Körperzeiten - Werner Bartens - E-Book

Körperzeiten E-Book

Werner Bartens

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Beschreibung

Wann ist die beste Zeit? - - Das originelle neue Buch von Bestseller-Autor Werner Bartens, das anschließt an die großen Bestseller Körperglück und Glücksmedizin - - Der Arzt und SZ-Autor Werner Bartens ist gefragter Talk-Show Gast und VortragsrednerEin - - Kompass für den bewussten Umgang mit der eigenen KörperzeitWir essen zu spät zu viel, entziehen uns als einziges Lebewesen freiwillig Schlaf, lernen zur falschen Tageszeit und arbeiten oft gegen unsere biologische Uhr. Ob Bewegung oder Ruhe, Essen oder Fasten, Konzentration oder Entspannung - alles hat seine Zeit. Die Moleküle, die uns antreiben und gesund machen, kennen unterschiedliche Rhythmen und Höhepunkte zu unterschiedlichen Tageszeiten, manche haben gar zu unterschiedlichen Jahreszeiten Saison. Es geht im neuen Buch von Bestseller-Autor Werner Bartens deshalb nicht nur um die beste Zeit des Tages - sondern auch um die beste Zeit des Lebens. Wann welches Organ besonders leistungsfähig ist, wie wir uns in welcher Lebensphase fühlen, wann es Zeit für die Liebe ist, darüber entscheiden die großen Zyklen über Jahre oder gar Jahrzehnte. So kommen die Deutschen schon mit durchschnittlich 44 in die Midlife-Krise. Dafür geht es ihnen mit 55 viel besser als in der Rush-hour des Lebens. Das ist bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren doch tröstlich! Bartens schaut in seinem neuen Buch auf große Lebenszyklen wie auf die Millisekunden, in denen wir uns verlieben, auf die Schlaf-/Wach-Rhythmen, die bei jedem von uns so unterschiedlich sind, wie das Jahr Tage hat, auf die Länge der Pausen, die ein Sportler wann und wie lang am effektivsten macht - und wie man die biologische Uhr am besten ticken hört: denn es ist nie zu spät, sich die Zeit zu nehmen, die man braucht. Überraschende Forschungsergebnisse, medizinisches Erfahrungswissen, gepaart mit schreiberischer Brillanz machen Körperzeiten zu einem Muss für alle körperbewussten Leserinnen und Leser. 

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Seitenzahl: 368

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Werner Bartens

Körperzeiten

Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wir essen zu spät zu viel, entziehen uns als einziges Lebewesen freiwillig Schlaf, lernen zur falschen Tageszeit und arbeiten oft gegen unsere biologische Uhr. Ob Bewegung oder Ruhe, Essen oder Fasten, Konzentration oder Entspannung – alles hat seine Zeit. Die Moleküle, die uns antreiben und gesund machen, kennen unterschiedliche Rhythmen und Höhepunkte zu unterschiedlichen Tageszeiten, manche haben gar zu unterschiedlichen Jahreszeiten Saison. Es geht im neuen Buch von Bestseller-Autor Werner Bartens deshalb nicht nur um die beste Zeit des Tages – sondern auch um die beste Zeit des Lebens. Wann welches Organ besonders leistungsfähig ist, wie wir uns in welcher Lebensphase fühlen, wann es Zeit für die Liebe ist, darüber entscheiden die großen Zyklen über Jahre oder gar Jahrzehnte. Wie wir richtig essen, fasten, lernen, arbeiten, trainieren, pausieren, schlafen – und richtig gesund bleiben: Wer das alles wissen will, ist hier richtig!

Inhaltsübersicht

WidmungMottoVorwortI Unter ZeitdruckUnter DruckZeit der EntscheidungStress und subjektiver ZeitdruckImmer diese UngeduldII Zeit und GefühlWenn die Zeit vorüberrauschtDen Glücklichen schlägt keine StundeErfüllung – und die Zeit vergessenHingabe – Zeit und InteresseStaunen – und die Welt vergessenUnlust – wenn die Schule nicht vorbeigehen willAngst – auf die Folter gespanntTrauer, Einsamkeit – und geteiltes LeidTrübsinn – neblige Zeiten fürs GemütLange Leitung für mehr GefühlIII Beschleunigung und GrenzenWenn die Zeit auf der Strecke bleibtWann sind wir endlich da?Vom Zeitgewinn und anderen VerlustenFiebrige ZeitenWenn die Zeit davonrenntKinderglaube und KerzenwunderJahresgefühleDer Jahres-JetlagIV Die Corona-ZeitverschiebungAnbruch der neuen Corona-ZeitZeitreisen wieder möglichIn ZeitlupeVor und zurückDas wird so nichtsWie lange noch?Quälend lange VorfreudeV Typen für jeden AugenblickZeit für UnterschiedeWas für ein Zeitmensch sind Sie denn so?Sozialer JetlagDie Last des TagesAls Bayerns Unabhängigkeit verschlafen wurdeMorgenstund hat Gold im Mund – wirklich?Schlecht gelaunte AbendmenschenAufstehen und MoralSpätes FinaleVI Und jetzt mit TaktgefühlKörper im TaktDie großen ZeitgeberDie verschiedenen Unter-Rhythmen des KörpersWenn die Zelluhr nachgehtDie Rhythmen des TagesExplosion im JahreslaufDie beste Zeit ihres LebensVII In Fünferschritten durch die LebenszeitDas ist ja der GipfelAb 10 – wenn die Pubertät immer früher beginntAb 15 – weniger DurchblickAb 20 – die Schrumpfkur nach Ende des WachstumsAb 25 – alte SchnarchnaseAb 30 – poröser FilterAb 35 – die biologische UhrAb 40 – atemlos durch die NachtAb 45 – MuskelschwundAb 50 – Herz im StressAb 55 – zunehmend dünnhäutigAb 60 – zweiter StimmbruchAb 70 – geistreich bis ins hohe AlterAlles durcheinander – die AlterspubertätVIII Zeit für die LiebeDie optimale StundeAlterslos – Sex geht immer, zumindest theoretischWer, wann, wie oft?Zeit füreinander habenDas Fest der LiebeZeit für ein BabyIX Die richtige ZeitZeit zum Lernen, Zeit zum ArbeitenDurchgefallen – zu früh in der SchuleVerträge für die EwigkeitOut of OfficeHin und wegBefristet, verdichtet, gefeuertX SchlafenszeitenZeit zum SchlafenAusgeschlafen und schlauTodmüde ins BüroSchlafmangel und StressSchlummer auf Reserve? Schlaf weiterVerwirrte PolitikerWach und krankXI MahlzeitZeit zum EssenOhne Frühstück zur SchuleWie oft und wann denn nun?Von der Not zum Überfluss: Holländischer HungerwinterGroße Pause in der SteinzeitEssen nach StechuhrGestohlene Zeit und regelmäßige MahlzeitenHunger und ErinnerungXII Gesundheit und Lebensphasen – die passende Zeit in der MedizinDer Mensch tickt in seinem TaktZeiten und OrganeSozialer Jetlag und GesundheitHormone, Säfte und SubstanzenZeit für die BlutentnahmeJetzt tut es besonders wehDie richtige Pille zur rechten ZeitBedingt abwehrbereit – Zyklen des ImmunsystemsSchon wieder krankKrankheiten zu jeder TageszeitBeim ArztZur Welt kommenSterbenDem ewigen Leben auf der SpurAuf der ÜberholspurDie OrganuhrBiorhythmenSchlusswortZeit für neue PerspektivenDanksagungLiteraturverzeichnis
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Für S und H und N und T und J und F und M und alle, die gemeinsame Zeit vermissen

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Was wissen wir von der Zeit? Wir stehen davor wie der Wanderer vor der roten Felswand, viel zu nah, um ihre Struktur, geschweige denn ihre Schönheit zu sehen! Was wissen wir von unserer Zeit? Wir sind ihre Instrumente, und ich glaube, dass der noch ihr bestes ist, der sich ihr nicht entgegenstemmt.

Kurt Tucholsky

 

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,

Und viel zu grauenvoll, als dass man klage:

Dass alles gleitet und vorüberrinnt.

Hugo von Hofmannsthal

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Vorwort

Wäre ich nicht anwesend, um sie miteinander bekannt zu machen, würde mein morgendliches Selbst mein abendliches Selbst nicht erkennen.

André Gide

Wenn die Zeitforscherin Martha Merrow Vorträge hält, zeigt sie gerne ein Foto von zwei Politikern. Darauf zu sehen sind die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie George W. Bush, der 43. Präsident der USA. Beide waren sich während ihrer politischen Laufbahn nicht besonders zugeneigt und pflegten alles andere als eine innige Freundschaft. Im Dienste ihrer beiden Länder mussten sie jedoch miteinander auskommen. »Diese beiden so unterschiedlichen Menschen sind einander morgens um acht Uhr ähnlicher als sich selbst abends um 20 Uhr«, sagt die Chronobiologin von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Publikum reagiert jedes Mal überrascht auf diese Aussage.

Die Überraschung der Zuhörer ist erstaunlich, denn eigentlich kennt jeder ein ähnliches Phänomen aus dem eigenen Alltag. Die Menschen haben unterschiedliche zeitliche Bedürfnisse und Vorlieben. Wer sich als passionierter Morgenmuffel gerade erst tastend dem neuen Tag stellt und vorsichtig ein paar Schritte ins Helle wagt, der möchte noch nicht gleich von seinen Mitmenschen angesprochen werden. Nichts ist schlimmer, als in solchen Momenten nach seinem Befinden gefragt oder gar mit der Terminkoordination für die kommende Woche belästigt zu werden und Stellung nehmen zu müssen. In einer solchen Situation grummelnd oder zumindest kurz angebunden zu reagieren, zeugt nicht etwa von schlechter Laune, wie jene Menschen meinen, die morgens schon gut gestimmt und mit heiterer Penetranz ihre Frohnatur zur Schau stellen. Es zeigt vielmehr, dass bedrängende Fragen, egal von welchem Gegenüber, der eigenen Natur massiv entgegenstehen. Jedenfalls um diese Uhrzeit.

Abends kann das schon ganz anders sein und man ist aufgedreht heiter und könnte endlos diskutieren, feiern, tanzen. Umgekehrt gibt es jene Zeitgenossen, die während eines Treffens mit Freunden oder gar auf einem Fest schon um halb zehn Uhr abends plötzlich und entschieden wegnicken. Sie können die Augen einfach nicht mehr offen halten. Dies kommt übrigens nicht nur bei jenen vor, die den ganzen Tag lang im Bergwerk Steine gehauen haben. Müdigkeit und Erschöpfung haben vielerlei Ursachen. Deshalb muss es kein Akt der Unfreundlichkeit oder des Desinteresses gegenüber den Gesprächspartnern sein, wenn jemand plötzlich abschaltet und die Augenlider schwer werden, sondern manchmal wird ein Mensch schlicht von der Müdigkeit übermannt. Es gelingt den Betreffenden dann beim besten Willen nicht, den Geist offen und sich selbst wach zu halten. Manchmal holt sich die Natur eben das, was sie braucht.

Doch während sich die unterschiedlichen Rhythmen und Vorlieben von Schlafen und Wachen mittlerweile halbwegs in der Populärkultur herumgesprochen haben und langsam alltagsverträglich werden, sind andere tageszeitliche Schwankungen noch weitgehend unbekannt. Dabei gibt es unterschiedliche Hochphasen und Tiefpunkte auch für das Lernen und das Arbeiten, fürs Essen und Trinken, für die körperliche Aktivität sowie für Ruhephasen.

Sogar die Immunabwehr gönnt sich im Verlauf des Tages (wie übrigens auch innerhalb eines Jahres) diverse Aktivitätsschübe ebenso wie Ruhepausen und kleine Auszeiten. Wir sind nicht immer gleich gut abwehrbereit. Und wer schon zu unterschiedlichen Tageszeiten geliebt hat, kennt das Phänomen, dass sich die Nähe zum Partner morgens oder mittags ganz anders anfühlt als am Abend. Auch die Leidenschaft hat nun mal ihre unterschiedlichen Tagesrhythmen. Sex fühlt sich nicht zu jeder Uhrzeit gleich – und gleich gut – an.

Diese Zeiten und Phasen bestimmen und strukturieren aber nicht nur den Tag, sondern auch die Woche, den Monat und das Jahr. Die langwelligeren Taktgeber sind jedoch viel weniger bekannt, obwohl sie großen Einfluss auf unser Wohlbefinden und unseren Seelenhaushalt haben. Jeder kennt Vivaldis Gassenhauer »Die vier Jahreszeiten«, aber kaum jemand ist mit seinen eigenen Jahreszeiten und den großen Wechselphasen des Lebens vertraut. Dabei könnte etwas mehr Verständnis für die eigenen Rhythmen und Zeiten helfen, mit sich selbst und mit den Mitmenschen besser zurechtzukommen.

Während die Wissenschaft immer mehr Einzelheiten entschlüsselt, wann sich das Leben seine Schaffensphasen und Erholungspausen gönnt oder wie die Zellen, Hormone und Moleküle ticken, befolgen viele Menschen stumpf weiterhin die seit jeher vorgegebenen Rhythmen, obwohl sie ihnen vielleicht gar nicht guttun. Sie essen nicht etwa dann, wenn sie Hunger haben, sondern nehmen Nahrung zu sich, wenn das Essen auf den Tisch kommt. Statt auf ihren Körper zu hören, halten sie diese Form der Pünktlichkeit sogar noch für eine Tugend. Die Schule beginnt schließlich auch seit der Steinzeit immer um acht Uhr morgens. Viele Menschen arbeiten folgsam von »nine to five« und haben Sex, wenn das Licht ausgeht.

Dabei funktioniert das Leben nicht nach Stechuhr oder Fahrplan, sondern es ist vor allem eine Frage des richtigen Timings. Darum soll es in diesem Buch gehen. Um die Zeit, die der Körper braucht, um sich wirklich wohlzufühlen – und das gilt nicht nur für Ruhe und Pausen, sondern auch für jedwede Form der Aktivität. Um die Zeit, die für die Seele wichtig ist, damit sie sich gewärmt fühlt wie von einem inneren Kaminfeuer. Das gilt sowohl, wenn man allein ist, als auch in Gesellschaft und nicht nur für die angenehmen, die erfreulichen, die Premium-Gefühle. Ob Liebeskummer ewig anhält oder schnell verflogen ist, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Und auch für die Trauer braucht jeder seine Zeit und die lässt sich nicht normieren. Gefühle sind nichts, was sich in Diagnosekataloge zwängen lässt oder gar zu einer krankhaften Depression gemacht werden sollte, wenn die Niedergeschlagenheit etwas länger dauert.

Überhaupt spielen im Leben nicht nur Ruhephasen, Pausen und Erholung eine Rolle, wie das die allgegenwärtige Klage über Stress, Multitasking und Überlastungen sowie die Anrufung der Work-Life-Balance nahelegen würden. Manchmal muss im Leben auch richtig Fahrt aufgenommen werden und erst die passende Beschleunigung und Geschwindigkeit machen daraus einen Hochgenuss. Nur wer das Tempo anzieht, kann zwischendurch auch den Leerlauf genießen. Alles eine Frage des richtigen Timings also.

 

In diesem Buch soll deshalb Zeit dafür sein, den vielfältigen Zeiten und Körperzeiten auf den Grund zu gehen und sich den kleinen Rhythmen und Zyklen, aber auch den großen Schwüngen und Bogen des Lebens anzunähern. Kleine und große, kurze und lange sind darunter. Dabei geht es ganz konkret auch um die vielen verschiedenen Zeitspannen, die der Körper kennt und die er sich selbst gibt. Und die wir ihm zuzugestehen immer seltener bereit sind.

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I Unter Zeitdruck

Unter Druck

Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.

Georg Christoph Lichtenberg

Das Dilemma des modernen Menschen besteht darin, dass er sich chronisch schuldig fühlt und sich selbst fortwährend in die Falle des Ungenügens setzt. Ha, erwischt – nicht genügend ausgelastet! Damit ist nicht nur die Angst gemeint, etwas zu versäumen oder zu verpassen, sondern in Gänze nicht auszureichen. Genug ist nach dieser Lesart nie genug. Schließlich vernachlässigt der emsige Zeitgenosse bereits eine Tätigkeit, während er die andere ausübt – und diese Zwangslage hält ihn permanent auf Trab, nagt fortwährend an ihm und das macht sich irgendwann körperlich wie psychisch negativ bemerkbar.[1]

Wer abends noch das Projekt vorantreibt oder an der Präsentation sitzt, tut zwar gerade etwas für seinen Job, kümmert sich aber im selben Moment nicht um die Familie oder um seine mittlerweile ebenso wichtige Freizeit. Wer hingegen seinen Vergnügungen nachgeht und Sport treibt oder sich mit Freunden trifft, lässt in diesem Augenblick leider bereits seinen Job schleifen. Es geht nicht um konkrete Aufgaben, sondern um unausgesprochene Verpflichtungen, denen sich viele Menschen ausgeliefert fühlen. Du hast keine Chance, also nutze sie!

Und Familie ist ja gut und schön – aber statt mit dem Partner und den Kindern zu wandern, herumzualbern oder gar ein Gesellschaftsspiel zu spielen, wäre es da nicht dringend nötig, endlich mal wieder Sport zu treiben oder das lästige Projekt für den Chef abzuschließen? Es ist ein Teufelskreis und der bleibt auf Dauer unentwirrbar, siehe oben.

Kalenderweisheiten wie »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« (oder wahlweise: »in Rente«) oder »Unmögliches erledigen wir sofort, Wunder dauern etwas länger« tun ein Übriges dazu, dass sich alle Welt übermüdet, überlastet und ausgelaugt fühlt. Fleiß, Strebsamkeit und Arbeit bis kurz vor der Erschöpfungsgrenze gehören zu den erstrebenswerten Tugenden in fast allen westlichen Gesellschaften. Sich aufzuopfern für den Job oder eine höhere Aufgabe, ist ein wesentlicher Teil davon. Wer heiter und gelassen den Tag begeht, gerät schnell unter Verdacht, nicht genügend zu tun zu haben.

Es ist eine fragwürdige Errungenschaft der Moderne, dass Eile und Disziplin schon früh miteinander verbunden wurden. So kommt Charlie Chaplin in »Moderne Zeiten«, einem Film aus dem Jahre 1936, am Fließband nicht mehr hinterher, alle Schrauben festzuziehen. Das ikonografische Bild von Harold Lloyd, der an einem Hochhaus am Zifferblatt einer riesigen Uhr hängt, symbolisiert diese Notlage ebenfalls, und zwar bereits in dem Streifen »Ausgerechnet Wolkenkratzer!« aus dem Jahr 1923.

Von dem Gefühl, dass es dem geplagten Individuum nicht mehr gelingt, der Zeit hinterherzukommen oder in einer gegebenen Zeiteinheit »Dinge geregelt zu kriegen«, ist es nicht mehr weit zum Irrsinn des Akkords. Diese Vokabel ist fest mit dem Arbeitsanspruch des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden. Er gehörte auch zu den sozialistischen Planvorgaben in der ehemaligen Sowjetunion und der DDR, wo die Namen Stachanow und Henneke vielen älteren Menschen noch ein Begriff sind. Diese beiden »Helden der Arbeit« schafften es, die Tagesvorgaben um ein Mehrfaches zu übertreffen, und wurden damit zu Lieblingen des Systems, aber argwöhnisch beäugt von ihren Kollegen.

Auch die protestantische Arbeitsethik und der schwäbische Schaffe-schaffe-Mythos sind vor diesem Hintergrund bemerkenswert. Schließlich haben sie ihre Wurzeln genauso in Deutschland wie im Kontrast dazu das romantische Ideal vom Taugenichts und Hans Guck-in-die-Luft. Die beiden Letztgenannten können im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik kaum vollwertige Bürger sein. Aber trotzdem glückt und gelingt ihnen vieles, vielleicht gerade deshalb, weil sie nicht mit aller Macht danach streben, sondern für sich entdeckt haben, dass sie zufrieden sind, wenn nicht permanent alles immer schneller und immer mehr wird.

Zeit der Entscheidung

Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.

Franz Kafka, »Ein Landarzt«

In der griechischen Mythologie gibt es eine Gottheit, die zwar längst nicht so berühmt ist wie die prominenten Olympier Zeus, Aphrodite, Ares oder Artemis. Trotzdem hat dieser Nebenrollen-Gott einige sehr bemerkenswerte Eigenschaften. Die Rede ist von Kairos. Man muss sich darunter eine recht flüchtige Figur vorstellen. Kaum ist sie da, verschwindet sie schon wieder. Sogar sein göttlicher Stammbaum ist weitgehend unbekannt.

Ähnlich dem Götterboten Hermes, der mal mit Flügeln am Helm, mal an den Schuhen und mal am Rücken dargestellt ist, wird Kairos mit Flügeln an den Füßen geschildert. Damit kann er so schnell sein »wie der Wind«, wie es in den einschlägigen Überlieferungen heißt. Seine unerhörte Geschwindigkeit hat allerdings auch Nachteile: Kaum hat man ihn erblickt, ist er schon vorbeigehuscht.

Der leichtfüßige Geselle trägt außerdem eine ziemlich auffällige Frisur. Ihm fällt eine Haarlocke tief in die Stirn – ganz ähnlich, wie es manchen verwirrten Jugendlichen eigen ist, die kaum noch aus den Augen schauen können, weil ihnen das Haar so weit ins Gesicht hängt und sie es ständig beiseiteschieben müssen. Kairos trägt die Locke allerdings nicht primär aus modischen Gründen, sondern sie hat mit seiner wichtigsten Eigenschaft zu tun. Jeder, der ihm begegnet, soll danach greifen und ihn erfassen können.

Aus diesem Grund ist es ein besonderes Ereignis, sollte Kairos unvermittelt unseren Weg kreuzen. Das passiert nicht alle Tage, vielmehr geschieht dies meistens vollkommen unerwartet und lässt sich auch nicht planen. Der griechische Gott ist das personifizierte Sinnbild für den günstigen Augenblick. Ein Treffen mit ihm bedeutet deshalb vor allem: Gerade jetzt ist ein zwar perfekter, aber eben auch ein flüchtiger Moment, den es zu erwischen gilt.

Am Hinterkopf ist der alte Grieche übrigens im Gegensatz zu seiner frontalen Fülle vollkommen kahl; kein einziges Haar ist dort zu sehen. Man könnte seine an der Rückseite des Kopfes nicht vorhandene Haarpracht nach dem heutigen Frisurenstandard als einen »Undercut« bezeichnen. Diese Halbglatze hat allerdings ebenfalls eine symbolische Bedeutung. Sie ist damit zu erklären, dass Kairos – sobald er »mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten« ist – von hinten nicht mehr erwischt werden kann. Dort gibt es keinen Halt. Und sosehr man sich auch streckt und bemüht, er ist weg, da kann man sich noch so beeilen. Die Gelegenheit ist ein für alle Mal vorbei, der passende Moment leider außer Reichweite.

Es gilt daher, eine Chance genau in jenem – womöglich recht kurzen – Augenblick zu nutzen, in dem sie sich bietet. Zu früh ist genauso unpassend wie zu spät – aus und vorbei, es geht dann schlicht nicht mehr. Der populäre Ausdruck, »die Gelegenheit beim Schopfe packen«, leitet sich offenbar von der Figur des Kairos ab. Sie ist keineswegs auf den Freiherrn von Münchhausen zurückzuführen, der sich ziemlich glaubhaften Quellen (nämlich seinen eigenen) zufolge am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat.

Stimmig wäre das sowieso nicht. Wenn man erst tief im Morast steckt, ist es meistens viel zu spät und die günstige Gelegenheit längst vorüber. Nur ein Lügenbaron kann ein solches Malheur noch halbwegs elegant für sich umdeuten, anstatt zuzugeben, dass er zu spät dran war – auch wenn er bei anderen Gelegenheiten auf einer Kanonenkugel und damit ziemlich schnell unterwegs war.

Krankhafte Entscheidungsangst

Der schwer zu fassende griechische Gott Kairos hat sogar in die Seelenkunde Eingang gefunden, zumindest in die Nomenklatur der Krankheitslehre: Wenn Menschen sich partout nicht in der Lage sehen, eine Entscheidung zu treffen, sich damit quälen und vor allem damit beschäftigt sind, zu zögern, zu überlegen und mit sich und der Welt zu hadern, bezeichnen Psychologen diese Unentschlossenheit als Kairophobie. Wörtlich übersetzt ist das die Furcht davor, es könne sich einmal eine passende Gelegenheit ergeben, für die sich eine Entscheidung unumgänglich aufdrängt.

Solche Möglichkeiten der Bedrängnis hält das Leben immer wieder bereit: Man hat dann beispielsweise als bindungsscheuer Mensch das Gefühl, sich doch auf einen Partner festlegen zu müssen – schreckt aber noch davor zurück. Andererseits spürt man, jetzt oder nie, weil sonst das Feuer erloschen ist oder der andere sich aus dem Staub macht. Oder es »droht« eine dauerhafte Anstellung – und das jemandem, der es bisher in keinem Job länger als ein halbes Jahr ausgehalten hat. Eigentlich kann man das Angebot nicht ausschlagen, aber die Festlegung fällt so schwer.

Nicht jedem ist es gegeben, sich wie ein Münchhausen die eigenen Entscheidungen schönzureden. Bei verzagten Zeitgenossen droht dann in abgemilderter Form die Entscheidungsangst. Sie ist recht häufig bei jenen zu beobachten, die sich im Restaurant partout nicht für ein Gericht entscheiden können – und nach langwierigem Abwägen den Kellner mehrmals an ihren Tisch bitten und fragen, ob sie ihre Bestellung nicht nachträglich noch mal ändern können. Und dann ärgern sie sich, wenn der Tischnachbar etwas serviert bekommt, was viel verlockender aussieht.

Eine besonders schöne Variante dieser Form der Unentschlossenheit zeigt der Film »Harry und Sally« des Regisseurs Rob Reiner aus dem Jahr 1989. Die von Meg Ryan gespielte Sally ändert im Restaurant ständig ihre Bestellung. Dann will sie Harry zeigen, dass Frauen sehr wohl einen Orgasmus vortäuschen können, und simuliert im gut besuchten Diner einen Höhepunkt. Die ältere Dame, die am Tisch nebenan sitzt, weiß daraufhin sofort, was sie will, und ordert beim Kellner »genau das, was sie hatte« (»I’ll have what she’s having«)[2]. Nette Pointe am Rande: Die Nebenrolle der Seniorin am Nebentisch wurde mit der Schauspielerin Estelle Reiner besetzt, der Mutter des Regisseurs.

In der Figur des Kairos zeigt sich, dass es im Leben oftmals auf das richtige Timing ankommt, also darauf, den richtigen Augenblick zu erkennen, zu nutzen und nicht durch Unaufmerksamkeit oder langwierige Abwägungen zu verpassen. Jetzt und nur jetzt ist der Moment da und also die Sekunde, dem Gegenüber endlich die große Liebe zu gestehen. Oder: Diese Arbeitsstelle ist eigentlich ein Traum, man muss sie einfach sofort annehmen, das Bauchgefühl spricht eindeutig dafür. Oder: Jenem Vorschlag, bei einem Projekt dabei zu sein oder in einem unschlagbaren Team mitzuwirken, kann man schlicht nicht widerstehen. Und: Dieser Urlaubsidee muss man einfach spontan zustimmen.

Manchmal ergibt sich eine Entscheidung allerdings auch aus einem Dilemma. Es findet sich kein sinnvoller Ausweg oder es handelt sich am Ende um die beste unter verschiedenen schlechten Lösungen. »Ich mache ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann«, sagt Vito Corleone im legendären Mafiafilm Der Pate und dieser Satz trifft nicht nur auf seine Günstlinge und die von ihm Abhängigen zu.

Es gibt aber nicht nur die eine Chance, die sich vielleicht nie wieder in dieser Form auftun wird, sondern das ganze Leben ist von der Erkenntnis geprägt: Wie oft gilt es, den passenden Zeitpunkt zu erwischen! Mal geht es darum, zu einem gegebenen Moment besser abzuwarten und sich genügend Zeit zu lassen. Dann ist es wiederum buchstäblich höchste Zeit, sofort zuzugreifen und die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Unsere gesamte Existenz ist davon bestimmt, dass es auf und ab geht, sich zwischendurch die Schlagzahl ändert und dass auf Höhenflüge auch wieder Tiefschläge folgen.

Zur falschen Zeit am falschen Ort?

Die Redensart, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, wird meistens so verstanden, dass jemand völlig Unbeteiligtes zum Opfer eines Unglücks oder eines Verbrechens geworden ist und es ihn aus purem Zufall getroffen hat. Nur weil er das Pech hatte, gerade in der Nähe zu sein. Es hätte auch Millionen andere treffen können, doch das Schicksal hat zugeschlagen. Weder war das Opfer in irgendeiner Form dafür verantwortlich noch schuldig daran, dass es ihn erwischt hat.

Womöglich hat das Sprichwort jedoch noch einen ganz anderen Hintergrund und könnte auch bedeuten, dass man etwas nicht tun oder sagen kann, weil es dem eigenen Zustand gerade oder doch (noch) nicht entspricht, sei es, weil der Körper nicht kann oder will oder weil der Geist noch schlaff und unbeweglich ist oder weil es aus anderen Gründen noch nicht so weit ist. Man tut also etwas, obwohl es sich nicht gut anfühlt, es einem nicht guttut und man noch nicht oder vielleicht auch niemals dazu in der Lage ist.

Die unterschiedlichen Zeitlichkeiten auszuhalten und nicht ungeduldig zu werden, wenn es gerade nur langsam vorangeht oder gar Rückschläge – und Rückschritte – zu verkraften sind, ist keineswegs selbstverständlich. Das will gelernt sein. Genauso wie die Zuversicht, dass »meine Zeit schon noch kommen« wird, egal ob im Beruf, in der Liebe oder im Sport. Denn manchmal ist es schlicht noch nicht so weit, noch nicht an der Zeit. Oder noch ist nicht die richtige Zeit für einen anderen Menschen gekommen, nicht für einen neuen Job oder für eine Weiterentwicklung.

Stress und subjektiver Zeitdruck

Das Problem der Balance zwischen individuellem Selbstzwang

und sozialem Fremdzwang stellte sich zunächst im Laufe

der Untersuchung über den Prozess der Zivilisation.

Norbert Elias

Es gibt Menschen, die haben einen fordernden Job, sie kümmern sich obendrein aufopferungsvoll um ihre vielköpfige Familie, trainieren für den nächsten Triathlon, übersetzen isländische Sagen und engagieren sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Und trotz dieses vollen Terminkalenders wirken sie allzeit gelassen, heiter und bester Dinge. Diese ausgeruhten Überflieger scheinen unendlich viel Zeit zu haben, Geduld sowieso und sie vermitteln den Überforderten und Gestressten, alles jederzeit im Griff zu haben.

Wie bekommen sie das nur hin, wo doch andere weit weniger belastete Zeitgenossen schon stöhnen und jammern, wenn sie nur einen einzigen neuen Termin einplanen müssen, mit dem sie vorher nicht gerechnet haben? Hobbys? Keine Zeit. Ein Ehrenamt? Sowieso nicht. Während der quälenden Suche nach dem Elternsprecher kommen sie beim Elternabend so wenig infrage wie als Co-Trainer für die Bambini-Fußballer. Bei der kleinsten Zusatzbelastung gehen bei solchen Menschen die Alarmlampen an und signalisieren: Stress, höchste Not, Tatütata. Der Druck scheint unermesslich zu sein, die Zeit von Anfang an viel zu knapp bemessen.

Es gibt eine einfache Erklärung dafür, was diese beiden Typen von Menschen unterscheidet: Wie Belastungen empfunden werden, ist keineswegs allein von der tatsächlichen Menge der Aufgaben und Anforderungen abhängig. Vielmehr geht es um die subjektive Wahrnehmung. Entscheidend ist die Frage der Kontrolle – und der Selbstwirksamkeit. Wer das Gefühl hat, seinen Job und seine Projekte im Griff zu haben, der kann auch nachts um elf Uhr noch seine E-Mails checken, ohne sich dazu getrieben und davon gestresst zu fühlen. Es ist seine freiwillige Entscheidung, die elektronische Post abends zu bearbeiten oder sich um Mitternacht noch an das neue Projekt zu setzen – und kein Zwang von oben.

Man wird nicht von den Aufgaben und Vorgaben der Kollegen oder Vorgesetzten überrollt, sondern die Anforderungen lassen sich bewältigen; wie dieses Beispiel zeigt, sogar in einem selbst definierten Rahmen und zu einer frei gewählten Zeit. Dann kann es sogar ein Stück Freiheit und Selbstbestimmung bedeuten, sich abends noch an den Rechner zu setzen und ein bisschen Post zu erledigen. Und zum befriedigenden Gefühl der Selbstwirksamkeit gehört es, sich nicht als wehrloses Opfer der Umstände zu sehen, sondern den Handlungsrahmen auszuschöpfen, den man hat. Und der ist häufig erstaunlich weit gefasst, in freien, demokratischen Gesellschaften sowieso.

Im Vergleich dazu steigert sich das Stressempfinden bei drohendem oder tatsächlichem Kontrollverlust rapide. Wer das Gefühl hat, seine Arbeit überfordere ihn und er sei abends auch noch dazu gezwungen, sich mit E-Mail-Anfragen herumzuschlagen, der wird sich seiner kostbaren Zeit beraubt fühlen und obendrein womöglich körperliche Belastungssymptome entwickeln. Ohnmächtig und ausgeliefert entsteht der Eindruck, dass immer zu wenig Zeit da ist, und deshalb wird jede zusätzliche Anfrage oder Aufgabe als Störung empfunden.

Immer diese Ungeduld

Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

mit Ungeduld?

Bertolt Brecht, »Der Radwechsel«

Der Taugenichts, der Tagträumer und der Hans Guck-in-die-Luft sind zwar reizvolle Figuren in der Weltliteratur. Sie stehen am Rande der Gesellschaft und sehen dem Treiben der anderen mit naiver Distanz zu, mit einem Schmunzeln, sie sind manchmal vielleicht auch mit einer höheren Form von Weisheit gesegnet. Oft befeuern sie bei den anderen, den Tüchtigen und den Strebsamen, eine heimliche Sehnsucht nach Ruhe und Stillstand. Sie gelten als Projektionsfläche für das ungelebte Leben, das endlich zu sich finden will und das Erfüllung in der Schwerelosigkeit des Augenblicks sucht.

Im Alltag genießen die Vertreter dieser Haltung hingegen kein sehr hohes Ansehen. Als Faulpelz kann man sich allenfalls dann aufführen, wenn man vorher ordentlich rangeklotzt hat und sich die Rolle als Privatier leisten kann, so die verbreitete Ansicht. Ansonsten droht man als Herumtreiber, Vagabund, Nichtsnutz oder gar Schmarotzer abgestempelt zu werden. Früher liefen solche zwielichtigen Gesellen Gefahr, eingesperrt zu werden. Man traute ihnen alles zu, verortete sie mit einem Bein im Gefängnis oder im damals noch so bezeichneten »Irrenhaus«.

Muße, Ruhe und Gelassenheit kennen viele Menschen in ihrem Alltag heute nicht mehr. Und sie können sich diesen Zustand auch nicht mehr selbst verschaffen, jedenfalls nicht ohne Hilfestellung. Da sich das Bedürfnis danach nicht dauerhaft unterdrücken lässt, buchen viele Menschen Erholungspausen und spirituelle Auszeiten, um bei sich zu sein. Das trifft sogar für basale Körperfunktionen zu. Entspannt zu atmen oder nach einer sportlichen Anstrengung »lohnende Pausen« einzulegen, müssen manche Menschen erst wieder in Seminaren lernen, die sie bei Fitnesstrainern oder Yogameistern belegen. In kostenpflichtigen Kursen erfahren sie dann, wie es ist, endlich wieder auf den eigenen Atem und sich selbst zu hören und auf die natürlichen Taktgeber in ihrem Körper zu achten. Bis es so weit ist, haben etliche Menschen jedoch schon ihr inneres Gleichgewicht verloren und sind aus der Balance geraten.

Ihr Körper und manchmal auch ihr Leben sind nicht mehr im Lot. Während seit Jahren in den einschlägigen Statistiken ein Rückgang der Krankheitstage zu verzeichnen ist, nehmen die psychosomatischen Krankheiten kontinuierlich zu. Darunter sind vor allem Panikattacken, Überlastungssyndrome und Angststörungen zu nennen.

Häufig findet sich nach einer mühsamen Odyssee durch Kliniken und Arztpraxen für Herzrhythmusstörungen, Magen-Darm-Beschwerden oder undefinierbare Atemnot keine klare körperliche Ursache. Die Symptome stellen sich nach langwieriger Suche oftmals als psychosomatische Leiden heraus. Der Körper wehrt sich und begibt sich mit allerlei Unruhesymptomen in den Fluchtmodus, so als ob er davonrennen wollte, obwohl er sich äußerlich doch eigentlich in Ruhe befindet.

Wer so hektisch vor sich hin hastet und dabei ruhelos, rastlos und immer verplant ist wie im sprichwörtlichen Hamsterrad, der verliert zunehmend die Fähigkeit, zu sich selbst zu kommen und innezuhalten. Wie bereits erwähnt, könnte der bekannte Ausspruch, »zur falschen Zeit am falschen Ort« zu sein, auch eine andere Bedeutung haben und meinen: Wer immer in Eile ist, der verpasst so viel, lebt in der falschen eigenen Zeit. Und dann kann kein Ort der richtige sein.

Die beste Zeit seines Lebens zu haben, den perfekten Augenblick zu erleben, das passiert Menschen hingegen in anderen Situationen und Zusammenhängen. Ihnen widerfahren diese Momente zwar zu unterschiedlichen Gelegenheiten, dazu muss gar nichts Spektakuläres passieren, das kleine Glück ist oft besonders intensiv. Zumeist ist diesen kostbaren Phasen jedoch gemein, dass sie sich ungeplant, ohne Zeitdruck, eben »einfach so« ereignen. Also dann, wenn es keinen Druck gab, etwas abzuschließen, oder wenn gerade kein Termin im Kalender stand, man vielleicht wochenlang keine Uhr getragen hat und auch sonst nicht in Eile war.

Gleiches gilt für das Suchen und Finden der Liebe. Hier gibt es keine festen Regeln und mehr als tausendundeine Geschichte, wie ein Paar zusammengekommen ist und zusammenfinden kann. Häufig hört man jedoch von glücklichen Beziehungen, die entstanden sind, als gerade keiner der Partner auf der Suche nach einer neuen Bekanntschaft war und deshalb nichts dergleichen erwartet hatte, sondern absichtslos vor sich hin starrte. Erst wollte man gar nicht zu dem Fest gehen oder der Einladung folgen. Ganz beiläufig und zufällig hat man sich dann kennengelernt und gemerkt: Das passt vielleicht, das ist es.

Die Kunst der Pause

 

Frage: Was ist Ihr Beruf?

Antwort: Schauspieler

Frage: Und was ist Ihr –

Antwort: Timing

Frage: – Problem?

Wenn der Schauspieler ganz bei sich ist und den berühmten Monolog aus Shakespeares Hamlet zitiert. Wenn der Kabarettist auf der Bühne gerade der Pointe entgegensteuert. Oder wenn zwei verliebte Menschen für einen Augenblick innehalten, nichts mehr sagen wollen und können, bevor sie sich gegenseitig ihre Gefühle offenbaren, sich in den Arm nehmen und küssen, dann ist das vor allem eines: die Magie des Augenblicks. Denn es kommt auf den richtigen Moment an, darauf, abzuwarten oder die Gelegenheit zu ergreifen und manchmal auch auf eine Pause zur rechten Zeit und von der richtigen Dauer.

Doch während auf der Bühne wie auch in der Wunderwelt des Zwischenmenschlichen sofort ersichtlich ist, wenn etwas überhastet geschieht, die Ruhe fehlt oder eine Reaktion verpasst wird, um die Zuschauer oder auch nur das Gegenüber zu ergreifen und anzusprechen, fehlt uns für unser eigenes Leben häufig das richtige Timing. Oder sollte man besser sagen, es mangelt uns an Taktgefühl dem eigenen Körper gegenüber und der nötigen Ruhe und Gelassenheit mit uns selbst?

Schließlich missachten viele Menschen die Zyklen und Rhythmen, die ihr Körper ihnen vorgibt und die er braucht. Manche leben regelrecht dagegen an. Eigentlich müsste man fast von grober Fahrlässigkeit sprechen, wie unzeitgemäß wir gelegentlich mit uns selbst umgehen und nicht erkennen, was stimmig wäre und uns guttäte. Hetze und Hektik prägen dann das Leben statt des richtigen Maßes.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich freiwillig Schlaf entzieht. Wir missachten die natürlichen Rhythmen von Tag und Nacht und damit auch von Hell und Dunkel und sind auch noch stolz darauf, mit möglichst wenig Schlaf auszukommen. Das ist nicht nur langfristig schädlich für die Gesundheit und das Seelenheil, wie etliche Studien an Schichtarbeitern gezeigt haben. Bereits eine einzige Nacht mit zu wenig Schlaf macht spürbar anfälliger für Infektionen durch Erkältungsviren und andere Erreger. Wer gar dauerhaft oder immer wieder zu wenig schläft, betreibt Raubbau an sich selbst, denn die Neigung zu chronischen Leiden wächst dadurch.

Allerdings haben viele Menschen verlernt, ein bisschen mehr auf sich selbst zu hören oder auch nur die Signale zu verstehen, die ihr Körper anfangs dezent und dann immer anklagender aussendet. Sie essen, obwohl sie längst satt sind, sie schlagen sich die Nächte um die Ohren, obwohl sie ermattet sind, sie hetzen nach der Arbeit noch schwerfällig joggend durch den Wald, obwohl sie vor Erschöpfung lieber auf dem Sofa sitzen oder einschlafen würden. Und sie halsen sich immer mehr Aufgaben auf, sagen weitere Projekte zu oder nehmen zusätzliche Verpflichtungen an, obwohl sie eigentlich schon seit Langem eine Auszeit benötigen.

Gut tut das nicht. Gesund ist das alles auch nicht. Doch die Angst, etwas zu verpassen, nicht genug zu leisten und nicht genug zu bekommen, ist größer als die besonnene Einsicht, dass es doch längst reicht und schon mehr als genug ist. »Ausruhen kann ich, wenn ich tot bin«, ist so ein Satz, der die ebenso falsche wie schädliche Arbeitsmoral und Selbstüberforderung vieler Menschen widerspiegelt. Es gehört längst zum Dauerton der Moderne, immer in Eile, immer in Hektik und irgendwie »gestresst« zu sein.

Muße wird hingegen zunehmend zu einem Fremdwort, genauso wie der Begriff Feierabend. Langeweile ist aus der Mode gekommen und dem Gefühl gewichen, unterfordert und nicht genügend ausgelastet zu sein. Neuerdings wird diese Befürchtung mit einem Etikett versehen, das schwer pathologisch klingt. »Bore-out« (analog zum Burn-out) ist das Leiden an der Gleichförmigkeit, am monotonen Tagesablauf und der Unterbeschäftigung.[3] Permanente Auslastung ist das Ziel, Lücken im Betriebsablauf werden kaum zugelassen, Stillstand ist Rückschritt und Schwerelosigkeit wird als zu leicht empfunden.

Der herrliche Schwebezustand des Nichtstuns droht damit vom verzeihlichen und manchmal gar erstrebenswerten Laster zu einem behandlungsbedürftigen Leiden zu werden. Dem muss als Therapie sofort unbedingte Aktivität und geschäftiges Treiben entgegengesetzt werden. Statt sich entspannt dem »dolce far niente« hinzugeben, dominiert das unbestimmte Gefühl, nicht genügend beschäftigt zu sein, nicht genug zu tun zu haben und demzufolge auch nicht alles zu geben und alles aus sich herauszuholen. Was für eine Vergeudung! Höchste Zeit also, weitere Aufgaben in Angriff zu nehmen, zusätzlich ein Hobby hier und eine ehrenamtliche Verpflichtung da. Das nimmt zuweilen krankhafte Züge an – bei Erwachsenen, aber schon bei Heranwachsenden, denen der zeitliche Fokus fehlt.

Zeitdiagnose ADHS

Es ist schon paradox: Kaum eine Diagnose hat unter Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren einen solchen Boom erlebt wie ADHS; die Abkürzung steht für das Wortungetüm Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Eine solche Form von Hyperaktivität ist aber nicht erwünscht, zumindest dann nicht, wenn sie mit fehlender Aufmerksamkeit einhergeht. »Die meisten Kinder mit dieser Diagnose haben gar kein Aufmerksamkeitsdefizit«, sagt ein erfahrener Therapeut, der aufgrund dieser Äußerung lieber ungenannt bleiben möchte, denn sie hat ihm einst viel Ärger eingebracht. »Die Aufmerksamkeit der Kinder ist nur nicht dort, wo sie Eltern und Lehrer gerne hätten.«

Bei Erwachsenen wird eine chronische Rastlosigkeit hingegen geadelt, sogar dann, wenn sie wenig zielgerichtet ist. Aktivität um der Aktivität willen. Manchmal erinnert das emsige Treiben an den Läufer auf dem Laufband oder dem Trimmfahrrad. Er tritt auf der Stelle, kommt aber nicht voran, doch immerhin tut der Abonnent im Fitnessstudio etwas für Herz und Kreislauf.

Der Zusammenhang ist komplexer, aber womöglich ist es vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass die Diagnose ADHS in den vergangenen Jahren unter Adoleszenten und jungen Erwachsenen von 17 bis 24 Jahren massiv zugenommen hat.[4] Zeigt sie eine Überforderung mit den äußeren Umständen an und der Last, von der die gequälte Seele erdrückt zu werden droht – oder ist sie zu eine Art Verwundetenabzeichen der Leistungsgesellschaft geworden, das mit gewissem Stolz getragen wird?

»Wer rastet, der rostet«, heißt die allgemeine Aufforderung, irgendwie aktiv zu sein. »Irgendetwas muss man doch tun«, ist ein beliebtes Motto gerade bei Menschen, die eigentlich zu sich, wenigstens aber zur Ruhe kommen sollten, jedoch nicht die Zeit dafür finden. Ziellos herumzuhektiken, ist ein fragwürdiges Prinzip und anstrengend noch dazu.

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II Zeit und Gefühl

Wenn die Zeit vorüberrauscht

In seiner Tätigkeit völlig aufzugehen, sich mit Hingabe in eine Aufgabe zu vertiefen und eine Art Schaffensrausch zu erleben, wird besonders kreativen Künstlerseelen zugeschrieben, seien es Musiker, Maler, bildende Künstler oder Schriftsteller. Doch Chirurgen, Möbelschreiner und Straßenfeger können so etwas ebenfalls empfinden wie eigentlich jeder, der konzentriert einer Beschäftigung nachgeht und dabei eine tiefe innere Erfüllung findet.

Auch ein Buchhalter oder die Angestellte im Katasteramt kann solche Glücksgefühle haben, wenn die Zahlenreihen genau aufgehen oder die Messungen mit den Plänen und sonstigen Angaben übereinstimmen. Als »Funktionslust« wird dieser Zustand gelegentlich beschrieben.

Es macht Spaß, wenn etwas klappt, eine Rechnung aufgeht und etwas selbst Entworfenes nach einigen Mühen tatsächlich funktioniert. Wahrscheinlich handelt es sich um das Glück des Ingenieurs und Bastlers und es ist nicht weniger wertvoll als das des Komponisten oder Schriftstellers. Und bei Kindern ist dieser Zustand besonders ausgeprägt, weshalb ihnen manchmal die Zeit geradezu abhandenkommt.

Das Zeit-Paradox

Wie die Zeit wahrgenommen und empfunden wird, ist äußerst subjektiv. Individuell spielen unterschiedliche Einflüsse eine Rolle, aber zusätzlich hängt das Zeitgefühl noch von äußeren Faktoren ab. Interessant ist hierbei das Paradox der schnell verrinnenden Zeit, an die man sich jedoch ausführlich erinnert. Jedes Detail bleibt im Gedächtnis, obwohl der Tag scheinbar wie im Fluge vorbeigeht – diesen Eindruck haben wir gerade dann, wenn sehr viel in einen »kurzen« Tag hineingepresst wird und so viel passiert, dass es sich, ob der Fülle der Ereignisse und mit dem Abstand der Erinnerung betrachtet, ganz lang anfühlt. Ein voller Tag, der rasend schnell vergangen ist.

Umgekehrt dehnen sich manche Tage schier endlos. Etwa diese öden, grauen und einförmigen, weitgehend ereignislosen Regentage, die sich zwar quälend lange in der Gegenwart ausdehnen und partout nicht vorbeigehen wollen, wenn man mittendrin steckt und die Regentropfen wie in Zeitlupe im Zickzack an den Fensterscheiben hinunterlaufen. Im Gedächtnis schnurren die Stunden des ereignislosen Nichts aber schon nach wenigen Tagen so stark zusammen wie ein schrumpeliger Luftballon, eben gerade weil so wenig geschehen ist und haften bleibt, an das es wert wäre, nochmals zurückzudenken. Erinnern wir uns, ist auch so ein quälend langsam vergangener Tag einfach weg.

Den Glücklichen schlägt keine Stunde

Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.

George Orwell

Heiß ist es. Sommerferien. Ob die schulfreie Zeit gerade angefangen hat oder sich schon wieder dem Ende zuneigt, spielt keine Rolle, das weiß gerade keiner so genau. Die Tage erscheinen unendlich, obwohl oder vielleicht gerade weil so wenig passiert. Die Jungs aus dem Dorf haben sich zum Fußball zusammengefunden, sie kicken erst auf der Straße, aber ihr eigentliches Ziel ist die Wiese hinter der letzten Häuserreihe. Richtige Tore gibt es dort nicht, aber der Fußballplatz des örtlichen Vereins ist in den Ferien gesperrt. Einige der Jungs spielen mit freiem Oberkörper, ihre schweißnassen Rücken und Schultern glänzen in der Sonne. Die abgelegten T-Shirts und ein paar Taschen dienen als improvisierte Torpfosten.

Die Sonne brennt, aber das ist egal. Es geht nur um das Spiel, die besten Tricks, gelungene Spielzüge, die möglichst lässig erzielten Tore. Liegt eine Mannschaft zu deutlich in Führung, werden die Teams so umgestellt, dass es wieder halbwegs ausgeglichen zugeht. Etliche Male tauschen die Spieler untereinander. Der Spielstand gleicht irgendwann den Ergebnissen beim Handball, so viele Tore sind gefallen, aber das ist unwichtig. Knie werden aufgeschürft, besonders aufregend ist es, wenn einer der Jungs auf eine alte, dicke Schorfkruste fällt, die bereits sein Knie ziert. Sie bekommt dann einen tiefen Riss, unter der die nachwachsende, frische Haut schon rosa schimmernd zu erkennen ist. Dann kann man den Schorf vorsichtig abkratzen, herrlich.

Wann entsteht das Zeitgefühl?

Irgendwann in der Jugend ist es so weit. In jungen Jahren befinden sich viele Menschen noch im riesigen Reich des Ungefähren. Sie empfinden keine Grenzen und haben kaum Termine. Außer der Schule gibt es wenig feste Einschnitte, die den Tag oder die Woche unterteilen. Sobald der Unterricht beendet ist, kommt ihnen alles unendlich lang vor, bis sich irgendwann am Nachmittag oder Abend ein erwachsener Spielverderber meldet, dass es »höchste Zeit« sei, zum Essen zu kommen, ins Bett zu gehen oder – noch schlimmer – endlich etwas für die Klassenarbeit zu tun. Haben Kinder schon früh einen vollgepackten Terminkalender, stellt sich ein Zeitgefühl zwangsläufig früher ein.

Nur zwei oder drei der Jungs haben etwas zu trinken dabei, aber sie teilen ihre Flaschen mit den anderen. Einer will reinspucken, fängt an, den Speicheltropfen aus seinem Mund laufen zu lassen, bevor er davon abgehalten wird. Die anderen lachen. Dann geht es weiter, die Freiheit erscheint grenzenlos.

Nur das Spiel zählt gerade, sonst hat nichts Platz. Und die Zeit scheint stillzustehen.

Irgendwann, Ewigkeiten später, verändert sich die Welt ein bisschen. Die Farben der angrenzenden Felder werden allmählich voller und wärmer und der Wald hinten am Horizont hat schon lange nicht mehr so intensiv grün geleuchtet. Die Schatten sind länger geworden. Einige der Oberkörper glühen bronzen, der Schweiß hüllt sie wie in eine glänzende Rüstung.

Irgendwo, aus einer anderen Welt, ganz weit weg aus einer unbestimmten Ferne, ruft eine Mutter zum Essen. Das Wort »Abendbrot« ist leise, aber mit hoher Stimme zu hören. Doch keiner der Jungs regt sich, keiner will aufhören. Nach einer Weile sagt einer, der seiner Mutter den Ruf zuordnen konnte, zu den anderen: »Macht nichts, wenn ich später komme.« Das Spiel geht weiter, alle sind noch genauso konzentriert bei der Sache wie vor etlichen Stunden.

Dann ist das grenzenlose Glück plötzlich vorbei. Einer der Jungs macht sich an seiner Tasche zu schaffen, kramt seine Uhr hervor. »Ui, gleich halb acht, dann kommt Winnetou im Fernsehen, ich gehe«, sagt er. Plötzliche Unruhe. Ein paar Mitspieler nicken und machen sich ebenfalls auf, um ihre Sachen zu holen. Die anderen wollen unbedingt weiterspielen, fühlen sich in ihrem Aufgehobensein in der Unendlichkeit gestört und protestieren. »Ist doch egal, die Filme werden alle wiederholt«, sagt einer. Keine Chance, das Bedürfnis nach den Abenteuern aus dem Wilden Westen ist größer als die Feier des Moments, auch wenn es für einige der Jungs nichts Größeres geben kann, als hier und jetzt auf der Wiese gemeinsam zu kicken und die Zeit zu vergessen.

Doch der wunderbare Moment der kindlichen Zeit- und Selbstvergessenheit ist jäh vorüber. Um einen harten Pfahl der Realität in das verschwommen-verschwitzte Etwas dieses Tages zu rammen, genügte der Hinweis auf die Uhrzeit. Das ZDF hat ein Übriges getan und mit der Ausstrahlung der Karl-May-Filme regelmäßig um 19.30 Uhr (war es immer an einem Dienstag, war es ein Donnerstag?) den zur Ewigkeit geronnenen Augenblick kaputt gemacht.

Für ein paar Stunden gab es nur die Gegenwart. Jetzt geht es hingegen um die nahe Zukunft. Berechnungen werden angestellt. Wie viel Zeit braucht man für den Weg nach Hause? Wie lange dauert es, bis das Abendessen hastig heruntergeschlungen ist? Ein gemeiner äußerer Taktgeber hat die diffuse Zeitlosigkeit zerstört. Kaum ein Moment ist so traurig, wie aus diesem riesigen Ozean der Unbestimmtheit herausgerissen zu werden. Ein Tag ohne Ende, alles war in Auflösung. Dann kommt plötzlich der Schnitt.

Ein ähnliches Gefühl der Trauer über das Ende einer vermeintlichen Unendlichkeit kennen jene Menschen, die einen Roman, Krimi oder ein fesselndes Sachbuch lesen und ganz darin eintauchen. Sie lassen sich von Büchern in eine andere Welt entführen und gehen darin komplett auf. Irgendwann ist die Lektüre jedoch abgeschlossen. Ein sicheres Anzeichen für die Tiefe der Entrückung ist die Trauer der Lesenden, wenn ein gutes Buch beendet ist. Bis vor Kurzem galten andere Umstände, man fühlte sich umgeben von den Figuren des Buches, befand sich in einer Art literarischen Blase, und das ist nun alles unweigerlich aus und vorbei – und das Auftauchen im Alltag droht.

Erfüllung – und die Zeit vergessen

Es ist Zeitverschwendung, etwas Mittelmäßiges zu machen.

Madonna