, lag Chalkedon hoffnungslos abseits, während Byzantion optimal lag. Ein aus Westen durchs Marmarameer kommendes Schiff müsste gegen die gefährlichen und schwer bezwingbaren Strömungen am Ausgang des Bosporus segeln beziehungsweise rudern, um das asiatische Ufer und Chalkedon zu erreichen. Byzantion und die schützende Bucht des Goldenen Horns, in der man leicht ankern und an Land gehen konnte, lagen hingegen direkt am Weg. Wegen dieses Standortnachteils erhielt Chalkedon den Spottnamen »Stadt der Blinden«. Diese Perspektive war natürlich zutiefst griechisch, denn sie übersah, dass die asiatische Hafenstadt sowohl für den Land- als auch für den Seeverkehr aus dem Golf von İzmit beziehungsweise Anatolien sehr günstig gelegen war.[10]

Bei einer Stadt in so exponierter Lage ist es nicht verwunderlich, dass von Anfang an die Götter angeblich ein Wort mitzureden hatten. Über den legendären Begründer von Byzantion, Byzas, wurde verbreitet, dass er die Stadt mit der Hilfe des Meeresgottes Poseidon (dessen Sohn er gewesen sein soll) und des Sonnengottes Apollon befestigte. Dies scheint naheliegend, da die Stadt auf so einzigartige Weise mit den Elementen und insbesondere dem Meer verbunden ist. Der heilige Charakter Byzantions wurde auch in christlichen und muslimischen Zeiten aufrechterhalten, obwohl die Stadt weder in der Bibel noch in der Lebensgeschichte Muhammads eine Rolle spielt. Die Legenden von Heiligen, deren Lebensweg an den Bosporus führte, der Bau zahlreicher imposanter Kirchen, Klöster und Moscheen, der Erwerb von Reliquien und vor allem der Kult um den Kaiser oder Sultan als Gottes Vertreter auf Erden taten ihr Übriges, um den religiösen Kult um Byzanz bis in die Moderne fortzutragen.

Wie bereits erwähnt, beförderte die verkehrsgünstige Lage die Entwicklung des Handels. Fatal wirkte sie sich jedoch zu Kriegszeiten aus. Bereits von Byzas und seiner Frau Phidaleia wird überliefert, dass sie die Stadt gegen skythische und thrakische Truppen verteidigen mussten. So gut wie nie blieb Byzantion im Windschatten der Ereignisse. Die Kriege zwischen dem Perserreich und den griechischen Stadtstaaten, der Machtkampf zwischen Sparta und Athen, die Eroberungszüge der makedonischen Könige, das Vordringen der Kelten, die Rivalitäten der verschiedenen römischen Generäle um die Reichsführung – fast alle großen Auseinandersetzungen der antiken Welt fanden auch am Bosporus statt. Meist versuchten die Stadtobersten, zwischen den gegnerischen Seiten taktisch zu lavieren, das aber ging oft genug schief und führte zur Zerstörung der Stadt und der Vertreibung der Bevölkerung. Nichtsdestotrotz dauerte es nie lange, bis die Stadt, egal unter wessen Herrschaft, neu aufgebaut und befestigt wurde, da sie strategisch so bedeutsam war.

Doch obwohl der Standort für eine prosperierende mittelgroße Handelsstadt spricht, mögen antike Stadtplaner die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, als ein Kaiser auf die Idee kam, an dieser Stelle seine Reichshauptstadt nach dem Vorbild Roms zu errichten. Denn viele Fragen der Grundversorgung waren hier nur schlecht zu lösen. Es fehlt bereits am Elementarsten: Die wenigen Süßwasservorkommen im Stadtgebiet oder seiner unmittelbaren Nähe reichen bei weitem nicht aus, um eine Großstadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern zu versorgen; aufwendige Aquädukte über weite Entfernungen waren bereits in der Frühzeit Konstantinopels nötig. Die Ernährung war das nächste Problem: Genug Getreide, um Brot für die gesamte Bevölkerung zu backen, war in den steilen Gebirgen der Umgebung kaum anzubauen. Über viele Jahrhunderte hinweg importierte die Stadt ihr Mehl deswegen aus dem entfernten Ägypten. Immerhin boten die Gewässer, die die Stadt umströmten, einen permanenten Nachschub an Fisch als billige und nahrhafte Speise. Doch gerade wegen dieser Lage am Meer gab es andererseits kein Umland, aus dem man Arbeitskräfte rekrutieren konnte. Man musste sie aus bis zu tausend Kilometer entfernten Regionen holen. Manche von ihnen lockte man mit guter Bezahlung und besonderen Vergünstigungen, andere brachte man gewaltsam durch Zwangsumsiedlungen in die Hauptstadt. Der Baugrund war ebenfalls problematisch. Die hügelige, felsige Landschaft zu beiden Seiten des Bosporus bot zwar einen gewissen Schutz vor Gefahren wie Erdbeben oder den im Tiefland verbreiteten Krankheiten; sie ließ aber zugleich jegliche Bautätigkeit zu einem aufwendigen Unterfangen werden.

Trotz alledem traf der römische Kaiser Konstantin 324 die Entscheidung, die Reichshauptstadt aus Rom hierher zu verlegen. Konstantin fehlte es nicht an Alternativen. Er hatte zu dem Zeitpunkt weite Teile des Römischen Reichs und insbesondere Europas mit eigenen Augen gesehen. Geboren in Naissus (heute Niš) auf dem Balkan, wurde er als Sohn des verstorbenen Kaisers Constantius Chlorus 306 in Eboracum (heute York) in Britannien von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen. Das spätrömische Regierungssystem, die Tetrarchie, in der sich vier Kaiser mit unterschiedlichen Kompetenzen die Macht teilten, zerbrach. Es folgten turbulente Jahre, in denen Konstantin abwechselnd mit rivalisierenden Kaisern brüchige Frieden schloss und dann wieder Krieg führte. Er regierte zeitweise aus Trier, schlug 312 seinen Kontrahenten Maxentius bei Rom, ehe er 324 bei Chrysopolis (heute der Stadtteil Üsküdar) auf der asiatischen Seite gegenüber Byzantion seinen letzten großen Rivalen Licinius schlug, der in Nikomedia (İzmit) residiert hatte. Ab 324 war Konstantin Alleinherrscher über das Römische Reich. Durch die Morde an seiner Ehefrau, einem seiner Söhne und an Licinius festigte er seine Macht und begründete das dynastische Prinzip in der Kaiserfolge.

Der Entscheidung, die Hauptstadt an den Bosporus zu verlegen, lag zweifelsohne die Überlegung zugrunde, auf diese Weise die Handelswege und gleichzeitig feindliche militärische Bewegungen zu kontrollieren. Das zeigt schon ein Blick auf die seinerzeit debattierten Alternativen: Ilion (Troja) an den Dardanellen, das ebenfalls an einer Schnittstelle eurasischer Land- und Seewege liegt; Thessaloniki, das über den zentralen Hafen der südosteuropäischen Halbinsel verfügt; und Serdica (heute Sofia), an der römischen Militärstraße gelegen, die von Byzantion ins südosteuropäische Binnenland und weiter nach Mitteleuropa führte.[11]

Möglicherweise fiel die Entscheidung Konstantins für Byzantion nach den langen Kriegen des frühen 4. Jahrhunderts vor allem aus militärstrategischen Gründen. Dabei war die Befestigung von Byzantion wie der Hauptstadtumzug an sich durchaus ambitioniert, aber nicht unmöglich. Von Vorteil war, dass die ursprüngliche Stadt auf einer Anhöhe lag, die auf zwei Seiten zum Meer abfällt. Daher wurde Konstantinopel von Anfang an als Dreieck geplant: Von der heutigen Saray-Spitze aus verlief eine Stadtmauer im Norden am Ufer des Goldenen Horns entlang, eine weitere im Süden entlang des Marmarameers. Die beiden Mauern waren im Westen durch die von Nord nach Süd verlaufende Landmauer miteinander verbunden. Das Goldene Horn wurde zusätzlich durch eine riesige Kette gesichert, die in Kriegszeiten von der Stadt zum gegenüberliegenden Ufer gezogen werden konnte und so die gesamte Bucht für den Schiffsverkehr sperrte. Bei einer Stadt, die für ihre Wasserversorgung auf Leitungen aus dem Umland angewiesen war, musste auch die in der Antike oft angewandte Taktik einkalkuliert werden, während einer Belagerung die Wasserzufuhr zu blockieren und zu warten, bis die Verdurstenden sich ergaben. Deswegen existieren im Untergrund Konstantinopels bis heute eine Vielzahl teilweise riesiger Zisternen. Gleichzeitig dienten die umfassenden Zisternenbauten bei der Stadtneugründung zum Ausgleich des unebenen Geländes.

Wichtigster Bestandteil der Verteidigungsanlagen war die Landmauer. Die ursprüngliche konstantinische Mauer ist heute nicht mehr erhalten (bis auf wenige vor kurzem aufgefundene Stücke im ehemaligen Hafengelände von Yenikapı), aber die 413 unter Kaiser Theodosios II. (reg. 408–450) erbauten Befestigungsanlagen stehen überwiegend noch. Die drei- bis vierfachen massiven und hohen Mauern zeugen von einer Stadt, die unter dem Eindruck der verlorenen Schlacht gegen die Goten beim nur 240 Kilometer entfernten Adrianopel (heute Edirne) 378 und der Plünderung Roms 410 durch die Westgoten beschlossen hatte, unter allen Umständen uneinnehmbar zu sein. Zu diesem Zweck entwarfen die Konstantinopolitaner die für lange Zeit aufwendigste Militäranlage des euromediterranen Raums. Und tatsächlich sollten die Festungsmauern trotz zahlreicher Belagerungen immer wieder standhalten und ihre Bewohner vor Plünderungen schützen.

Doch die aufwendigen Bauten dienten nicht nur der Infrastruktur und der Verteidigung. Konstantinopel sollte sich von Anfang an absetzen von den zahlreichen Städten, die wie Augusta Treverorum (Trier), Antiochia (Antakya) oder Nikomedia als Kaiserresidenzen gedient hatten. Es sollte auf Dauer angelegt sein und in seiner Pracht nicht hinter Rom zurückstehen. Nach römischem Vorbild identifizierte man sieben Hügel im Stadtbild und errichtete auf ihnen repräsentative Kaiserpaläste, Foren und Kirchen. Mittelpunkt war der Platz zwischen Kaiserpalast, Hippodrom und den großen Kirchen, das Augustaion. In unmittelbarer Nachbarschaft wurde als prachtvolles Monument das Milion erbaut, der Punkt null, von dem aus alle Wegentfernungen des Reichs künftig gemessen werden sollten. Hier begann die Mese (später Divan Yolu), die Paradestraße, die vom Palastviertel aus westwärts verlief und die prunkvollen neuen Plätze passierte. Entlang der Mese erreichte man zuerst – gebaut auf einen Friedhof jenseits der Stadtmauern des früheren Byzantion – das elliptische Konstantinsforum, in dessen Mitte eine (teilweise bis heute erhaltene) Säule mit einer Statue Apollons stand, die als Abbild Konstantins umgedeutet wurde. Westlich des Forums gabelte sich die Mese. Ihre verschiedenen Abzweigungen führten zu den Stadttoren in der Landmauer. Entlang dieser Hauptstraßen errichteten Konstantins Nachfolger weitere prunkvolle Foren wie das Forum des Theodosios (heute Beyazit-Platz), das Forum Bovi (Ochsenforum, heute in Aksaray) oder das Forum des Arkadios (heute in Haseki). Letzteres wurde von einer 50 Meter hohen Säule mit einer Reiterstatue überragt, von der heute nur noch der Sockel steht. Die Pracht, die sich hier binnen weniger Jahre entfaltete, muss für die Zeit beachtlich gewesen sein, obwohl der zynische Historiker Zosimus behauptet, dass viele von Konstantins Bauten sogleich nach ihrer Fertigstellung einstürzten.[12]

Brot und Spiele, in heutigen Begriffen Grundversorgung und Unterhaltung – die Formel, mit der sich die Kaiser die Loyalität der römischen Bevölkerung gesichert hatten –, durften auch in Konstantins Nova Roma nicht fehlen. Unmittelbar angrenzend an den neuen Kaiserpalast entstand eine gewaltige Pferderennbahn, deren Anlage teilweise bis heute erkennbar ist. Das 430 Meter lange und 120 Meter breite Hippodrom, wegen des abfälligen natürlichen Geländes teilweise auf einem eigenen, mehrere Stockwerke hohen Unterbau errichtet (der bis heute erhalten ist), war die lokale Variante des Kolosseums. Allerdings waren die hier stattfindenden Pferderennen eine humanere Sportart als die menschenverachtenden Gladiatorenspiele Roms. Bereits zur Einweihung Konstantinopels am 11. Mai 330, nach nur sechs Jahren Bauzeit, wurden Rennen abgehalten und die angrenzenden prächtigen Zeuxippos-Bäder eingeweiht. Den römischen Familien, die in die neue Hauptstadt umzogen und dort bauten, versprach Konstantin kostenlose Versorgung mit Brot.[13]

Und doch war Nova Roma nicht einfach eine Kopie der alten imperialen Hauptstadt. Zum einen hatte Konstantin als erster Kaiser seit langem wieder alle Macht im Reich in seiner Person vereinigt und mühte sich, ähnlich wie vor ihm Diokletian (reg. 284–305), sich als Gottkaiser (dominus et deus) zu inszenieren. Diokletian hatte im späten 3. Jahrhundert begonnen, sich von Volk und Heer fernzuhalten, seine Auftritte durch Trompetenstöße, Wachen und Herrschaftsinsignien zu inszenieren und seinen Hof sacra aula zu nennen.[14] Im Unterschied zu ihm bediente sich Konstantin jedoch einer neuen Legitimationsquelle: des Christentums. Schon seit der frühen Kaiserzeit in Rom galt das klassische Pantheon als hierarchisch, arrogant und unnahbar. Würden die althergebrachten Götter die Menschen in den zunehmend unruhigen Zeiten denn wirklich behüten? Alternativen boten exotische und esoterische Kulte, deren Herkunft in den südlichen und östlichen Gebieten des Reichs lag. Kulte, die von menschlichen Inkarnationen eines Gottes und von Auferstehung handelten, eine Gemeinschaft der Gläubigen versprachen und sich über Standesgrenzen hinwegsetzten, genossen großen Zulauf. Neben der Throngöttin Isis aus Ägypten, der Muttergöttin Kybele aus Kleinasien und dem Lichtgott Mithra aus Persien erfreute sich eine häretische Lehre aus Palästina einer wachsenden Anhängerschaft, die Jesus von Nazareth zum Messias des jüdischen Glaubens erklärte.[15] Während die bekennenden Anhänger dieser Sekte der Christen zunächst als Staatsfeinde bekämpft wurden, protegierte Konstantin sie seit seiner Machtergreifung 312 im Westen des Römischen Reichs.[16] In seiner neuen Stadt ließ er mehrere Kirchen bauen, darunter die monumentale Hagia Irene und die Apostelkirche, in der Reliquien der Aposteln bewahrt wurden und wo sich auch das Mausoleum für Konstantin befand (an der Stelle der heutigen Fatih-Moschee, Fatih Camii).

Dennoch bedeutete die Protektion des Christentums durch den Kaiser kein unmittelbares Ende der klassischen oder der esoterischen Kulte. Diese blieben noch lange Zeit toleriert. Zum einen gab es noch keine etablierte eigene christliche Kunst, so dass man für viele Darstellungen auf die traditionelle Bildsprache zurückgriff. Zum anderen vermischten sich mit dem Christentum Elemente der anderen Mysterienkulte: Der Sonnengott in seinen römischen, griechischen und persischen Ausprägungen (Sol, Helios/Apollon und Mithra) hinterließ Spuren, etwa indem der »Tag der Sonne« zum wöchentlichen Ruhetag erklärt oder die Wintersonnenwende (25. Dezember) nicht nur als Geburtstag des Sol Invictus (»unbesiegte Sonne«) angesehen, sondern mit dem Tag von Christi Geburt gleichgesetzt wurde. So verwundert es nicht, dass der dem Christentum gewogene Konstantin sich auf seinem eigenen Forum als Apollon darstellen ließ. Dies war seine Variante von Diokletians Gottkaiserkult, in dem der Kaiser der einzige Vertreter Gottes auf Erden sein sollte. Wie persische oder hellenistische Könige vor ihm, begann Konstantin, ein Diadem zu tragen.[17]

Der heidnische Historiker Zosimus begründete sogar Konstantins Umzug aus Rom damit, dass der Kaiser dem Groll der dortigen, mehrheitlich altgläubigen Bevölkerung über seine Apostasie entfliehen wollte. Zosimus musste aber feststellen, dass die neue Herrscherstadt mit heidnischen Denkmälern aus allen Ecken des Reichs geschmückt war, wenn sie auch eher Trophäen waren als Gegenstände der Verehrung. Ein Teil des Hippodroms war ein Heiligtum der Dioskuren, in der Mitte der Rennbahn war der Dreizack des Apollon aus Delphi aufgestellt, angeblich geformt aus den eingeschmolzenen Schilden der im Kampf besiegten Perser. Auf einem Forum begegnete man einem Denkmal der Muttergöttin Kybele aus Kyzikos und einer römischen Fortuna samt Tempel.[18] Der Christ Eusebius interpretierte die heidnischen Statuen im Stadtbild als spöttisches Bloßstellen der Götzenbilder.[19] Naheliegender ist aber eine andere Erklärung: Konstantins Hauptstadtumzug war mit sechs Jahren sehr ambitioniert, bei der Einweihung war Nova Roma noch eine riesige Baustelle. Indem man auf alte, schon vorhandene Denkmäler zurückgriff, kam man weit schneller an bedeutende Kunstwerke, als wenn man sie erst in Auftrag gegeben hätte. Wie hätte auch eine christliche Kunst aussehen sollen? Sie musste ja erst noch eine Formensprache finden. Was womöglich als Improvisation begann, wurde zur Tradition: Theodosios I. (reg. 379–395) ließ einen aus dem Jahr 1490 v. Chr. stammenden Obelisken aus Ägypten heranschaffen, der bis heute auf dem Hippodrom steht.

Der Kaiser, der dem Christentum zum Durchbruch verholfen, die Macht seiner Familie konsolidiert und die Basis zu einer Welthauptstadt seines Namens gelegt hatte, konnte die Früchte seiner Arbeit kaum genießen. Zu oft war er für weitere Kriege fern von Nova Roma, zu lange dauerte der eigentliche Aufbau der Stadt. Nichtsdestotrotz wurde Konstantins neues Rom bereits nach wenigen Generationen zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte. Von überallher strömten Menschen in die neue Reichshauptstadt. Hatte Konstantin die Stadtmauer bereits bedeutend erweitert, so dass sie sechs Quadratkilometer umschloss, reichte diese schon um 400 nicht mehr aus, da die Bevölkerung 70 Jahre nach der Gründung etwa 200000 bis 300000 Menschen umfasste. Konstantins Zuzugsprämien wurden deshalb abgeschafft. Der bis heute erhaltene Aquädukt des Valens wurde 368 als letztes innerstädtisches Teilstück der Wasserleitung aus den umliegenden thrakischen Bergen in Betrieb genommen, doch bereits 382 herrschte Dürre, so dass neue Wasserleitungen zu neuen Quellen verlegt werden mussten. Schreiber wie der oben erwähnte Zosimus beklagten bereits die Gefahren des ständigen Verkehrsstroms aus Menschen und Tieren in den Straßen der Stadt. Doch wegen der großen Nachfrage nach Baugrund erlaubten laut dem Historiker die Kaiser eine so dichte Bebauung, dass man weder auf den Straßen noch in seinen eigenen vier Wänden der Enge entfliehen konnte. Selbst auf das Wasser wichen Bauherren aus und errichteten auf Pfählen, die in den Meeresgrund eingerammt wurden, Viertel so groß wie eigene Städte.[20] Eine Verordnung legte den Mindestabstand zwischen zwei Häusern schließlich auf viereinhalb Meter fest. Theodosios II. verschaffte der Stadt zu Beginn des 5. Jahrhunderts die Mauererweiterung, so dass sich der inter mures-Raum auf zwölf Quadratkilometer verdoppelte und gleichzeitig eine scheinbar uneinnehmbare Befestigungsanlage die Stadt vor einer Invasion schützte.

Als Konstantin 337 starb, war seine Stadt noch weitgehend eine Baustelle und die Bevölkerung überschaubar; religiöse Toleranz und dynastische Konsolidierung schienen eine neue Stabilität zu ermöglichen, die im alten Rom vermutlich nicht mehr möglich gewesen wäre. Doch die Kämpfe zwischen Konstantins Söhnen einerseits und den Kindern seiner Stiefmutter Theodora, an denen sich die in und um Konstantinopel anwesenden Militärs eifrig beteiligten und die zu mindestens neun Morden an Mitgliedern von Theodoras Familie führten, waren ein Vorgeschmack darauf, wie Machtfragen in den kommenden Jahrhunderten trotz dynastischen Prinzips oft gelöst wurden.

Im Verlauf des späteren 4. Jahrhunderts, als die Stadt rapide wuchs, zeichneten sich bereits drei Dauerkonflikte ab, die sich durch die Jahrhunderte der Geschichte Konstantinopels ziehen sollten. In Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität musste die Stadt zahlreiche Menschen aus entfernten Regionen anziehen, um die Arbeit in der Stadt zu verrichten. Doch der Zuzug von Arbeitskräften wurde nicht nur von den Bedürfnissen der Stadt gesteuert, sondern auch von den Lebensbedingungen in den Provinzen, die als Arbeitskräftereservoir dienten. Bei ungünstigen Bedingungen, etwa aufgrund von witterungsbedingten Ernteausfällen, Bevölkerungsüberschuss oder schlechter Verwaltung, versuchten die Bewohner auch ohne tatsächliche Nachfrage nach Arbeitskraft ihr Glück in der Stadt. Wenn es einen solchen erhöhten Abwanderungsdruck aus den Provinzen gab, aber ebenso wenn die wirtschaftliche Konjunktur Konstantinopels einen plötzlichen Einbruch erlitt, waren die Straßen voll von Menschen, die nur schwer in die städtische Gesellschaft integrierbar waren. Aufgrund ihrer Herkunft aus entfernten Gebieten fielen sie in besonderer Weise auf, wegen ihrer exotischen Kleidung, ihrer rudimentären Beherrschung des Griechischen (oder später Türkischen) und gelegentlich wegen ihrer Hautfarbe. Die Heimkehr war für sie wenig attraktiv, denn der Fußmarsch oder die Schiffsreise in ihre Heimat waren oft nur schwierig zu bewältigen.

Die Frage nach dem »Recht auf Stadt« im Sinne Lefebvres stellt sich bereits hier, mit Blick auf diesen mobilen Teil der Stadtbevölkerung. Gelang es nicht, diese Menschen zu versorgen, durch Unterhaltung bei Laune zu halten oder ihnen zumindest das Gefühl zu vermitteln, Teil der hauptstädtischen Gesellschaft zu sein, konnte dies einerseits zu unbotmäßigen Gegenkulturen führen. Dies wiederum konnte womöglich die innere Sicherheit und das Wohlbefinden der übrigen Einwohner beeinträchtigen. Die Alternative, die mobile Bevölkerung durch gewaltsame Maßnahmen, Zuzugsbeschränkungen oder Kontrolle in den Griff zu bekommen, war zwar das Ziel vieler späterer Herrscher, doch oft mit großen Schwierigkeiten verbunden. Andererseits war auch die Versorgung einer wachsenden Stadtbevölkerung nicht leicht. Sie war insbesondere dann gefährdet, wenn die Nachschubrouten bedroht waren. So konnten sich Piraterie oder Kriege auf die Getreidelieferungen aus Ägypten auswirken. Die enge Verzahnung von Fragen der Arbeitskraft, der Versorgung, der Verkehrswege und des innerstädtischen Friedens und Zusammenhalts zeichnete sich also bereits früh ab.

2. Die Wiedergeburt Roms

Konstantinoupolis unter Justinian und der Nika-Aufstand

Durchschnittlich einmal die Woche herrscht Ausnahmezustand in der global city Istanbul. Der Feierabendverkehr, schon sonst rekordverdächtig langsam, kommt komplett zum Erliegen. Menschenmassen schieben sich durch die Straßen, es fließt Bier in Strömen, Nebelkerzen produzieren Rauchschwaden, und die Sprechchöre der Menge werden durch dröhnende Musik aus den Geschäften unterstützt. Auf den Straßen müssen die Passanten einen Bogen machen um Pfützen aus Urin oder Erbrochenem.

»Maç var« (gesprochen: Matsch war) lautet der knappe Kommentar der meisten Beobachter dieses Treibens: »Es gibt ein Spiel.« Und das gibt es über die Stadt verteilt fast immer: Fünf der achtzehn Fußballmannschaften in der ersten türkischen Liga sind aus Istanbul und tragen den Namen ihres jeweiligen Stadtteils. Da diese Vereine meist die ersten Plätze unter sich entscheiden, häufen sich Ligaspiele, Pokalspiele, Champions-League- und UEFA-Cup-Spiele. Doch während der Verein aus dem bescheidenen Hafenviertel Kasımpaşa und der durch üppige Subventionen der Zentralstadtverwaltung in kurzer Zeit ohne Basis etablierte Club Başakşehir nur eine verhältnismäßig bescheidene Anhängerzahl haben, kommen zu den Spielen der drei großen und finanziell gutgestellten Traditionsclubs Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray stets mehrere Zehntausende. Weitere Zehntausende Fans feiern in den Kneipen und auf den Straßen des jeweiligen Stadtteils. Die Zahl derjenigen, die sich an den Spieltagen in den Vereinsfarben kleiden – Schwarz-Weiß für Beşiktaş, Blau-Gelb für Fenerbahçe und Rot-Orange für Galatasaray –, geht in die Hunderttausende. Besonders aufgeladen ist die Atmosphäre bei den Derbys, wenn die großen Teams aufeinandertreffen. Unrühmliche Bekanntheit erlangte beispielsweise der 12. Mai 2012, als nach dem Finale zwischen Fenerbahçe und Galatasaray das Stadion im Nebel von Leuchtmunition und Tränengas versank, die herausgerissenen Sitze als Wurfgeschosse dienten und auch auf den Straßen die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Fans beider Clubs noch lange weitergingen.

Viele Beobachter wundern sich, dass nach der autoritären Wende in der Türkei dem ungezügelten Treiben auf der Straße nach wie vor kaum Einhalt geboten wird. Gleichzeitig rätseln so manche Bürger über das Verhalten vor allem junger Männer, die an Spieltagen die ansonsten in der Istanbuler Gesellschaft geschätzten Regeln der Höflichkeit grob missachten. Es wird spekuliert über die Verrohung des modernen Menschen in der Großstadt, über den Sport als Ventil für den Druck der neoliberalen Wirtschaftsordnung oder ob die Fanclubs nicht eigentlich eher als politische Verbindungen anzusehen sind. Dabei ist das Phänomen an sich gar nicht neu, sondern fast so alt wie die Stadt selbst, und die organisierten Fans sind eher friedlicher geworden als in den alten Zeiten.

»Eine Seelenkrankheit?« – Der Sportfanatismus im 6. Jahrhundert

Das Stadion von Beşiktaş hat seit seiner Erweiterung 201642000 Sitzplätze. Damit ist es nur unwesentlich größer als das 40000 Zuschauer fassende Hippodrom im Herzen der antiken Stadt, von dem man heute noch Teile der Rennbahn und des Unterbaus, nicht aber die Tribünen sehen kann. Das Konstantinopel der Kaiserzeit kannte bereits die fanatischen organisierten Sportanhänger, die durch ihre Massen den Alltag der Stadt zum Erliegen brachten und die Ordnungsmacht beschäftigten. Beinahe hätten sie es sogar geschafft, die Macht an sich zu reißen und den Verlauf der Weltgeschichte zu ändern. Von ihrem Scheitern zeugt bis heute die Hagia Sophia, die 1000 Jahre lang die größte Kirche der Welt war.

Schon antike Beobachter standen fassungslos vor dem Phänomen des Sportfanatismus. Der Chronist des 6. Jahrhunderts, Prokop von Caesarea (in Palästina), schildert die damaligen Fangemeinschaften, die Zirkusparteien:

»Die Demen (Stadtbezirksgemeinden, Anm. MF) in jeder Stadt sind seit alters in Venetoi (Blaue) und Prasinoi (Grüne) gespalten, doch es liegt noch nicht lange zurück, daß sie um dieser Namen und ihrer Zuschauerplätze willen ihr Geld vergeuden, sich härtesten Mißhandlungen aussetzen und selbst den schimpflichsten Tod nicht scheuen. Sogar Schlachten fechten sie mit der Gegenpartei aus, ohne recht zu wissen, warum sie sich in solche Gefahr stürzen, und sind sich nur des einen sicher, daß auch nach einem Sieg über die Widersacher nichts anderes auf sie wartet, als sofort ins Gefängnis abgeführt, dort auf das schwerste mißhandelt und schließlich hingerichtet zu werden. So wächst in ihnen ohne wirkliche Veranlassung der Haß gegen den Nächsten, und dieses Gefühl dauert in alle Ewigkeit und läßt weder Verschwägerung noch Blutsverwandtschaft noch auch das Gesetz der Freundschaft gelten, selbst wenn die nach den Farben getrennten Parteigänger Brüder oder sonst dergleichen sind. Gilt es den Sieg dieser Farben, so kümmern sie sich weder um göttliche noch menschliche Dinge, und es hat nichts zu sagen, wenn darüber von jemand ein Sakrileg begangen wird oder Gesetz und Staatsverfassung durch eigene Leute oder Feinde Gewalt leiden; sie kehren sich auch nichts daran, wenn sie vielleicht das Lebensnotwendige entbehren müssen und in bitterster Bedrängnis das Vaterland durch sie zu Schaden kommt. Wichtig ist nur, daß es ihrem Meros (Teil) – so heißen sie ihre Parteigänger – gut gehen wird. Selbst Frauen beteiligen sich bei ihnen an diesem verbrecherischen Treiben, indem sie sich nicht nur ihren Männern anschließen, sondern gegebenenfalls auch gegen sie auftreten; dabei gehen Frauen doch gar nicht ins Theater, und es gibt auch sonst keinen Grund, der sie zu einem derartigen Verhalten bestimmen könnte. Ich kann daher dies nur als eine Seelenkrankheit bezeichnen.«[21]

Ähnlich ratlos wie Prokop haben sich die nachfolgenden Generationen von Historikern erwiesen.[22] Immer wieder haben sie gerätselt, warum die frühen Konstantinopolitaner bereit waren, ihren Wohlstand, ihre Freiheit und sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen für eine so belanglose Frage wie die, wer einen sportlichen Wettbewerb gewinnt. Materialistisch denkende Historiker wollten in der Auseinandersetzung zwischen Grünen und Blauen einen Klassenkampf sehen, mussten sich aber bald eingestehen, dass unter den Anhängern der beiden großen Parteien gleichermaßen Handwerker waren wie Kaiser, Senatoren und Patrizier. Fehl geht ebenso die Deutung, dass es sich um einen ethnischen Konflikt zwischen den in Ostrom dominierenden Griechen und den Ostlern, also Syrern, Ägyptern und Juden, handelte. Die Quellen geben kaum Hinweise, dass die Anhängerschaften ethnisch polarisiert waren. Historiker, die religiöse Intoleranz als Hintergrund annehmen, können zu Recht auf die seit dem 5. Jahrhundert weit verbreiteten Konflikte zwischen den in Alexandria dominanten Vertretern des Monophysitismus und der Orthodoxie in Konstantinopel verweisen. Seit den 420er Jahren stritten die Christen des östlichen Mittelmeerraums um eine aus heutiger Sicht haarspalterische Frage: War Maria »nur« die Mutter von Jesus oder war sie die Mutter Gottes (die monophysitische Position)? Zwar hatten die oströmischen Kaiser sich in den 480er Jahren um eine Kompromissformel bemüht, nachdem das Konzil von Chalkedon (Kadıköy) den Monophysitismus 451 verurteilt hatte, doch blieben die Spannungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Lehrmeinungen bis ins 6. Jahrhundert bestehen. Allerdings unterstützten beide Zirkusparteien mehrheitlich – wie die Bevölkerung der Reichshauptstadt überhaupt – die Orthodoxie.[23] Wer hingegen in den Auseinandersetzungen nur »ein bisschen Radau« zum Stressabbau in der überbevölkerten Stadt und eine kurzzeitige Flucht aus der stark hierarchischen Stadtgesellschaft sieht, kann schlecht erklären, dass die Kontrahenten selbst vor Totschlag, auf den die Todesstrafe stand, nicht zurückschreckten. Es bietet sich deshalb wohl an, bereits bei diesem Konflikt von einer Auseinandersetzung um das »Recht auf Stadt« auszugehen. Die Einwohner Konstantinopels wollten laut Joanna Ayaita bei der Machtausübung im Staat und in ihrer Stadt wieder einbezogen werden. Sie wollten ihren alten Einfluss zurückgewinnen und als eine wichtige Instanz in den Angelegenheiten des Reichs gelten, anstatt von den Kaisern nach Gutdünken behandelt zu werden.

Die Machtbalance im Römischen Kaiserreich wurde seit dem 4. Jahrhundert mehrfach neu ausgehandelt. Wie im letzten Kapitel beschrieben, riss Konstantin die alleinige Macht im Römischen Reich an sich, indem er seine Rivalen in Schlachten besiegte. Seine Herrschaft stützte sich aufs Militär, und mit dessen fortwährender Unterstützung konnte er hoffen, sich über die mächtigen Familien Roms hinwegzusetzen und in seinem Nova Roma eine neue Ordnung zu etablieren.[24] In den folgenden Jahrzehnten kam die Kirche als weiterer Machtfaktor hinzu. Zwar wurden auch die auf Konstantin folgenden Herrscher in der Regel zunächst von den Soldaten zum Kaiser ausgerufen. Allerdings folgte hierauf ab 457 eine Krönung durch den Patriarchen.[25] Außerdem lebte in Konstantinopel eine nicht zu unterschätzende Gruppe von etwa 10000 Mönchen, die in diesen frühen Jahren des Christentums noch nicht innerhalb von hierarchischen Verbünden und unter Abwendung vom städtischen Leben ihrer Berufung nachgingen. Stattdessen lebten sie in kleinen, dezentralen Gruppen, widmeten sich karitativen Werken und intervenierten hin und wieder bei kaiserlichen Entscheidungen, wenn diese kirchliche Angelegenheiten betrafen.[26] Mitunter verschafften sich auch diejenigen Teile der Stadtbevölkerung Gehör, die weder der Oberschicht noch der Kirche oder dem Militär angehörten. Hier spielten das Hippodrom und die beiden großen Zirkusparteien eine bedeutende Rolle.

Ein prekäres Ritual der Macht: Der Kaiser und das Hippodrom

Es gehörte zu den öffentlichen Aufgaben des Kaisers, den Einwohnern seiner Hauptstadt außer militärischem Schutz und der Grundversorgung (Brot) auch öffentliche Unterhaltung (Spiele) zu bieten. Da die blutigen Gladiatorenspiele, die noch die römische Stadtbevölkerung im Kolosseum begeistert hatten, als unvereinbar mit den Geboten des Christentums galten, wurden die Wagenrennen im Hippodrom zur Hauptattraktion in Nova Roma. Zwar finanzierten die Kaiser oder auch die Senatoren diesen Sport, die Organisation lag aber in den Händen der Zirkusparteien, zu denen neben den Grünen und Blauen die Roten und Weißen gehörten. Letztere verloren im Laufe der Zeit an Einfluss, so dass die Erstgenannten die Spiele, die Loyalitäten und das städtische Geschehen dominierten.

Zu den Pflichten des Kaisers und seines Gefolges gehörte es, den Rennen und Spielen im Hippodrom beizuwohnen. Ihr Platz war die Kaiserloge, die Kathisma, die der Herrscher und die ihn begleitenden Würdenträger durch einen eigenen Zugang unmittelbar aus dem Palast erreichten; das Hippodrom schloss direkt an die Außenmauer des Kaiserpalastes an. Ein Relief aus dem 4. Jahrhundert auf dem Sockel des ägyptischen Obelisken im Hippodrom zeigt, wie Kaiser Theodosios I. das Pferderennen verfolgt. Das Hippodrom wurde zu dem Ort, wo der Herrscher am unmittelbarsten mit großen Teilen der Bevölkerung der Reichshauptstadt in Berührung kam.

Öffentliche Demonstrationen der Zustimmung des Volkes konnten einem Herrscher dienlich sein, wenn es galt, Unzufriedenheit in Schach zu halten und politische Rivalen kaltzustellen. Theodosios II. beispielsweise nutzte das Hippodrom 425, um die Niederlage des Gegenkaisers Johannes zu verkünden.[27] Klug inszenierte Demonstrationen von öffentlichem Missfallen wiederum konnten dem Herrscher dazu dienen, aus angeblicher Rücksicht auf den Volkswillen seine Versprechungen nicht zu halten.[28] Ab 473 wurde es üblich, dass die Kaiserkrönung im Hippodrom stattfand, wo eine große Menge die Zeremonie verfolgen und ihre Zustimmung zum Ausdruck bringen konnte.[29] Die Zirkusparteien waren Teil dieser öffentlichen Inszenierung von Macht, nicht allein weil die Kaiser sie in ihr Kalkül einbezogen, sondern auch weil sie selbst vom allgemeinen Pferderennfieber und der Begeisterung über die gefeierten Wagenlenker erfasst wurden. Theodosios II., der Erbauer der bis heute existierenden Mauer, war Anhänger der Grünen, sein kurzzeitiger Nachfolger Markian (reg. 450–457) bevorzugte die Blauen. Unter Zenon (reg. 474–491) waren wieder die Grünen die Favoriten.[30]

Die Sitzordnung im Hippodrom wurde von der kaiserlichen Gunst bestimmt. Theodosios II. beispielsweise vergab die Plätze in unmittelbarer Nähe der Kaiserloge, sowohl zu seiner Linken als auch direkt gegenüber, an die Grünen. So konnte er darauf hoffen, dass ihm nur die Sprechchöre der ihm wohlgesinnten Besucher zu Ohren kamen, während die Blauen und andere Sportanhänger in sicherem Abstand blieben.[31]

Die Hippodrombesucher waren nicht immer treue und leicht manipulierbare Untertanen. Das Spiel mit der öffentlichen Zustimmung konnte den Kaisern, wenn sie nicht achtgaben, leicht auf die Füße fallen. Gewalttätige Tumulte und politische Forderungen konnten die Harmonie zwischen Herrscher und Beherrschten schnell ins Wanken bringen. Die Stadtbevölkerung sah dies als Chance, ihren Einfluss in dem ansonsten hierarchisch monarchischen Staat geltend zu machen.

Sprechchöre waren Teil des Rituals. Durch Lobpreisungen konnten Anhänger der Kaiser oder anderer Amtsinhaber eine Harmonie zwischen Herrscher und Volk inszenieren – was die Anwesenden jedoch auch zu ihrem eigenen Vorteil nutzten. Mitunter enthielten die Sprechchöre politische oder religiöse Forderungen. Dann stand der Kaiser unter Zugzwang. Entweder ignorierte er sie, indem er so tat, als habe er sie nicht gehört oder als unterstützten zu wenige Anwesende eine bestimmte Forderung. Oder er konnte der Forderung nachgeben, woraufhin die Fordernden in Huldigungen ihres gerechten Herrschers ausbrachen, so dass der Anschein der Harmonie zwischen Herrscher und Volk wiederhergestellt war. Wies er aber die Forderung ausdrücklich zurück, riskierte er negative Reaktionen, womit der Konflikt zwischen Herrscher und Beherrschten vor allen Augen sichtbar geworden wäre.

Zu einem besonders heiklen Moment kam es beim Tod eines Kaisers. Oft fiel die endgültige Entscheidung, wer Thronnachfolger wurde, erst nach dem Ableben des alten Herrschers. Wer in diesem Moment taktisch klug handelte, konnte Einfluss auf die Entscheidung nehmen. In dieses Geschehen schaltete sich in einigen Fällen auch die im Hippodrom versammelte Stadtbevölkerung ein. Als der unbeliebte Kaiser Zenon 491 verstarb, trat der Senat zusammen, um einen Nachfolger zu bestimmen. Währenddessen füllte sich das Hippodrom. Sprechchöre ertönten. Zenon war Isaurier gewesen, stammte also von der kleinasiatischen Mittelmeerküste beim heutigen Anamur. Die Isaurier waren zwar im Heer einflussreich, in Konstantinopel aber als barbarisch verschrien. Bereits 473 wurden bei Ausschreitungen im Hippodrom etliche der anwesenden Isaurier massakriert. Ferner hatten Zenons religionspolitische Kompromissformeln und seine angebliche Habgier die Stadtbevölkerung erbost. Seine Witwe Ariadne verhandelte mit den im Hippodrom Versammelten und machte dabei weitgehende Zugeständnisse. Die Kaiserin bat die Anwesenden, das Votum des Senats abzuwarten, versprach aber, dass der Nachfolger ihres Mannes Romäer (also aus der griechisch geprägten Leitkultur), orthodoxer Glaubensrichtung und nicht habgierig sein werde. Schließlich musste sie überdies die Absetzung des ebenfalls als gierig angesehenen Stadtpräfekten zugestehen. Der neue Kaiser trat dann gleich zweimal vor den Versammelten auf, um zu zeigen, dass ihre Forderungen Erfolg gehabt hatten.[32]

Der Konflikt zwischen Zirkusparteien und der Ordnungsmacht spitzt sich zu (491–527)

Die Kaiserwahl fiel unter diesen Umständen auf den bereits betagten Kämmerer Anastasios (reg. 491–518), doch die Spannungen mit der städtischen Bevölkerung und insbesondere den Zirkusparteien hielten an. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern unterstützte Anastasios weder die Grünen noch die Blauen, sondern wählte die weitaus kleinere Partei der Roten. Er wollte wohl signalisieren, dass er die Wagenrennen prinzipiell unterstützte, die dominante Rolle der beiden großen Parteien jedoch nicht. Wagenrennen sollten wieder zum reinen Sport und nicht mit Politik und Straßengewalt vermischt werden.[33]

Doch in der Regierungszeit von Anastasios erreichte die Beliebtheit der Wagenrennen einen neuen Höhepunkt. Während zuvor auf der Mittelbahn des Hippodroms nur Statuen und Reliefs von Kaisern sowie antike mythische Objekte gestanden hatten – unter anderem die bis heute vorhandene dreiköpfige Schlange des Orakels von Delphi und der ägyptische Obelisk –, wurden nun auch Statuen von erfolgreichen Wagenlenkern aufgestellt. Allein der herausragende mehrfache Sieger Porphyrios, der von der ganzen Stadt und darüber hinaus verehrt wurde, soll mit sieben Abbildern geehrt worden sein. Als er nach vielen Erfolgen von den Blauen zu den Grünen wechselte, kam es sogar im fernen Antiochia zu blutigen Unruhen.[34]