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Magisterarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Universität zu Köln (Institut für deutsche Literatur und Sprache), Sprache: Deutsch, Abstract: "Er verbrannte alle seine Bücher und zog sich als Eremit in eine öffentliche Bibliothek zurück." (Canetti 1973, S. 122.) Bei diesem Zitat stellt sich die Frage: Warum verbrennt er die Bücher? Geht eine Gefahr von ihnen aus? Unfraglich ist, dass Bücher mächtig sind. Einerseits wurde schon seit Beginn der Schrift das Geschriebene als Mittel der Erlangung und Bewahrung von Macht benutzt, so dass Macht und Wissen, das durch die Schrift, später durch Bücher erworben und bestätigt wird, eine enge Verbindung eingehen. Schon im alten Ägypten hatte das Buch sakralen Charakter, und die Ägypter verehrten den Schriftgott Thot. Später, im Christentum, wurde das Buch in vielen Büchern als etwas Heiliges dargestellt. Andererseits aber können die Bücher auch aufgrund der ihnen innewohnenden Macht zu einer Gefahr für das Individuum werden. Mit diesem letzten Aspekt beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Sie setzt sich mit dem Phänomen der innerliterarischen Bibliomanie auseinander. Die lesenden Helden gebrauchen das Buch als Schutz vor der Wirklichkeit, die nicht die gewünschte Gestalt hat und kompensieren durch das Buch eine in der realen Welt erlebte Mangelerfahrung. Das Buch wird als Medium, als zentrale Instanz, zwischen den Rezipienten und die Welt gestellt. Die Wahrnehmung der Welt erfolgt ausschließlich über das Buch, so dass das Buch letztendlich die Welt selbst ist und die Wirklichkeit im Gegenzug ignoriert wird. Die neu entstandenen Welten im Kopf sind demnach gelesene, fiktive Welten, die vom Protagonisten als reale empfunden werden. Ein allen analysierten Beispielen immanenter Aspekt ist die Maßlosigkeit der konsumierten Büchermenge, die erst für den bibliomanen Wahn ausschlaggebend ist. So können die ausgewählten Beispiele Fälle darstellen, in denen sich der Leser gegenüber dem Buch nicht angemessen oder maßvoll verhält. Auch können sie die Konsequenzen einer direkten Referentialisierung der Literatur auf die alltägliche Welt aufzeigen. Nichtsdestotrotz soll die Arbeit keine Warnung vor dem Buch sein. Vielmehr handelt es sich um eine Thematisierung der innerliterarischen Bibliomanie und ein Aufzeigen der möglichen Reaktionen auf eine pathologische Literarisierung der Wirklichkeit.
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1.1. Buch und Bibliotheken 4 1.2. Bibliophilie 8 1.3. Bibliomanie 10
2. Analyse von Vergleichsbeispielen 14
2.1. Der Bücherbrand: Miguel de Cervantes’Don Quijote14
2.2. Eskapistische Lektüre : Karl Philipp Moritz’Anton Reiser17
2.3. Die universale Bibliothek: Jorge Luis Borges’Die Bibliothek von Babel19
2.4. Anthropomorphisierung: Ray BradburysFahrenheit 45121
3. Elias Canettis RomanDie Blendung23 3.1. Kopf in Bücher 25
3.1.1. Bücher als universale Erklärung der Welt 25
3.1.2. Leser und Nicht -Leser 29
3.1.3. Nicht -rettende Bücher als entfesselte Macht 32
3.2. Bücher im Kopf 33 3.2.1. Pathographie 33
3.2.2. Bibliothek, Kopfbibliothek, Universalbibliothek und Bibliotheksbrand 40
3.2.3. Bücher und Melancholie 46
3.3. Bücher und Welt 48 3.3.1. Bücher als Religion 48
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Einleitung
Bei diesem Zitat stellt sich die Frage: Warum verbrennt er die Bücher? Geht eine Gefahr von i hnen aus? Unfraglich ist, dass Bücher mächtig sind. Einerseits wurde schon seit Beginn der Schrift das Geschriebene als Mittel der Erlangung und Bewahrung von Macht benutzt, so dass Macht und Wissen, das durch die Schrift, später durch Bücher erworben und bestätigt wird, eine enge Verbindung eingehen. Schon im alten Ägypten hatte das Buch sakralen Charakter, und die Ägypter verehrten den Schriftgott Thot2. Später, im Christentum, wurde das Buch in vielen Büchern als etwas Heiliges dargestellt. Andererseits aber können die Bücher auch aufgrund der ihnen innewo hnenden Macht zu einer Gefahr für das Individuum werden.
Mit diesem letzten Aspekt beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Sie setzt sich mit dem Phänomen der innerliterarischen Bibliomanie auseinander. Die lesenden Helden gebrauchen das Buch als Schutz vor der Wirklichkeit, die nicht die gewünschte Gestalt hat und kompensieren durch das Buch eine in der realen Welt erlebte Mangelerfahrung. Das Buch wird als Medium, als zentrale Instanz, zwischen den Rezipienten und die Welt gestellt. Die Wahrnehmung der Welt erfolgt ausschließlich über das Buch, so dass das Buch letztendlich die Welt selbst ist und die Wirklichkeit im Gegenzug ignoriert wird. Die neu entstandenen Welten im Kopf sind demnach gelesene, fiktive Welten, die vom Protagonisten als reale empfunden werden.
Ein allen analysierten Beispielen immanenter Aspekt ist die Maßlosigkeit der kons umierten Büchermenge, die erst für den bibliomanen Wahn ausschlaggebend ist. So können die ausgewählten Beispiele Fälle darstellen, in denen sich der Leser gegenüber dem Buch nicht angemessen oder maßvoll verhält. Auch können sie die Konsequenzen einer direkten Referentialisierung der Literatur auf die alltägliche Welt aufzeigen. Nichtsdestotrotz soll die Arbeit keine Warnung vor dem Buch sein. Vielmehr handelt es sich um eine Thematisierung der innerliterarischen Bibliomanie und ein Aufzeigen der möglichen Reaktionen auf eine pathologische Literarisierung der Wirklichkeit.
Zu Beginn der Erörterung bibliomaner Buchnutzung in der Literatur steht ein einführendes Kapitel, das sich mit denFormen der Buchnutzung in der Literaturbeschäftigt. Hier
1Canetti 1973, S. 122.
2Toth ist gleichzeitig auch Gott des Todes, so dass von Anfang an die Verbindung von Büchern und Tod der Bibliothek als erbliche Belastung, als untilgbare Schuld, gegeben ist. Vgl. Rieger 2002, S. 166.
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wird der DreischrittBuch und Bibliotheken-Bibliophilie-Bibliomanieund deren schrittweise Steigerung thematisiert. Dafür werden literarische Beispiele herangezogen. Auch wird kurz auf das Verhältnis des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes zur Gesellschaft und zur Mediengeschichte, also auf die kulturelle Dimension, hingewiesen. Die Einführung in das Phänomen der bibliomane n Buchnutzung erfolgt mit Hilfe literarischer Werke, denen exemplarisch einige, für die Rolle der Bibliomanie wichtige Aspekte entnommen werden. Der Bücherbrand in Miguel de Cervantes’Don Qu ijote(1605/1615) wird gezündet, um die Heilung und Rettung des vom vielen Lesen wahnsinnig gewordenen Bibliomanenavant la lettreherbeizuführen. Karl Philipp Moritz’Anton Reiser(1784/85) wird als Beispiel für die eskapistische Lektüre, ein Verhalten pathologischer Verzerrung der Lektüre, angeführt. Jorge Luis Borges’ ErzählungDie Bibliothek von Babel(1941) steht für die universale Bibliothek, deren Bücher nicht mehr länger Zugänge oder Ausschnitte der Welt repräsentieren, sondern die Welt selbst sind und im gleichen Moment den Menschen ein Leben in ihnen verweigern.Fahrenheit 451von Ray Bradbury aus dem Jahr 1953 thematisiert nicht so sehr die bibliomane Buchnutzung als viel mehr die prägnant präsentierten Motive der Anthropomorphisierung von Büchern und des Bücherbrandes.
Die Auswahl der analysierten Werke erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, konzentriert sich jedoch auf ausgewählte Beispiele der Sekundärliteratur sowie auf Werke mit thematischen Anschlüssen und inhaltlichen Parallelen. Die Methode ist vor allem gege nständlich und deskriptiv. Aus Beobachtungen, die im Zuge der Lektüre gemacht werden, und Aspekten, die an der Lektüre nachweisbar sind, soll auf Gehalt und Bedeutung der innerliterarischen Bibliomanie geschlossen werden. Den Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung stelltDie Blendungdar, die Elias Canetti zwischen Herbst 1930 und August 1931 schreibt und die 1935 veröffentlicht wird. Erzählt wird die Geschichte des weltfremden, egozentrischen Professors Peter Kien, der, aus dem Schutz seiner Bibliothek verdrängt, dem Wahnsinn verfällt und sich eine neue Bibliothek in seinem Kopf ansammelt, ehe er sich in seiner wirklichen Bibliothek selbst verbrennt. Kien duldet keine Welt außer der seiner Bibliothek, seine Bücher sind ihm menschliche Wesen, die Gestalten in seinen Büchern sind ihm Diskussionspartner. Schon immer ein weltfremder Büchermensch, treibt ihn die Konfrontation mit der Wirklichkeit, welche er bis zur Ehe mit seiner Haushälterin Therese komplett ausklammern konnte, zur Perfektionierung seiner Welt im Kopf und alsbald in den Untergang. Die Welt ist bei ihm mit seinen Büchern gleichzusetzen. Gerade an diesen Punkt knüpfen sich interessante Perspektiven einer Ausweitung der Fragestellung an, die sich für die Vehemenz und die Konsequenz dieser Verschiebung interessiert, und welcheDie Blen-
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dungund ihren Protagonisten Peter Kien zu einem prägnanten Beispiel für die Untersu-chung innerliterarischer Bibliomanie machen.3
Die durchgängigen Komponenten aller Vergleichsbeispiele sind auch entscheidend für die Gliederung des Analyseteils derBlendung.Diese sind die Bibliophilie respektive Bibliomanie und die Verlebendigung der Bücher inKopf in Bücher,die Melancholie inBücher im Kopfsowie die kulturelle Dimension inBücher und Welt.In dem KapitelKopf in Büchersoll in einem Dreischritt das Wechselverhältnis von Kien und Büchern in ihrer Bedeutung untersucht werden. Zuerst soll inBücher als universale Erklärung der Weltdie Relevanz der Bücher für Kiens Leben dargestellt werden, nach der ZwischenstufeLeser und Nicht-Leserfolgt die Reaktion der Bücher auf ihre Anthropomorphisierung durch Kien:Nicht-rettende Bücher als entfesselte Macht.Das zweite KapitelBücher im Kopfzeichnet zuerst diePathographieKiens nach. Anschließend erfolgt eine Beschreibung der Bibliothek Kiens und ebenfalls seiner Kopfbibliothek, die beide Eigenschaften einer universalen Bibliothek besitzen, um dann alles in einem Bibliotheksbrand, der sich lange angekündigt hat, untergehen zu lassen. Diese beiden Grundgedanken des Krankheitsverlaufs und der Bibliothek in all ihren Ersche i-nungsformen werden in einem dritten Unterkapitel,Bücher und Melancholie,zusammengeführt. Kien verbrennt sich mit seinen Büchern, da er als Melancholiker nur in der Vereinigung mit der Ursache seiner Melancholie im Tod seine letztendliche Rettung erfahren kann.
Die Beobachtungen, die im KapitelBücher als universale Erklärung der Weltgemacht werden, ergeben, dass die Bücher an die Stelle der Welt treten. So sollen zwei weitere Aspekte, die sich auf dieses Moment zurückführen lassen, inBücher und Weltgenauer erläutert werden:Bücher als Religionund das Verhältnis des Bibliomanen zu den Künsten. Durch die Untersuchung zu Religion und Kunst im Zeichen der Bibliomanie soll aufgezeigt werden, dass diese beiden Aspekte als Mittel der bewusst herbeigeführten Blendung gebraucht werden. Diese wiederum ist eng verbunden mit der Pathographie, denn die aktive Selbstblendung und die Abblendung der Wirklichkeit mit Hilfe der Bücher machen Kiens ganzes Wesen aus.
3Im Rahmen dieser Arbeit sollen die zwei zumeist analysierten Phänomene vonMasse und Machtsowie die der Psychoanalyse weitgehend ausgeklammert werden.
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1. Formen der Buchnutzung in der Literatur
1.1. Buch und Bibliotheken
Das Buch im Buch, das Lesen in der Literatur, ist fast so alt wie die Literatur selbst.4Hierfür lassen sich einige Grundkonstanten bestimmen. Inhaltlich wird die Thematisierung des Lesens in der Literatur vor allem zur Charakterisierung und psychologischen Darstellung der lesenden Helden, zur Motivierung bestimmter Verhaltensweisen, Urteile und Entscheidungen sowie zum Vorantreiben der Handlung benutzt. Das Buch im Buch ist somit gleichsam eine mitbestimmende und mithandelnde Figur.5Die inhaltliche Seite kann nie ganz von der Rezeption getrennt werden, da Literatur nicht ohne ihre Auswirkungen auf die Wirklichkeit beobachtet werden kann: auch Lesen in der Literatur wirkt sich auf die narrative Wirklichkeit aus. Im Gegenzug stellt sich die Frage, inwiefern das Buch im Buch als Reaktion auf das Buch in der Wirklichkeit thematisiert wird. Als erstes zentrales Beispiel gilt dieGöttliche Komödie(ca. 1307-1321) von Dante Alighieri, denn schon hier tauchen lesende Helden auf. Francesca erzählt im Fünften Höllengesang, dass es zum Ehebruch kam, indem die Literatur gelebt wurde:Wir lasen eines Tages, uns zur Lust, Von Lanzelot, wie Liebe ihn durchdrungen; Wir waren einsam, keines Args bewusst. Obwohl das Lesen öfters uns verschlungen Die Augen und entfärbt uns das Gesicht, war eine Stelle nur, die uns bezwungen: Wo vom ersehnten Lächeln der Bericht, Daß der Geliebte es geküßt, gibt Kunde, Hat er, auf den ich leiste nie Verzicht. Den Mund geküsst mir bebend mit dem Munde; Galeotto war das Buch, und der’s geschrieben: Wir lasen weiter nicht in jener Stunde. (GK 29)