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Neben dem pathologischen Essverhalten stellt eine Körperbildstörung ein zentrales Merkmal bei Anorexia und Bulimia nervosa dar. Obwohl zur dauerhaften Überwindung der Essstörung eine Verbesserung des Körperbildes indiziert ist, wurden sowohl im Forschungs- als auch im Praxiskontext umfassende Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes bei Essstörungen bisher oft vernachlässigt. Das Manual beschreibt ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Programm zum Aufbau eines positiven Körperbildes bei Patientinnen mit Anorexia und Bulimia nervosa. Die dritte, vollständig überarbeitete Fassung des Manuals berücksichtigt aktuelle Forschungsergebnisse und eignet sich für den Einsatz im Einzel- und Gruppensetting. Das Manual liefert zunächst einen Überblick über aktuelle Forschungsbefunde zum Thema Körperbild bei Essstörungen. Nach einer Beschreibung der Störungsbilder werden verschiedene diagnostische Instrumente zur Erfassung von Körperbildstörungen vorgestellt. Im Hauptteil des Manuals werden die verschiedenen Therapiebausteine praxisnah beschrieben und Arbeitsmaterialien für die Durchführung der Bausteine bereitgestellt. Diese umfassen die Erarbeitung eines Störungsmodells zur Entstehung und Aufrechterhaltung eines negativen Körperbildes, Techniken zur Identifikation und Modifikation negativer körperbezogener Kognitionen sowie Körperkonfrontationsübungen mit unterschiedlichen Foki mit Spiegel und Video. Hinzu kommen Interventionen zum Abbau des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens in verschiedenen alltagsrelevanten Situationen sowie zum Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten. Zahlreiche Arbeitsmaterialien liegen auf CD-ROM zum direkten Ausdrucken bereit.
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Silja Vocks
Anika Bauer
Tanja Legenbauer
Körperbildtherapie bei Anorexia und Bulimia nervosa
Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm
3., vollständig überarbeitete Auflage
Prof. Dr. rer. nat. Silja Vocks, geb. 1972. 1992–1997 Studium der Psychologie in Trier. 1997–2001 psychotherapeutische Tätigkeit auf einer verhaltensmedizinischen Behandlungsstation und/oder in der Ambulanz in der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift in Bad Kreuznach. 1999 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin. 2000 Promotion. 2001–2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Wissenschaftliche Assistentin bzw. Akademische Oberrätin und Lehrstuhlvertretung am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie bzw. Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. 2008 Habilitation. Seit 2011 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Leiterin der Weiterbildungsstudiengänge Psychotherapie der Universität Osnabrück.
Dr. rer. nat. Anika Bauer, geb. 1983. 2003–2009 Studium der Psychologie in Bremen. 2009–2012 Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) an der Ruhr-Universität Bochum, psychotherapeutische Tätigkeit u. a. in der Christoph-Dornier-Klinik in Münster. 2012 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin. Seit 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Osnabrück. 2017 Promotion.
Prof. Dr. rer. nat. Tanja Legenbauer, geb. 1973. 1993–1998 Studium der Psychologie in Frankfurt und Marburg. 1998–2002 psychotherapeutische Tätigkeit in der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift in Bad Kreuznach. 2002 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin. 2002 Promotion. 2002–2007 Wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Frankfurt und von 2003–2007 Leitung des Essstörungsbehandlungsschwerpunktes der Poliklinischen Institutsambulanz. 2010 Habilitation. 2007–2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, LWL Klinik Dortmund. Seit 2014 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LWL Universitätsklinik Hamm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Ruhr-Universität Bochum.
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Format: EPUB
3., vollständig überarbeitete Auflage 2018
© 2005, 2010 und 2018Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2862-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2862-9)
ISBN 978-3-8017-2862-5
http://doi.org/10.1026/02862-000
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Vorwort zur 1. Auflage
Einleitung
I Theoretischer Hintergrund
Kapitel 1 Anorexia und Bulimia nervosa
1.1 Symptomatik und Klassifikation
1.2 Differenzialdiagnostik, Komorbidität und Folgen
Kapitel 2 Störungen des Körperbildes
2.1 Begriffsbestimmung „Körperbild“
2.2 Störungen des Körperbildes in der Allgemeinbevölkerung
2.3 Störungen des Körperbildes bei Anorexia und Bulimia nervosa
2.3.1 Perzeptive Komponente
2.3.2 Kognitive Komponente
2.3.3 Affektive Komponente
2.3.4 Behaviorale Komponente
2.4 Multifaktorielles Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung eines gestörten Körperbildes
2.4.1 Entstehungsbedingungen
2.4.2 Aufrechterhaltende Bedingungen
Kapitel 3 Diagnostische Verfahren zur Erfassung von Störungen des Essverhaltens und des Körperbildes
3.1 Diagnostik von Essstörungen
3.2 Diagnostik von Körperbildstörungen
3.2.1 Perzeptive Komponente
3.2.2 Kognitive und affektive Komponente
3.2.3 Behaviorale Komponente
Kapitel 4 Wirksamkeit von Körperbildtherapie bei Anorexia und Bulimia nervosa
4.1 Stand der Forschung
4.2 Evaluation des vorliegenden Manuals
II Therapeutischer Leitfaden
Kapitel 5 Allgemeine Hinweise zum therapeutischen Vorgehen
5.1 Therapeutisches Setting
5.2 Einsatz des Manuals an von Essstörungen betroffenen Männern
5.3 Einsatz des Manuals bei von Essstörungen betroffenen Kindern und Jugendlichen
5.4 Voraussetzungen auf Seiten der Therapeuten
5.5 Indikationen und Kontraindikationen zur Teilnahme an der Körperbildtherapie
5.6 Integration in ein umfassendes Konzept zur Essstörungsbehandlung
5.7 Zeitliche Struktur
5.8 Arbeitsmaterialien
Kapitel 6 Einführung der Patientinnen in die Körperbildtherapie
Kapitel 7 Erarbeitung eines Störungsmodells zum negativen Körperbild
7.1 Einführung
7.2 Therapeutisches Vorgehen
7.2.1 Entstehungsbedingungen I: Soziokulturelle Faktoren
7.2.2 Entstehungsbedingungen II: Individuelle Faktoren
7.2.3 Vier Komponenten des Körperbildes
7.2.4 Aufrechterhaltende Bedingungen
Kapitel 8 Kognitive Techniken
8.1 Einführung
8.2 Therapeutisches Vorgehen
8.2.1 Vermittlung des Kognitiven Modells
8.2.2 Identifikation dysfunktionaler Kognitionen
8.2.3 Modifikation dysfunktionaler Kognitionen
Kapitel 9 Körperkonfrontation
9.1 Einführung
9.2 Therapeutisches Vorgehen
9.2.1 Vorbereitung
9.2.2 Fokussierung auf negativ bewertete bzw. vermiedene Körperteile
9.2.3 Fokussierung auf positive Aspekte des Körpers
Kapitel 10 Abbau des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens
10.1 Einführung
10.2 Therapeutisches Vorgehen
10.2.1 Herausarbeitung des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens
10.2.2 Identifikation und Modifikation der dem körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhalten zugrunde liegenden Kognitionen
10.2.3 Herausarbeitung der Konsequenzen des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens
10.2.4 Planung der Konfrontationsübungen
10.2.5 Nachbesprechung der Konfrontationsübungen
Kapitel 11 Aufbau positiver körperbezogener Tätigkeiten
11.1 Einführung
11.2 Therapeutisches Vorgehen
11.2.1 Identifikation potenziell positiver körperbezogener Tätigkeiten
11.2.2 Planung und Durchführung positiver körperbezogener Tätigkeiten
11.2.3 Nachbesprechung der durchgeführten positiven körperbezogenen Tätigkeiten
Kapitel 12 Rückfallprophylaxe
12.1 Einführung
12.2 Therapeutisches Vorgehen
12.2.1 Identifikation potenzieller zukünftiger Rückfallsituationen
12.2.2 Identifikation von „Warnsignalen“ für zukünftige Rückfälle
12.2.3 Erarbeitung von Bewältigungsstrategien für zukünftige Risikosituationen
Literatur
Anhang
Materialien auf CD-ROM
In den siebziger Jahren wurden erste Therapiemanuale entwickelt, vornehmlich innerhalb der Verhaltenstherapie und der kognitiven Therapie. Hintergrund war die Entstehung differenzierter therapeutischer Regelwerke, die nicht nur jeweils eine Methode beschrieben, sondern komplexere Behandlungsprogramme über längere Zeiträume. Solche Therapiemanuale wurden zunächst vorwiegend in der Forschung eingesetzt, um genauer festzulegen, welches treatment auf seine Effektivität hin überprüft wurde. Luborsky und DeRubeis bezeichneten diese Entwicklung 1984 als eine kleine Revolution in der Forschung.
In der Praxis war von dieser Revolution lange Zeit nur wenig zu spüren. Manuale wurden und werden oftmals mit Skepsis betrachtet. Sie scheinen dem Therapeuten vorschreiben zu wollen, wie er seine Therapie durchzuführen hat, ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des einzelnen Patienten, aber auch ohne Rücksicht auf die Kompetenzen des Therapeuten. Tatsächlich ist eine Anpassung von Manualen an den jeweiligen Einzelfall unabdingbar. Denn Manuale müssen – wie alle Regeln – abstrakt formuliert sein, um eben für verschiedene Fälle Gültigkeit zu haben; sie müssen von den Besonderheiten des Einzelfalls abstrahieren. Der Therapeut muss diesen Abstraktionsprozess gewissermaßen rückgängig machen, er muss die Behandlung auf seinen Patienten, auf den aktuellen Verlauf und die jeweiligen Rahmenbedingungen abstimmen. Die American Psychological Association (APA) hat in diesem Jahr dieser Tatsache Rechnung getragen, indem sie eine neue Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die nicht mehr manualgestützte „empirisch validierte Therapieverfahren“ zusammenstellen, sondern Konzepte für eine „evidence-based practice in psychology“ (EBPP) entwickeln soll. Evidenzbasierte Praxis meint die Integration (a) der besten verfügbaren Forschung und (b) der klinischen Expertise des Therapeuten, vor allem in Hinblick auf seine Planungs- und Entscheidungskompetenz, unter (c) Berücksichtigung der Merkmale des Patienten, seiner Werte, Vorlieben und Kultur (APA, 2005). Dem Therapeuten kommt die zentrale Schaltstelle zu. Er muss von der Forschung produziertes therapeutisches Regelwissen umsetzen in sein konkretes Verhalten in Interaktion mit dem Patienten. Manuale können ihm dabei helfen. Sie werden es umso besser können, je mehr sie sich an die Kompetenz der Therapeuten richten. Sie sollen nicht vorschreiben, sondern informieren, nachvollziehbar begründen und Wege aufzeigen.
Das vorliegende Manual zur Behandlung von Körperbildstörungen von Silja Vocks und Tanja Legenbauer wird diesem Anspruch in besonderer Weise gerecht. Es beschreibt nicht eine Therapie, sondern ein Therapiemodul, das je nach Gegebenheiten von Therapeutinnen und Therapeuten im Rahmen einer komplexeren Therapie von Patientinnen mit Essstörungen eingesetzt werden kann. Es informiert präzise über Störungen des Körperbildes und ihren Stellenwert bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa und begründet somit nachvollziehbar die Funktion der therapeutischen Maßnahmen zur Korrektur von Körperbildstörungen. Für jeden einzelnen therapeutischen Schritt werden Zielsetzungen expliziert, sodass die Therapeuten sich bei der Abstimmung auf die besonderen Gegebenheiten ihrer Patientinnen von diesen Zielen leiten lassen können. Dies sollten sie, denn das Therapiemodul hat sich empirisch als sehr effektiv herausgestellt. Es stellt eine wesentliche Ergänzung und Verbesserung der Behandlung von Patientinnen mit Essstörungen dar – ein Forschungsfortschritt, der mit Vorlage dieses Manuals für die Praxis nutzbar gemacht werden kann.
Bochum, im Juli 2005
Dietmar Schulte
American Psychological Association (APA) (2005). 2005 Presidential task force on evidence-based practice. Draft policy statement on evidence-based practice in psychology. Unpublished manuscript.
Luborsky, L. & DeRubeis, R. J. (1984). The use of psychotherapy treatment manuals: A small revolution in psychotherapy research style. Clinical Psychology Review, 4, 5–15. Crossref
„Anorexic patients may gain weight for many reasons or seem to progress well in psychotherapy. Without a corrective change in body image, however, the improvement is apt to be only a temporary remission.“
(Hilde Bruch, 1962)
Beispiel
Frau A. blickt in den Spiegel und betrachtet ihren Körper. Das, was sie sieht, stößt sie völlig ab; sie kann den Anblick kaum ertragen. Als sie feststellt, dass sich ihr Bauch etwas mehr nach vorne wölbt als gestern, steigt in ihr Angst hoch. Sie stellt sich sofort auf die Waage und registriert eine Gewichtszunahme um 600 Gramm – ihre Befürchtung ist also eingetroffen. Ihre Stimmung sinkt binnen weniger Minuten merklich ab; sie hat das Gefühl, trotz aller Bemühungen, ihr Gewicht zu kontrollieren, völlig versagt zu haben. Frau A. entschließt sich, nun ihr Trainingspensum von zwei auf drei Stunden täglich zu steigern und heute nur noch zwei Äpfel zu essen und Tee zu trinken.
Dieses Fallbeispiel einer Patientin mit Essstörung demonstriert eindrücklich, dass neben den bekannten Symptomen wie einem starken Untergewicht bei der Anorexia nervosa und Essanfällen mit nachfolgendem Erbrechen bei der Bulimia nervosa eine Störung des Körperbildes ein zentrales Merkmal dieser Erkrankungen darstellt. Dieses negative Körperbild kann sich in sehr unterschiedlicher Form manifestieren. So kommt es bei einigen Patientinnen1 zu einer Überschätzung der eigenen Körperdimensionen, was dazu führt, dass sich auch völlig abgemagerte Patientinnen als zu dick erleben. Andere Betroffene berichten vor allem von abwertenden Gedanken dem Körper gegenüber. Auch wird das Selbstwertgefühl stark durch das eigene Gewicht bestimmt. Dem eigenen Körper gegenüber treten negative Gefühle auf, die von Angst bis hin zu Ekel reichen können. Auch im Verhalten kann sich das negative Körperbild zeigen: Beispielsweise verbergen viele Patientinnen ihren Körper vor sich selbst und anderen Menschen unter weiter Kleidung oder kontrollieren mehrfach täglich mit einem Maßband, ob sie an Gewicht zugenommen haben.
Unbestritten ist, dass Störungen des Körperbildes eine zentrale Rolle bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und dem Rückfallgeschehen der Anorexia und Bulimia nervosa spielen. Dennoch werden in der Therapie der Essstörungen Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes bisher stark vernachlässigt. Aus diesem Grunde wurde der vorliegende therapeutische Leitfaden mit spezifischen Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes bei Essstörungen entwickelt. Dieser kann als Ergänzung zur regulären Kognitiven Verhaltenstherapie bei der Anorexia und Bulimia nervosa eingesetzt werden.
Das Manual ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Teil des Buches werden Hintergrundinformationen zur Anorexia und Bulimia nervosa gegeben. Hieran schließt sich eine Einführung in das Themengebiet „Körperbild“ an und es wird der Forschungsstand zum Zusammenhang zwischen einem negativen Körperbild und dem Ausmaß des gestörten Essverhaltens dargestellt. Hierauf folgt eine Übersicht über diagnostische Instrumente zur Erfassung von Ess- und Körperbildstörungen. Daran schließt sich eine Zusammenfassung von Studien zur Wirksamkeit von Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes |12|sowie Daten zur Evaluation des in diesem Buch vorgestellten Therapieprogramms an. Im zweiten Teil des Manuals werden die verschiedenen Interventionsbausteine detailliert beschrieben. Durch ergänzende Übungsblätter zu jedem Therapieelement soll die praktische Umsetzung erleichtert werden.
Für die wertvolle Mitarbeit verschiedenster Art bei der Erstellung dieses Manuals sowie der Durchführung der Evaluationsstudien möchten wir uns ganz herzlich bei allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden bedanken. Ein herzlicher Dank gilt auch den Patientinnen für ihre Bereitschaft zur Teilnahme an den Untersuchungen.
Osnabrück und Hamm, Januar 2018
Silja Vocks,
Anika Bauer und
Tanja Legenbauer
Da vor allem Frauen von Essstörungen betroffen sind, wird im Folgenden die weibliche Form „Patientinnen“ verwendet. Ebenso ist in diesem Manual von „Therapeutinnen“ die Rede, da in dieser Berufsgruppe Frauen überrepräsentiert sind. In beiden Fällen sind selbstverständlich auch Männer eingeschlossen (vgl. Kapitel 5).
In den letzten Jahren ist in den westlichen Kulturen eine generelle Stabilisierung der Inzidenzraten von Anorexia nervosa („Magersucht“) und Bulimia nervosa („Ess-Brech-Sucht“) zu beobachten, wobei sich gleichzeitig eine Verschiebung des Erstmanifestationsalters hin zu immer jüngeren Patientinnen abzeichnet (vgl. Favaro, Caregaro, Tenconi, Bosello & Santonastaso, 2009; Smink, van Hoeken & Hoek, 2012). Hinsichtlich der Anorexia nervosa, die eine durchschnittliche Prävalenz von etwa 0.3 % bei jungen Frauen aufweist, zeigte sich ein erheblicher Anstieg an Ersterkrankungen bei weiblichen Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Auch bei der Bulimia nervosa, die mit einer durchschnittlichen Prävalenz von etwa 1 % bei etwas älteren Patientinnen auftritt, deuten Studien auf eine Abnahme des Erstmanifestationsalters hin (Smink et al., 2012). Dieses verstärkte Aufkommen der Essstörungen bei immer jüngeren Patientinnen wird oft mit einer zunehmenden Diskrepanz zwischen dem steigenden tatsächlichen Gewicht in der Bevölkerung und dem sich immer mehr in Richtung extremer Schlankheit wandelnden Schönheitsideal in Zusammenhang gebracht (vgl. Brown & Slaughter, 2011; Wiseman, Gray, Mosiman & Ahrens, 1992), welches über die neuen Medien zunehmende Verbreitung findet (z. B. Fardouly, Diedrichs, Vartanian & Halliwell, 2015; Tiggemann & Slater, 2013). War es in der Nachkriegszeit als Zeichen von Wohlstand und Gesundheit noch erstrebenswert, etwas „fülliger“ zu sein, so muss in der heutigen Überfluss- und Selbstoptimierungsgesellschaft jedes Gramm zu viel vermieden werden. Zur Kontrolle ihres Gewichts greifen daher viele Menschen, insbesondere Frauen, zu z. T. gesundheitsgefährdenden Maßnahmen wie Crash-Diäten, exzessivem Sport oder Abführmitteln und Appetitzüglern. Diese Maßnahmen sind nicht nur in den meisten Fällen hinsichtlich einer Gewichtsreduktion erfolglos, sie können auch das Auftreten einer Anorexia und Bulimia nervosa begünstigen.
Das Kardinalsymptom der Anorexia nervosa ist ein starkes Untergewicht. Zur Stellung der Diagnose einer Anorexia nervosa gemäß der aktuellen Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; World Health Organization; deutschsprachige Fassung: Dilling, Mombour & Schmidt, 2015) muss dieses mindestens 15 % unterhalb des für das Alter und die Körpergröße zu erwartenden Gewichts liegen bzw. einem Body Mass Index2 von 17.5 kg/m2 oder niedriger entsprechen (Kriterium 1 in der ICD-10). Bei Betroffenen, die sich noch in der Wachstumsphase befinden, stellt das Ausbleiben einer zu erwartenden Gewichtszunahme das Diagnosekriterium dar. Auch gemäß der fünften Revision des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5; American Psychiatric Association; deutschsprachige Fassung: APA/Falkai et al., 2015) wird ein signifikant niedriges Körpergewicht, welches unterhalb des Minimums des normalen Gewichts bzw. bei Kindern und Jugendlichen erwarteten Gewichts liegt, als zentrales diagnostisches Kriterium geführt (Kriterium A im DSM-5). Zur Beurteilung dieses Kriteriums wird empfohlen, neben der Berücksichtigung numerischer Richtwerte wie dem BMI oder altersspezifischen BMI-Perzentilen bei Kindern und Jugendlichen individuelle Faktoren wie die Gewichtsentwicklung, den Körperbau oder physiologische Störungen hinzuzuziehen. Auf Grundlage des BMI bzw. der korrespondierenden BMI-Perzentile kann den DSM-5-Kriterien zufolge zudem eine Einschätzung des Schweregrades der Anorexia nervosa vorgenommen werden (vgl. Tabelle 1).
|16|Aufgrund des niedrigen Gewichtes kann es bei den Betroffenen zu hormonellen Störungen kommen. So ist die Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse beeinträchtigt, was bei Frauen nach der Menarche zu einem Ausbleiben der Regelblutung führt („sekundäre Amenorrhoe“). Diese endokrine Störung ist in der ICD-10 (Kriterium 4) verankert. Im DSM-5 wird sie, im Gegensatz zum DSM-IV-TR (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003), nicht mehr als diagnostisches Kriterium gefordert, aber weiterhin als häufig auftretende physiologische Begleiterscheinung beschrieben. Bei Betroffenen, die bereits vor Beginn der Pubertät die Anorexie entwickelt haben, kann es zu einer verzögerten Pubertätsentwicklung kommen, sodass bei diesen Personen die Regelblutung zum Zeitpunkt des Entstehens der Anorexia nervosa noch nicht eingetreten war („primäre Amenorrhoe“). Da viele Frauen die „Pille“ zur Empfängnisverhütung einnehmen, kann es schwierig sein, die Amenorrohoe zu diagnostizieren: Durch die Einnahme des oralen Kontrazeptivums oder anderer Hormonpräparate besteht die monatliche Regelblutung auch bei denjenigen Frauen fort, die aufgrund des niedrigen Gewichtes ohne Hormoneinnahme keine Menstruation mehr hätten. In diesem Falle ist das Kriterium auch erfüllt. Die Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse kann sich bei Männern darin äußern, dass das Interesse an Sexualität abnimmt bzw. Potenzstörungen auftreten.
Zur Stellung der Diagnose einer Anorexia nervosa ist weiterhin notwendig, dass das bestehende Untergewicht von den Patientinnen selbst herbeigeführt wird (Kriterium 2 in der ICD-10). Das heißt, die Nahrungsaufnahme wird nicht durch Signale wie Hunger und Sättigung gesteuert, sondern ist rigiden kognitiven Standards unterworfen. Die Menge der aufgenommenen Nahrung wird aus Angst vor einer Gewichtszunahme stark eingeschränkt. Auch vermeiden die betroffenen Frauen zumeist hochkalorische Nahrungsmittel. Die Speisen werden in „verbotene“ (z. B. Schokolade) und „erlaubte“ Nahrungsmittel (z. B. Magerquark oder auch „Light-Produkte“) eingeteilt und oftmals werden die Kalorien des Gegessenen gezählt. Aufgrund dieser Einschränkung der Nahrungsmittelzufuhr kommt es zu einer starken Beschäftigung mit dem Thema „Essen“: Die Gedanken kreisen permanent darum, was, wie viel, wann und wie verzehrt werden darf. Als Ausdruck der Nahrungsdeprivation lesen die Patientinnen darüber hinaus oft Kochrezepte oder bekochen andere Menschen, ohne dass sie diese zumeist hochkalorischen Speisen selbst essen. Wie ein typischer Ernährungstag einer Patientin mit Anorexia nervosa aussieht, ist exemplarisch in Kasten 1 dargestellt:
Kasten 1:Beispiel für die im Tagesverlauf verzehrte Nahrungsmenge bei Anorexia nervosa
Frühstück:
1 Apfel
1 Tasse Kaffee mit Süßstoff
Mittagessen:
1 Teller grüner Salat ohne Dressing
1/2 Brötchen
2 Gläser Diätcola
Abendessen:
1 Knäckebrot mit Magerquark und Schnittlauch
1/2 Tomate
2 Tassen Tee mit Süßstoff
Im Gegensatz zu Frauen mit Anorexia nervosa sind Patientinnen mit einer Bulimia nervosa oftmals normalgewichtig. Die Patientinnen essen zwar zumeist auch restriktiv, d. h. sie zählen Kalorien und nehmen in der meisten Zeit nur geringe Mengen an Nahrung zu sich. Hierbei werden ebenfalls bevorzugt Speisen mit einem niedrigen Energiewert (z. B. „Light-Produkte“) verzehrt. Allerdings können die Betroffenen die Kontrolle über ihr Essverhalten nicht dauerhaft aufrechterhalten, was sogenannte Essanfälle zur Folge hat. Diese stellen ein Kardinalsymptom der Bulimia nervosa dar (Kriterium A im DSM-5 und Kriterium 1 in der ICD-10). Im DSM-5 sind diese Essanfälle dadurch charakterisiert, dass innerhalb eines bestimmten Zeitraumes von beispielsweise zwei Stunden eine deutlich größere Nahrungsmenge verzehrt wird als Menschen ohne eine Essstörung unter vergleichbaren Umständen zu sich nehmen würden. Allerdings wird nicht genau quantifiziert, was unter einer „größeren Nahrungsmenge“ zu verstehen ist. Im Rahmen solcher Essanfälle werden zumeist Speisen mit einem hohen Fett- oder Kohlenhydratanteil (z. B. Kuchen) konsumiert, deren Verzehr sich die Patientinnen außerhalb dieser Essanfälle „verbieten“. Die während der Essattacken aufgenommenen Nahrungsmittel sind meist leicht zu verschlingen und bedürfen keiner aufwändigen Zubereitung. Der Kaloriengehalt der während eines Essanfalls zu sich genommenen Speisen liegt in der Regel zwischen 1.500 und 4.500 kcal (Mitchell, Crow, Peterson, Wonderlich & Crosby, 1998). Da im Zuge eines Essanfalls große Mengen an Nahrung verzehrt werden, kann es bei den Patientinnen zu finanziellen Schwierigkeiten bis hin zur Verschuldung und zum Diebstahl von Nahrungsmitteln kommen. In Kasten 2 ist exemplarisch die während eines Essanfalles verschlungene Nahrungsmenge aufgeführt.
|17|Kasten 2:Beispiel für die während eines Essanfalls verzehrte Nahrungsmenge bei Bulimia nervosa
400 g Spaghetti mit Tomatensoße
3 Brötchen mit viel Butter und Nutella
2 Plunderstückchen
1 Apfelstrudel mit 500 ml Vanillesoße
1 Topf Grießbrei
2 Gläser Milch
Die Häufigkeit der Essanfälle schwankt interindividuell sehr stark. Sie liegt zwischen durchschnittlich einem Anfall pro Woche (formal festgelegte Untergrenze zur Stellung der Diagnose einer Bulimia nervosa gemäß DSM-5, s. o.) und 20 Anfällen pro Tag (Fairburn, 1980). Im DSM-IV-TR wurden für die Diagnosestellung noch mindestens zwei Essanfälle pro Woche gefordert. Diese Abmilderung des Kriteriums im DSM-5 wird sich möglicherweise auf zukünftige Prävalenzraten der Bulimia nervosa auswirken. Guertin (1999) gibt für bulimische Patienten im Mittel bis zu 10 Essanfälle pro Woche an.
Während dieser Essanfälle erleben die Patientinnen einen Kontrollverlust hinsichtlich der Art und Menge der verschlungenen Nahrung (Kriterium A im DSM-5). Das Essen wird während solcher Essattacken zumeist nicht genossen, sondern hat eine eher „berauschende Wirkung“. Viele Patientinnen berichten, die Essanfälle nicht stoppen zu können, sondern diese erst aufgrund eines starken Völlegefühls oder eintretender Übelkeit beenden zu können.
Sehr häufig treten bei den Betroffenen nach den Essanfällen Schuldgefühle auf, da die selbst auferlegten Diätregeln nicht eingehalten wurden. Aufgrund der Menge und der Art der zu sich genommenen Nahrung folgt darüber hinaus auf einen Essanfall oft eine extreme Angst vor einer Gewichtszunahme. Hinzu kommen Ekel- und Schamgefühle, welche sich sowohl auf die zu sich genommene Nahrung als auch auf die eigene Person bzw. den eigenen Körper beziehen.
Um diese empfundenen und antizipierten negativen Folgen eines Essanfalles zu vermindern, setzen die Betroffenen neben dem Fasten und Auslassen von Mahlzeiten unterschiedliche kompensatorische Maßnahmen ein (Kriterium B im DSM-5 und Kriterium 2 in der ICD-10). So führen 70 bis 90 % der Betroffenen Erbrechen herbei. Dies wird zu Beginn zumeist mit einer mechanischen Brechhilfe, z. B. dem Finger oder aber Druckausübung auf den Magen, ausgelöst. Mit Fortschreiten der Erkrankung automatisiert sich das Erbrechen häufig.
Weitere kompensatorische Strategien sind die Einnahme verschiedener Medikamente. Am häufigsten kommt es in diesem Zusammenhang zu einem Missbrauch von Abführmitteln (Laxantien). Diese bewirken eine Darmentleerung, indem die verstärkte Abgabe von Wasser und Elektrolyten von der Darmwand ins Darminnere forciert wird. Da die Abführmittel jedoch erst in einem Darmabschnitt wirksam sind, in dem die Resorption der Nahrungsmittel weitestgehend abgeschlossen ist, wird vor allem Wasser ausgeschieden. So führen Abführmittel zu keiner dauerhaften Gewichtsreduktion. Das kurzfristige Verstärkerpotenzial dieses Medikamentes liegt darin, dass durch die Darmentleerung das von den Patientinnen erlebte Völlegefühl reduziert wird.
Mit einer vergleichbaren Zielsetzung werden von einigen Patientinnen Einläufe (Klistiere) verwendet. Hierbei wird über ein kleines Rohr Flüssigkeit (z. B. Wasser, Kamillentee) in den Darm eingeführt. Wenn der so entstehende Druck sehr hoch wird, kann der Darminhalt auf der Toilette entleert werden.
Auch Entwässerungsmittel (Diuretika) werden gelegentlich von Patientinnen mit Essstörungen verwendet. Diese wirken über eine vermehrte Wasser- und Kochsalzausscheidung über die Niere und führen so zu einer vorübergehenden Gewichtsabnahme.
Eine weitere Strategie, um eine Gewichtsreduktion herbeizuführen, ist die Einnahme von Appetitzüglern. Über eine zentrale Stimulation des Stoffwechsels und des Energieverbrauches bewirken diese eine Hemmung des Appetit- und Sättigungszentrums im Gehirn. Hieraus resultiert eine Reduktion der Nahrungsaufnahme. Da viele Appetitzügler nicht mehr rezeptfrei in der Apotheke erhältlich sind, verschaffen sich einige Betroffene diese Medikamente über den Schwarzmarkt.
Seltener setzen von Essstörungen betroffene Patientinnen Schilddrüsenpräparate ein, obwohl keine Schilddrüsenunterfunktion besteht. Durch diese Medikamente wird der Stoffwechsel „angekurbelt“. Der hierdurch erzielte Effekt ist hinsichtlich der Symptome mit einer Schilddrüsenüberfunktion vergleichbar und kann zu einer Gewichtsverminderung führen.
Eine weitere zu beobachtende kompensatorische Strategie stellt die Reduktion der Insulindosis bei Diabetikerinnen dar. Durch die Vernachlässigung des „Spritzens“ und den damit bewirkten Insulinmangel kommt es zu einem Anstieg des Blutzuckers. Der Blutzucker wird über den Harn ausgeschieden und kann daher ebenfalls eine Gewichtsabnahme nach sich ziehen.
|18|Auch wird häufig übermäßige körperliche Betätigung als kompensatorische Strategie mit dem Ziel der Kalorienverbrennung eingesetzt. Eigene körperliche Belastungsgrenzen werden hierbei oft nicht eingehalten. In Kasten 3 sind die kompensatorischen Maßnahmen zusammenfassend aufgelistet.
Kasten 3:Die Essanfälle kompensierende Maßnahmen
Selbstinduziertes Erbrechen
Einnahme von Abführmitteln (Laxantien)
Verwendung von Einläufen (Klistiere)
Einnahme von Entwässerungsmitteln (Diuretika)
Einnahme von Appetitzüglern
Einnahme von Schilddrüsenpräparaten
Vernachlässigung der Insulinbehandlung bei Diabetikerinnen
Exzessiver Sport
Fasten bzw. Vermeidung bestimmter Speisen wie fett- oder kohlenhydratreiche Nahrungsmittel
Essanfälle mit nachfolgenden kompensatorischen Strategien (z. B. Erbrechen) kennzeichnen nicht nur die Bulimia nervosa, sondern auch einen Subtypus der Anorexia nervosa, den „Binge-Eating/Purging Typus“. Laut der Klassifikation des DSM-5 wird diese Unterform der Magersucht diagnostiziert, wenn innerhalb der letzten drei Monate Essanfälle auftraten oder kompensatorisches Verhalten wie beispielsweise selbstinduziertes Erbrechen oder der Missbrauch von Abführ- oder Entwässerungsmitteln gezeigt wurde. Wird die Gewichtsreduktion vorrangig durch Diäten, Fasten und übermäßige körperliche Betätigung erzielt, kann der „Restriktive Typus“ bestimmt werden. Auch die ICD-10 schlägt für die Anorexia nervosa eine Klassifikation jener beiden Subtypen vor.
Sowohl bei der Anorexia als auch der Bulimia nervosa liegt eine Störung des Körperbildes vor. Gemäß den Klassifikationssystemen ist der Anorexie (DSM-5: Kriterium B und C; ICD-10: Kriterium 3) und Bulimie (ICD-10: Kriterium 3) gemein, dass sich die betroffenen Personen zu dick fühlen bzw. eine gestörte Wahrnehmung ihrer eigenen Figur aufweisen. Da jedoch Personen mit Anorexie stark untergewichtig sind und von Bulimie betroffene Personen zumeist ein normales Gewicht aufweisen, hat diese Überzeugung bzw. Fehleinschätzung für beide Diagnosegruppen unterschiedliche Implikationen (Cash & Deagle, 1997). Frauen mit Anorexia nervosa „normalisieren“ so ihre abgemagerte Erscheinung. Sie streben ein sehr niedriges Gewicht an und nehmen das bei ihnen bestehende Untergewicht nicht wahr bzw. verleugnen es (DSM-5: Kriterium C), was für außenstehende Personen kaum nachvollziehbar ist. Bei der Bulimia nervosa hingegen „pathologisieren“ die zumeist normalgewichtigen Patientinnen ihre Figur: Sie sind der Überzeugung, zu dick zu sein und daher abnehmen zu müssen.
Eine weitere Parallele zwischen den beiden Formen der Essstörungen gemäß der Klassifikationssysteme liegt darin, dass sowohl Patientinnen mit Anorexia nervosa (DSM-5: Kriterium B; ICD-10: Kriterium 3) als auch mit Bulimia nervosa (ICD-10: Kriterium 3) typischerweise eine starke Angst vor einer Gewichtszunahme haben. Oft zeigen die Patientinnen hier ein „Alles-oder-Nichts-Denken“: Entweder sie schaffen es, ihr Gewicht zu reduzieren bzw. konstant zu halten oder aber sie befürchten, unkontrolliert zuzunehmen und dick zu werden. Im DSM-5 ist, im Gegensatz zu DSM-IV-TR und ICD-10, die Diagnosestellung einer Anorexia nervosa jedoch nicht mehr zwingend an das Vorliegen ausgeprägter Ängste vor einer Gewichtszunahme gekoppelt. Eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Patientinnen mit Essstörungen verneint das Vorliegen figur- und gewichtsbezogener Ängste und Sorgen („Non-fat phobic anorexia nervosa“; Carter & Bewell-Weiss, 2011; Dalle Grave, Calugi & Marchesini, 2008; Murray et al., 2017), wobei unklar ist, ob die Angst vor Gewichtszunahme tatsächlich nicht vorhanden ist, nicht wahrgenommen oder von den Betroffenen bewusst nicht berichtet wird. Das DSM-5 trägt diesem Aspekt Rechnung, indem eine Anorexia nervosa auch dann diagnostiziert werden kann, wenn keine Angst vor einer Gewichtszunahme berichtet wird, die Patientin einer Erhöhung des Gewichts jedoch dauerhaft aktiv entgegenwirkt (vgl. DSM-5-Kriterium B).
Das DSM-5 beschreibt einen weiteren zentralen Aspekt, der sich auf das Körperbild bezieht. Sowohl bei der Anorexie (Kriterium C) als auch der Bulimie (Kriterium D) wird beschrieben, dass die Bereiche „Figur“ und „Körpergewicht“ einen übertriebenen Einfluss auf das Selbstwertgefühl haben. Aus diesem Grunde wird von vielen Patientinnen schon eine sehr geringe Gewichtszunahme als extrem bedrohlich wahrgenommen. Umgekehrt kann eine Gewichtsabnahme bzw. das Gefühl, das Gewicht kontrollieren zu können, kurzfristig belohnend sein und den Selbstwert der Betroffenen erhöhen. Wie auch die Angst vor Gewichtszunahme ist auch die Kopplung des Selbstwertgefühls an das Körpergewicht und Aussehen oder die oben beschriebene Störung der Körperwahrnehmung nach dem DSM-5 jedoch kein zwingendes Kriterium mehr für die Diagnosestellung einer Anorexia nervosa. Bei Patientinnen, die diese Aspekte verneinen bzw. erkennen können, dass sie extrem dünn sind, kann die oftmals fehlende Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der schwerwiegenden medizinischen Konsequenzen des Untergewichts herangezogen werden (vgl. DSM-5-Kriterium C).
|19|In Tabelle 1 sind die Diagnosekriterien der Anorexia nervosa und in Tabelle 2 der Bulimia nervosa zusammenfassend aufgelistet. Hierbei werden die inhaltlich vergleichbaren Kriterien im DSM-5 und ICD-10 jeweils nebeneinander dargestellt.
Tabelle 1: Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa gemäß DSM-5 und ICD-10
DSM-53
ICD-10 (F50.0)
A. Eine in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energieaufnahme, welche unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Entwicklungsverlauf und körperlicher Gesundheit zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt. Signifikant niedriges Gewicht ist definiert als ein Gewicht, das unterhalb des Minimums des normalen Gewichts oder, bei Kindern und Jugendlichen, unterhalb des minimal zu erwartenden Gewichts liegt.
1. Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder Body Mass Index von 17,5 kg/m2 oder weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.
2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischen Speisen; sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: selbstinduziertes Erbrechen oder Abführen, übertriebene körperliche Aktivitäten, Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika.
B. Ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, oder dauerhaftes Verhalten, das einer Gewichtszunahme entgegenwirkt, trotz des signifikant niedrigen Gewichts.
3. Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tiefverwurzelte überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.
C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder anhaltende fehlende Einsicht in Bezug auf den Schweregrad des gegenwärtig geringen Körpergewichts.
4. Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehandlung zur Kontrazeption.) Erhöhte Wachstumshormon- und Cortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.
5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt. Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.
|20|Bestimme ob:
Restriktiver Typ: Während der letzten 3 Monate hat die Person keine wiederkehrenden Essanfälle gehabt oder kein „Purging“-Verhalten (d. h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt. Dieser Subtyp beschreibt Erscheinungsformen, bei denen der Gewichtsverlust in erster Linie durch Diäten, Fasten und/oder übermäßige körperliche Bewegung erreicht wird.
Binge-Eating/Purging-Typ: Während der letzten 3 Monate hat die Person wiederkehrende „Essanfälle“ gehabt oder „Purging“-Verhalten (d. h. selbstherbeigeführtes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt.
F50.00 Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.)
F50.01 Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc. u. U. in Verbindung mit Heißhungerattacken)
Bestimmung des aktuellen Schweregrades:
Leicht: BMI ≥ 17 kg/m2
Mittel: BMI 16–16.99 kg/m2
Schwer: BMI 15–15.99 kg/m2
Extrem: BMI < 15 kg/m2
Tabelle 2: Diagnostische Kriterien der Bulimia nervosa gemäß DSM-5 und ICD-10
DSM-54
ICD-10 (F50.2)
A. Wiederholte Episoden von Essanfällen. Ein Essanfall ist durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet:
1. Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
2. Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
1. Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die Patientin erliegt Essattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.
B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern, wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder anderen Medikamenten, Fasten oder übermäßige körperliche Bewegung.
2. Die Patientin versucht, dem dickmachenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimia nervosa bei Diabetikerinnen auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen.
|21|C. Die Essanfälle und die unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen treten im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten auf.
D. Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
3. Krankhafte Furcht davor, dick zu werden; die Patientin setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, deutlich unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder „gesund“ betrachteten Gewicht. Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode der Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein, oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust oder einer vorübergehenden Amenorrhoe.
E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia nervosa auf.
Bestimmung des aktuellen Schweregrades:
Leicht: Durchschnittlich 1 bis 3 Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Mittel: Durchschnittlich 4 bis 7 Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Schwer: Durchschnittlich 8 bis 13 Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Extrem: Durchschnittlich 14 oder mehr Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Die oben aufgeführte Gegenüberstellung der Symptomatik bzw. der Diagnosekriterien der Anorexia und Bulimia nervosa macht die starken Überschneidungen beider Störungsbilder deutlich. Fairburn, Cooper und Shafran (2003) nehmen daher eine „transdiagnostische Perspektive“ ein und betonen die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Essstörungsdiagnosen (z. B. Überbewertung von Figur und Gewicht). Darüber hinaus weisen Fairburn et al. (2003) darauf hin, dass bei vielen Patientinnen im Laufe der Zeit ein Wechsel zwischen der Anorexia und Bulimia nervosa sowie der Nicht Näher Bezeichneten Essstörung (DSM-IV-TR) stattfindet. Auf die letztgenannte Form der Essstörungen wird im Folgenden differenzierter eingegangen.
Wenn bei einer Patientin nicht alle für die Stellung der Diagnose einer Anorexia oder Bulimia nervosa notwendigen Kriterien erfüllt sind, ansonsten das klinische Bild jedoch relativ typisch für eine Essstörung ist, kann gemäß DSM-5 die Diagnose einer Anderen Näher Bezeichneten Fütter- oder Essstörung gestellt werden (im DSM-IV-TR als Nicht Näher Bezeichnete Essstörung geführt). Die ICD-10 sieht für diese Fälle die Diagnose einer Atypischen Anorexia nervosa (F50.1) bzw. Atypischen Bulimia nervosa (F50.3) vor. Im DSM-5 erfolgt eine differenzierte Darstellung beispielhafter Fälle, in denen eine Andere Näher Bezeichnete Fütter- oder Essstörung diagnostiziert werden sollte. Diese Kriterien sind in Kasten 4 aufgelistet.
Eine weitere Essstörung, die bislang ebenfalls unter den Nicht Näher Bezeichneten Essstörungen (DSM-IV-TR) gefasst war, im DSM-5 jedoch erstmalig als eigenständiges Störungsbild geführt wird, ist die Binge-Eating-Störung. Diese ist durch das Auftreten von Essanfällen ohne kompensatorische Maßnahmen gekennzeichnet. Ähnlich wie die Anorexia und Bulimia nervosa geht auch die Binge-Eating-Störung Studien zufolge mit einer ausgeprägten Körperunzufriedenheit einher (Lewer, Bauer, Hartmann & Vocks, 2017; Lewer, Nasrawi, Schroeder & Vocks, 2016), die jedoch bislang nicht in den diagnostischen Kriterien verankert ist. Im Rahmen der im folgenden Kapitel dargestellten differenzialdiagnostischen Betrachtung der Anorexia und Bulimia nervosa wird auf die Binge-Eating-Störung näher eingegangen.
|22|Kasten 4:Kriterien der Anderen Näher Bezeichneten Fütter- oder Essstörung gemäß DSM-5
DSM-55
1. Atypische Anorexia nervosa: Sämtliche Kriterien der Anorexia nervosa sind erfüllt, allerdings liegt das Körpergewicht der Person trotz erheblichen Gewichtsverlusts im oder über dem Normalbereich.
2. Bulimia nervosa (von geringer Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer): Sämtliche Kriterien der Bulimia nervosa sind erfüllt, jedoch treten die Essanfälle und das unangemessene Kompensationsverhalten im Durchschnitt seltener als einmal pro Woche und/oder weniger als 3 Monate lang auf.
3. Binge-Eating-Störung (von geringer Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer): Sämtliche Kriterien der Binge-Eating-Störung sind erfüllt, jedoch treten die Essanfälle im Durchschnitt seltener als einmal pro Woche und/oder weniger als 3 Monate lang auf.
4. Purging-Störung: Wiederkehrendes Purging-Verhalten, um Gewicht oder Figur zu beeinflussen (z. B. selbstherbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder anderen Medikamenten) ohne Auftreten von Essanfällen.
5. Night-Eating-Syndrom: Wiederkehrende Episoden nächtlichen Essens in Form von Essen nach dem Erwachen aus dem Schlaf oder von übermäßiger Nahrungsaufnahme nach dem Abendessen. Die Personen sind sich des Essens bewusst und können sich auch daran erinnern.
Bei der Stellung der Diagnose einer Anorexia und Bulimia nervosa sind zunächst organische Ursachen abzuklären, die im Zusammenhang mit einer Gewichtsabnahme, verändertem Appetit oder Erbrechen stehen können. Hierzu zählen Erkrankungen, welche sich auf die Funktionen des Magen-Darm-Traktes beziehen und die Nahrungsaufnahme beeinflussen können (z. B. Morbus Crohn). Zur differenzialdiagnostischen Abklärung sollte hier eine internistisch-allgemeinmedizinische Konsultation stattfinden. Zu beachten ist, dass bei Personen mit einer organischen Erkrankung in der Regel der Wunsch nach einer (weiteren) Gewichtsabnahme nicht vorhanden ist und weitere Essstörungssymptome (vgl. Kapitel 1.1) nicht vorliegen.