Konzerne an die Kette! - Sebastian Bohrn Mena - E-Book

Konzerne an die Kette! E-Book

Sebastian Bohrn Mena

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Beschreibung

Ob in Lebensmitteln, Kleidung oder Smartphones: Menschliches Leid und Umweltzerstörung stecken in all unseren Gebrauchsgütern. Meist bleibt das im Dunklen, denn Konzerne arbeiten bewusst intransparent und umgehen systematisch gesetzliche Schranken. So verletzen sie ungehindert und ungestraft Menschenrechte und Umweltstandards – in fernen Ländern genauso wie mitten in Europa. Dieses Buch zeigt, was wir dagegen tun können. Veronika und Sebastian Bohrn Mena nehmen die Textil-, Lebensmittel- und Rohstoffindustrie unter die Lupe, lassen Betroffene der Ausbeutung zu Wort kommen und zeichnen den damit verbundenen Umfang der Umweltzerstörung nach. Zugleich zeigen sie, wie und wo sich bereits Widerstand regt, warum die bisherigen Vorschläge für ein Lieferkettengesetz viel zu schwach sind – und welche ganz konkreten Möglichkeiten wir haben, durch unsere Konsumentscheidungen und unsere Macht als Bürger*innen für eine menschenwürdige, nachhaltige und klimaschützende globale Wirtschaft zu sorgen.

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Veronika & Sebastian Bohrn Mena

KONZERNE AN DIE KETTE!

SO STOPPEN WIRDIE AUSBEUTUNG VONUMWELT UND MENSCHEN

Inhalt

Vorwortvon Kathrin Hartmann

EINLEITUNG

Die andere Seite der Medaille

Ein Umdenken wird sichtbar

DER BISS INS UNGEWISSE

Der Griff ins Kühlregal

Faule Tomaten

Herzlose Salami

Trauriger Käse

Kaputter Boden

Der Kreis schließt sich

ANRUF AUS DEM ELEND

Giftiges Metall

Seltene Erden

In der Hölle von Foxconn

Kein Empfang

SCHMUTZIGE FUSSSPUREN

Wegwerfware Schuhe

Das Gift im Leder

Von Kinderhand gefertigt

Die Weltreise

Lieblingsstück

ES IST ETWAS IN BEWEGUNG GERATEN

Eine Grenzüberschreitung

Asien: Widerstand unter schwersten Bedingungen

Afrika: Ein Rechtsstreit, der alles verändern kann

Europa: Die Ausgebeuteten begehren auf

Von der Freiwilligkeit zur Verbindlichkeit

Initiativen für die Nachverfolgung der Lieferkette

AUSBLICK

Quellen

Dank

Die Autor*innen

Vorwort

Ich sehe Arti bis heute vor mir. Verzweifelt saß die damals 29-Jährige, die in Wirklichkeit anders heißt, auf dem Boden einer ärmlichen Hütte im Nichts einer endlosen Palmölplantage und wiegte ihre wenige Monate alte Tochter in den Schlaf. Gerade war sie mit ihren fünf Kindern wieder bei ihren Eltern eingezogen, die so mittellos waren wie sie. Als ich die junge Mutter 2014 auf Sumatra traf, hatte sie gerade ihren Mann Puji verloren. Sicherheitsleute der Palmölfirma Asiatic Persada hatten den 36-Jährigen mit Eisenstangen und Gewehrkolben so sehr misshandelt, dass er an seinen schweren Verletzungen starb. Der Mord an Puji war der Höhepunkt eines brutalen Landkonflikts: Seit fast dreißig Jahren kämpft die indigene Gruppe der Suku Anak Dalam um ihr Land, dessen Wald diese Firma illegal für eine Palmöl-Monokultur der Größe Münchens abgeholzt hat.

Ich erinnere mich genau, wie mich damals Trauer und Wut überwältigten. Als ich anschließend mit den beiden Menschenrechtsaktivisten, die mich bei meinen Recherchen auf Sumatra begleiteten, im Auto saß und wir den winzigen Friedhof mit Pujis frischem Grab passierten, kämpfte ich mit den Tränen. Ein Leben mit 36 Jahren ausgelöscht, eines so gut wie vorbei mit 29 Jahren, die Zukunft von fünf Kindern bestenfalls ungewiss. Wegen Tütensuppen, Tiefkühlpizza und Schokoriegeln. Ich fühlte mich schuldig. Schließlich lebe ich in einem Land, in dem die Supermärkte voll sind von Produkten, in denen genau dieses Palmöl steckt. Und die Verheerungen, die der Palmölanbau anrichtet, sind nur ein Ausschnitt des Zerstörungswerks, das fast all unseren Alltagsprodukten zugrunde liegt.

In diesem Buch haben Veronika und Sebastian Bohrn Mena viele weitere erschütternde Beispiele für Produktionsverhältnisse, die auf ausbeuterischen Verhältnissen gegenüber Menschen und Natur beruhen, zusammengetragen. Sie beschreiben, wie sehr jeder einzelne Produktionsschritt in den globalen Lieferketten darauf ausgelegt ist, so viel Profit wie möglich herauszupressen, auf Kosten von Menschen und Natur. Von den Kobalt- und Kupferminen in der DR Kongo, von wo die Rohstoffe für unsere Smartphones stammen, über die ausbeuterischen Technologie-Sweatshops in China bis zur Arbeit unter sklavenähnlichen Bedingungen auf den Containerschiffen, mit denen die Güter durch die Welt transportiert werden. Selbst eine harmlos scheinende Tiefkühlpizza ist ein ethisches Minenfeld, wenn man sich die Entstehungsbedingungen ihrer einzelnen Zutaten betrachtet: Von der Ausbeutung der migrantischen Tomatenpflücker*innen in Süditalien über die Milch von Hochleistungskühen bis zu den Sojamonokulturen, für die Regenwaldflächen gerodet wurden, und den Landwirt*innen, die um ihre Existenz kämpfen, zeigen die Autor*innen, dass Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörung und Tierleid in der Lieferkette unserer Konsumgüter nicht die Ausnahme sind, sondern die Regel.

Aber tragen wirklich wir die Verantwortung dafür, die wir diese Dinge kaufen? Der Appell, „ethisch“ zu konsumieren, damit umstrittene Konzerne aufhören, Natur und Menschen zu ruinieren, hat die Debatte, wie Waren hergestellt werden, lange Zeit dominiert. Darauf hat die Industrie reagiert und uns „grüne“ Produkte in die Einkaufsregale gestellt. Je schädlicher diese sind, desto aufwendiger gestalten Konzerne ihr Greenwashing. Damit verdienen sie prächtig – zertifizierte Produkte sollen einen Handelswert von mehr als 30 Milliarden Dollar haben. Allein: Sie haben die Welt kein bisschen besser gemacht. „Wir müssen einfach aufhören, diese Dinge zu kaufen, dann werden sie auch nicht mehr hergestellt.“ Solche Sätze habe ich immer wieder gehört. Hier hat uns die Corona-Krise eines Besseren belehrt: Massenhafter Verzicht ist in einem System, das auf Wachstum setzt, für das viel produziert und billig verkauft werden muss, nicht vorgesehen. Infolge des erzwungenen Konsumstopps stornierten bereits zu Beginn der Pandemie Textilkonzerne Aufträge in 1.000 Fabriken im Wert von 1,5 Milliarden Dollar. Millionen Arbeiter*innen im Globalen Süden wurden gefeuert und stehen nun vor dem Nichts.

Wir sollten also nicht fragen: Was sollen wir kaufen oder nicht? Sondern: Wieso können wir uns nicht darauf verlassen, dass Produkte ökologisch und sozial gerecht hergestellt werden? Warum schieben Unternehmen und Politik die Verantwortung uns in die Schuhe? Und weshalb sollen wir überhaupt zwischen Ausbeutung und gerechter Produktion wählen können?

Wo und wie produziert wird, entscheiden nicht Konsument*innen, sondern Konzerne. Unternehmen sind keine Personen, die nach ethischen Überlegungen handeln. Es sind Konzentrationen von Macht. Ihre Sonderrechte setzen sie immer politisch durch. Dazu gehört auch die freiwillige Unternehmensverantwortung – die Corporate Social Responsibility (CSR) –, die die Politik den Konzernen seit Jahren zugesteht, anstatt sie verbindlich zur Verantwortung zu zwingen.

Als im April 2013 das Gebäude Rana Plaza in Bangladesch einstürzte und mehr als 1.100 Menschen starben, konnte man auf den Homepages der Modekonzerne, die in den dort untergebrachten Textilfabriken Kleider nähen ließen, schöne Worte über ihre freiwilligen Wohltaten lesen. Sie wurden aber weder juristisch zur Verantwortung gezogen – kein*e einzige*r Manager*in wurde bestraft –, noch waren sie bereit, freiwillig für das Desaster zu haften. Nur dank des enormen gesellschaftlichen Drucks zahlten sie, viel zu spät und viel zu wenig, in den Entschädigungsfonds für die Opfer und akzeptierten ein Brandschutzabkommen, dessen Unterzeichnung sie zuvor jahrelang verweigert hatten. Dieses gilt aber nur für die Textilindustrie in Bangladesch. Nach wie vor verunglücken laut der International Labour Organization (ILO) weltweit jedes Jahr 2,3 Millionen Menschen bei der Arbeit.

Bislang stehen Opfern von Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette nur unverbindliche Beschwerdemechanismen, etwa bei der OECD, zur Verfügung. Sie führen fast nie zum Erfolg. Laut dem globalen Netzwerk OECD Watch wurden seit dem Jahr 2000 mehr als 400 Beschwerden eingereicht. Aber nur ein Prozent hat zu positiven Veränderungen geführt. Auf der anderen Seite sind die Profite von Konzernen in Investitionsschutzverträgen rechtlich geschützt. Sie können Staaten sogar verklagen, sollten diese Auflagen zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz machen, die den Konzerngewinn schmälern.

Ein weitreichendes Lieferkettengesetz hätte das Potenzial, dieses Machtungleichgewicht zu erschüttern. Es würde Unternehmen verpflichten, soziale und Umwelt-Risiken in ihrer gesamten Lieferkette zu erfassen und alles zu tun, um sie zu vermeiden. Käme es zu Verstößen, müssten Firmen haften, Betroffene könnten sie verklagen. So ein Gesetz hätte die Katastrophe von Rana Plaza möglicherweise verhindert. Auch Puji würde vielleicht noch leben. Denn die Firma Asiatic Persada, deren Sicherheitsleute ihn umbrachten, gehörte zuvor Wilmar International, dem Hauptlieferanten des Konzerns Unilever, der zu den größten Verbrauchern von Palmöl zählt. Während Unilever sich als besonders grün und verantwortungsvoll inszeniert, ist Wilmar vor allem für illegale Abholzung und Landraub bekannt. Asiatic Persada ließ Siedlungen der Suku Anak Dalam, die ihr Land in der Palmölplantage besetzten, plattwalzen, Bauern und Bäuerinnen ins Gefängnis werfen und auf Menschen schießen. Nach einer medienwirksamen Protestkampagne von NGOs versprach Unilever, Wilmar dazu zu bringen, die zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Das ist nicht geschehen. Stattdessen verkaufte Wilmar seine Tochterfirma pro forma und die Gewalt eskalierte.

Natürlich kann ein Lieferkettengesetz nicht den Kapitalismus abschaffen. Aber wenn Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet wären, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung auch im letzten Glied der Kette abzustellen, müssten sie über kurz oder lang ihre Einkaufspraktik ändern. Sie müssten Dinge so herstellen, dass sie lange halten und man sie reparieren kann. Rohstoffe müssten nicht nur recycelt, sondern auch reduziert werden, indem man abwägt, wie sie sinnvoll eingesetzt werden können. Ein verschwenderischer Irrsinn wie SUVs und Fast Fashion wäre nicht mehr denkbar. Alternativen, die längst auf dem Tisch liegen, etwa die Ideen zur Energie-, Landwirtschafts- und Verkehrswende, ließen sich schneller umsetzen.

Lieferkettengesetze können gewaltige Hebel für die Demokratisierung der Wirtschaft und für globale Gerechtigkeit werden. Die lokale Bevölkerung hätte mitzureden, wie und ob ihre Rohstoffe gewonnen, exportiert oder vor Ort verarbeitet werden. Aktivist*innen würden nicht mehr unterdrückt, eingesperrt oder ermordet, wenn es ein „Recht auf Rechte“ gäbe. Wenn im Globalen Süden Menschen Firmen verklagen können, werden sie von anonymen Opfern zu Akteur*innen. Bislang sind solche Gerichtsverfahren selten, mühsam, für die Betroffenen unbezahlbar und überhaupt nur möglich, wenn NGOs sie unterstützen. 2015 reichten – mithilfe der Menschenrechtsorganisation Medico International und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) – Muhammad Hanif, Muhammad Jabbir, Abdul Aziz Khan Yousuf Zai und Saeeda Khatoon Klage beim Landgericht Dortmund ein. Sie sind Überlebende und Angehörige von Opfern des verheerenden Brandes in der Textilfabrik Ali Enterprises in der pakistanischen Stadt Karachi, bei dem 258 Menschen im Jahr 2012 starben. Hauptauftraggeber der Fabrik war der deutsche Textildiscounter KiK. Zwar wies das Gericht die Klage – die erste ihrer Art in Deutschland – 2019 wegen Verjährung ab. Doch für die Kläger*innen war dies ein emanzipatorischer Akt: Sie verschafften sich international Gehör und erkämpften sich eine Entschädigung.

Ich denke noch heute gerne an den 13. November 2017 zurück, als ich am Oberlandesgericht Hamm eine historische Gerichtsentscheidung miterleben durfte. Saúl Luciano Lliuya, Bergführer und Kleinbauer in Huaraz in Peru, war nach Deutschland gekommen, um dort RWE zu verklagen. Der Energiekonzern ist der größte CO2-Emittent Europas und mit seinen Kohlekraftwerken für ein halbes Prozent des globalen Klimawandels verantwortlich. Unter diesem leidet Peru bereits heute: Die Schneefelder in den 7.000 Meter hohen Bergen gehen zurück, die Gletscherseen wachsen. Einer davon bedroht Lliuyas Heimat. Tritt die Lagune des Palcacocha-Gletschers über die Ufer und bringt den Damm zum Bersten, würde eine bis zu dreißig Meter hohe Flutwelle Huaraz verwüsten. Deshalb fordert Lliuya, dass die RWE AG entsprechend ihrem Anteil an der Klimakrise auch ein halbes Prozent der Summe bezahlt, die die Gemeinde für den Hochwasserschutz aufwenden muss: 17.000 Euro. Das könnte der Konzern zwar aus der Portokasse zahlen. Aber es geht um eine Frage globaler Dimension: Kann ein deutsches Unternehmen für die Folgen des Klimawandels am anderen Ende der Welt haftbar gemacht werden?

Damals gaben sich die RWE-Manager*innen im Gerichtssaal siegessicher. Aber nur so lange, bis der Richter Rolf Meyer die Klage annahm. Der Saal, voll besetzt mit Lliyua-Fans und Klima-Aktivist*innen, bebte vor Jubel und Applaus und aus den Gesichtern der RWE-Führungskräfte wich das selbstbewusste Lächeln einer Zornesröte. „Was heißt das denn, wenn das hier Recht bekommt? Dann ist ja jeder zur Gefahrenbeseitigung verpflichtet, jeder Mensch und die gesamte deutsche Industrie. Es käme zu einer Klagewelle aller gegen alle“, bäumte sich ihr Anwalt auf. So klingt das, wenn Konzerne ihre Moral-Fassade fallen lassen. Wenn es um Rechtsansprüche einerseits geht und um Privilegien und Gewinne andererseits, wird die „Unternehmensverantwortung“ wie eine Sandburg unter einer Flutwelle weggeschwemmt.

Genau deshalb braucht es Lieferkettengesetze. Und genau deshalb hat sich in Deutschland die Industrie so heftig dagegen gewehrt. Ihr Lobbyeinfluss auf das Wirtschaftsministerium hat das deutsche Gesetz fast zum Scheitern gebracht. Doch im Mai 2021 verabschiedete die Bundesregierung den Gesetzesentwurf. Auf Drängen der Wirtschaftsverbände wurde das ehemals ambitionierte Papier allerdings ordentlich zurechtgestutzt. Statt für Unternehmen ab 250 Beschäftigten gilt es zunächst nur für jene mit mindestens 3.000 und ab 2024 ab 1.000 Mitarbeiter*innen. Es enthält keine zivilrechtliche Haftung, Umwelt ist nicht als eigenes Schutzgut aufgeführt, die Verantwortung gilt vor allem für unmittelbare Zulieferer.

Entscheidend ist aber etwas anderes: Endlich ist Schluss mit der freiwilligen Verantwortung. Dieser Weg ist komplett gescheitert, es gibt kein Zurück mehr. Dass das Gesetz ins Schwarze trifft, belegt die hysterische Reaktion der Wirtschaftslobby. Es sei „das dümmste Gesetz, das von der Großen Koalition verabschiedet worden“ sei, trompetete Oliver Zander vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Lars Feld, Leiter des neoliberalen Walter Eucken Instituts, klagte, die Verordnung würde „die Axt an das bisherige Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft mit stark internationalisierten Wertschöpfungsketten und einer starken Produktion im Ausland“ legen. Derlei Ausfälle beweisen, dass selbst das abgeschwächte Gesetz Wirkung zeigen wird. Zum Beispiel können NGOs und Gewerkschaften mit der sogenannten Prozessstandschaft im Namen Betroffener vor einem deutschen Gericht klagen.

Je mehr solcher Gesetze in vielen europäischen Ländern verabschiedet werden, je mehr zivilgesellschaftliche Bündnisse diese vorantreiben, umso lückenloser können Konzerne zur Verantwortung gezwungen werden. Und umso bessere Chancen hat das UN Treaty, ein globales Lieferkettengesetz, gestaltet von den Ländern des Südens. Deshalb ist dieses Buch von Veronika und Sebastian Bohrn Mena so wichtig: Es schafft Bewusstsein für diese wirkungsvolle Alternative und ermutigt uns, weiter dafür zu kämpfen. Die gesellschaftliche Zustimmung wächst – und ist Ausdruck einer wachsenden Solidarität von unten mit dem Globalen Süden. Es geht nicht um Moral, sondern um Rechte. Auf diesem Weg sind Lieferkettengesetze ein erster wichtiger Schritt. Genau genommen in eine Welt, in der das gute Leben für alle endlich möglich ist.

Kathrin Hartmann ist Journalistin in München. Sie wirkte in Werner Bootes preisgekröntem Dokumentarfilm „The Green Lie“ mit und schrieb mit „Die Grüne Lüge“ das Buch zum Film. Für ihr Buch „Aus kontrolliertem Raubbau“ recherchierte sie unter anderem auf den Palmölplantagen in Indonesien und Bangladesch über die Folgen des grünen Kapitalismus. Zuletzt erschien „Grüner wird’s nicht. Warum wir mit der ökologischen Krise völlig falsch umgehen“ (Blessing Verlag).

Es ist kalt in der Halle und es riecht unangenehm. Der metallische Blutgeruch prägt sich für immer ins Gedächtnis ein, sobald man ihn einmal in der Nase hatte. Dicht beisammen stehen die Arbeiter*innen und zersägen im Minutentakt die Schweine, die an einem Förderband von der Decke hängend stetig an ihnen vorbeifahren. Das Band scheint niemals stillzustehen, das Tempo bleibt immer gleich. Es bewegt sich unaufhörlich weiter, befördert einen Tierkörper nach dem anderen durch das Gebäude. Auch wenn den Beschäftigten zwischendurch die Arme schwer werden von den Sägen, die sie unentwegt von oben nach unten drücken müssen, um die Schweine der Länge nach vom Kopf bis zum Schwanz zu zerteilen. Zwischendurch schreit mal jemand in den dröhnenden Lärm der Maschinen: „Atenţie!“ Abgesehen von dem rumänischen Wort für „Vorsicht!“ gibt es kaum Raum und auch keine Zeit für Unterhaltungen. Schließlich dürfen zwischen dem Stich in die Kehle, der die Schweine verbluten lässt, und dem siedend heißen Wasserbad, durch das sie vor der Zerteilung gezogen werden, nur wenige Minuten vergehen.

Die anstrengende Arbeit bei den niedrigen Temperaturen zehrt an den Menschen. Jeder Energieverlust durch unnötigen Krafteinsatz wird vermieden. Da kann es schon einmal passieren, dass ein Kehlenstich nicht exakt sitzt und ein Tier noch lebend in das siedende Wasser getaucht wird. Es ist keine Absicht, aber auch nicht wirklich vermeidbar: Das viele Blut, mit dem die Beschäftigten bei ihrer Arbeit unweigerlich in Kontakt kommen, durchdringt die Schutzkleidung und lässt die Hände steif werden. Völlig durchnässt stehen sie in der Kälte. Den ganzen Tag lang.

Die meisten der Männer und Frauen, die gedrängt in diesen gigantischen Hallen arbeiten, in denen die Tiere getötet und in ihre Bestandteile zerlegt werden, stammen aus dem Osten und Südosten Europas. Es sind Menschen aus Rumänien, Polen und Bulgarien, die in deutschen Schlachtfabriken wie jenen des deutschen Fleisch-Konzerns Tönnies – einem der weltweit größten Schlachtbetrieb der Welt – rund 20.000 bis 30.000 Tiere pro Tag töten und verarbeiten.1 Regelrecht abgespeist werden sie dafür, mit einem Mindestlohn von nur 9,35 Euro pro Stunde, verschiedene Abzüge verringern den Betrag noch weiter.2

UMSÄTZE DER GRÖSSTEN FLEISCHKONZERNE in Milliarden US-Dollar, 2019/20

Nirgendwo in Europa sind die Löhne für die Schlachtarbeit so niedrig wie in Deutschland. In Spanien und Italien werden den Beschäftigten zumindest 14 Euro pro Stunde bezahlt3, in Österreich sind laut Kollektivvertrag 15 Euro pro Stunde vorgesehen, in den Niederlanden und Dänemark sogar 22 bzw. 25 Euro pro Stunde.4 Rund 7.000 Menschen schuften allein in der Tönnies-Fabrik in Rheda-Wiedenbrück im Bundesland Nordrhein-Westfalen, darunter kaum Deutsche. 80 Prozent der deutschen Fleischproduktion, so schätzt der europäische Gewerkschaftsverband EFFAT5, werden mittlerweile von Arbeitskräften aus Rumänien oder Bulgarien erledigt. Von Menschen ohne echten Schutz und ohne Rechte, die per Leih- oder Werkvertrag von unbekannten Subunternehmen der großen namhaften Fleischkonzerne angeheuert werden.

Kalt ist es auch in der kleinen Wohnung, in die sich die Männer und Frauen nach ihren zehn-, zwölf- oder gar sechzehnstündigen Schichten in der Schlachthalle zurückziehen. Die kurzen Phasen, die der körperlichen und psychischen Erholung gewidmet sein sollten, sind für viele ähnlich belastend wie die Arbeit in der Schlachtfabrik. Zusammen mit bis zu 14 anderen Personen hausen sie hier auf engstem Raum, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Die Unterkünfte, die ihnen von ihrem Arbeitgeber zum Preis von bis zu 250 Euro pro Bett bereitgestellt werden, sind in den meisten Fällen in einem jämmerlichen Zustand.

Tausende, teils gravierende Beanstandungen wurden bei behördlichen Kontrollen festgestellt. Es sind wahre Bruchbuden, manche von ihnen sogar einsturzgefährdet. Andere sind von Ungeziefer oder Schimmel befallen. Es sind unwürdige Stätten: Zu diesem Schluss kam das Arbeitsministerium Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2020, als ein Bericht zu den Bedingungen in der Fleischbranche das ganze Ausmaß des Elends dokumentierte.6 Schon 2019 wurde eine Unzahl von Verstößen gegen das Arbeitsrecht in 26 von 30 kontrollierten Betrieben festgestellt.7 Was die Kontrollierenden in ihren Formformularen bei den wenigen, oftmals sogar vorangekündigten Inspektionen festhalten, ist das eine. Was die 110.000 Arbeitenden in der deutschen Billigfleisch-Maschinerie tagtäglich erleben, geht jedoch noch weit darüber hinaus.8

Die wenigen Aussteiger*innen, die sich trauen, unter Zusicherung der Anonymität darüber zu berichten, erzählen von Menschen, die sich in den Schlaf weinen. Nacht für Nacht. Weil sie Schmerzen haben und weil sie unter Druck stehen. Weil sie das Geld brauchen, um ihren Familien in der Heimat ein besseres Leben zu ermöglichen, einen Hauch von dem, was für viele in Deutschland ganz alltäglich ist. Weil sie die sprichwörtlichen Rädchen im Getriebe eines Milliardengeschäfts sind und auch genau so behandelt werden. Von ihrem ohnehin nicht üppigen Lohn wird ihnen auch noch etwas abgezogen, ohne dass sie nachvollziehen könnten, wieso.9 Es wird ihnen nicht erklärt, es wird ihnen auch keine Wahl gelassen und Beschwerdestelle gibt es keine. Diese Menschen werden unzureichend geschützt, obwohl sie eine Arbeit verrichten, die sprichwörtlich an die Knochen geht.

Das alles spielt sich mitten in Deutschland ab, hinter den fensterlosen Mauern der Fleischindustrie. Aber auch in vielen anderen europäischen Ländern sieht es für die Beschäftigten in Schlachtbetrieben nicht wesentlich besser aus, dort sind die Industrien nur kleiner, dementsprechend fallen die Missstände bislang weniger extrem aus. Aber sie wachsen, die Fabriken, an vielen Orten Europas.

Möglich ist diese teils völlig legale Missachtung der basalen Bedürfnisse von Menschen, weil sie sich in bewusst schwer nachvollziehbar gestalteten Firmenstrukturen abspielen, die mit aufwendigen Schachtelkonstruktionen arbeiten. Wie soll sich in so einem System der rumänische Leiharbeiter gegen seine systematische Ausbeutung wehren?

Es ist nicht so, als wäre das alles bislang unbekannt gewesen. Seit Jahren machen Gewerkschaften darauf aufmerksam, appellieren auch NGOs an die Öffentlichkeit, sich dieser Problematik bewusst zu werden. Doch das deutsche Exportwunder, mit seinen sagenhaften Profiten, hat bislang die Politik und auch die Medien davon abgehalten, genauer hinzusehen.

Ganze 5,2 Millionen Tonnen Schweinefleisch produzierte Deutschland im Jahr 2019, so viel wie kein anderes Land in Europa.10 Niemand wollte die mächtige Maschine bei der Arbeit stören, die so viel Geld in die Taschen einflussreicher Menschen spült. Ob in den VIP-Logen der Fußballvereine oder bei feinen Konzertabenden in erlauchter Runde – man sprach nicht über das große und die vielen kleinen Verbrechen, die hinter dem großen Geld steckten. Man begnügte sich mit schönen Worten in Konzernberichten, mit Beschwichtigungen, mit Relativierungen. Es wurde den Konzernen sehr einfach gemacht, sich an der Arbeitskraft anderer zu bereichern.

Und dann kam Corona. Die desaströsen Arbeitsbedingungen, gepaart mit der miserablen Unterbringung in beengten Quartieren, erwiesen sich als Paradies für die Ausbreitung des Virus. In Windeseile entstanden gigantische Infektionsherde, ganze Ortschaften mussten im Juni 2020 unter Quarantäne gestellt werden, weil in und um die Fleischfabriken die Beschäftigten reihenweise in die Krankheit kippten. Plötzlich sprach die ganze Welt über den Horror der deutschen Fleischindustrie, der in den Vereinigten Staaten übrigens kaum anders aussieht. Dort tragen die rechtlosen Migrant*innen sogar Windeln, wenn sie am Fließband die Hühnchen zerteilen, die kurz darauf in den Snackboxen der Fastfood-Läden landen.11

Über die Zustände in den USA kann man sich leicht empören, aber wenn es um die Ecke in der Nachbarschaft kaum besser aussieht, wenn die „leckere Stadionwurst“ direkt aus der Arbeitshölle im eigenen Viertel kommt, dann wird es ungemütlich für das Gewissen. Corona und die vielen Infektionen ließen die Öffentlichkeit endlich reagieren. Der Milliardär Clemens Tönnies, der große Nutznießer der Ausbeutung, wurde plötzlich ganz offen von allen Seiten angefeindet. Niemand wollte jemanden in Schutz nehmen, der sich so offenkundig an einem System der Schutzlosen bereichert. In der folgenden heftigen politischen Debatte wurden sogar Konsequenzen erwogen. Doch wie so oft fiel das, was jene daraus ableiteten, die Entscheidungen treffen müssten, am Ende widersprüchlich und weitestgehend kraftlos aus.

In dieser Zeit bemerkten wir, dass hier etwas fehlte. Denn während die einen über das Verbot der Werkverträge sprachen, forderten andere die Verteuerung von Fleisch. Statt soziale und ökologische Interessen zusammenzudenken und gemeinsam zu vertreten, spielte man sie unter dem Motto „Das Schnitzel muss leistbar bleiben!“ gegeneinander aus. Millionen von Menschen rümpften zwar die Nase über Tönnies & Co und verurteilten die Symptome der modernen Fleischmaschinerie, aber niemand benannte die gemeinsame Ursache der Probleme und stellte die Systemfrage.

Und so kam, was kommen musste: Statt den traurigen und empörenden Anlassfall als Chance zu nutzen, verlor man sich in Symptom- und Stellvertreterdebatten. Während Deutschland noch überlegte, wie man die miesen Geschäftspraktiken der Schlachtkonzerne doch noch gesetzlich in die Schranken weisen könnte, kündigten diese bereits ihre Abwanderung nach Spanien an.

Über ein Jahr später, im Herbst 2021, sind die kurzzeitig Verdammten wieder selbstbewusst wie eh und je auf offener Bühne zurück. Sie klagen nicht nur kritische Stimmen wegen angeblicher Verleumdung12 und den Staat13 sowie Tierschutzaktivist*innen14 auf Entschädigung, sondern fordern lautstark ein Ende der „Romantisierung“. Was sie damit meinen: Schluss mit dem Mitgefühl mit den Arbeitenden, irgendwer muss die Drecksarbeit zum Hungerlohn doch machen, sonst lassen sich Profite nicht weiter steigern! Und wenn die Bevölkerung oder zumindest ihre Vertreter*innen nicht willig sind oder sie mit gesetzlichen Vorgaben ausbremsen wollen, dann wird von ihnen einfach der europäische „Standortwettbewerb“ ins Spiel gebracht. Durch diesen können sie schließlich nicht nur ihre Gewinne, sondern auch gleich die ganze Produktion ins Ausland verlagern.

Das ist übrigens ein beliebtes Druckmittel der Superreichen, die gern damit drohen, Menschen arbeitslos zu machen, wenn man sie daran hindern möchte, sich weiter an den Beschäftigten zu bereichern. Meist kommen sie damit sogar durch, schließlich will niemand für den Verlust von regionalen Arbeitsplätzen verantwortlich sein, so mies sie auch sein mögen. Tönnies beispielsweise ließ kurz nach dem Corona-Skandal in Rheda-Wiedenbrück mit Projektplänen für eine neue Mega-Fabrik in Spanien aufhorchen.

Die Art, wie Tönnies auf Kosten seiner Belegschaft wirtschaftet, ist jedoch nur ein kleiner Aspekt in einer viel größeren Grundsatzfrage, mit der wir uns in Zeiten wachsender ökologischer und sozialer Krisen dringend beschäftigen müssen. Denn Missstände, Zerstörung und Ausbeutung durch international agierende Konzerne gibt es in fast jeder Branche. Weil Konzerne es inzwischen einfach gewohnt sind, durch verschachtelte Vertragskonstruktionen und ausgelagerte Arbeitsschritte mit allem durchzukommen, was ihren Profit steigert. Für moralische Bedenken oder Skrupel ist in der modernen Geschäftswelt kein Platz. Was in Deutschland, Österreich oder Europa verboten ist, kann in einem armen Land des Globalen Südens mit hoher Wahrscheinlichkeit trotzdem gemacht werden. Denselben Konzernen, denen wir den Import von Soja aus brandgerodetem Regenwald vorwerfen, können wir den Umgang mit importierten Leiharbeiter*innen aus den strukturschwachen Regionen Südost-Europas zur Last legen.

Wenn wir in diesem Zusammenhang vom Betrug an der steuerzahlenden Bevölkerung sprechen und zu Recht die in Steuerparadiesen geparkten Milliarden anprangern, dann müssen wir auch den vorsätzlichen Betrug im Kühlregal thematisieren. Denn all diese Missstände sind Auswüchse ein und desselben Problems, oft sogar verursacht von denselben Personen. Dagegen nützt es nichts, wenn wir wieder und wieder die vermeintliche Macht der Konsument*innen bemühen, deren Kassazettel angeblich ein Stimmzettel ist. Wir müssen endlich auch die Interessen und die Macht der Bevölkerung ansprechen.

Unser stärkstes Instrument ist die Demokratie an sich, die sicherstellt, dass wir Bürger*innen am Ende diejenigen sind, die entscheiden, was rechtlich zulässig ist und was nicht. Daher treten wir für ein Lieferkettengesetz ein, also für verpflichtende unternehmerische Sorgfalt von Anfang an. Wie wir in Deutschland gesehen haben, wo im Juni 2021 gegen alle Widerstände und trotz vieler Abschwächungen gegenüber den Entwürfen am Ende dennoch ein recht robustes Gesetz beschlossen werden konnte, lohnt sich der Einsatz für rechtliche Schranken. Denn die Freiwilligkeit, das zeigen uns viele Beispiele, funktioniert nicht, um gerechte Löhne zu zahlen und die Ausbeutung von Beschäftigten zu verhindern. Nur ein verbindlicher gesetzlicher Rahmen wird dazu führen, dass auch die Konzerne sich an die geltenden Regeln halten werden.

Wir sind nicht nur irregeleitete und desinformierte Konsument*innen: Wir sind auch Bürger*innen, die unter diesen Missständen leiden. Und wenn wir auf diesem Wege vom Einzelfall zur Systembetrachtung kommen, dann müssen wir uns zwangsläufig die Frage stellen, wie wir es zulassen konnten, dass Firmen über juristische Konstrukte weitestgehend im rechtsfreien Raum agieren können – zum Schaden von uns selbst und unseren Mitmenschen. Aber auch zum Schaden von Tieren und Umwelt, von Klima, Natur und nachfolgenden Generationen.

Die andere Seite der Medaille

In den vergangenen Jahren, befeuert durch die Fridays-for-Future-Proteste und zuletzt auch durch krisenbedingte Ausfälle in globalen Lieferketten, kam es zu einer Art Rückbesinnung auf regionale Produkte. Auch ökologische Fragen sind nicht erst im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und ihrer vermuteten Entstehung durch Zoonose vermehrt zum Politikum geworden. War früher der Umgang mit Tieren eher eine Angelegenheit des Privaten, wurde etwa das Wohlergehen der Biene und der Insekten in den vergangenen Jahren vermehrt zur öffentlichen Streitfrage. In Bayern votierten im Frühjahr 2019 unter dem Motto „Rettet die Bienen“ über 1,7 Millionen Menschen für strengeren Naturschutz, das waren ganze 18 Prozent der Bevölkerung. Noch nie war ein Volksbegehren in Bayern derart erfolgreich gewesen. Hauptmotor der Mobilisierung war ein Konflikt zwischen landwirtschaftlichen Betrieben